Arthur Achleitner
Das Schloß im Moor
Arthur Achleitner

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218 Dreizehntes Kapitel

Durch Geschäfte unaufschiebbarer Art war Doktor Thein immer wieder vom beabsichtigten Besuch der Familie Tristner abgehalten worden und damit auch von einer Aussprache mit Fräulein Olga sowohl in eigener als auch in Angelegenheit Hodenbergs und des Verwalters. Und wenig angenehm waren die Gedanken, sofern das Studium dringender Akten ein privates Sinnieren gestattete. Die Persönlichkeit Wurms beschäftigte den Richter intensiver als die bevorstehende Entlarvung Hodenbergs, doch war alles Nachdenken darüber, was ihm Wurm so bekannt erscheinen ließ, vergeblich. Im eigenen Amt hatte eine Begegnung früher kaum stattgefunden, vielleicht aber zur Zeit, da Doktor Thein noch Praktikant an einem auswärtigen Gericht gewesen war. War dem aber wirklich so, dann müßte Wurm mit dem Staatsanwalt schon in Kollision geraten sein und als Angeklagter vor Gericht gestanden haben. Ein fataler Gedächtnisfehler, es wollte die Erinnerung sich nicht einstellen, weder an einen Gerichtsfall noch an den richtigen Namen. Ob der Verwalter unter seinem wirklichen Namen engagiert worden ist?

219 Theins Grübeln hatte keinen Erfolg, und schließlich verzichtete der Richter auf jede Gedächtnisauffrischung, da er nicht einer Marotte wegen um jeden Preis einen vielleicht hochanständigen Mann zum gerichtsbekannten Individuum stempeln wollte. Eines Tages lief nun ein Amtsschreiben der Hamburger Polizeidirektion ein, dessen Lektüre Thein einen Jubelruf entlockte. Schwarz auf weiß war die Kunde zu lesen, daß der angebliche »Baron Hodenberg« Otto Höpfner heiße, Gastwirt in Bergedorf bei Hamburg war, von Osnabrück wegen eines Totschlages, von Dresden wegen eines großen Diebstahls von Wertpapieren verfolgt werde.

Die Ernennung zum Landgerichtsrat hätte Doktor Thein kaum größere Freude bereiten können, als diese Lektüre eines trockenen, doch inhaltsreichen Amtsschreibens. Nun war der Schleier des Hodenbergschen Geheimnisses gelüftet und erklärt, warum der Gauner seine »hochgestellten Verwandten« in Hannover nicht nennen und belästigen wollte. Fast fühlte sich Thein versucht, den Otto Höpfner sogleich vorzunehmen und ihm auf den Kopf zu sagen, daß man nun alles wisse. Der Amtsrichter bezähmte diese Lust und wartete auf die Antwort aus Hannover, wo die Polizei vielleicht auch etwas über den glücklich Verhafteten zu erzählen wußte. Richtig brachte die Abendpost, die Doktor Thein in der Kanzlei erwartete, ein Schreiben der Hannoverschen Polizei, deren Recherchen ein nicht minder interessantes Resultat ergaben: Die Mutter 220 des Otto Höpfner war früher Kammerzofe im Hause Hodenberg zu Hannover, Otto Höpfner habe den Namen »Hodenberg« angenommen. Von seiner Mutter dürfte Höpfner die Hodenbergschen Familienverhältnisse einigermaßen erfahren und zu seinen Abstammungsangaben verwertet haben. Daraus erkläre sich, daß der angebliche »Baron Hodenberg« keine genügenden Kenntnisse über Wappen und dergleichen der Hodenbergschen Baronie besitze, seine Mutter dürfte davon nichts gewußt haben, und der Sohn hielt es nicht der Mühe wert, heraldische Studien über »sein« Familienwappen zu betreiben. Ein Verbrechen des Höpfner in Hannover sei amtlich nicht bekannt.

Das war eine wonnige Nachricht für ein Richterherz. Alles in präziser Weise aufgeklärt! Und doch nicht alles, denn Doktor Thein erinnerte sich plötzlich, daß der »Hodenberg« mit dem Verwalter Wurm für einen Augenblick in unverständlicher Sprache redete, auf Theins Einspruch dies unterließ, daß aber Wurm dann noch einige fremdklingende Ausdrücke gebrauchte. Was kann das bedeutet haben? Dann noch eine Frage. Wurm wußte anzugeben, daß »Hodenberg« aus Hamburg stamme; ist das besondere Kenntnis des Dialektes oder Bekanntschaft Höpfners von früher her? Und sagte Wurm nicht vor der Gegenüberstellung mit »Hodenberg«, daß der Häftling ein Gauner sei? Woher konnte das Wurm wissen? Wenn man herausbringen könnte, welcher Ausdrücke sich Wurm zu »Hodenberg« bediente, wäre die Möglichkeit gegeben, 221 den Verwalter Wurm etwas genauer zu besehen und seinem Vorleben nachzuforschen. Wie das aber herausbringen? Wird Höpfner sich zu einer Aussage bequemen, wenn ihm sein wahrer Name gesagt wird?

Thein nahm den Zettel zur Hand, auf dem er allerdings sehr flüchtig und unzuverlässig die ihm fremden Ausdrücke Wurms in der Gegenüberstellung zu »Hodenberg« stenographisch notiert hatte, und übertrug diese Worte in deutsche Schreibschrift. Inmitten dieser Arbeit überkam den Richter die Erinnerung, daß Wurm diese Worte als Brocken aus der Gaunersprache bezeichnete. Nun enthält doch das »Handbuch für Untersuchungsrichter« auch ein Vokabular der Gaunersprache, und in diesem dürfte eine Übersetzung der rätselhaften Worte zu finden sein. Rasch suchte Doktor Thein und fand zu seiner Freude wirklich die Deutung: Keine Fraselmahr! Alt tschak! Gaterling spinnen! – Keine Angst! Gut Freund! Ring hergeben! – Und das Wort »schuffti!« ist mit »schweig!« übersetzt.

»Schau, schau!« flüsterte Doktor Thein vor sich hin, »wenn Wurm nicht auch Berufsgauner ist, dann bin ich selbst ein Hochstapler!«

Der Richter kombinierte weiter: Die Kenntnis der Gaunersprache ist bei Wurm im höchsten Maße verdächtig, bei Höpfner-Hodenberg allerdings sehr erklärlich. Was mögen beide Gauner jedoch in jenem Augenblick gesprochen haben, da Thein die Unterhaltung in einer ihm fremden Sprache als unzulässig verboten hatte? Leider war eine stenographische 222 Fixierung nicht möglich gewesen. Sprachen die Gauner auch in jenem Moment rotwelsch behufs Verständigung?

Doktor Thein ließ sich Höpfner-Hodenberg nun vorführen, der noch immer herrisch auftrat und den alten Protest gegen die Untersuchungshaft vorbrachte.

Der Richter mußte lächeln über dieses Beginnen, und gleichsam liebkosend fuhr seine Hand über die beiden Amtsschreiben der Polizeidirektionen von Hamburg und Hannover. »Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Untersuchungshaft in den nächsten Tagen beendet sein wird . . .«

»Endlich! Sie sehen also ein, mich ungerechterweise festgehalten zu haben!«

»Durchaus nicht!«

»Wie beliebt?« stotterte verblüfft der Häftling.

»Es wird Ihre Person sowie Ihr inzwischen recht interessant gewordener Akt zunächst dem Strafgericht in Osnabrück übergeben werden. Später werden Sie längeren Aufenthalt in Dresden nehmen, wo man sich lebhaft für Sie und Ihre Wertpapiere interessiert!«

Der Häftling erbleichte, ein Zittern lief durch seinen Körper, die Lippen zuckten, die Hände ballten sich zu Fäusten, es schien, als wollte sich der Entlarvte auf den Richter stürzen. Wütend schrie er: »So hat er mich verraten?«

»Recht weit scheint die Freundschaft allerdings nicht her zu sein! Es war Schwindel mit dem Zuruf: Keine Fraselmahr, alt tschak! Und das Gaterling spinnen hat Ihnen nichts genützt!«

»So hat der Schuft auch noch das verraten?«

»Was sagte Ihnen Herr Verwalter Wurm vorher, ehe er rotwelsch zu Ihnen sprach?«

»Wissen Sie das nicht?«

»Doch! Ich möchte lediglich eine Bestätigung aus Ihrem Munde haben, denn anscheinend lügt Herr Wurm mit jedem Wort!«

»Das wird stimmen! Er hat aber nicht rotwelsch gesprochen, sondern Hamburger Platt!«

»Und was sagte Ihr guter Freund?«

»Ich protestiere gegen diese Bezeichnung, der Kerl ist ein infamer Schuft!«

»Mir auch recht! Was sprach Herr Wurm?«

»Sie werden in kurzer Zeit befreit, wenn Sie das Fräulein freigeben und den Verlobungsring zurückerstatten!«

»Und das hat Sie bewogen, gehorsamst den Ring herzugeben?«

»Ja, ich war so dumm und habe auf Hilfe gehofft! Der Schuft hat mich aber im Stich gelassen, Gott verdamm ihn!«

»Wie heißt denn der ehrenwerte Herr mit seinem richtigen Namen?«

»Das weiß ich leider nicht!«

Doktor Thein eröffnete nun dem Gefangenen, daß Otto Höpfner alias »Baron Hodenberg« wegen 224 Vergehens des Hasardspieles zu fünftägigem Arrest verurteilt, die Strafe aber durch die Untersuchungshaft verbüßt sei, und nach Osnabrück transportiert werde.

»So wissen Sie richtig alles! Für so helle hätte ich Sie wahrlich nicht gehalten! Freilich, Verrat erleichtert die Arbeit der Polizei! Na, die Komödie wäre also aus! Habe immer so was wie Antipathie gegen Bayern gehabt, und richtig haben die Bayern mich erwischt! Bitte, kann ich in geschlossenem Wagen zur übernächsten Bahnstation gebracht werden? Möchte von gewissen Leuten nicht gesehen werden!«

Schon wollte Doktor Thein diese Bitte rundweg ablehnen, da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß von Höpfner vielleicht doch noch Wissenswertes herausgefragt werden könnte. »Sie wollen von Fräulein Tristner nicht gesehen werden?«

»Ja, ich wäre Herrn Amtsrichter dankbar!«

»Unter einer Bedingung will ich Ihren Wunsch erfüllen, und die Bedingung ist das Geständnis, wie und wo Sie die Bekanntschaft des Herrn Wurm gemacht haben.«

»Auf der ›Post‹ in Ried; Herr Tristner hat mir den Wurm als Verwalter vorgestellt.«

»Ich meine, Sie müssen den Wurm schon früher irgendwo getroffen und kennengelernt haben.«

»Nein, Herr Amtsrichter!«

»Sie belügen mich!«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Das glaube ich Ihnen nicht! Wie käme sonst Wurm 225 dazu, sofort, ohne nähere Bekanntschaft die Befreiung anzubieten, mit Ihnen rotwelsch zu sprechen?«

»Das ist doch sehr einfach: Genossen erkennen sich sofort!«

»Wie?«

»Wie sich Jäger immer sofort erkennen und aneinanderschließen, so ist es auch bei Leuten, die Ursache haben, dem Staatsanwalt auszuweichen. Übrigens sagt ja Wurms Blick schon, daß er zur ›Zunft‹ gehört. Die meisten Genossen sind zueinander aber ehrlich, helfen sich gegenseitig nach Möglichkeit, der Wurm jedoch ist ein miserabler Schuft und Verräter.«

»So würde also Wurms Gebaren gewissermaßen ein Beweis für seine Zugehörigkeit zur Verbrecherzunft sein?«

»Er muß ein Genosse sein! Was er aber auf dem Kerbholz hat, weiß ich nicht!«

Doktor Thein erkannte, daß von Höpfner nichts mehr von Belang zu erfahren war, klingelte dem Amtsdiener und ließ den entlarvten Verbrecher in eine andere, ausbruchsichere Zelle abführen. Sodann wurde ein Schreiben an die Staatsanwaltschaft in Osnabrück erlassen und darin der Höpfner zur Verfügung gestellt.

In Betätigung der längst gehegten Besuchsabsicht fuhr Doktor Thein nun hinüber zum Schloß im Moor, vorsichtshalber aber ohne Zylinder, denn jetzt, nach erfolgter Entlarvung des »Baron Hodenberg«, mußte eine Werbung um Olga inopportun erscheinen, dem 226 zweifellos von bitterster Seelenqual heimgesuchten Fräulein Tristner Ruhe und zarte Rücksichtnahme gegönnt werden. Wie die übrigen Familienmitglieder im Hause Tristner war wohl auch Olga von Höpfner-»Hodenberg« getäuscht worden, der Verbrecher verstand es ja trefflich, sich in die Herzen ehrlicher, einfacher und gutmütiger Menschen zu schmeicheln. Und Olga dürfte bei dem Mangel an Menschenkenntnis das Opfer ihrer Leichtgläubigkeit und übergroßen Vertrauens geworden sein. In der Abgeschlossenheit zu Ried konnte ein junges Mädchen auch keine besondere Menschenkenntnis erwerben, der Reinfall mit einer heimlichen Verlobung war ebenso begreiflich wie entschuldbar. Doktor Thein kam mit dem festen Vorsatz, nun über Olga als treuer Freund zu wachen, einer neuen Gefahr vorzubeugen und zu gegebener Zeit zu sagen, daß ein gewisser Amtsrichter Doktor Thein sehr glücklich sein würde, wenn Fräulein Tristner ihm die Hand zum Ehebunde reichen möchte. Daß dieser Zeitpunkt einstweilen noch nicht gekommen, erkannte Doktor Thein sehr bald, denn Fräulein Olga bekundete geradezu Scheu vor dem Richter, vermied eine Begegnung der Blicke und verhielt sich verschlossen und wortkarg. Über die geglückte Entlarvung wollte Thein nicht sprechen, das Zartgefühl hielt ihn davon ab. Bis auf Frau Helene, die ihrer Freude über den Besuch des Amtsrichters wie immer liebenswürdigen Ausdruck gab, schienen die Familienmitglieder sich auffallend reserviert Thein gegenüber verhalten zu 227 wollen; auch Theo war einsilbig, zerstreut, nicht wie früher offen und herzlich. Sollte die Anwesenheit des Richters auf die Tristnersche Jugend bedrückend wirken? Und wenn ja, weshalb?

Frau Helene fragte im Laufe der schleppend geführten Unterhaltung direkt nach dem Ergebnis der Untersuchung gegen den Verschwender Hodenberg.

Doktor Theins Blick streifte das erbleichende Fräulein Olga, und ihre Augen flehten um Barmherzigkeit. Die stumme Bitte veranlaßte den Richter, das zungenbindende Amtsgeheimnis vorzuschützen.

Zähe hielt aber Mama Tristner am Thema fest und gab der Verwunderung Ausdruck, daß diesmal das Gericht so lange zur Klarstellung des Sachverhaltes brauche. Wenn Baron Hodenberg unschuldig sei, müsse seine lange Haft geradezu als Grausamkeit bezeichnet werden.

Doktor Thein warf ob dieses indirekten Vorwurfes einer Verschleppung unwillig das Haupt auf, zu einer Entgegnung bereit; im selben Augenblick hob Olga die Hände bittend, ihr Blick galt dem Richter so innig flehend, daß Doktor Thein auf jede Verteidigung verzichtete.

Durch die offenen Fenster drang das Trällern eines Liedes aus glockenheller Frauenstimme.

Thein horchte verwundert auf, und nun wurde Theo unruhig, verlegen zupfte er an seinem Schnurrbärtchen.

»Sie haben wohl Besuch im Hause?« fragte Doktor Thein.

228 Mama Tristner erzählte lächelnd, daß Schloß Ried die Kusine des Verwalters beherberge, die Herr Amtsrichter kennenlernen müsse.

»Müssen, weshalb denn ein Zwang?« meinte Doktor Thein.

»Jawohl, Herr Doktor, es wäre mir nämlich angenehm, aus Ihrem Munde authentisch zu vernehmen, ob Fräulein Senta wirklich ein von Natur so stiefmütterlich ausgestattetes Geschöpf ist, wie der Verwalter mir seine Kusine geschildert hat. Wesen und Stimme wie das bescheidene Verhalten sind mir außerordentlich sympathisch, sehen kann ich ja leider nichts mehr, mich also nicht überzeugen, ob das arme Geschöpf wirklich verunstaltet ist.«

»Wollen wir den Kaffee nicht im Garten einnehmen?« warf Theo, dem das Gespräch Unbehagen verursachte, ein.

Mama willigte ein und bat den Richter um Geleit.

Rasch entfernte sich Theo, indes Olga die Anordnungen zum Kaffee in der Gartenlaube traf.

Frau Helene schritt am Arm Theins schlürfenden Trittes über den Schloßhof dem Park zu und erzählte des ausführlichen, daß die arme Senta ein geradezu häßliches Mädchen sei, verunstaltet und von der Natur verurteilt, hienieden gemieden zu bleiben; dazu gänzlich mittellos, zur Zeit ohne Stellung, weshalb man Erbarmen haben und dem armen Mädchen irgendeine Verwendung im Hause geben müsse.

Die Antwort blieb Thein im Halse stecken, als er 229 eine leuchtend hübsche, elegante Dame in lebhafter Unterhaltung mit Theo erblickte. Wenn diese blendende Erscheinung die erwähnte häßliche Person sein soll, so ist Frau Tristner zweifellos in unerhörter Weise belogen worden. Gespannt blickte Thein auf das Pärchen, das zu streiten schien.

Als Theo gewahrte, daß er und Senta beobachtet wurden, brach er das Gespräch plötzlich ab und kam in den Garten, während die junge Dame sich in das Haus verflüchtigte.

Im Sorgenstuhl sitzend, fragte Mama, wo denn Senta bleibe.

Errötend und unsicher erklärte Theo, daß Fräulein Senta sich wegen Migräne entschuldigen lasse.

»Schade, hätte die Arme gern mit unserm Hausfreunde bekannt gemacht! So jung und schon Migräne, die Jugend von heute ist doch recht wehleidig! Kommt der Verwalter zum Kaffee?«

Diese Frage beantwortete die eben an den Tisch tretende Olga verneinend, Herr Wurm sei im Kontor mit dringender Postarbeit beschäftigt und habe soeben um Entschuldigung bitten lassen.

Thein fühlte eine gewisse Unsicherheit heraus, mit der Olga die Erklärung vorbrachte. Was mochte hier vorgehen? Mit dieser Frage beschäftigt, eifrig kombinierend, ward auch der Richter wortkarg, es mußte die blinde Matrone fast ausschließlich die Kosten der schleppenden Unterhaltung tragen.

Früher denn sonst verabschiedete sich Doktor Thein, 230 dessen Versuch, mit Olga zu sprechen, mißglückte. Die Geschwister blieben bis zur Abfahrt am Wagen, grüßten ein letztes Mal mehr höflich als herzlich, und verflüchtigten sich sogleich, als der Wagen abfuhr.

Doppelstufen nehmend, eilte Theo in das zweite Stockwerk hinauf und prasselte, ohne anzuklopfen, in den Salon Sentas. Erregt sprach der junge Schloßherr auf sie ein: »Fort ist er glücklich, aber gesehen hat er uns!«

»Na, das wird wohl kein Unglück sein!«

»Aber fatal im höchsten Maße bleibt es, denn Mama hat Wurms alberne Schilderung über seine Kusine dem Richter erzählt, und nun ist der Schwindel aufgedeckt, die Bombe kann in den nächsten Tagen platzen! Und an dieser dummen Geschichte sind Sie schuld! Warum blieben Sie nicht hier oben im Salon, bis der Richter wegfuhr?«

»Aber, Herzel! Ich bin doch keine Strafgefangene, und verstecken lasse ich mich nicht! Warum denn nicht gleich stundenlang einsperren? Die Geschichte wird mir auf die Dauer langweilig! Bei Mama die demütige Magdalena spielen, immer heucheln, das ist fade! Und Sie, mein Herr, entsprechen auch nicht meinen Erwartungen!«

»Ich? Wieso? Biete ich denn nicht alles auf, um Ihnen Vergnügen zu verschaffen?« rief Theo aus.

»Ach wo! Gehen Sie mir weg mit diesen sogenannten Amüsements! Das bissel Fischen, Spazierenfahren, immer in Angst und Sorge vor dem Gesehenwerden, 231 stets von Menschen abgesondert, das ist für mich kein Vergnügen! Ich will gesehen werden, Staat machen, prunken mit Toiletten und meiner Wenigkeit! Bin ich Ihnen vielleicht nicht hübsch genug, weil Sie vermeiden wollen, an meiner Seite gesehen zu werden? Oder sind Sie meiner bereits überdrüssig geworden, Sie sittsamer Toggenburg? Die Mondscheinpromenaden habe ich satt wie das Angeschmachtetwerden! Sie haben mich ja doch kommen lassen, um sich meiner Anwesenheit zu erfreuen! Seit meiner Ankunft haben Sie sich aber wie ein Eiszapfen verhalten! Hätte ich Sie nicht gleich bei meiner Einquartierung mal herzhaft geküßt, meine Lippen würden wohl niemals mit Ihrem Bart Bekanntschaft gemacht haben! Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich wolle Nonne werden! Kurz und gut, ich mag nicht mehr länger warten, bis Sie den Mut finden, mich zur Geliebten und Braut zu erküren! Das ist mein Ultimatum! Entweder machen Sie mir heute noch den längsterwarteten Heiratsantrag oder ich werde packen und abreisen!«

Kleinlaut bat Theo, ihn nicht durch eine Abreise unglücklich zu machen. Den Heiratsantrag wolle er ja gerne stellen, es gäbe für ihn keinen sehnlicheren Wunsch als den Besitz der schönsten Dame der Welt, aber mit der offiziellen Verlobung müsse gewartet werden.

Heftig erwiderte Senta: »Gut! Ich nehme Ihren Heiratsantrag an, will aber den Termin offizieller Verlobung und rasch darauf folgender Vermählung 232 genau festgesetzt wissen! Weshalb soll denn gewartet werden?«

»Ich muß doch erst vorsichtig die Mutter vorbereiten! Ebenso Olga!«

»I wo! Fräulein Olga wird sich wohl in Bälde mit Wurm verloben . . .«

»Was? Mit dem Verwalter? Nicht möglich!«

»Warum denn nicht? Herr von Wurm wird doch wohl eine feine Partie sein! Jedenfalls ein besserer Schwager für Sie als der Gauner Hodenberg!«

»Ich bin perplex!« stammelte Theo.

»Dazu ist gar kein Anlaß vorhanden! Der Wandel in Olgas Sinn vollzieht sich für den aufmerksamen Beobachter ganz deutlich, Fräulein Olga wird demnächst Wurms Braut werden, sie wird diese Wahl nicht zu bereuen haben, Wurm ist Kavalier, Hofmann durch und durch, ein nobler Mensch, dem anzugehören ein Weib geradezu beglücken muß! Das weiß ich! Ist Olga mal Wurms Braut, so geht es in einem Aufwaschen, wenn auch wir mit unsern Absichten herausrücken. Wir feiern dann eine Doppelhochzeit!«

»Ich trau' mich nicht, zu Mama mit solchen Neuigkeiten zu kommen!«

»Auch recht! Dann werde ich Frau Tristner von meinem Herzenszustand in Kenntnis setzen und mir ihre Zustimmung erschmeicheln! Meinem geliebten Ritter Toggenburg aber gewähre ich die Huld und Gnade, ihm zu sagen, daß er die Katze nicht im Sack zu kaufen braucht!« Senta warf sich in wilder 233 Leidenschaft an Theos Brust und küßte seine Lippen mit verzehrender Glut.

»Gott, wenn wir erwischt werden!« stotterte Theo und naschte an Sentas Lippen.

»Tant mieux! Wir sind einmal füreinander geschaffen!« jauchzte das Fräulein, ließ Theo los und vollführte einen sinnverwirrenden Tanz.

Und haschend, trunken von jäh entfachter Sinnenlust, sprang der junge Schloßherr hinter Senta drein, die sich leicht fangen ließ und stürmisch an »Ritter Toggenburg« preßte.

Der scharfe, durch das Schloß gellende Ton der Pförtnersglocke riß Theo aus dem Taumel, erschrocken stieß er das üppige Weib von sich und beugte sich zum Fenster hinaus, um eiligst mit dem Kopf zurückzufahren.

»Die Zanksteinerin!« rief er und eilte hinweg.

»Zu dumm diese Störung!« grollte Senta und legte sich atemschöpfend auf den Diwan. »Aber angebissen hat er endlich, der langweilige, blödschüchterne Karpf!«

Benedikte von Zankstein hatte hinsichtlich ihrer Kleidung eine Wandlung vorgenommen, die sehr zugunsten der stattlichen jungen Dame war, und Theo in helles Entzücken versetzt haben würde, wenn Tristners Gewissen ganz rein gewesen wäre. Zur Begrüßung der Nachbarin erschien Theo wohl flink und rechtzeitig, fast atemlos, aber den herzlichen Ton echter Freundschaft und Verehrung konnte er nicht finden, er blieb 234 in gedrückter Stimmung und erweckte den Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit.

»Was stehen Sie denn, lieber Herr Tristner, wie ein ertappter Quartaner? Schlechtes Gewissen, he? Kein Wunder! Abbruch diplomatischer Beziehungen ohne Angabe der Gründe, was soll das heißen? Was trieb denn der junge Herr seit vierzehn Tagen?« forschte halb im Ernst, halb im Scherz Benedikte und behielt Theo fest im Auge.

Verlegen suchte sich der Schloßherr zu entschuldigen: »Alle Tage kann ich doch nicht in Zankstein vorsprechen! Was würde die Welt sagen?«

»Ei, wie kläglich ist doch solch eine Ausrede! Wer hat denn tagtäglichen Besuch verlangt? Ich gewiß nicht, würde mich auch schönstens bedanken, Tag für Tag in der Arbeit behindert zu werden! Aber völlig fernzubleiben, ohne ein Wort der Entschuldigung, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet! Nebenbei bemerkt: ich tue niemals Unrechtes, es ist mir daher gleichgültig, was die sogenannte Welt, bei uns im Moor die Torfbauern und Bräuburschen, sagen! Was also trieb man in letzter Zeit?«

Die Ausflucht, Vorschützung von dringender Arbeit, verschmähte Theo, er vermochte aber auch nicht, die Wahrheit zu sagen, beklommen, zögernd meinte er, Schloß Ried habe Besuch und der Herr daher Hofdienst.

»Also eine Dame! Ist mir eine große Neuigkeit! Wer beglückt uns denn mit ehrender Anwesenheit? 235 Doch nicht die Gräfin Pappendeckel?« spottete Benedikte.

Theo errötete und biß sich ärgerlich in die Unterlippe.

»Noch höherer Rang? Ich sterbe vor Ehrfurcht! Na, Scherz beiseite, wer ist denn zu Besuch? Ich werde Sie dann sofort von Schuld und Strafe freisprechen!«

»Eine Kusine unseres Verwalters!«

»Und deshalb hat der junge Schloßherr Hofdienst? Recht schmeichelhaft für die vernachlässigte Zanksteinerin! Wo finde ich Mama Tristner?«

»Ich bitte um die Ehre, gnädiges Fräulein zu Mama geleiten zu dürfen!«

»Danke sehr, ist nicht nötig, ich kenne Weg und Steg im Schlosse Ried, will der allergnädigsten Dame den Kavalier-Flügeladjutanten vom Dienst nicht rauben! Auf Wiedersehen, Sie Zitronenfalter!« Dikte führte spöttisch einen Hofknicks aus und rauschte in den Flur, einer beleidigten Göttin nicht unähnlich.

Theo brummte, wütend auf sich selbst und seinen Mangel an Entschlossenheit, die Schnurrbart-Enden kauend: »Recht hat sie, verdammt hübsch ist sie auch, und die Geschichte beginnt schief zu gehen! Wenn ich nur die Florentinerin vom Halse hätte!«


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