Josef Baierlein
Im Wüstensand
Josef Baierlein

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4.

Von diesem Augenblick an mußte Walter all seine Zeit in der Nähe der Gräfin zubringen. In ihrem Seelenleben schien ein Umschwung stattgefunden zu haben. So teilnahmlos und schwermütig sie bisher gewesen, so ungeduldig und reizbar zeigte sie sich jetzt, sobald sie den Knaben das eine oder andere Mal einige Stunden entbehren mußte. Nur wenn Walter wieder bei ihr erschien, wenn sie sein harmlos fröhliches Geplauder vernahm und in seine klaren Augen schauen konnte, war sie zufrieden und ruhigen Gemüts. Von der ursprünglichen krankhaften Vorstellung, daß er ihr toter, durch ein Wunder wieder ins Leben gerufener Sohn wäre, war sie zwar schon längst zurückgekommen; nichtsdestoweniger umfaßte sie den Knaben, in dem sie das leibhafte Ebenbild des ihr entrissenen Kindes zu erblicken glaubte, mit wahrhaft mütterlicher Liebe.

30 Der Graf und der Arzt betrachteten die Wandlung im Gemütsleben der Patientin mit großer Freude und knüpften daran gute Hoffnungen auf eine spätere gänzliche Gesundung. Leider hielt aber die Besserung der kranken Brust nicht gleichen Schritt mit der geistigen Genesung. Im Gegenteil traten die Hustenanfälle häufiger auf als vordem und gaben Anlaß zu ernsten Befürchtungen. Man wußte vor vierzig Jahren noch nichts von Mast- und Liegekuren, mit denen heutigestags in ärztlich geleiteten Lungenheilstätten so überraschende Erfolge erzielt werden, sondern hielt die Lungenaffizierungen jeder Art wenn auch nicht für ganz unheilbar, so doch für überaus gefährlich. Als letzter Rettungsanker für Schwindsüchtige aber galt damals – wie noch heute in gewissen medizinischen Kreisen – ein Aufenthalt in warmen südlichen Himmelsstrichen.

Da nun die Waldluft auf den quälenden Husten der Gräfin keine lindernde Wirkung ausübte, und überdies, nachdem der Frühling verstrichen war und der Sommer seinem Ende entgegenging, die schädlichen Herbstnebel bevorstanden, berief der Graf auf den Rat des Arztes zwei weitere angesehene Mediziner aus der Residenz nach Roggenfeld. Die Herren 31 kamen nach genauer Auskultierung der Kranken zum Schluß, daß sich für sie als geeignetster Winteraufenthalt Ägypten oder Algier empfehlen würde. Sie hielten das dortige Klima, weil es gleichmäßig und keinen häufigen Schwankungen ausgesetzt ist, für zuträglicher als jenes an der Riviera.Der reizende Küstenstrich am Meerbusen von Genua, welcher sich von Spezia bis Nizza hinzieht und durch große landschaftliche Schönheit auszeichnet. In den zahlreichen Kurorten an letzterer herrscht zudem zu jeder Jahreszeit ein so lautes gesellschaftliches Treiben, daß keiner von ihnen für die Gräfin, welche der Stille und Ruhe bedurfte, in Betracht kommen konnte.

So entschloß man sich denn nach gewissenhafter Überlegung, daß der Graf seine Gemahlin nach Algier bringen solle. Der Arzt war gerne bereit, das Paar zu begleiten, und auch der Diener und die Kammerfrau hatten nichts dagegen einzuwenden, mit den Herrschaften eine Zeitlang im Süden zuzubringen. Den Koch und die Kutscher hatte man auf der Reise, die von der Residenz aus per Bahn und später mittelst Dampfschiff bewerkstelligt werden mußte, nicht mehr nötig, weshalb sie auf den gräflichen Gütern zurückbleiben sollten.

32 Derart schien nun alles aufs beste vorbereitet, als eine unerwartete Schwierigkeit auftauchte, – eine Schwierigkeit so groß, daß sie den ganzen Plan zu vereiteln drohte. Denn die Gräfin wollte sich nicht von Walter trennen. Sie erklärte mit einer Festigkeit, die an krankhaften Eigensinn streifte, daß sie von dem Knaben nicht lassen könne. Eine höhere Fügung sei es gewesen, die ihn auf ihren Weg stellte, damit sie ihn fände, und damit er ihr den verlorenen Sohn ersetze. Lieber wolle sie hier sterben, als fern von ihm unter Qualen leben. Wenn man ihr den Knaben nehme, dann wünsche sie überhaupt nicht mehr gesund zu werden.

Von dieser Erklärung ließ die Kranke sich nicht abbringen. Je mehr ihr Gatte und der Arzt ihr zuredeten und mit Vernunftgründen ins Feld rückten, desto mehr versteifte sich ihr Eigenwillen. Zuletzt setzte sie allen Versuchen, sie umzustimmen, entschiedenen Trotz entgegen und wurde manchmal so heftig, daß ihre Exaltation eine Reihe von verstärkten Hustenanfällen hervorrief.

»Herr Graf!« sagte da eines Tages der durch solche Symptome beunruhigte Arzt. »Ihre Frau Gemahlin bedarf unbedingt der Schonung – auch ihres seelischen Empfindens, 33 weil jede Gemütsaufregung ihr Lungenleiden ersichtlich verschlimmert. Ich muß Sie deshalb fragen, ob es denn ganz unmöglich ist, ihr den Willen zu tun?«

»Wie meinen Sie das?« sagte der Graf. Es war ihm unklar, worauf der Doktor abzielte.

»Meine Ansicht geht dahin, daß es wohl das beste sein dürfte, wenn wir das Verlangen der Patientin erfüllen. Damit geben wir ihr die Gemütsruhe zurück und lösen mit einemmal die ganze Schwierigkeit.«

»Sie raten mir also, den Jungen der Witwe Wetterwald mit nach Algier zu nehmen. O wie gerne tue ich das, wenn Sie es für die Herstellung meiner kranken Frau nötig erachten. Doch gestehe ich, daß mir selbst ein solcher Gedanke niemals in den Sinn gekommen wäre; denn ich halte seine Ausführung für unmöglich, weil die Witwe keinesfalls ihren Knaben weggeben und den Zufälligkeiten einer weiten Reise aussetzen wird.«

»Wissen Sie das so gewiß?«

»Wenn es sich um einen kurzen Aufenthalt in der Nähe handeln würde, wäre es ja denkbar, daß die Frau uns ihren Sohn überließe. Aber da eine Trennung von ihm für Monate 34 und eine Reise in einen fremden Erdteil bevorstehen, wird sie in unseren Vorschlag nicht einwilligen.«

»Es käme auf einen Versuch an. Wenn Sie, Herr Graf, mich ermächtigen, mit der Mutter des Knaben zu reden, und wenn ich ihr dann vorstelle, welchen Nutzen für die Zukunft ihres Sohnes diese Reise haben kann, so hoffe ich doch, sie unsern Wünschen gefügig zu machen. Auch müßte ich mich sehr täuschen, wenn wir nicht in ihrem Walter selbst einen Bundesgenossen fänden. Knaben seines Alters sehnen sich ja stets hinaus in die weite Welt und träumen von Abenteuern in fremden Ländern.«

»Nun, Herr Doktor,« sagte der Graf schließlich, »so verhandeln Sie denn mit der Försterswitwe! Ich wünsche Ihren Bemühungen bestes Gelingen und genehmige schon im voraus alles, was Sie der Frau für einen so großen Liebesdienst zu versprechen gedenken.« –

Infolge dieser Unterredung verfügte der Arzt sich noch am nämlichen Tage zu Frau Wetterwald und trug ihr das Anliegen vor. Aber der Graf schien recht behalten zu sollen. Die Witwe lehnte das Verlangen, ihren Sohn mit nach Algier reisen zu lassen, mit 35 Entschiedenheit ab. Sie habe schon ihren Mann so frühzeitig verloren, und wolle nun nicht auch ihr einziges Kind den Gefahren eines Landes aussetzen, in dem die Mohren wild herumlaufen. Dabei blieb sie unentwegt stehen, obgleich der Arzt sich redlich Mühe gab, ihr von Algier richtigere Begriffe beizubringen.

Auch der Hinweis auf den Zustand der Gräfin und ihre Zuneigung zu Walter hatte keinen besseren Erfolg. Obwohl sie die Gräfin von tiefstem Herzen bedauerte und wegen ihrer Krankheit aufrichtiges Mitleid fühlte, hielt sie dies doch für keinen genügenden Grund, ihr den Sohn abtreten zu müssen. Wenn die Gräfin dem Knaben auch sehr gewogen sei, so könne einem Kind die Liebe einer Fremden die innige zärtliche Liebe der eigenen Mutter doch nimmermehr ersetzen.

Schon wollte der Arzt am Gelingen seiner Absicht verzweifeln und das Gespräch abbrechen, als er noch einen Angriff auf die von der Frau so stark betonte Mutterliebe wagte. Er stellte ihr vor, welche Vorteile dem Knaben aus dieser Reise und dem Aufenthalt in einem fremden Lande erwüchsen, wie sein Wissen sich vermehren, seine Kenntnisse erweitern würden. Was tausend junge Leute 36 vergeblich ersehnten, um sich auszubilden und durch die in der Fremde gesammelten Erfahrung zur Übernahme besserer, einträglicher Stellen befähigt zu werden, das werde ihrem Sohne hier umsonst und unter den angenehmsten Bedingungen geboten; denn Walter solle nicht wie ein Diener behandelt werden, sondern wie ein Freund, wie ein Angehöriger des gräflichen Hauses. Seine ganze Aufgabe bestünde darin, stets in der Nähe der Gräfin zu bleiben, um sie aufzuheitern.

Als der Arzt dann noch die Dankbarkeit des Grafen schilderte, der die Zukunft des Knaben durch seine Empfehlung beim Landesfürsten ohne Zweifel sicher stellen würde, und als er fragte. ob sie es mit ihrer Mutterliebe vereinbaren könne, dem Glück des Sohnes im Wege zu stehen, da hatte er endlich eine Saite berührt, die in Frau Magdalenes Innern laut und anhaltend nachklang. Sie erbat sich Bedenkzeit bis zum nächsten Tag.

Und am nächsten Morgen war ihr Widerstand gebrochen; mit schwerem Herzen, mit tränenden Augen erklärte sie sich bereit, Walter mit nach Algier ziehen zu lassen. Der Jubel ihres Sohnes, als er vernahm, daß er mit der Gräfin in die Fremde reisen solle, hatte die letzten Bedenken seiner Mutter 37 zerstreut. Somit hatte auch der Doktor recht behalten, der im Knaben selbst einen Förderer des Planes vermutet und gefunden hatte.

Schon nach wenigen Tagen verließ das gräfliche Paar das Schloß. Unter den Reisebegleitern befand sich auch Walter Wetterwald. 38

 


 


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