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Die Wandlungen des Herrn Würffel.

Eine Tiroler Geschichte.

I.

Kurze Zeit vor dem Heldenjahre 1809 war der Regenschirm erfunden worden. Wie alle älteren Modelle war auch er damals unhandlich, kyklopisch und überflußreich, aber in einem Falle gedieh das seinem Träger zum Glück.

Dieser Fall war der des soeben zum Doktor graduierten Mediziners Konrad Würffel, der im März des Jahres Neun durch das Drautal nach Tirol einzog. Denn die bayrischen Behörden waren zwar wie alle übrigen, aber sie galten für wachsam und behaupteten selber, es zu sein. Da nun der Dumme Glück hat, hätten sie leicht dahinterkommen können, daß der kaum erst ausgekrochene Doktor Würffel in seinem Regenschirm ein Schwert verborgen hatte: ein deutsches Ritterschwert. Zweischneidig, mit etwas gekürztem, einstweilen abgeschraubtem Kreuzgriff und fast drei Schuh lang!

Mit diesem Ritterschwerte und einer demselben angemessenen Gesinnung: einem Gemisch von einigen zwanzig Jahren, sehr viel Homer, Ossian, Götz von Berlichingen und Schiller, eilte der junge Würffel den Tirolern zu Hilfe, und jenes schöne Schwert, das jeder Ritterbühne Ehre gemacht hätte, warf er gegen Napoleon in die Wagschale.

Konrad Würffel wußte zehn Tage früher als andere, was in Tirol losgehen würde! Denn sein Onkel war Josef Krieseisen, ein Tiroler, der in Graz lebte und dem dort kommandierenden General Erzherzog Johann schon seit drei Jahren Stimmungsberichte aus dem heiligen Lande der Kapuzinergläubigkeit vermittelte. Es war ein Wunder, daß der junge Würffel überhaupt Doktor wurde; solche Aufregungen erlebte er seit Jahren. Kaum besaß er Hut und Stock, da ließ er von einem alten Schwertfeger in der Feuerbachgasse nach eigenen Angaben ein teutsches Rittergewaffen schmieden, taufte es Durandarte, verbarg es in einem Regenschirm, nähte Dukaten in seine Weste und seine Hose und wanderte aus, um, wie es einem ritterlichen Enthusiasten des beginnenden romantischen Zeitalters ziemte, den Tirolern im heiligen Volkskriege zur Seite zu stehen und Sensationen zu erleben; recht viel Sensationen.

Es gab Regen, es gab Schnee, bevor Konrad durch das wilde Pustertal, über Toblach und Lorenzen in die Brixner Klause und den Kuntersweg kam, von wo sich ihm endlich der milde Bozner Boden öffnete; er hatte seinen Schirm nicht aufgetan, hatte nasse Schultern und Knie an offenen, getreulich nach alter Väter Sitte rauchenden Herden getrocknet und sein Schwert in Bozen beim alten Herrn Giovanelli eingestellt, dem er bestens empfohlen war. Der alte Herr hatte geschmunzelt, als er das Schwert, die leuchtenden Augen des eher kurzen, als großen und etwas vierschrötigen Würffel und die fetten Schweißperlen auf dessen Stirne beisammensah, aber er hatte das Schwert in Versteck genommen und den jungen Konrad Würffel herzlich auf die Stirne geküßt.

»Wann endlich geht es los?«, fuhr der heiße Konrad seinem Schutzherrn entgegen.

»Das hoffte ich eben von Ihnen zu erfahren,« sagte Herr von Giovanelli seufzend. »Sie waren doch in Kärnten. Was geht im Drautale vor?«

»Es wimmelt von österreichischen Truppen. Der Marquis von Chasteler bildet Erzherzog Johanns Vorhut. Ah! Ein Ritter, ein wallonischer Ritter von altem Schlag. Man wird in wenigen Tagen losbrechen, Herr Handelsrat. Aber diese wenigen Tage, mir lasten sie auf der Seele. Ach, Herr Pate, wohin soll ich mich indessen wenden? Ich möchte dieses herrliche Bauernvolk kennen lernen, studieren! Wo und wie kann ich dies! Es soll hier unter bayrischem Drucke das Christentum seine Urformen wieder angenommen haben und verbannte Priester spenden wie einst in den Katakomben des alten Rom dem Landvolk das Meßopfer in Wäldern, in Höhlen und bei Nacht. Ach, Herr Pate, – ein Empfehlungsbrief zu solch einer Okkasion!«

* * *

Der sehr tüchtige Großhandelsherr von Giovanelli benützte die gute Gelegenheit, um sich gleich zweier vorlauter junger Herren, beides Patenkinder, zu entledigen. Er sandte den zu ihm geflüchteten Amraser Forstbeflissenen August Joas samt dem jungen Doktor Würffel nach Meran weiter, wo er ihnen in einem Winkelhause an den Wasserlauben beim Instrumentenmacher Rainmoser Unterschlupf verschafft hatte.

Es ward eine sehr lehrreiche Fußwanderung für den jungen Würffel, nach Siegmundskron und längs der Etsch über Terlan ins Meraner Becken, und selten hörte ein junger und überaus fertiggebildeter Mann neuere Dinge als Konrad in diesen acht Wegstunden vom lustigen jungen Jäger Joas vernahm.

Erst fragte einer den anderen ab, wie der nach Bozen gekommen sei? Per du waren sie im Giovanellischen Hause geworden, als Patenkinder des großen Bank- und Handelsherrn, nun schlossen sie noch engere Vertrautheit, denn beide, der Lange und der Kurze, Joas mit der Spitzbubennase und dem großen ehrlichen Kinn und der breite frischrote Würffel gefielen einander recht gut.

»Warum bist du nach Bozen gegangen?«

»Weil mich die Bayern gar zu arg verfolgen,« sagte der lange Joas. »Es war nichts als ein guter Faschingspaß. Das ganze Land fiebert in einem Träumen bei Tag und Nacht: die Österreicher müssen bald kommen. Joas, sag' ich mir: Joas, und du weißt keinen Spaß aus diesen Messiashoffnungen zu machen? Na gut: am Faschingsdienstag stecken wir unserer sechse uns in österreichische Uniformen, die uns altausgediente Veteranen leihen mußten und marschieren gradaus nach Amras ins Dorf, mit einer Trommel und einer Pfeifen. Ich war der Korporal.

Na, und da hab' ich für neunhundert Österreicher, die morgen am Aschermittwoch kommen sollen, Quartier angesagt. Die Leut' haben sich vor Lachen krummgebogen und sind uns um den Hals gefallen und haben in ihrer Seligkeit über unseren Spaß geschrien: »O du guldene Muntur, o du öschtreichisches Gwantl«, und haben uns zu saufen gegeben, daß wir kaum stehen haben können. Ein altes einfältiges Weiberl aber hat alles geglaubt und für Ernst genommen und ist nach Innsbruck gerannt, Brot und Fleisch, Nadel und Zwirn, Schnaps und Muskatnuß einkaufen, für die große Einquartierung. Sie erzählt und erzählt dort drinnen: – Konradl! Zwei ganze Kompanien Bayern sind am anderen Tag heraufgekommen! Haben die Österreicher suchen wollen. Aber wie sie gehört haben, wer die Österreicher waren, da war eine Viechswut unter ihnen und sie haben mich einstecken und zum Militär tun wollen. Da bin ich durchgegangen, ja.«

»Das kommt davon, wenn man mit den heiligsten Träumen seines eigenen Volkes solche Possen treibt,« sagte der wackere Würffel in frommem Ton: »Nun hast du die Bayern erst recht aufmerksam und mißtrauisch gemacht.«

»Aber nein,« lachte der lange Joas und schob das große Kinn weit vor. »Jetzt sind sie beschämt, und kommen ein andermal die echten Österreicher, so glauben sie's gar nicht.«

Sie waren an den Siegmundskroner Boden gekommen. Breit lag das braune, wartende Weingartenland bis Bozen hin offen.

»Ein herrliches Schlachtfeld,« sagte der junge Doktor. »Schade, daß so viel Weinhecken die Ebene vergittern. Attacke! Schwerter blitzen. Da könnte die Reiterei dahinrasen. Was?«

»Ja,« sagte der lustige Joas wortkarg: »die bayrische. Und uns zusammenreiten. Wir werden doch nicht so dumm sein, und in der Ebene schlagen, wo die Berge zum ducken und decken da sind!«

»Ach Gott, du bist Jäger und siehst in allem das Wild. Eure Bauern, die werden schon anders raufen wollen.«

»Unsere Bauern raufen gern,« sagte der lange Joas sehr ernst; »aber diesmal geht's nicht ums Raufen, sondern ums Siegen. Wenn zweie im offenen Feld sind und zweie hinter Stein und Baum, welche werden siegen?«

»Aber das heißt ja keinen Gegner suchen, sondern ein Opfer,« rief der kernige Würffel.

»Haben wir sie gerufen? Wer von selber kommt, muß nehmen, was er findet.«

»Wo würdet ihr also da kämpfen?«

»Von dort, bei der Sinnichnasen; von den Felsen am Berg über der Straße. Hundert, dritthalbhundert Gäng' sind's in das Tal; mehr nicht. Unten zwischen der Etsch und dem Berg ein Verhau, ein halber Wald hingefällt und verschränkt. Keiner käm' uns durch!«

Der junge Doktor schwieg. Er hatte an ein helles, frohes Raufen gedacht, gleich zu gleich. Hier ging das anders zu. Die Leute fühlten sich eins mit dem Boden, er gehörte zu ihnen wie der Muskel des Armes und sollte für sie mitkämpfen. Noch gefiel es ihm wenig. Er hatte so herrliche Rittergeschichten im Sinn!

* * *

Am Abend führte ihn Freund Joas ganz still einen friedlichen Sonnenweg über Mais und Rametz in das Naiftal hinan. Im Westen verglühte der Tag und oben brannten die Mauern, der Turm und das Zwingergärtlein von Goyen wie eine gelbrote Flamme vor dem lavendelblauen Ostabendhimmel. Die riesigen Edelkastanien standen silberästig und weitausgebreitet, und das ganze Land bebte vor heiligem Grauen; es war Karfreitag, und es war die Stunde, wo der Herr der reinsten Liebe in das Grab getan worden war.

Da kam von den Berghalden des Ifinger ein Windschauern geweht wie eines gramvollen Priesters Vorgebet und die riesenhaften Bäume flüsterten es demütig nach wie Kinder. Blätter schraken auf und wirbelten, goldgelbe Falter taumelten aus dem blauduftigen Abendhauch in die letzte Abendglut empor und wurden da mit einemmal brandlohend vor herrlichster Sonnenröte, und tief im Schluchtriß brüllte und kollerte das erbarmungslose Wildwasser, als sei die Hölle los, da der Herr der Liebe schliefe. Draußen im Felde überstürzte es an den primelhellen Halden breite Streifen mit Steinblatt und Schutt und das holde Leben ward überwälzt und begraben. Sonst aber regte sich nichts, angstvoll und heilig schwieg eine ganze Welt in lieblich durchhauchter Erlöserwärme.

»Wie still das ist. Man hört nur das Wildwasser. Es ist als ob euer Land auf Lauer wäre. Nichts rührt sich!«

»Es ist Karfreitag,« sagte der lange Joas.

»Ach ja, wann werde ich der heimlichen Messe beiwohnen können?« fragte der junge Doktor. Er war ein Freigeist und wußte wenig von den Einsetzungen des Kirchenglaubens.

»Heut' ist kein Meßopfer, der Heiland ist tot,« summte der Begleiter vorwurfsvoll.

»Da komme ich aber um den Anblick der heimlichen Andacht!«

»Andacht wird wohl eine sein.«

In Fernaun war eine kleine Klause. Dort wohnte ein verhärmter Pfarrer, den die Bayern eingesetzt hatten und büßte und geißelte und kasteite sich vor Weh und Scham, denn nicht einmal ein altes Weiblein war mehr in seine Kirche gekommen. Am Tage seiner ersten Messe waren die Bauern wohl schauen gegangen, ob der teuflische Heide es so treiben würde wie ihre Priester. Und als der ahnungslose Seelenhirt wahrhaftig das Allerheiligste erhob, da floh das ganze Volk entsetzt davon, als hübe die Pest ihren Arm.

Tage, Wochen hielt der fremde geistliche Herr Messe, als ob er den unsichtbaren Toten das Evangelium läse, dann brach ihm das höhlenhafte, leere Starren der eisigen Kirche das Herz. Er flüchtete und büßte und peinigte seinen Leib, dafür, daß er sich dem Antichrist verschrieben und dem Landfeind gehorsam gewesen war.

Die beiden Fremden waren die ersten Menschen, die in seiner Klause vorsprachen und der arme Verzagte sah ihnen voll Angst und Hoffnung entgegen.

»Seid ihr Tiroler?« fragte er. Denn Joas trug sein Jägerkleid und Würffel die städtische Mode.

»Ja,« sagte Joas. »Ich wenigstens. Aber wir sind fremd hier.«

»Ach Gott,« seufzte der Weltverlassene und versenkte sein hoffendes Herz abermals wie einen Stein in die Nacht eines Brunnens. Er hatte gedacht, man käme ihn endlich, endlich holen, ein Kindlein zu taufen, einen Sterbenden zu trösten, einen Toten zu segnen. Nichts. Wieder nichts! Er war verfehmt.

In der Kleidung eines fremden Arbeiters mußte er alle Wochen zweimal weit nach Terlan oder ins Passeier nach Leonhard, wo man ihn nicht kannte, hinübersteigen, um etwas Essen zu kaufen, denn in Meran unten fluchte man ihm und verwehrte ihm oft genug den Bissen Brot, dessen er bedurfte. Er litt und büßte und hoffte, das harte Volk durch Demut zu erweichen. Aber seine Barschaft begann auszugehen und es nahte der Tag, wo er fortwandern mußte, um sich den bayrischen Behörden neuerdings zu unterwerfen, um desselben Brotes willen, das der leidverklärte Herr emporgehoben: »Dies ist mein Leib.«

Die Fremden bei ihm schwiegen und auch er schwieg, in Weh und Hoffnungslosigkeit. So ward es Nacht und er wagte nicht zu fragen, wohin sie gingen. Denn er wußte, daß vor ihm ein ganzes Volk sich verhüllte.

Der spärliche, schmal gewordene Mond stieg spät empor, und schwül brütete die Nacht in dem engen Winkel des Wildbachtals, in das kein Wind eine Kühlung zu führen vermochte. Nur der Naifbach brüllte und toste: die Hölle war frei, alle Gotteskinderschaft schwieg und schlief.

»Es ist gut, daß der Wildbach so sehr tost,« sagte der lange Joas.

»Warum?«

»Weil man uns nicht schleichen hört.«

»Soll man uns nicht hören?«

»Wir würden, fremd wie wir sind, für bayrische Spione angesehen und zerrissen werden.«

»Oh!« Und das junge Weltkind, der feurige, schausüchtige Doktor zitterte vor Sensationslust und fühlte kaum in dem Schweigen des tiefschwerblütigen Frühlingsdunkels, daß Karfreitagnacht war.

Der Wildbach schrummte und hämmerte an den Felsblöcken, die er vom Berge abbrach, die beiden Freunde schlichen und hatten Angst und Hochspannung in den neugierbangen Herzen. Oben am Rande des Wasserrisses, im wildesten Felswaldgewirr war ein verirrtes, stilles Lichtlein, und das wandelte bergan, dann stand es still.

Jägerleise krochen ihm die beiden Gesellen nach. »Dort oben ist es,« zischte Joas laut heraus, denn der Wildbach verstattete kein Flüstern.

Und es war dort, das, dem sie nachkrochen. Es war dort von den verborgensten Heimlichkeiten des getretenen Tirol die versteckteste: der Gottesdienst, den ein verbannter, flüchtiger Priester einer hirtenlosen, fassungslosen, tieferregten Gemeinde in Nacht und Wildnis hielt. Heute war es nicht das heilige Meßopfer. In dieser heiligsten und schaurigsten der Nächte war es die Grablegung des liebsten Herrn und Heilands, die ein armer, beschränkter Kapuzinerpater, stumpfnasig, lallend, trübaugig und kurzköpfig, aber innerlich voll heißer Kindergläubigkeit und heiligem Lodern, nach den gewohnten Satzungen symbolisch beging.

Wahrlich, die Bauern hängen sehr an der einen Dorfkirche, die ihre Väter und Großväter bemaßen, bauten und bespendeten; nichts ist ihnen am Gottesdienste gut genug, wenn sie ihn an fremdem Orte hören müssen. Hier aber, in ihren heiligen Bergen regte sich die urälteste Heidenfrömmigkeit der Vorväter.

Lange Stunden hatte nun hier oben im schaurigen Karfreitagabend des Waldes ein Volk, zahlreich wie ein geneigtes Halmfeld, um seinen Priester kniend gebetet, bis jenes Lichtlein kam. Es kam von der Burgkapelle von Schenna weit herüber, wo das ewige Licht verlöscht worden war und brachte dessen heilige Glut unerstickt durch die windstille öde Bergschlucht herauf.

Da faßte der beschränkte, demütige Arme im Geist, dem einst der Herr der Liebe dennoch Seligkeit zugerufen hatte, der rundköpfige Kapuzinerpater, das verhüllte Allerheiligste und legte so mit nassen Augen, voll Angst, Sorgfalt und Frömmigkeit den Leib des Herrn zu Grabe, unter drei urmächtige Steinblöcke, die einst ein ungeheuerlicher Sturz des Wildwassers übereinandergerollt. Dann entzündete er eine Reihe von buntgläsernen Öllämpchen vor dem heiligen Grabe, das in Wahrheit dem Felsengrabe in der unerbittlichen Steinnachbarschaft Jerusalems ähnlicher sah als alles milde, holde Grottenwerk, das sonst um solche Zeit in den Kirchen gebaut wird. Nun war des Heilands gnadenreiches Symbol beigesetzt, und der Priester vermochte an diesem einen schwermütigen Abend nicht mit dem Allerheiligsten den Segen zu geben. Er hob einen reich in altbraunen Silberdraht gefaßten Kreuzpartikel empor, segnete mit ihm die Knienden zu Hoffnung und Auferstehung, zu Leid und Wehe und reichte es unermüdlich umhertretend zwischen Tannen und Steinen hunderten von nachtstillen Büßern zum Kusse. Es war wie eine Heidenfeier, und dennoch durchdrungen von dem Scheidensweh jenes einen unvergeßlichen Abendmahls, wie diese Gestalt mit dem Haupte, in dem außer demütigster Ergebung nicht ein Gedanke wohnte, zu den scharfen, hakennasigen Adlergesichtern schritt, die, außer den gefalteten Händen, allein in stiller Waldesnacht wie beleuchtete, blaßrote Mohnblumen sichtbar waren. So bot er ihnen, sonst Weltkindern voll Schnellkraft der Knie, Hieblust der Arme und Herzen voll Haß einen Splitter vom Leidensholze dessen, den sie im Leben um seiner Weichheit willen verachtet hätten. Nun aber neigten sich die harten, scharfgerissenen Adlerköpfe, die breitbraunbärtigen Häupter der Fünfzigjährigen, die glatten, hellen Trotzköpfe der Jungen und die schmalen, von hartem Leben verzerrten Holzfaserschädel der Alten, an denen sich alle Charakteristik in senkrechtem, oft ergebenem, oft steiltrotzigem Faltenstrich befand. Sie neigten sich, küßten den Holzsplitter, waren entsühnt und ihren Herzen graute es, als erinnerten sie sich, daß ihr eigen Blut hier oben im Bergfelsenwald in den Vorvätern vor tausend Jahren, ähnlich wie heute, voll schauriger Verbotenheit einer gänzlich anderen Gottheit, der wilden, heiligen, trotzigen Natur geopfert hatte.

Der Wildbach kollerte und bollerte rasend vorbei. Still verlor sich Bauernschaft, Priester und Licht. Ein Steinblock lag nun vor dem begrabenen Allerheiligsten und keine Seele war, die verraten hätte, wo hoch oben im Naiftal Christus der Herr bestattet wäre. Dann brachen im Wald krachend rings die Äste, Lichter zerwimmelten weitum in Berghalde, gegen Tal und Ebene; es ward menschenfrei in der Waldnacht und immer weiter toste die böseste der Bergmächte und donnerte Drohungen zu Tale.

Als alles still war, schlichen die beiden geduckten Zuhörer durch die Nacht, bergabwärts.

»Nun?« fragte Joas den enthusiastischen Freund, und seine Stimme zitterte von dem Widerklang der heimatlichen, geheimen Erregung.

Er, der schlichte Forstgesell, hatte tiefgläubig teilgenommen an der Gnadenspende dieser schaurigen Nacht.

»Ich bin begeistert,« rief das breite, junge Weltkind. »Ach, wahrlich, morgen gehe ich beichten!«

»Tu das,« sagte Joas mit weicher und doch seltsam drohender Stimme. »Vielleicht hat dich unser Herr doch nicht völlig fallen gelassen, Konrad!«

»Es ist wahr, ich bin bewegt,« versicherte der junge Mensch aus der leichtfertigen Stadt in einem Tone voll Freudigkeit.

»Ah!« krachte des Joas Stimme, als hiebe sie einen Fausthieb: »Bewegt! Halt's Maul, das ist mehr. Faxenaff!«

Da schwieg der junge, begeisterte Stadtherr vor dem groben Groll einer beleidigten Heimat und nichts war mehr als laue, werdende, heilig aus dem Grabe emporlebende Karfreitagnacht und das ferne tosende Vernichten des bösen, nagenden Wildwassers. Die beiden ewigen Gewalten.

* * *

Dann, am anderen Tage brachte ein Bote aus Passeier einen seltsamen Zettel; den lieh er in einem Winkel des Kirchplatzes einem Haufen Volk ein Vaterunser lang zum Lesen. Dann ging er ins alte Postwirtshaus am Berglaubeneck und bot ihn dort um, und darauf wies er ihn auf der Schranne vor; sodann eilte er über Mais nach dem Etschtale durch. Dieser Zettel war wunderlich schlecht geschrieben, und dennoch hätte nur ein wunderlich gebildeter oder ein schlechter Mensch über seine Worte zu lachen vermocht. Der lange Joas wischte sich die Augen, als er ihn gelesen hatte, und der junge Doktor Würffel wurde vor geheimster Erregung und Bewegtheit rot, als er ihm vorgelesen ward. Denn jener Laufzettel hatte gelautet: »Liepste Schützenprueder, tiet mir in Gotts namen und in namen des Keiser Franz die guette und sollen die von Diroll. Olgunt meiß meran schenna Marlink riffian – bis terlan hinein und ach nacher Potzen – alle über den jauffen weill der ertzherzog Johann mit 50 000 Oesterreicherrn inns landt ist komen und den krieckh mit gottshilf anfangt und hat wolen wie mier kein feindt solen dervonlasen es wert schon gerafft bei sterzing unt an der ladritzer pruckn. Eier gelipter andere hoffer santwiert in passeyr (»Liebste Schützenbrüder, tut mir in Gottesnamen und im Namen des Kaisers Franz die Güte und (es) sollen die (Schützen) von (Dorf) Tirol, Algund, Mais, Meran, Schenna, Marling, Riffian, bis Terlan hinein und auch (bis) nach Bozen, alle über den Jauffen [ Gebirgspaß zwischen Passeier und Sterzing.] (gehen), weil der Erzherzog Johann mit 50 000 Österreichern ins Land ist gekommen, und den Krieg mit Gottes Hilfe angefangen und gewollt hat, daß wir keinen Feind davonlassen sollen. Es wird schon gerauft bei Sterzing und an der Laditscher Brücke. Euer geliebter Gastwirt (ist Euer sich geliebtwissender) Andreas Hofer, Sandwirt in Passeier.«)

Und Wunder geschahen. In huschender Stille leiser Nacht zogen die Bayern ab nach Bozen. Aus den stattlichen Bürgerhäusern von Meran, aus den weinumkränzten Bauernhöfen der Berghöhen und den Obstgärten des Etschtals aber quoll der Landsturm. Schützenhaufen in der Landestracht, oft nur ihrer dreißig, manchmal dritthalbhundert, ballten sich um einen klugschauenden oder adlerhakigen Hauptmann und zogen nach Nordost über den Jauffenpaß. Die kühnste Volkskraft der besten deutschen Rasse an welscher Grenze war es, die ein schlichter Ruf über die Berge, dem Tode und der Not entgegenzog. Und die Sehnsucht nach Österreich schlürfte Zug nach Zug über die Berge, wo sie wunderbare Kunde vernahmen.

Durchs Pustertal waren die Österreicher gekommen. Krieg war angesagt, Krieg gegen ›den heidenfalschen Napoleon‹! An der Laditscher Brücke hatten die Tiroler und ein paar österreichische Jäger den Heerzug der Bayern und Franzosen, der nach dem Donautal ging, entzweigerissen. Die Hälfte floh nach dem Etschausgang, wo Erzherzog Johann ihnen in Italien die Falle verlegte; der andere Teil aber schob und schnob in Wut über den Brenner nordabwärts gegen Innsbruck.

Nach! Ihnen nach! Bisher wars gut gegangen. Über die tief unten im Engpaß verwurzelte Laditscher Brücke war nichts als blaue, gedrängte Flucht gewurbelt, erst Bayern, dann Franzosen und dann selbst das tapfere Häuflein Bayern unter dem ausgezeichneten Wreden, das einen Tag lang den Engpaß für die Kameraden offengehalten hatte. Nun sollte es den Feinden nachgehen! Der junge Würffel mit seinem deutschen Schwert war mitten unter einer Meraner Schützenkompanie. »Stadtbua, hascht koan Stutzen?« schrien ihn die Bauern an, wo er sich sehen ließ. Er aber schrie zurück: »I hau a so drein.« Da lachten sie und ließen ihn in Ruhe.

Die Meraner Kompanie, bei der er und Joas waren, kam als erste hinter den Franzosen auf den Höhen des Mittelgebirges an, das den Rand des Innsbrucker Beckens bildet. Sie legten sich in die Waldränder, ins umringende Amraser Schloßmauerwerk, in die Vogeltennen und Wiesenhütten und warteten und staunten. Denn da unten geschah Seltsames.

Ganz dumm und stumm standen unten im gelbgrünen Frühlingsfeld stillgenagelt die blauen Vierecke der Soldaten; ein ganzes Heer, wie es den Tirolern schien; es waren freilich kaum viertausend, aber die kleine Ebene zwischen Wiltau und dem Iselberg war voll von ihnen. Wie frisch gestrichene Quadrate von Bleisoldaten starrten die regungslos gedrängten Gevierte, nur die Waffen funkelten leise zitternd durcheinander. Es schien nichts, nichts zu geschehen. Die Stadt blieb still. Es war unheimlich.

Dann, endlich gegen Vormittag rann eine Kunde über Husslhof und Gallwiesen gegen Ambras hinüber. Gestern haben die Bauern die Stadt samt der Garnison genommen und nun sind die Franzosen eingeschlossen, festgenagelt, und können nicht rechts noch links aus; müssen sich ergeben.

»Schuissen mier's decht z'samma!«, schrie es in den Schützenhaufen, und da und dort fuhr blauer Stutzenrauch in die hellgrüne Frühlingswelt hinaus. Unten stürzten Offiziere, Gemeine ins Gras; die blauen Vierecke zerrissen, glänzende Waffen starrten gegen den Berg, ein Kommando, eine lange, kuglige Rauchlinie, Kugelgesang rings um die Höhen, ein Knattergeroll, und dann wieder die überlegten, lustvoll gezielten Stutzenschüsse der Bauern; immer mehr, immer gedrängter, immer furchtbarer, denn unten in der Ebene stürzte und purzelte es, blitzend und blau, Stück für Stück von den angenagelt stillen Bleisoldaten.

Da flattern weiße Tücher empor; eins in Wiltau im Kloster, eins beim Friedhof, eins gegen den Paschberg zu an der Sillbrücke. Und sie zeugen neue, als ob sie an Wäscheleinen entlangrollten. Überall angstvoll hochgereckte weiße Tücher.

Da und dort fährt noch blauweißer Rauch aus dem Walde und knallt's; die Bauern sind schwer, schwer versöhnbar. Aber es ruft, schreit, zetert von allen Enden: »Halt! Seid's ös Christen? Wart's döcht. Mier woll'n höarn, was los ischt.«

Und rings um die Stadt beginnt ein büchsendrohendes, gespanntes, zielendes Warten. Immer neue ankommende Stutzenläufe schieben sich schußungeduldig zwischen die schon hochauf passenden, die noch heiß sind von dem kurzen Gefecht. Es ist ein Apriltag voll Föhnhauch, überklarblau der Himmel, und, wie es im sonnigen Amras an solchen Tagen geschieht: es sind schon Dutzende von tiefsinnigen Maikäfern in die hochwarme Luft auferstanden; einen ganzen Monat vor ihrer Bestimmung. Brummsend stoßen sie an die heißen wartenden Büchsläufe, klammern sich daran, verbrennen sich die Beine, klumpen plump ins silberfahle schon grünzerstochene Frühjahrsgras und krabbeln sich zu neuer Fluglust empor. Ihr betrunkenes, dummseliges Brummen ist so gut wie Osterglocken. Selig, hochaufatmend ist Baum und Gras und Käfer. Ostern ist im hellgoldgrünen Lande und der Heiland lächelt emporfahrend zur Blauhimmelsgüte. In Busch und Wald aber blinken lebenshungrig die blanken Büchsläufe mit kleinen schwarzen Todesaugen ins Tal. Es zuckt in tausend harten, sehnigen Fingern, Tod hinunterzuknallen.

Heute wird nichts damit. Bayern und Franzosen strecken das Gewehr und ergeben sich. Es ist unten stundenlang verhandelt worden, bis Bisson und Wreden es endlich glaubten, daß die bayrische Garnison in Innsbruck gefangen und Bauer und Österreicher ihnen am Nacken saßen. Oben im Wald die Bauern sehen, wie ihre flinkeren Vorgänger aus Axams, Amras und Vill, Igls, Mutters und Natters in der Ebene voraus sind und die bayrischen Karrees ausplündern, den Franzosen das Gewehr samt Ärmel, Rock und Uhr vom Leibe reißen. »Oha! Mier woll'n aa Baita moch'n!« Und von den Kompagnien purzeln drei Fünftel, gierige Schädlinge, ins Tal und balgen gleich danach mit den Landsleuten um einen blauen Rock mit Goldkragen, um eine Flinte oder einen Ledersattel. Den Gefangenen graut, sie zittern für ihr Fleisch; viel mehr haben sie nicht behalten. Es ward ihnen alles heruntergerissen. Der Bauer nimmt so gerne als er schwer gibt. Ein Geier!

So denkt der junge Doktor, der mit weitaufgerissenen Augen solchem Befreiungskriege zweihundert Schritt weit unten, vor sich im Tale, zusieht. »Entsetzlich!« ruft er wild.

»Doktor, du wirst viel umlernen müssen; dreimal, viermal in diesem Jahre. Denn jedesmal, wenn du was weißt, geht's daneben. Denen Bayern und Franzosen geschieht blutwenig gegen das Leid, das sie über unser Land gebracht haben.« Zornig sah der junge Würffel seinem Kameraden Joas, der so zu ihm gesprochen hatte, ins ruhige Antlitz. »Da! Schau hinunter!« rief er.

»Na, na. Wird einer erschlagen? Wird einer auch nur geprügelt?«

Nein, das war wirklich wahr. Die Bauern jauchzten um Tornister und Flinten, Bajonette, Pferde und Pferdezeug, aber den armen, gänzlich verhuderten Menschen, die als Soldaten Napoleons niemals im Leben gedacht hatten, daß sie so gottserbärmlich abgefangen werden könnten, ihnen taten sie nichts. Es gab tüchtige Scherze, aber es gab auch sogleich Schinkenbein, Brot und Schnapsflasche zur Tröstung. Und schließlich, – bei Napoleon starb es sich bei jeder glorreichen Gelegenheit in hohen Ziffern, und der gemeine Mann lebt zuweilen auch gerne. – Am Abend war alles bis auf ein paar Idealisten zufrieden, und die Tiroler jauchzten und johlten, daß der Himmel sich über Innsbruck wie saure Milch zusammenzog.

Es war ein dunstiger Föhnnachmittag, als der junge Würffel durch die theresianische Triumphpforte in die Stadt gestürzt kam. Bisher hatte er nichts getan; nichts als zugesehen: wie ein schlechter Zaungast! Es war zum Gotterbarmen. Denn ohne ihn, ja vor ihm ging alles zum Sieg, zur Gloria, und dennoch geschah alles so, daß es ihn schwer ärgerte, ja beleidigte. Er fühlte, wie notwendig er bei all diesen Siegen regieren hätte müssen. Es war dennoch eine schlechte Welt, hier im groben, rustikalen Tirol!

In Innsbruck war Wein- und Schnapssonntag. Es brüllte, jauchzte, hieb, zerbrach und knallte in allen Gassen. Die Bauern schossen nach den bayrischen Löwenschildern, verlangten in sieben Häusern nacheinander Mittag- und Nachtessen und fraßen alle vierzehn Mahlzeiten, und es war ein Beben und Ängsten in der ganzen Stadt: jetzt geht Plünderei, Brand und Mord an! Juden wurden gehudelt, an Gerichtsakten jubelnde Rache genommen und verhaßte Beamte hervorgezerrt.

Eben kamen von Hötting ein Stücker sechzig Bauern über die Brücke gestürmt. »Mier holen uns den Kantschleidirektor, dös Luada, den Brieg bei d' Ohrwascheln außer!«

Denkt sich der junge Würffel: »Vielleicht kann ich sie an einer Gemeinheit oder gar einem Verbrechen hindern« und läuft hinter ihnen drein. Hallend trappeln die Schwergenagelten durch die Lauben, unterm goldenen Dachel weg ins Gassel bei der Kapuzinerkirche und biegen wie eine Meute in das bekannte Zwingertürmchen in ein kleines Haustor. Trummtrumm und tacktack geht das Gestampf über alle Stufen hinauf, und da die Bauern riesenhaften, jauchzenden Zulauf von allen Seiten erhalten haben, so drängen und keilen sie sich an der engen Türe so klobenbreit, daß Würffel nicht mehr hinein kann.

Und oben krachen die Türen, splittert, brüllt und trampelt es, daß ihm heiß und kalt wird.

Unten schrien die Bauern inzwischen: »Schmeißt ös'n uns beim Fenschter oba! Mier fangen ihn ab!«

Aber da rumpelte es doch wieder auf der Stiege und die Bauern stießen einen Mann auf die Gasse, der todbleich, aber selbst in dieser Sekunde auf gute Figur so sehr bedacht war, daß er den fürchterlichen Bauernschwung, den er erhalten hatte, mit elastisch anstampfenden Beinen, die in unglaublich weiten, allerliebst wehenden Modehosen staken, zu mildern versuchte. In der halben Gasse fing er sich auf und sammelte in schneller Erinnerung alle Mittel seiner brillanten Schneidigkeit. Es war ein donnerscharfer Richter gewesen.

»Leute!« schrie er. »Ihr wißt nicht, was ihr euch da einbrockt. Ich kenne euch wohl, ihr Höttinger und Kranebittner Nachbarn. Und wenn der König –«

»Mier hab'n koan Küni miehr! Mier hant oan Koaser, Franzel hoascht'r!«

»Mahrschneider Sepp, du sagst ihnen gleich, daß sie mich sofort freilassen, und es soll dir gut gehen,« rief der Kanzleidirektor halblaut einem jungen Burschen zu, den er erkannt hatte.

»Jeschkas, der Brieg erkennt mi wieder,« heulte der baumlange Junge in lustigem Hohn empor. »Und i han g'moant, er mag nix von mir wissen, wann i vor eahm in Gugelhuat ozogen und in grüescht hab. Kumm an mei Herz, liebschter Prueder!« Und der Mordslackel riß den schlanken Beamten mit beiden Armen an sich, hob ihn gewaltig empor und ließ ihn unter dem Donnergelächter der engen Gasse zappeln und sträuben.

»Jetzt, was fangen mier mit dem an?« sagte er dann drohend, als er ihn wieder hingestellt. Die ganze Gasse stand dick und drohend voll Bauern; die schwiegen oder murmelten in leise anschwellender Spannung: »Abschlagen.« – »Aufhenken.«

»Wear nit übel,« lächelte der Seppel. »Aber das ischt ein Landschverräter. Was ischt vor Zeiten bescheg'n mit die Landschverräter?«

»Geviertelt seind'sch word'n,« schrie ein alter Bauer auf.

Die dicke, drängende, raunende Menge blieb in peinvollem Schweigen; nun graute ihr selber vor dem, was kommen könnte.

»Hörscht, Kantschleidirektor?! Von vier Pferd' zerrissen!« Der junge, gewaltige Bursche schwieg eine lange Weile und der schneidige Brieg wurde trotz seines offenkundigen Mutes sehr fahl. Nun wußte man nicht mehr, wohin die Furie ein zügelloses Bauernvolk hetzte. Furchtbar murmelte es in dem menschenvollen, schweißdampfenden Gassengrunde.

»Also,« entschied der Sepp mit tiefer, grabfinsterer Stimme: »Die vier Rösser werden sein: der Hutter Guschtele, der Jagele Jockl, der Almoslechner Stasele – und ii.«

Die Bauern drängten näher. »Gebt'sch Raum,« schrie der Sepp, »daß mier zurücktauchen kienen. Guschtele und Jockele, ös derwischt den Herrn Kantschleirat an der Hosen. Stasele, pack du den oan Frackschößel, i den andern, so. He, Guschtele, du Rindvieh, du haltscht ja den Hearn am Haksch'n. Du muescht eahm blos bei d' Hos'n nehmen, mier woll'n ihm nur ›kontumatschiam‹ vierteln. Aber die Hosen und der Frack, die müssen dran glauben!«

Nun verstanden die Bauern, wie es der Sepp meinte und ihre gepreßten Herzen erleichterten sich in einem Juchzen und Gurgelgelächter, daß die Gassensteine fieberten.

Die viere packten an, der Kanzleidirektor hing in Andreaspose wagerecht in der Luft, der Frack streifte über, denn die zwei Lümmel hatten die Schöße gepackt und nun drehte sich das Futter um und der Frack stülpte sich über das entsetzte Antlitz.

»Leute!« rief noch eine erstickte Stimme unter himmelblauer Futterseide.

»Hoo, hoo, rrrruck!« kommandierte aber der Sepp. Krachend zerrissen die Nähte; rums, hielt der Sepp den halben Frack am Schoße in der Hand und der Stasele den anderen, und der Guschtele und der Jockl je ein Hosenbein. Der Herr Kanzleidirektor aber sauste nieder und saß weißblühend wie ein bis auf vier kreuzförmige Blätter zerzupftes Maßlieb auf dem prellharten Pflaster.

Die Bauern tosten, brüllten und schmetterten, tanzten und hielten sich Hüften und Bauch. Sepp aber wischte sich stolz lächelnd den Schweiß ab. »So, Herr Darekter, das wär für die Stockprügel gewesen. Und jetzt seid ös unser Gefangener. Meahr wird Enk nit geschehen; aber dem General Schasteller übergeben mier Enk. Und jatz nach Höttig wiar ös seid.«

Die Bauern formierten johlend ein Karree, nahmen den weißbatistenen Herrn, der nur mehr einen Schuh anhatte, in die Mitte und führten ihn durch das Gassel bis auf den Platz vor der Hauptwache, dort schrie der Sepp: »Miar brauchen a Trumpel und Pfeiffen zum Dranzbordieren.« Nun fand sich auch Musik ein, und so wurde der blühweiße, hinkende Herr Kanzleidirektor zu großer Erbauung und Fröhlichkeit in die Gefangenschaft nach Hötting geleitet.

* * *

In der Gasse stand mit buntgemischten Gefühlen Herr Doktor Würffel. Mord war es keiner geworden; die Roheit war arg, der Spaß aber unbezahlbar gewesen. Der Humor dieser Bauern stank zum Himmel; diese Kerle hatten ein Genie für das Drastische. »Köstlich, göttlich rustikal, hundert Stockprügel und einen Kuß wert!«

Die Gasse war still geworden, das ganze Aufsehen war fortgetrampelt, verbrüllt, verhallt. Da hörte der junge Doktor Würffel aus der Luft kommend einen reintönig ziehenden Laut, wie das Wehklagen eines gequälten Mädchens, oder wie den Strich einer hohen Geigensaite. Er horchte hoch auf. Da weinte irgendwo ein junges Weib.

»Halloh,« dachte er. »Um den Brieg? Wohl gar im Hause des Brieg?« Und er schwuppte in die Haustür, rannte eine Treppe hoch empor, horchte und stürmte sodann noch ein Stockwerk höher, wo er eine halboffene, zerbrochene Tür einstieß und in eine Wohnung rannte, in der alles bunt durcheinander lag. Ein Dutzend Leute arbeitete dort, ganz still, eilig und murmelnd und band große Pakete, oder häufte noch den Inhalt von Kasten und Spinde auf Leintücher.

»Was macht ihr da?« schrie der breite, junge Würffel sie an.

»Einpacken,« sagte einer von den zerflickten Kerlen in ruhigem Hohn; drei oder vier Weiber, die mithalfen, gackerten hochlachend heraus.

Der junge Doktor wußte nicht recht, war es Frechheit oder Wahrheit. Er folgte dem Ton jener reinen Stimme und rannte durch zwei verwüstete Zimmer weiter; endlich, im dritten, das auf die Gasse ging, saß ein junges Frauenzimmer, von dessen tiefverstecktem, weinendem Köpfchen er nichts sah als eine breite, weich aschblonde Haartracht.

»Madam'!« schrie er. »Packen diese Leute in Ihrem Auftrag?«

Da fuhr sie empor und sah ihn entsetzt an, als komme nun das Ärgste. Ein wahres Kindergesicht! Rundlich, herzlich, weich, tief erschrocken und so unbedeutend und hübsch, daß es zu einem sechzehnjährigen Geschöpf hätte gehören dürfen. Ach, und wie verweint, wie gerötet, mit hilflos geschwollener Nase!

»Madame,« sagte der wackere Würffel nochmals, jetzt aber in seinen weichsten Tönen und machte eine Verneigung, wie sie seiner Korporatur eigentümlich war, fast in rechtem Winkel, den Kopf forschend gehoben und das Hinterteil ebenfalls nach oben deutend: »Madame: Packen diese Leute in Ihrem Auftrage ein?«

»Ach,« sagte sie todmüde: »Lassen Sie sie plündern.«

Wupps, fuhr Herr Würffel herum. Gegen Madam hin war sein Gesicht eben noch lieblich, eifrig, aber blaß schwitzend gewesen. In diesem Augenblicke aber war es rot und blauzornig geworden. Das deutsche Schwert sauste an seiner Seite so jäh heraus, daß es die letzte Glasscheibe eines Bücherschrankes zerhieb. Dann stürmte Herr Würffel, wie eine Kegelkugel auf Alle Neune, davon!

»Schufte! Diebsbagage! Gesindel!« Und die herrliche deutsche Klinge fuhr auf gebeugte Buckel, in erstarrende Gesichter, über aufbrüllende Mäuler, flinkwütig, kreuz und quer. Herr Doktor Würffel schimpfte, hieb, stach, stieß, knirschte und trat mit beiden nicht allzulangen Füßen in solch flinker und entsetzlicher Wut auf das Dutzend Lumpenpack aus der Vorstadt los, daß eine wirre, kreischende Flucht einriß, samt entsetzlichem Gebrüll um Rache, Flehen um Leben, Geschrei um zerbrochene Zähne, ja sogar um anderes zurückgelassenes Eigentum. Denn vier Kelche, eine Monstranz und ein Pack Kirchenwäsche lagen neben den zusammengeplünderten Briegschen Sachen, und die hatte wahrlich nicht der Kanzleidirektor in seine Wohnung gebracht; sie waren von der verjagten Gesellschaft bei einem Schacherjuden geraubt worden. Würffel aber fegte hinter der überraschten Diebskumpanei daher wie der böse Leibhaftige und hieb und stieß mit Hand und Bein nach allem Leiblichen, was sich vor ihm befand, und als er mit fürchterlichem Fußtritt das letzte und schwerste der flüchtenden Hinterteile bedrohte, verlor er eine Treppenstufe und sauste hinter der hinabrasenden Lumpenschaft mit solchem Getöse und Schwertgeklirr sitzlings hinunter, daß das Entsetzen und der Lärm seine Person verzehnfachte.

Sehr zerschlagen saß der eifrige Doktor Würffel zu erster Etage am Boden, aber die Viktoria war vollständig, das Haus leer. Da richtete sich Würffel in gewaltigen Schmerzen auf, klaubte sein zerbrochenes Ritterschwert und dessen zerknüllte rotsamtene Scheide zusammen und hinkte wieder die Treppe empor. Oben straffte er sich in Siegerstellung, durchschritt die drei Zimmer und meldete der reizenden, kindlich weinenden Madame, daß sie nunmehr in ungestörtem Besitze ihrer Habseligkeiten wäre.

»Ach,« sagte die junge Frau resigniert, »sie kommen ja doch wieder; sie wissen, daß hier etwas zu holen ist. Und mein Mann! Mein ärmster Mann!«

»Ist es jener Kanzleidirektor?« fragte Würffel weich und in vorsichtig geschlängelter Annäherungsstellung.

Die junge Frau überhörte das taktlose Wort »jener« und weinte weiter.

»Madame,« sagte Würffel bebend vor Eifer. »Ich werde nicht nur für Ihren Schutz sorgen, sondern ich werde Erkundigung einziehen um Sie über den Verbleib Ihres Herrn Gemahls zu trösten. Denn soviel ich weiß, geschah ihm nichts übles.« – –

Der ehrliche Würffel sah mit verlängertem Halse nach der hübschen jungen Frau, ob sie eins verriete: »hat sie der verflixten Szene aus dem Fenster zugesehen?«

Aber das arme Frauchen weinte bloß.

»Er ist nur Gefangener, und ich will dafür sorgen, daß ihm nichts übles geschieht. Ja? – Ja? Ach Madame!«

Sie nickte, weinte und nickte: »Ja, bitte.«

Da ging er fort, drückte die eingeschlagene Türe zu, so gut es ging und überlegte, wie er für das gänzlich verschreckte junge Weibsding sicheren Schutz herbeischaffen könne. Und er dachte mit dick vollem Herzen an ihr blondes Haar, an das runde verweinte Antlitz und das appetitliche fremde Reichsdeutsch, das die Dame gesprochen hatte.

»Du süßes, ärmstes Geschöpf!«

Auf der Gasse blieb er stehen. Wohin nun um Schutz? Zu den brüllenden, trunkenen Rotten am Markte? Zu den übermütig johlenden Burschen? Er sah umher. Links von ihm lag die Kapuzinerkirche. Ah! Was darin auf den Knien lag und für den Sieg dankte, das war das edelste, tiefste, heiligste Bauernblut.

Da ging er in die Kirche. Es war einen Tag nach Osterzeit und die Kirche übervoll. Nicht wegen des Festausklanges, nein; wegen des Glücks, daß Tirol wieder österreichisch sei. Denn von den guten Menschen glaubten viele fest, daß, was sie gefangen hatten, Napoleons beste Kräfte gewesen wären. Gezählt hatte niemand die paar Tausend; das Gerücht machte zweimal Zehntausend daraus; nun blieb nicht mehr allzuviel gegen Österreich übrig, glaubte man. Da stand und lag nun auf den Knien ein Volk, das undurchdringlich schien an Dichtigkeit, Versunkenheit und Andacht. Hundert Herzen jauchzten fromme Psalmen; viel mehr aber beteten: »Herr, behüte uns vor dem Übel, das nun erst losgehen muß. Wir haben viel auf uns geladen.«

Der enthusiastische Konrad kam in solchem tief in sich versunkenem Gedränge nicht weit; er hatte sehr acht zu geben, daß er auf keine Füße, Hüte, Schildhahnfedern und Gewehre trat, denn derlei war heute zahlreich auf dem Kirchenpflaster zu finden. An einer der Bronzestatuen mußte er halt machen und überlegen, an wen er sich von da aus um Hilfe für die herzige, aschblonde Frau wenden sollte.

Auf der anderen Seite der Statue standen zwei Bauern und sprachen halblaut. Der junge Doktor vernahm, wie der eine auf die lange Reihe der Ritterbilder zeigte und meinte, das sei gutes Erz, und man solle Kanonen draus gießen fürs Land Tirol.

»Was fällt dir ein,« brummte der andere, »Kanonen bringen die Österreicher mit, und wann's zu wenig sein täten, die Bayern haben genug davon.«

»Aber am Grabmahl vom Kaiser Max darf sich nix fehl'n; das bringet uns Unheil, und der Kaiser wär wild drüber.«

Da drückte sich der gescheite Würffel um das Denkmal und sprach den Schützenhauptmann an. Es sei eine arme Frau von Plünderung bedroht, freilich die Frau eines bayrischen Beamten, aber gerade der Feind soll nicht aus Tirol ein lautes »Diebio« in die Welt hinausschreien. Und da der Mann ohnehin gefangen säße, so täte dem armen Ding eine Sauvegarde doppelt not.

Was er sei? flüsterten beide Bauernhauptleute dagegen.

Ein Steirer, aus Graz, aus der Stadt, wo Erzherzog Johann sein Korpskommando hätte. Ein Neffe des Krieseisen Seppl! Und er sei den Tirolern zu Hilfe geeilt.

»Das ischt brav,« sagte der eine.

»Hat der Herr Papiere?« fragte der andere.

Doktor Würffel wies sich aus.

»Die Frau soll ihre Schutzwach' haben,« entschied da der Schützenhauptmann, beschied zwei seiner knienden Leute aufzustehen, sagte ihnen, es gäbe ein gutes Werk zu tun und wies sie an den jungen Doktor.

Der führte die beiden willigen Kerle, – es waren Stubaier – an ihren Posten.

»Liebe Leut',« sagte er. »Tut mir die Güt' und laßt's da keine Seel' herein. Es ist die Frau von einem bayrischen Großkopfeten, die ihr bewachen sollt's. Ihr kriegt's jeder für den Tag einen Taler, bis die Österreicher einziehen; den Taler zahl ich euch aus. Da ist der erste für heut'. So.«

Und er ging großartig zur jungen Frau hinein, führte sie zu den Schildwachen, zeigte ihr die prächtigen Schützen, beruhigte sie und führte sie dann unter begeisterten Tröstungen in ihr kleines Zufluchtszimmer am Ende der Wohnung zurück, wo er sie unter vielen Versprechungen verließ, am Abend Kunde von dem Schicksal ihres Herrn Gemahls zu bringen.

Gleich nach seinem Abgang kam die Köchin mit dem kürzlich eingekauften Nachtmahl und wurde von den beiden Tiroler Schützen, denen der Befehl, niemand einzulassen, nebst dem frischen Taler noch in der Seele klang, pflichtfreudig davongejagt.

Nun hatte drinnen die junge Frau zu ihren Tränen noch den Hunger als Beigabe.

Endlich am Abend spät kam der müde Würffel. Beinahe hätten auch ihn die Bauern nicht eingelassen. Endlich erinnerte er sie an den Taler, schickte den einen um ein festes Nachtmahl für sie beide und sich, samt einer großen Flasche Wein, da er mit ihnen zu wachen gedachte und stimmte sie hierdurch zu brüderlichster Lieb und Güte.

Dann ging er zu Frau von Brieg und fand sie gänzlich zernichtet, denn da nun außer dem Mann auch die Köchin abgängig war, blieb ihre ohnehin zartblaue Seele völlig verlassen und hilflos in einem lieblich zitternden Leibesgehäuse. Sie hatte Angst um ihren Mann, Angst wegen der Stimmung der Köchin, die sie, vielleicht im Einverständnis mit der Oberleitung der Tiroler, verlassen hatte, Angst um das Nachtmahl, die Wohnung, um einen Band Wieland, der ihr abhanden gekommen war und ein wenig um sich selber.

Ah; sehr glücklich war der wackere Konrad Würffel, als er vernahm, daß im Hause Köchin und Nachtmahl fehlten, und sie unglücklich sei, ihm nichts anbieten zu können.

»Hingegen ich, Madame, ich werde mich überglücklich schätzen, hier den Wirt zu machen – in Abwesenheit ihres sehr verehrten Herrn Gemahls, den ich übrigens in bester Kondition und in einen mitleidig gespendeten Schlafrock gehüllt wohlverpflegt und außer Gefahr angetroffen.«

Und er pries sich glücklich, den einen der beiden Schützen in das Nachbarwirtshaus geschickt zu haben, denn für einen Taler hatte der ein Nachtessen für zwölf Menschen heimgetragen. Da der Doktor für sich und Frau von Brieg einige delikate Bissen für bloß zwei Menschen nebst etwas Wein hinwegnahm, blieben die beiden gotteskräftigen Stubaier zufrieden, vertilgten all' die duftenden Freßherrlichkeiten in einem wahren Hochzeitsschwung, tranken die ganzen drei Maß Wein und sangen zum Dessert das schöne Lied, das damals neu gedichtet war und also anhub:

»Der Bayer hat das Land verheert
Wie eine Sau die Flur zerstört,
Franz! Leg dem Rüssel Ringe an,
Damit er nicht mehr wühlen kann.«

Drinnen hatte Frau von Brieg ihren Retter zu Gaste geladen. Stillsittlich und schweigsam aßen sie und Konrad erzählte von der Macht und Wut Tirols, nur als die Bauern sangen, flüsterte die junge Frau: »Ach Gott, wenn sie uns nur nicht ermorden.«

Denn sie hatte ein sehr feines Gehör, spielte sehr gerne Gluck und Haydn und glaubte also, das Totschlagen käme gleich zunächst nach der Polychromie der Tiroler Volksmusik.

»Seien Sie ruhig und voll freudigen Mutes, verehrte gnädige Frau,« sagte Doktor Würffel. »Ich werde bei diesen beiden Bauern schlafen und Sie nicht verlassen, bis Ihr Herr Gemahl den glückseligen Weg der Wiederkunft zu Ihnen findet.«

»Ach ja, ich bitte sehr hierum,« sagte die junge Frau. »Jedoch, bei diesen Leuten vermögen Sie doch unmöglich zu schlafen. Ich werde Ihnen das Zimmer an der Türe anweisen. – Ach, die ganze Dienstbotenschaft hat sich ja verlaufen. Nun denn: ich selber werde Ihr Bett bereiten.«

»O nein, Madame, das werde ich tun,« wehrte der heldenmütige Würffel ab. »Denn ich werde keineswegs in einem Bette schlafen. Quer über Madames Türschwelle werde ich mich legen und hierdurch Ihren Schlaf bewachen wie ein treuer Hund.«

»Ach Gott, nein!« rief Madame.

»Ich werde es,« versicherte Würffel in großer und edler Haltung, und kam sich prachtvoll vor.

Madame sah ihn an, ihn und seine breit dastehende, hilfsbereite, vierschrötige Ehrlichkeit. »Beruhigend wäre es freilich allzu sehr,« sagte sie dann.

»Also denn, richten wir mein Lager,« entschied er froh und stolz.

Da schleppten sie beide Matratze, Leintuch, Kissen und Decken quer vor die Türe, trugen in guter Laune zu zweit an jedem Stücke und zuletzt, als das Bett fertig war, lachte Madame sogar ein bißchen.

Draußen sangen die Tiroler, diesmal im Stubaier Dialekt; es war für Madame nicht zu verstehen, und das war gut. Denn das Lied ging auf die Zwei, die da drinnen eine Nacht teilen sollten.

Madame erschrak schon vor dem bloßen Gurgelton ihres Gelächters und entfloh. Der in jedem Augenblick begeisterungsfähige Konrad aber fühlte sofort das Bedürfnis, eine heikle Situation ritterlich zu verbessern, öffnete die Tür, bat die Bauern um ein Glas Wein, trank auf das Wohl des Erzherzogs Johann und des Landes Tirol, ging dann in die Wohnung und holte ihnen zwei tüchtige Strohsäcke und Decken hinaus. Dann zeigte er ihnen sein Lager quer vor der Türe und sagte ihnen: »Da schlaf' ich. Wenn ihr was braucht, die Tür bleibt offen.«

Nun duckten sie, schämten sich ein wenig und waren gestillt. »Nehm' der Herr nix für ungut,« sagten sie, »und gute Nacht. Mier waren halt ein bissel lustig und hätten Ihnen alles Gute wohl vergunnt.«

Da fühlte Herr Würffel einen Stich in seinem Herzen. Diese Bauernjungen hatten geglaubt, einem Ehebruch als Schutzgarde zu dienen! Dem bayrischen Beamten hätten sie es wohl vergönnt, dem vermeintlichen Heiden; so heilig ihnen sonst der Ehestand auch war.

»Nein, nein,« sagte der junge Mensch ruhig. »Nein, nein; das ist ein armes Frauenzimmer, das mir leid tut, das Hilfe braucht und dessen Ruhe wir bewachen müssen, alle drei. Also: die Tür steht offen; hört ihr? Es geschieht nichts, was von Gotts wegen unrecht wär'. Gute Nacht, Schützen.«

»Gut' Nacht, Hearr,« sagten die frischen Kerle, verwundert, daß der kräftige Doktor als ein nichtsnutziger Städter seine Obmacht nicht geltend machte, tranken ihren roten Burggräfler von da ab schweigend aus und schliefen sehr bald wie Baumklötze.

Dann saß der junge Mensch friedlich und rein bei der jungen Frau und sie aßen zusammen wie Geschwister. Würffel mußte dem erstaunten, verschreckten Ding erzählen, wie denn diese schreckliche Revolution so jähe losgebrochen sei. Und der Doktor machte sich zum Anwalt der Bauern und erklärte der jungen Frau wohl ein Dutzend ihrer bitterschweren Vorwürfe gegen den Landfeind.

Der Frau des Beamten aber, so schwer sie durch diesen Ausbruch des Volkszornes geschädigt worden war, schlug sogleich das mitleidige Herz in Verständnis für diese weltfernen Bergbauern. »Ach, die Ärmsten! das sagte mir niemand in all' den Jahren, da ich hier saß! Nun begreife ich. Und ich begreife auch Sie, der Sie ihnen zu Hilfe eilten. Sie sind ein edler, guter Mensch; Sie müssen Ihr Leben wagen, wo Sie Unterdrückte sehen; ich, ich weiß das.«

Sie gab ihm ihre Hand, und die Sinne des jungen Würffel lagen wie in Rosenöl unter dem weichen, warmen Lobe einer schönen, sanften Dame. Er hatte schöngeistige, verständnisinnige Frauen in dem engedenkenden Philisterstädtchen, dem er entwachsen war, nicht kennen gelernt. Nun blühte seine ganze Seele empor, weil diese Frau so bis in das Herz reich gebildet war. Er saß und ließ sich loben und war viel seliger, als der liebe Gott mitten im Gesange der überzeugtesten Engelein sein dürfte.

»Wie seltsam ist das,« sagte die junge Frau, die sich den schmachtenden Stil ihrer Zeit trefflich ins Herz gelesen hatte, mit ihrer leisen, warmen Stimme. »Zur Zeit der Mittagsglocken waren wir noch wie zwei irrende Blätter im Herbst, eins von einem Eichbaum und eins von einer Linde gerissen, und wußten eines nicht vom andern und hätten uns niemals gelten lassen wollen. Nun hat uns ein Sturmstoß in dieses Winkelchen geweht, da ducken wir nun zusammen und das eine schützt das andere vor der Kälte und sie sind ein Schicksal.«

Der beglückte junge Mensch ließ die Worte des jungen Weibes um sich wehen, und zitterte in dem reinen Glück dieses wunderbaren Abends. Dann kam ihm die Angst, daß dies jeden Augenblick enden müsse, und er sagte traurig: »Bis ein neuer Sturmstoß zwischen uns fährt, gnädige Frau. Dann wird das leichtere, goldblonde Lindenblatt auffliegen wie ein Falter, und das harte braune Eichenlaub wird fortgeprellt werden, tief an der rauhen Erde hin und wird zerrissen werden.«

»Ach, liebster, edelster Freund, nicht zu frühe!« bat die junge Frau in gefühlvollem Schreck. »Nicht wahr, Sie schützen mich, solange Gefahr ist. Sie können gar nicht anders.«

»Nein, ich kann nicht anders, wahrhaftig;« sagte der junge Doktor mit schwermütigem Kopfneigen. Dann aber entrang sich ihm ein Wort, das den ganzen Abend im Grunde seines Herzens nach oben genagt hatte und nun frei geworden war: »Gnädigste Frau, ich weiß noch nicht einmal ihren Namen.«

»Frau von der Brieg.«

»Ach nein; den Vornamen.«

Da wurde die zartfarbige Frau tief rot. »Elmire«, sagte sie. »Und nun ist es Zeit, schlafen zu gehen. Gute Nacht, Herr, Herr – – –.« Sie lachte leise. »Nun sehen Sie an, ich kenne ja Ihren Namen auch nicht.«

Da fühlte, zum erstenmal in seinem Leben, der sturmfeste, junge Freiheitskämpfer eine gewaltige Bange, seinen Namen zu nennen, der ihm plötzlich wie ein Hackstock vorkam; so kurz, breit und schrötig wie er selber.

»Doktor Konrad Würffel,« sagte er schuldbewußt.

Die junge Dame zögerte ein Augenblickchen, bis ihr Feingefühl wieder beruhigt war, dann sagte sie: »Gute Nacht also, Herr Doktor.«

Eine Minute später lag der junge Freiheitsheld, nachdem er den Bauern vor der Türe demonstrativ ins Gesicht geleuchtet hatte, auf seiner Matratze, die er sich quer vor die Türe geschleppt hatte, drei Zimmer von Madame entfernt und hätte schlafen sollen. Aber sein Herz seufzte wie das Eisen auf dem Ambos.

»Sie hat ihn nicht einmal in den Mund genommen, meinen Namen. Sie wollte mich schonen. Doktor ist ihr klangvoller als Konrad und nun gar als Würffel. Weil ich selber viereckig bin; o Götter. Warum habt ihr mich also gebildet!«

Dann fluteten weichere Erinnerungen des hingeschiedenen Tages über jenen schmerzlichen Gutenachtgruß. Ihr Lob rann von neuem über ihn, er hörte den weichen, verdeckten Ton ihrer Stimme, die voll Zärtlichkeit, Bewegtheit und Güte bebte, und sie schwamm in seinem Wesen wie ein Goldtropfen, der in ein Glas Wasser gefallen, löste sich darin, versüßte es und färbte all seine Gedanken, all seine Hoffnung und sein ganzes Dasein mit einem leisen, zärtlichen Blond.

So schlief er endlich ein.

* * *

Die Österreicher waren eingerückt, Frau von der Brieg nicht mehr in Gefahr, die Stadt beruhigt, die Bauern in Bergleiten, Halden und Ferntäler zerstoben. Innsbruck lag in Fried' und Sonne, – und unnötig und wertlos war Doktor Konrad Würffel geworden! Dennoch reiste er nicht nach der Heimat zurück, und dennoch verzweifelte er nicht, daß er nun gar so unnütz sei, daß alle Heldenträume mit dem Wedel zerstäubt wären und ein jämmerliches Mißlingen rittlings über seiner Nase säße.

Nein, er wußte das alles, es war ihm weh, aber er sog die Schmerzgefühle, zugleich mit dem Veilchendufte des Innrains, in sich ein, als seien beide gleich süß und eine Wesenheit.

Sein Gefühl floß in diesen wunderbar milden, gesegneten Frühling über, und Konrad Würffel schwebte; er lebte nicht mehr in Wucht und Trittkraft, wie einst.

Er ging auf dem Saggenfelde umher; er blieb stehen und horchte dem Tosen des Inn, dann setzte er wie eine musikalische Auflösung der drohenden Dissonanz den Namen Elmire darüber und wanderte in die Stadt zurück, das elftemal durch ihre Gasse, über die Brücke nach Hötting, dann innabwärts bis gegen Absam, stets in leisesten Veilchenduft eingewölkt und in das zitternde Blühen seines Herzens.

Er sah nach dem Mittelgebirge im Süden; das war so blau, so fern, so zart, mild und besonnt, wie ihre Augen, ihre Stimme und ihr Wesen. Es war alles eine einzige Wesenheit, und ach, diese ganze gnadenreiche Blauhimmelswelt hieß Elmire.

So durchschwankte er in unsagbarer Trunkenheit Gottes allergütigsten Frühlingstag, und das tüchtige Hungergefühl, das schon seit längerer Zeit seinen Magen knarrend wie altes Leder krummbog, erhöhte nur sein demütiges Weh, so unnütz, so sehr zu schlecht für solche Frau, so hoffnungslos und so glücklich zu sein. Er wünschte nichts, er benötigte nichts, sogar seinen Atem mißbrauchte er nur, um den einen, weichen Namen zu hauchen.

Doktor Würffel war nur mehr eine zuckerwässerne Lösung seines eigenen Wesens. Jeder Mensch hätte ihn jetzt hinuntertrinken können; er hätte sich weniger gewehrt als ein seliger Geist.

Gegen Abend trieb's ihn endlich dennoch zu Frau Elmiren; er wollte sich den Stoß in die Eingeweide nicht ersparen und ihren Mann sehen; an diesem Tage, wo alles wohltat, suchte und wühlte er mit Vorliebe in dem, was sonst Leiden hieß.

Halt! Vorher hatte er noch ein schweres Geschäft abzutun. Es konnte geschehen, daß man ihn, als den Retter der Dame, zu Gaste bat; ja, man mußte es tun. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, sondern mit einer gewissen Kasteiwonne gefastet, wie ein begeisterter Novize am Tage vor dem Ritterschlag. Wenn er nun dort oben saß und in seinem Glücksgefühl hineinzufressen begann wie eine neidische Dogge, so ging wohl gar der letzte Zauber zarten Kavaliertums, den er sich noch gerettet zu haben glaubte, in zwei teuren, blauen Augen verloren. Er setzte sich also beim weißen Ochsen in die Gaststube und holte den ganzen langen Hungerdichtungstag wieder ein; dabei kam ihm bei jedem Bissen das Weinen: vor Glück. In dem Schwunge, in den er geraten war, hieb er so unbedenklich ein, daß sogar die an den Tiroler Maßstab gewöhnte Wirtin kam, ihm zusah und dann sagte: »Gott gesegen's dem jungen Herrn.«

Dann ging er fröhlich dahin, hatte Mut und war getröstet; denn nun vermochte er ganz so ätherisch zu erscheinen, wie das in jener Zeit beim Essen vor zarten Damen schicklich war.

Er klopfte an ihrer Türe lange Zeit umsonst; sein Herz klopfte mit, und fast schon wäre er wieder mutlos über die Treppen hinuntergekrochen, als er ihre liebe, schüchterne Stimme hinter der Türe hörte: »Wer ist's?«

Er hörte die Angst in ihrem Ton, sie erwartete wohl abermals Räuber; und diesmal wußte er, daß in solchem Augenblick sein klobiger Name sehr gut genannt werden konnte, ja, daß er ein Prachtstück sei: »Doktor Würffel!« rief er fröhlich und stolz.

»Ah!« Und in diesem freudig zitternden Ah lag so viel Erlöstheit, daß dem guten Jungen die Knie bebten, als drinnen Schritte huschten, ein Riegel weggeschoben und eine Kette abgenommen wurde. Dann erhielt der tapfere Konrad zwischen Tür und Angel schon den Druck einer heißen kleinen Hand.

»Herrgott, haben Sie sich eingesperrt,« sagte Würffel verwundert.

»Ach, Herr Doktor, Herr Doktor, weil nur Sie mich nicht verlassen haben! Den ganzen Tag zitterte und betete ich: O Gott, erhalte mir diesen einen Menschen!« Und sie weinte.

»Aber Madame! Gnädigste, liebste, schönste gnädige Frau. Sie sind allein?«

»Kommen Sie, kommen Sie, ich zittere, solange die Türe offen steht.«

In ihrem Zimmer legte sie dann einen Jammer und eine Herzensnot vor den erbitterten Würffel hin, die wirklich für das schüchterne, verwöhnte junge Geschöpf an einem Tag zu viel war.

Sie hatte sich dem österreichischen General Chasteler zu Füßen geworfen und um Gnade und Freigabe ihres Mannes gefleht. Der galante Herr war von ihrer Schönheit und Angst gerührt und hatte nach dem Schicksal des Kanzleirats fragen lassen. Aber der war schon fort. Die Bauern hatten ihn längst innabwärts gegen Salzburg geführt, von wo sie General Jellachich im Anzuge wähnten, und der neue Intendant des Landes hatte ihm eine Eilstaffette nachgeschickt mit dem Befehl, an dem verhaßten Amtsrichter ein Exempel zu statuieren und ihn nach Ungarn zu führen. Die arme Frau erwirkte von dem Kommandanten nur, daß sie ihrem Manne Kleider und Geld nachschicken dürfte, für das richtige Eintreffen und die Ablieferung der reichen Mittel, die sie für ihren Mann übergab, hatte Chasteler, ein hochherziger Mann, allerdings mit seiner Ehre gebürgt.

Welche Leiden aber hatte es überdies noch gegeben. Kein Dienstbote hatte mehr bei der Frau des anrüchigen, nun bestraften Bayern bleiben wollen; die Bekannten, zu denen sie um Rat und Hilfe gelaufen war, hatten sich von ihr zurückgezogen. Die einen in abweisender Kälte, die anderen voll scheuen Mitleids und mit vielen Entschuldigungen, daß die Zeiten gefährlich, Pöbel und Bauern gereizt seien, und sie sich nicht kompromittieren dürften.

Und der einzige Freund, der treue, hochherzige Würffel, obwohl als Freiheitskämpfer ein Feind der Bayern, er war treugeblieben, er war gekommen, er allein von allen half! Würffel saß nun hellstrahlend und in Glorie, wie das Osterlamm mit der Fahne. Die ärmste Frau wollte fort, fort nach München; ob Würffel ihr einen Geleitschein verschaffen könne?

»Aber ja,« jubelte der glückliche Doktor, »mich selber und meine Treue. Ich bringe Sie gut und sicher über die Grenze.«

Die junge Frau sah ihn starr an, versuchte zu sprechen, brachte es aber nur zu den erstickten Worten: »Sie, S… S…!« Sie hatte rufen wollen: »Sie guter Mensch,« und nun weinte sie abermals; diesmal vor Ergriffenheit.

Würffeln ward der wunderschöne Lohn zuteil, diese Tränen wegtrösten zu dürfen, der armen, jungen Frau zu erzählen, wie sicher und treu er sie geleiten wollte und sie hernach, die gleich ihm den ganzen Tag gehungert hatte und deshalb noch viel leichter weinte als sonst, abermals zu füttern, ihr Wein aufzunötigen und sie zu unterhalten, bis sie wieder ganz sanfte, ruhige Augen machte. Dann nahm er Abschied, rein und scheu, wie er gekommen war, fühlte den Druck ihrer beiden heißen Hände durch sich zucken und stürmte dann in den Straßen von Innsbruck umher, daß hier und dort Haustore krachten, gegen die er in seinem Glückstaumel rannte. Die Nacht war still und wundervoll lau, und wenn er stehen blieb, so hörte er allüberall die Frühlingswässer rieseln, und weit in den Bergen donnerten ferne Lawinen. Da schluchzte und juchzte er, fuhr herum wie eine aufgeregte Hummel, ruhte, horchte wieder, atmete die mildeste aller Nächte ein, breitete die Arme und trieb es sehr töricht und sehr arg.

II.

Nun fuhren sie innabwärts über Volders und Schwaz gegen Wörgl, wo der Weg am frühlingstoll brausenden Inn nordwärts gegen Kufstein bog. Es war ein Triumphzug!

Überall, wohin sie kamen, jauchzte hochauf das Volk, ja, es kam heran, um den Wagen zu küssen! Nicht, daß es gewußt hätte, welches unbändige randübervolle Glück es in der Person des festlich leuchtenden Würffel einschloß, o nein. Aber die Postkutsche! Es war die erste in den österreichischen Farben, die seit dem unseligen Jahre Fünf durchs Inntal fuhr. Sogar die Taxissche Verwaltung war im Vorjahre aufgehoben worden. Am Kutschenschlage breitete nunmehr rund wie ein Rad der kaiserliche Adler seine Flügel aus und die Postillone hatten schwarzgelbe Schnüre an Hut und Brust und Horn. Ihrer drei ritten voraus; so hatte es Chasteler für die erste Fahrpost angeordnet und bliesen sich einen Durst an, den Doktor Würffel in seinem unbändigen Glücksgefühl immer von neuem durch Trinkgelder zu löschen unternahm. Der eine vertrug nicht viel, er blieb schon in Volders glückselig und wehmütig liegen und rief den Kameraden ein blasses »Atjes« zu. Die beiden anderen tranken sich bis Wörgl durch und wollten dort beiseite, aber ihr lustiges Blasen und Juchzen hatte die ganze Gegend in Aufwach gerufen. Da ward die alte Kutsche getäschelt, die Pferde liebkost, der Adler geküßt wie ein Heiligenbild und die Reisenden jubelnd besegnet. »Ein feins, ein schönes, junges Paar. Ein Brautpaar! Das bringt uns Glück.«

Selbst die Pferde wurden übermütig, ja sogar die stillen, grimmig kühlen Berge. Sie spielten mit dem Klange der Posthörner auf die holdeste Weise Fangball, eine von den Wänden warf der anderen den Beginn der lieben österreichischen Weise zu, bevor die andere aufhorchend das Ende erhascht hatte; und die gab es weiter ins stille Tal seitwärts hinein, und so gingen und kamen neckend alle Takte in lieblichster Wirrnis durcheinander, überpurzelten sich wie musizierende Englein, kicherten und sangen kreuz und quer eins dem anderen in die Noten, so daß die junge Frau über und über lachte und die Hände in heller Lust zusammenschlug.

Doktor Würffel aber saß festlich neben ihr und sagte: »Hm? Wie? Ist das nicht reizend?«, als hätte all das er arrangiert. Es war ihm zumute, als sei er der liebe Gott, da er das Paradies komplett geschaffen hatte, gleich samt der Liebe dazu, und gänzlich ohne Sündenfall.

Besonders wohl tat ihm, daß die entzückten Tiroler auch ihn schön fanden und daß Elmire das hören mußte.

Sogar Frau Elmire begann dieses Volk entzückend zu finden und klagte über fehlerhafte Verwaltung und Mißverständnisse, wobei sie jedoch behutsam über ihren verbannten Herrn Eheliebsten schwieg.

Konrad hätte gar zu gerne gewußt, ob sie den vierteilen gesehen hatte. Denn dann hatte Brieg vor dem Namen und der Gestalt Würffels nicht die geringste Würde mehr voraus. Aber der Tag war so selig und sein Herz voll so zarter Scheu, daß er nicht ein Streiferchen in der Nähe dieser Angelegenheit herum fragte.

Zu Wörgl fielen die beiden blasenden Reiterpostillone selig wankend links und rechts von ihren vorwurfsvoll stillen Pferden, und nun saß nur mehr der erneute Schwager auf dem Kutschbocke. Gegen Kufstein zu ging es recht einsam und merkwürdig still zu; denn die Grenzfestung lag noch in eisenfesten bayrischen Händen. Zwar lagen Bauern ringsum und schossen aus erobertem Geschütz dann und wann eine Kanonenkugel hinauf, dann kamen von oben deren zwei zurück, niemandem geschah viel Leides und beide Teile waren sehr stolz, denn so war man mitten in der Weltgeschichte und es tat nicht weh.

Herrn Würffel war diese Fahrt von Wörgl ab die allerliebste! So kurz sie war, sie ging durch weiteres Tal, durch stille Auen, und der Schwager, der sie nun fuhr, der Göttliche, schlief; die Pferde grasten nur so an der Straße entlang. Da stieg Herr Konrad aus dem Wagen, holte den schwerduftenden Seidelbast vom Wege, und Palmkätzchen und Primeln und Leberblümchen, ja, er fing der gnädigen Frau sogar einen herrlichen Zitronenfalter, lief wie ein bettelnder Zigeunerbube dem trollenden Wagen nach, hielt ihn hoch empor und sagte glückselig: »Endlich! Da ist ein Geschöpf, das ist noch blonder als Sie.« Sie bat, ihn fliegen zu lassen, und als er fröhlich klappend in schlankem Segelflug davonwippte, lobte sie ihn wie einen braven Knaben, daß er ihn nicht hart gedrückt habe. Er aber war feucht vor Eifer, sehr glücklich und überlegte eine Menge neuer Dummejungenstreiche.

Madame im Wagen lächelte so hell wie er selber, war in bester Laune und freute sich sehr auf München. Sie spähte und spähte nach dem Wege voraus. »Kufstein«, rief sie endlich lautauf vor Lust, an der Grenze zu sein.

Da wachte der Postillon auf, brachte die Pferde zum Stehen und stieg ab.

»So,« sagte er kleinlaut.

»Was, so?« fragte Doktor Würffel.

»Das Stadtel ist bayrisch; sie schießen mit Kanonenkugeln auf alles, was sich auf der Straßen rührt.«

»Ja freilich, wenn's Tiroler Schützen sind. Aber auf die Postkutsche schießen sie sicherlich nicht. Sie wissen ja nicht, ob sie ihnen selber was schönes bringt. Und dir trägt's einen Taler ein. Da hab' ich ihn in der Hand.«

Der Postillon kratzte sich rundum am Kopfe. »Teifi, Teifi, wann jetzt die schwarzgelben Schnür' net wären!« Und er sah hilflos seine schöne, neu hergerichtete Uniform an. »Die hängeten mi dort drin an dieselben Schnür' auf.«

Da erstieg großartig Herr Würffel den Bocksitz, gab dem Postillon seinen Taler, ließ sich das Posthorn reichen, schnitt die schwarzgelben Schnüre davon herunter, nahm die Zügel, gab dem bedenklichen Manne noch einen Taler und sein Ehrenwort als Tiroler Schützenmajor, der er durchaus nicht war, daß er Wagen und Pferde wohlbehalten am Kufsteiner Postamt abliefern wolle.

Der Postillon, der ohnehin wußte, daß sie den Wagen dort nicht durchlassen würden, nickte und verschwand langsam in der Au. Rundum schrien und drohten vom Rande der Gehölze die Bauern, die Kufstein umstellt hatten. Auf die Straße aber wagte sich keiner herzu, die Pferde aufzuhalten; denn dort prellte es gleich Kanonenkugeln vom Maximiliansturm herüber.

Nun fuhren sie, er droben, sie drinnen, und er sprach und nickte ihr froh und freundlich vom Bocke nach rückwärts zu. »Sehen Sie, sie schießen nicht.« Immer näher kamen sie an das liebliche Städtlein mit der kleinen Festung auf dem Felsen im letzten Engtale Tirols heran.

Ein einzigesmal rumorte ein Kanonenschuß auf; wohl eine blinde Anfrage aus der Festung an den Wagen. Elmire schrie auf, Konrad aber zog mit der linken sein weißes Taschentuch und wedelte Friede und Freundschaft, so schnell wie ein eifriger Hund, in der hellen Aprilbläue umher. Da schwieg die Kanone fortan, Konrad trieb die Gäule ins Städtlein und da er sich erinnerte, daß ein Postillon zu blasen habe, so setzte er das Posthorn an den Mund und blies und blies mit seinen ungewohnten, vollen und lockeren Lippen immer denselben Ton, den tiefsten, den das Posthorn von sich gab, ein großes G, dröhnend wie das Brüllen einer Kuh.

Böh! Böh! Elmire im Wagen schrie und bog sich vor Lachen, Konrad war stolz und blaurot und die verlassenen Gassen des belagerten Städtleins am Fuße der Festung stöhnten mit Frau Elmire.

Fuchswütend kam eine bayrische Patrouille und schrie den grob unmusikalischen Spaß mit Drohungen entzwei. Der Wagen hielt, Konrad mußte absitzen. Sie sollten sich ausweisen, alle beide. Konrad konnte nicht. Da kam ein Offizier, dann deren zweie, die baten die reisenden Herrschaften auf die Festung zu Herrn Oberstwachtmeister von Aicher, dem Kommandanten.

Der war ein gemütlich grober Herr von derb rotem Antlitz, dem hier oben in Trotz und Gefährdung sehr wohl war. Er blitzte die beiden aus seinen überbuschten Augen zu allem bereit an; der eine Mundwinkel spitzte sich zu einem pfiffigen Befehl, dessen Richtung nach dem Karzer führte, der andere senkte sich breit und gnädig.

Herrn Konrad Würffel war ungewiß zumute; er war nun völlig an Frau Elmirens Gnade überliefert. Ein Glück. Denn Herr Major von Aicher befragte die Dame zuerst, und gleich, da sie sich als Gattin des messerscharfen Amtsrichters von der Brieg auswies, fuhr der alte Soldat empor, erwies ihr die strammste Achtung und fragte nach dem Befinden des Herrn Gemahls.

Ach, Madamchen hatte sogleich hundert Tränen nacheinander rollen! Sie erzählte, klagte an, berichtete, daß ihr Gemahl deportieret sei, daß sie hilflos, schutzlos, heimatlos sei, nein doch! Diesem Herrn hier verdanke sie Vermögen, Ehre, Freiheit, Rückkehr ins Vaterland, Leben, alles, alles! Und sie schilderte Herrn Würffels tapfere Vertreibung des Vorstadtgesindels, seine treue Bemühung um sie, genau, bis an das Nachtmahl und Schinkenbein herunter, und es war so herrlich und heroisch anzuhören, daß dem guten Würffel ob eigener Größe die gerührten Tränen in den Augen standen und Herr von Aicher weich und saftig wurde wie eine große Kartoffel im Lagerfeuer.

Doktor Würffel hatte ein leichtes Verhör. Er brauchte bloß ein ärztliches Diplom vorzuweisen und, in sehr lockerer Wahrheit, zu berichten, daß er zu Studienzwecken nach Tirol gekommen und hier vom Aufstand überrascht worden sei. Dann klagte er bitterlich, daß er nun in Begleitung Madames an jeder bayrischen Station Mißhelligkeiten haben würde. Herr Major von Aicher gab ihm also nebst seinem Lobe einen prächtigen Empfehlungsbrief und beiden eine Mahlzeit, die bezeugte, daß inbezug auf das leibliche Wohlbefinden der Besatzung die tröstlichsten Aussichten vorhanden waren. Dann fuhren sie gegen München in die helle Hochebene hinaus.

Herr von Würffel hatte irgendwo hinten im Beinkleid eine geheime Tasche, in der auch ein Teil seiner tüchtigen Barschaft steckte. Da nun das Bayernland von der vorrückenden österreichischen Armee durchwimmelt war, tat er Herrn Aichers Empfehlungsbrief dorthin und zeigte allenthalben mit breiter Brust seinen Schützenbrief nebst dem herrlichen Zeugnis des Hauptmanns Ennemoser, von Chasteler und Hormayr visiert vor.

Sollte es dicker kommen und weißblau mit schwarzgelb wechseln, so brauchte er bloß die Papiere auszutauschen.

Aber er hatte Glück, denn sogar München war von den Österreichern besetzt, und das hatte zur Folge, daß die erschrockene kleine Frau ihn flehentlich bat, sie noch nicht zu verlassen.

Selten war Großmut so herzleicht wie die, mit der Herr Konrad Würffel der hübschen Elmire zusicherte: »Ach, gnädige Frau, ich bleibe, solange Sie mich nicht verjagen und wünschte nur, eher getötet zu werden, bevor dies geschieht.«

»Es wird nie geschehen,« sagte die kleine Frau mit jäher und großartiger Tatkraft und hielt ihm ihre Hand hin.

Herr Würffel glaubte ihr und war der Meinung, nun könne die Seligkeit kein Ende mehr nehmen.

Aber er ward recht einsam in den ersten Tagen, denn Madame hatte viele Besuche zu machen und mußte überall erzählen, wie und was und warum! Ein Glück, daß sie endlos gutes von dem seelenreinen, armen Würffel schwätzte, denn nun ward auch der eingeladen und mußte authentische Berichte von den entsetzlichen, barbarischen Tirolern bringen. Er erzählte, so hübsch und niedlich es sich zugunsten seiner Freunde anbringen ließ, denn er merkte bald, daß man hier von der Volkstracht bis zum Hosenträger, von den Eheverhältnissen, dem Fensterln und den Liedern des guten Bergvolkes, lieber hörte, als von dessen Not und Wut.

Da ward Herr Würffel berühmt und umhergebeten in ganz München, und es ist wahr, er nahm in drei Wochen einundzwanzig Einladungen an, stets am Arme der stillen, sanften, gnädigen Frau, und war nicht einen Abend allein!

Er war ganz ahnungslos bei dem ganzen Irrtaumel; ahnungslos wie nur je in seinem Leben, vergaß die Zeit und bemerkte nicht ihre Ereignisse, obwohl er schon längst abgeschnitten am Sande saß, wie die übereifrige Krabbe, wenn die Flut abgelaufen ist. Denn die Österreicher, die zwischen Regensburg und München gestanden, waren schon längst wieder von hinnen gewichen, ehe es Würffel vor lauter Verliebtheit und Aufgeführtwerden, Erzählen und Bewundertsein noch recht merkte, daß er im Feindeslande allein stand.

Napoleon war im Donautal mit all seiner Brutalität losgeprallt, Erzherzog Karl hatte bald den Feind im eigenen Lande und tat, was bisher alle taten; denn man war es schon gewohnt, dem kleinen Kerl aus Korsika in unbehaglicher Stimmung auszuweichen.

Der König war wieder in München; da ward Frau von der Brieg zu einer tröstlichen Audienz berufen, in der sie lang und breit von ihren Leiden, ihrer Rettung und der Hingabe eines edelmütigen Feindes zu erzählen hatte. Diesen Feind wollte der König nun auch sehen; es gefiel ihm gar sehr und er wünschte, in Tirol gute Stimmung zu machen. Da sollte nun auch Herr Würffel in Audienz. Es war hoch im Monat Mai und der junge Würffel hatte bisher so bewußtlos in Leuchtkraft und Innigkeit floriert wie ringsum die blühenden Bäume.

Nun erschrak er tief und mächtig.

Würffel, was bist du geworden? Würffel, was geschieht mit dir! Würffel, welch ein Abgrund! Willst du gänzlich zum Verräter werden?

Da warf er sich Madame, die ihm sein Glück in höchstem Entzücken mitteilte, zu Füßen. Nur einen Tag Bedenkzeit in solcher Verwirrung! Sie sollte an Hofe melden, daß er augenblicklich verreist wäre und so Aufschub erwirken. Er müsse sich fassen.

»Aber Freund, teuerer Freund. Diese Audienz kann eine Anstellung in München bedeuten,« warnte sie in ihrer lieben, sorgfältig leisen Art.

»Kein König kann mich anstellen, wenn mein Herz es nicht tut,« rief er. »Ich war hier nicht in Bayern, ich war nur bei Ihnen, mit Ihnen, gnädigste Frau. Ich gehöre nach Tirol, ich gehöre dem Elend, der Bedrängnis und der hilflosen Armut. Sie, Sie sind jetzt wieder reich, glücklich und umfreundet. Ich aber muß meinen Fuß setzen über das Hochgebirge und ins arme Inntal. Die bayrischen Divisionen sind dort im Lande, und ich träume hier körperlos, als sei ich Mailuft über einem sonnigen Liliengarten!«

»Sie toller, edler, heiliger Mensch,« sagte Elmire in tiefer Rührung. »Gehen Sie denn, überlegen Sie und tun Sie dann nach Ihrem Herzen. Ich darf Sie nicht halten, so gerne ich Ihnen noch einen reichen Dank über den Hitzkopf geschickt hätte.«

Und Herr Würffel stürmte hinaus, zur Isar, die aus den Bergen kam und ihm erzählen sollte, was in Tirol geschähe! Und was denn in all den Wochen geschehen wäre, die ihn wie im Traume hingewirbelt hätten?

Waren nicht alle Tage gleich gewesen? Am Morgen holte er die sanfte stille Frau ab, dann machten sie zusammen Besuche und er mußte von Tirol erzählen. Das tat er so gerne, da flog die Zeit. Dann zu Mittag aß er nicht stets allein, dann und wann war er bei ihr zu Gaste, stets mit anderen Menschen; nie mehr allein wie einst zu Innsbruck. Und doch waren diese Mittage seine Feste. Am Abend war er fast immer eingeladen, aber mit ihr zusammen; so sah er sie denn wieder, freute sich darüber, daß man sie liebte und entzückend fand, bestrebte sich sehr, angenehm zu bleiben und Beifall zu finden, gab wohl dann und wann einen ärztlichen Ratschlag und ein Rezept kostenlos mit in den Diskurs und korrigierte in den erbosten Gemütern verschobene Vorstellungen von Tirol, so sanft und sorgsam es ging. Sonst hätte er gerauft und mit der Faust auf den Tisch gehauen: Ich laß mir die Tiroler nicht verschimpfen! Aber irgendwo im Saal oder Nebenzimmer ging ihre liebe, leise, ruhige Stimme, und er mußte mit ihr halten, als hätte er sie auf dem Piano zu begleiten. Er blieb sachte, weil Frau Elmire sachte war.

War er allein, so taumelte er in den Isarauen umher, wo der betäubend süße Duft der Traubenkirsche allmächtig war und breitete die Arme aus wie ein Priester im Weihrauch.

Nicht mit der leisesten Erregung versuchte er an ihrer Liebe zu reißen, und sie gab nichts als immer gleiche, leise, liebe zärtliche Freundschaft und große, scheue Verehrung vor seinem hochgemuten Heldenherzen, wie sie es nannte. Das tat ihm wohl, wie dem kranken Kater die Sonne. Er lag in diesem milden Liebfrauenlichte Tage, Wochen, einen Monat lang und immer war der gleiche Frühling, als sei die ganze Erde zeitlos geworden und als wären tausend Jahre ein Tag wie vor Gott.

Nun war plötzlich ein voller Monat mit eisenschweren Ereignissen vor ihm in einen Abgrund gekollert, und ihm krampfte es die Brust vor Schreck und Erkenntnis zusammen, wie strafwürdig lange er geschlafen.

Die Bayern hatten die Westpässe des Landes bezwungen und waren in Tirol. Heute war die Siegesbotschaft von Wörgl nach München gebraust; alle Glocken läuteten und hämmerten auf das Herz des armen Würffel mit endlosen Schlägen los.

An der Isar ward ihm auch des Flusses Antwort. Dort lag das Staatsgefängnis und offene Gitterfenster gingen wie Käfige wilder Tiere nach dem düstergrünen Wasser hinaus. Dort lagen die gefangenen Tiroler, und zur Feier des Sieges hatten sie noch mehr Zuschauer als sonst, die sie, wie alle Tage, mit Mistklumpen und anderem Unflat der Straße bewarfen. Da durfte nun Herr Würffel zusehen und mußte schweigen. Die armen Kerle drin im Gefängnis wanden und duckten sich, nur einige saßen ganz still und duldeten das Traurige, als sei es der Tod. Die Ärmsten sahen kaum mehr Menschen mit Fleisch und Blut ähnlich, so sehr starrten sie von dem Schmutz, der sie bedeckte, und von Blässe, hohlen Wangen und tiefversunkenen angstvollen Augen. Es waren furchtbare Gespenster für das Gewissen des landflüchtigen Doktors.

In solcher Scham und solchem Grämen kam die Nacht, und da ward es im Süden, als ob der glührote Mond hinter den Wolken des Hochgebirges stände, und es flammte immer mehr und immer düsterbrandiger empor; alle Wolken hatten den gräßlichen Widerschein.

Dieser Schein dort hinter den Bergen, das war Krieg. Der arme Würffel stöhnte und rief die Städte bei Namen, die er brennen fürchtete. Wörgl, du stilles mit den breiten Holzdächern, die wie grauviolfarbene Seide schimmern, bist du es? Oder du, Rattenberg, das mauerumwallte zwischen Fels und Inn, winkeltraut, Fels und Haus ineinandergebaut, enge geduckt wie ein Nest geschwisterlicher Jungvögel. Oder Schwaz, du voll Arbeit, Sorge und Bergsegen? Oder Hall, vieltürmiges, salzquellenrieselndes, ewig dampfendes, kochendes Nest des Fleißes und der Treue! Oder Innsbruck gar du selber?

Ach, er wußte nicht, daß es das ganze Inntal war, von Wörgl bis Hall, das drei Nächte in Flammen stand, inmitten das ehedem so segensvolle, jetzt so jammerreiche Schwaz als allergrößter der glühenden Vorwurfsschreie eines zertretenen Landes zu einem Herrgott, der Menschen schuf, die einer des anderen Teufel sein mußten.

Da schrie und weinte er in die unbarmherzige, düsterrot stehende Nachtferne hinaus und verzehrte sich in Glut und Wut wie jenes ferne Feuer.

Am anderen Tage war er still, trotzig und gefaßt; nur seine Zähne bissen noch allzufest aufeinander. Er durfte hier nicht laut werden. Aber einen Kugelstutzen kaufte er sich, ein kurzes, herrliches Gewehr, das dem in solcher Zeit gänzlich ausverkauften Büchsenmacher übriggeblieben war, weil sein Blei nach dem Geschmacke damaliger Zeit zu klein war. Sechzehn Kugeln sollten auf ein Pfund gehen, hieß es; die leichte Büchse aber schoß viel geringere Pillen; es gingen deren zweiunddreißig auf das Pfund und sein Rohr hatte nur einen halben Zoll Lochweite. Der Büchsenmacher schwor zornig und beleidigt, der Stutzen trüge doppelt so weit wie ein anderer, stoße nicht, und schösse mit der gleichen Pulverladung wie ein großlochiges Gewehr auf dreihundert Gänge stets in eines Manneskopfes Größe. Da gingen sie selbander in die Auen, und der scharfäugige Steirer, der schon oft nach der Scheibe geschossen, traf Baum und Stein und Krähe, wohin er zielte.

Da gab er fünfzehn Dukaten für die Büchse und ließ sie vom Büchsenmacher in zwei Teile zerlegen; von denen verbarg er den Lauf abermals im treuen Regenschirm und steckte den Ladestock hinein. Den Schaft aber packte er zu unterst in seinem großen Reiseranzen. Dann ward er froh, daß er hätte jubeln können. Er liebte die schwarzäugige Waffe heiß und sein Herz ward vor Freude dick wie eine geballte Faust.

Als er von Frau Elmire Abschied nahm, war sein Antlitz wie eine düstere Wolkenwand, dahinter ein fernes Gewitter hellauf zuckt. Sie wußte, wohin und warum er ging, streckte ihm beide Hände hin und hell rollten zwei kindische Tränen dazu.

Kein Gott empfand je über eine Hekatombe mehr Freude, als Würffel über diese zwei heißen Wassertröpfchen, und kein Gott verhielt sich geheimer und stiller als er. Er küßte ihre Hände und zog wortlos an der Isar aufwärts gegen den Scharnitzpaß. Dort wußte er das Land von Feindestruppen noch frei.

Ach! Sein herrlicher Stutzen, wie der traf, wie herzblutfordernd sicher. Wie gerade schoß er; wie Gottes Sonnenstich! Herr der Heerscharen: Joas hatte recht. Kein deutsches Schwert gegen diese Mordbrenner! Häuser zünden sie an, in denen Säuglinge im Schlafe lächeln? O, wie köstlich tut denen das kühl gezielte Blei aus dem Waldversteck, hinter Fels und Höhe hervor. In solchen Bestien sucht man keinen Gegner, sondern ein Opfer.

Herr Würffel war berauscht von dem neuen Grimm, der ihn verzehrte. Nie hatte er verstanden, was Mordlust heiße. Nie hatte er gewußt, wie sehr das Eisen den Mann anzieht, und nun jauchzte er hinter zusammengebissenen Zähnen, wie der Jäger beim Anblick des Wildes, und dachte sich den Knall, den herausfahrenden Rauchstrahl und – Zauber: im gleichen Augenblick wie auf Gottes Befehl weit vor ihm eines Mannes Hinschlagen, Zappeln und Verscheiden. Er war verliebt, verliebt in sein Gewehr, und es schien ihm, als gäbe es keinen Freund, keinen Bruder auf Erden, auf den in Not und Tod so mannsfester Verlaß sei, wie auf dieses Rohr. Wenn er rastete, verkroch er sich ins Walddickicht, schraubte die blinkende Büchse zusammen, zielte, dachte sich den Iselberg, übte zehnmal nach einem fernen Astknorren, ließ den Stecher springen, wenn er sein Ziel hatte und drückte dann das Eisen an sein Herz und küßte es; ja, wie ein kleiner Bube seine ersten Stiefel, so ließ er es in der Nacht bei sich schlafen.

III.

Dies war nun die zweite Regung, mit der Herr Würffel in das Tirolerland einzog. Das erstemal hochauf vor Begeisterung und Übereifer des Mitmachens und der Neugier an großer Historie. Diesmal voll Haß, voll kühl verstecktem Grimm, voll Lust am Töten.

Es war nicht besser geworden mit ihm; gar nicht.

So kam er ins Tirolerland, fand den Paß schlecht bewacht und gelangte endlich ins Inntal westwärts von Innsbruck. Der Mai neigte sich schon nah an sein Ende, da und dort blühten die ersten Rosen.

Aber in Innsbruck war der Feind, der böse Feind. Da überquerte er das Inntal und stieg ins Mittelgebirge hinein, wo er keinen Österreicher mehr fand bis an den Brenner. Dort starrten ihre zusammengedrängten Bajonette aus schweren, sorgenvollen Schanzen.

Aber das Landvolk lief und rüstete heiß zusammen. Über den Jauffen kamen seine Bekannten, herrliche Meraner und Passeirer in bunter Tracht; da schloß er sich an seine alte Kompagnie. Er trug ein schlichtes Jägerkleid wie der alte Kamerad Joas, den er nun wieder fand. Sie drückten einander die Hände.

»Nun hab' ich auch einen Stutzen wie du,« rief der wackere Würffel.

»Ein schönes Gewehrl, aber wie für ein Frauenzimmer gemacht; brauchst nun nichts mehr als schießen können wie ich.«

»Oha! Ich bin ein Steirer!«

»Das wär auch was rechtes.«

»Wart' ich zeig' dir's.«

Da gingen die beiden auf der Brennerstraße abwärts, um einen Vogel oder sonst was zu finden, auf den sich schießen ließe, und als sie lange Zeit gewandert waren, ohne was zu sehen, machte es fern hinter einer Wegebiegung: klapp, klapp von Pferdehufen.

»Halloh du, Dokter! Reißaus dort in den Felsen am Wald. Das sind bayrische Chevauxlegers. Sie kommen alle Tag' hierher spähen. Nun heißt's: »Zeig', was ein Steirer ist.«

Sie liefen und kletterten und rangen sich im Gefelse aufwärts, bis sie die Straße überblicken konnten, wo sie um die Waldecke bog. Immer noch ging das »klapp, klapp«, ohne daß sie was sahen. Herrn Würffels Herz war wieder jene grimmig geballte Faust und lauerte, in versteinertem Toben.

Da kam's hervor. Zwölf schönblaue Reiter mit königlichem, weißem Riemzeug, voran ein Offizier. An dem sog sich das Stutzenrohr des jungen Steirers empor, als ob eine Magnetnadel es anzöge.

»Heilige Maria,« flüsterte Joas. »Zu weit noch!«

Konrad schwieg und fuhr mit dem Rohre dem Reiter nach. Dann prellte sein Rohr hoch, hellweißer Rauch entfuhr ihm, peitschenscharf knallte der Schuß.

Unten ruckte das Pferd und tanzte ein Augenblicklein auf die Hinterbeine empor, dann sank der Offizier glatt nach der Seite herunter, krümmte sich zweimal im Straßenstaub und war still.

Pumm, ging neben dem Doktor, dem das Herz zu einem Juchzer im Halse geronnen war, ein zweiter Schuß los, und Joas hatte den Unteroffizier am Ende des kleinen Reiterzuges weggeputzt. Der schrie laut auf, ehe er stürzte; und so, den Tod vor sich, den Tod im Rücken, packte windiges Grausen die anderen zehn und sie tobelten herumwerfend auf der stäubenden Straße zurück, als wollten sie den ganzen Weg bis Innsbruck mit rasenden Pferdebeinen auf einmal hinter sich schmeißen. Die beiden reiterlosen Gäule wippten verständnislos hinterdrein, weitaus flogen und schlugen die leeren Steigbügel.

Da sahen sich Joas und Würffel in unermeßlichem Jubel an: »Steirerbue!« »Tiroler!« Und sie umarmten und küßten sich und hatten die Augen naß vor Glück, als hätten sie das ganze Land Tirol gerächt und befreit.

Es war des Herrn Doktors berauschtester Augenblick, da er den ersten Menschen getötet. – Augenblick, ja. Denn als Bruder Joas eilig nach der Straße hinunterlief und sehr sachlich den Toten die Taschen umzudrehen begann, da begann ihm zu grausen. Er hätte die armen Teufel nicht liegen sehen können, blaß und lang. Sie nun auch noch zu beerben – –? Herrgott des Mitleids und des Gewissens, wo bist du hin!

Schweigsam eilte er neben dem davonhastenden Joas nach den Brennerschanzen zurück; dort hatte man die Schüsse gehört und ein Offizier kam ihnen entgegen, dem berichtete Joas sein Schützenstücklein, ließ sich beloben und übergab ihm die Papiere der Toten und seine ganze Beute und bat ihn, das Militärkommando möge das eroberte Geld und die Wertsachen den Opfern des großen Brandes von Schwaz übermachen.

»Das ja, Freund Joas,« rief Würffel aus, als sie wieder allein gegen Sterzing wanderten. »Nun ist mir wieder wohl und ich sage dir, ich bin sehr froh, daß du nichts von dem Gute der Erschossenen behalten hast.«

»Ich brauch' nichts von den Facken; aber so mach' ich's seit dem Brand von Schwaz. Erschossen wird von den Mordbrennern, was mir der Stutzen ertragen will und kann ich an die Gefallenen heran, so müssen sie auch noch so für den Schaden und die Gräuel zahlen. Greise haben sie niedergestochen, kleine Kinder in die Flammen geworfen, Weiber … Na, wart', ich muß dir alles erzählen, denn ich war damals im Amras und bin dem Feind bis Wörgl entgegen.«

Und er goß in die schon versöhnlicher gewesene Seele des hitzigen Freundes eine solche Schmelzglut von Taten der Wut, der Roheit, Bosheit und des Hasses, die von Deutschen gegen Deutsche verübt worden waren, daß dieses so leicht aufwallende Gefäß, Würffels heißes Herz, übersott vor Schmerz und Rachgier.

Für diese schwere Begehr nach Vergeltung war aber die Zeit eben gekommen. Die Nachricht von den grauenvollen Taten des Landfeindes war im ganzen Tirol umhergequirlt und rührte das Volk zu hohem Aufschäumen empor. Diesmal lief alles, was Fäuste ballen konnte, über den Jauffen, über den Luegpaß und den Brenner, Innsbruck, Innsbruck zu! Bald knallte und stürmte, schrie und balgte es im gewitterschwülen Maimittag im ganzen Mittelgebirge an der Brennerstraße.

Wo zwischen Vill und Natters die Sill tief unten in der Urgasse enger, klammhoher Felsen ein scharfes Knie herausbohrt, saßen oben hinter dem Gestränk der Wurzeln umgeworfener Fichten Würffel, Joas und ein paar Dutzend Bauern, alles Schützen, die bis in die letzte Faser ihres Leibes aufs Erpassen, Zielen und sanfte, spielend genaue Abdrücken gestählt waren. Eine Gesellschaft von ruhigen Kennern; – der Eishauch kühlster Bedächtnis wehte durch den ganzen Verhau und war so übermächtig, daß der heiße Würffel, ohne zu wissen wie, ebenso ward, wie die scharfrissigen Gesichter, die prüfenden Augen, von denen stets das linke kniff, die lauernd straffen Sehnen, die es rings um ihn her gab. Dort oben murmelten sie nur und selbst der schönste Schuß lockte nur ein tief beruhigendes Brummeln aus dem ganzen Stück Verhau an der scharfen Ecke der Klamm. Es war, als ob diese Männer keiner nach dem anderen hinsähen; als ob es genug sei, den sorgfältig abgepaßten Knall zu hören und unter den herausfahrenden Rauch geduckt nach unten zu spähen, wo wieder ein junges Leben in die haltlose Luft griff und hinschlug.

Sie hatten die Silltiefe scharf in Paß und zerschnitten dort unten mit ihrem Blei die bayrische Kraft in scharf getrennte Hälften. Über diesen Fluß sollten sich heute immer wieder Patrouillen, besonders aber einzelne Adjutanten und Galopins wagen, sonst die Protektionskinder der Generale, reiche, adlige, übermütige Jugend, die sich bisher im Hauptquartier weinselig und satt durchs harte Kriegsleben geneckt. Nun galt es, ein winziges Stücklein Lebensernst zu durchwaten; nur hundert Schritt stäubende Straße, die jenseits frei sichtbar war, auf eiligstem Pferde überstampft; dann kam bald eine Waldecke; dann aber die Sillschlucht: Auch hier ging es kurz her. Nach einer Minute verschlugen sich die Kugeln schon im Walde und ihr ganzer Schrecken war nur mehr buntes Hui, Pfeifen und Geheul oder stiebende, krachende Baumzweige.

Aber es kam trotz kurzen Weges keiner über die Flußtiefe; keiner! Kaum einer oder zwei überritten das freie Straßenstücklein, weil sich den die Schützen mit kurzem Zuruf ausgelost hatten, wenn einer von ihnen, der drankam, einen verschleimten Büchslauf oder einen unsicher sitzenden Feuerstein zu berichtigen hatte.

Hochauf bäumten in Strahl und Knall die Pferde und bald in reißendem Bogen, bald herabrutschend, bald krank und weh nach der Seite hängend, um zuletzt als Geschleifter an reißendem Steigbügel durch Feldstein, Kraut und Dorn hinzuwettern, so erreichten sie den schützenden Wald. Unten an der eiskalten, tiefschattigen Sill aber saß mit hochgebietender Herrscherhand der bedingungslose Tod. Eine lange Zeit waren es nur Offiziere und kleine Patrouillen, die hier in den Fluß stürzten. Dann rannte eine Kompagnie der Tiefe zu; aber es schoß und riß von oben, am Ufer mußte sie über ihren hinstürzenden Hauptmann treten, knotete sich überprellend um die weit auf den Boden hinschlagende Fahne, und balgte sich, sie wieder emporzureißen. Aber in diesem Knäuel voll Heldenmut schlug das klatschende Blei erbarmungslos hinein. Hell krachte es, wenn es Knochen traf, plumpend klang es auf Brust und Rücken; oben die Schützen und Jäger deuteten nach dem Kugelschlage jeden Schuß, als ob er in einen Wolfsrudel gefahren sei. Dann stob die Kompagnie auseinander, bildete Schützenlinien, nistete sich am Steilrand des Flusses und hinter Waldesbäumen ein und schoß wie toll hinauf; lächerlich knatterte ihr wutschnelles Flintenfeuer, das oben schlecht wirkte und wenig schadete. Oben auf der Straße, unten am Fluß lagen die Offiziere, der Fähnrich und die besten Jungen des blauen Haufens; eine Zeit lag sogar die Fahne mit darunter, bis endlich einer den auseinandergerissenen Gloriafetzen mitnahm.

In die Sill kam kein Mensch anders als wankend, in die Knie brechend und reißend schnell hinabgeschwemmt. Es war, als sei dort die Scheide von Seele und Leib, so entsetzlich sicher schoß von oben der geübte, kühle Haß von Tirol.

* * *

Das war der erste unentschieden gebliebene Schlachttag gewesen, der um Innsbruck ging.

Dann, am anderen Tage, kam ein zagendes Zurückziehen in die Berge und ein Warten, ein zuerst tiefmüdes Warten; dann aber ein Wimmeln und Sammeln von allen Höhen und Wäldern, ein Zusammenballen des Zornes von Tirol, ein Zulaufen und stockendes Anstauen rings um die Höhen, die das tief unten bangende Innsbruck bewachten. Einen Tag schwelte es, zwei Tage, und deren drei. Die Bayern kamen an den Randbergen wieder empor, schärften ihre Waffen, führten Geschütze in treffliche Stellungen, zogen neue Kräfte an sich und rüsteten zu neuem Kampfe. Die Tiroler aber lauerten weiter oben im Mittelgebirge; hinter ihnen schwollen Volkslawinen herzu, rollten sich am Rand der vorletzten Berghänge im Süden Innsbrucks auseinander, stutzten, lauerten nach dem Feinde, der drüben und dahinter, unten in den Feldern kampierte, und warteten.

Drei lange, bange Tage holte der Tod Atem zu neuem Sensenschwunge.

Als der zweite Frühlingsvollmond rot über dem brandrüchigen Unterinntale emporkam, gegen Ende des Mai, da wimmelte es im düsteren Abendlichte grau und rot, blau und weiß, grün und braun unter den Lanser Köpfen zwischen Igls und Wild, in der Sillschlucht, hinter Mutters und bis an die Brennerstraße hinauf in allen Wäldern, als kämen alle verbannten Erdgeister aus der Tiefe hinter Strunk und Fels emporgeraucht, so schattenleise, so knirschend still und unversöhnlich.

Das Militär hatte den Tirolern drei Tage vorher nicht helfen wollen, weil strengste Befehle da waren, nur den Brenner zu halten; aber die jungen Offiziere hatten Aufruhr geschlagen und drohten, auf die Tage der Not zu den Tirolern überzutreten; da hatte General Buol ein Häuflein von tausend Mann freigegeben, das heute zwischen den Bauern verteilt in den Waldhängen mitnistete; da und dort leuchteten klar die Gruppen weißer Röcke unter dem Gewimmel der dunkleren Tiroler Farben.

Dann brach tiefschläfernde Nacht herein. Die letzte vor dem großen Gebrüll des Todes.

Würffel lag neben Joas am Steilrande der Höhe von Igls über der tiefbrausenden Sill, die sich unter ihnen durch unerforschliche, nachtumhüllte Felstiefen wühlte. Er konnte nicht schlafen und stand endlich auf.

Tief unten in der Ferne lag Innsbruck. Traut flimmerten die Lichtlein der ängstlich zusammengescharten Häusergesellschaft herüber; davor war das weite, drohende Feld mit seinen Lagern, den Kanonen und Lagerfeuern, vor denen sich wunderlich schwarz und klein die Feindesgestalten bewegten. Dann kamen die Berge, die sie erstritten und wieder verlassen hatten und um die sie neuerdings ringen sollten.

Weit links vor ihm fiel, an den Inn, der Berghalbkreis ab, schwang sich dann in herrlichem Bogen bis an die Sill, und rechts von ihm ging der düstere Schwung weiter, als griffe er ins Endlose. Die Nacht verschlang ihn schon jenseits von Ambras; hinter ihm stufte sich höher und höher das Gebirge empor, und dieses ganze Kolosseum Gottes, dieses schwarze Theater des Grauens war mit irre flackernden Lichtpunkten überstreut; die Signalfeuer der Bauern. Hunderte und hunderte! Wenn bei jedem eine Kompagnie lagerte, so mußten morgen die Bayern aus den Bergen wieder in die Ebene geworfen werden.

Dann dachte Würffel, daß für ihn auch wohl eine Kugel gegossen sein konnte. Was verlor er? Menschen, die er liebte? Er war Waise, begütert und ohne ein anderes Ziel, als dorthin zu stürmen, wo sein Herz hochauf zu brennen kam. Die ferne, milde, stille Frau, – die verlor er nicht. Er hatte sie niemals gewonnen. Nun war sie wohl wieder in Gesellschaft, die sie so sehr zu lieben schien, und erzählte mit ihrer guten, hauchruhigen Stimme vom wilden Tirol, das ihr so bitter wehe getan und das sie doch nicht im Groll habe verlassen können, wegen der Güte eines Menschen.

Güte! Und morgen ging er wieder daran, Menschen zu schießen. Aber da packte er seine aufkeimende, verliebte Weichheit an den Haaren und zerrte sie vor die Flammen von Sankt Johann, Wörgl, Vomp und Schwaz. »Da schau hinein!« Da ward der Engel des Mitleids in ihm geblendet und verhielt sich die Augen, vor denen es von blutigen Bildern tanzte.

Dann schlief der junge, ratlose Mensch ein.

Am anderen Morgen knallte ihn ein Schuß in die Tagwache. Wieder krochen sie, ein Dutzend falkenäugige Schützen, an die Sillschlucht vor; zerstreut blickte der junge Doktor seine Kameraden an, fast alles harte Männer, die Weib und Kind hatten. Fest heruntergerissene Falten, die das scharfe Gespanntsein und die Sorge um harte, geizige Erde gleichermaßen so senkrecht gezogen, und keiner hatte eine breite, stumpfe Nase; sie hatten Geiergesichter und hochüberbuschte Augen, wie sie von allen Vögeln nur der drohblickende Adler hat. Er, der patzheiß unter sie geprallte Würffel, hatte lichtblond glatte Augenbrauen und eine kecke Stumpfnase. Wie kam er unter diesen Bronzedraht von Sehnen und Muskeln?

Aber schon lief es in blau wimmelnden Haufen jenseits an der Iselstraße gegen Mutters bergan, brüllte und warf dem Frührot fackelhelle Bajonettblitze zurück. Da schossen sie einer nach dem anderen, erregt vom Beginn, und dennoch sorgsam wählend, in den bayrischen Sturmhaufen, und wie es hinschlug, zappelte und purzelte, kam grimmig lachendes Leben in die Scharfschützen. Abermals ging der Zauber des Ingrimms ringsum, und der zerwirrte junge Mensch wurde wieder grausam und kühlbedächtig wie die anderen.

Gegen Vormittag drängten die Bauern aus allen Waldgründen vor, jauchzten und schrien und schwangen sich über ein paar Felder und Wiesen zum nächsten Walde; da rückten auch die Schützen an der Sill weiter vor. Es ging gut.

Zu Mittag waren sie schon an den Hängen des Paschberges und schossen mörderisch; aber schon war ein Fieber in ihnen. Das Vorrücken hatte es den rauflustigen Naturen angetan, und das ewige Schießen war ihnen leid geworden; je wilder sie schossen, desto schneller ward ihnen das Pulver knapp. Nur Würffel, der zweimal so viel von seinen kleinen Kugeln bei sich tragen konnte, als ein anderer, hatte noch Schießbedarf. Aber da fegten auch schon mitten durch die heillos feuernden Schützenreihen flüchtende Bauern zurück, die den Paschberg hinab gegen den Korethof vorgestürmt waren, und hinter ihnen rannten keuchend, halb in Wut, halb in Todesbewußtsein, bayrische Sturmwellen bergan. Zögernd knallten die Stutzen in das nahende Unheil hinein, bis mit einmal in die bayrische Flanke ein Knattern, Rufen, Jauchzen und Rennen brach, als ob die Bauern Speckbachers von Ambras her nach dem Glück Wette stürmten. Da riß es die zaudernden Schützen empor, hinter ihnen trampelte und jauchzte es von stürmenden Bauernhorden, daß der Waldstimmen zu wenige wurden, um das unbeschreibliche Gewirr widerzuhallen, und wie eine dicke, wutbrüllende Steinmure ging es hernieder, rot, grün, grau, braun und blau, alles brüllend mit Juhu und Hohn, mit Jesus Maria und Tuifel!

Noch starrten die bayrischen Bajonette am letzten Bergrand um den Korethof; aber die Menschen, welche sie den Bauern entgegenhielten, hatten grellblasse Ringe fingerbreit um die groß aufgerissenen Augen, – vor Entsetzen.

Da stürmte alles, Schütz und Landsturm, Büchsenkolben und Dreschflegel in den Menschenzaun ein. Würffel brüllte so viehisch wie der trunkenste Bauer und zerstieß mit dem Büchsenkolben einem blühenden, schönen, blassen jungen Antlitz vor sich Nase, Mund und Zähne, daß der junge Bursche krachend hinstürzte; hieb und biß sich dann weiter und stimmte mit der ungeheuer aufgeprellten Gewaltschar in ein tolles Jubelgelächter ein, als die Bayern bis weit unten ins Feld rannten, rollten, hetzten wie Hasen. Die Berge waren in ihrer Herren Hand!

»Rennt's ihnen nach, den Boarfacken! Schmeißt's es aus Inschbruck, ins Wasser!« schrien die Jauchzenden und stiegen eilig nach der Ebene nieder.

Unten versuchten sich die Bayern zu sammeln. Aber es fehlte an Offizieren, sie bildeten kleine Schwärme und wußten nicht, wohin. Da blies das Schützenhorn eines leichten Bataillons hoch und hell auf, und ein Hornist schritt blasend wieder auf den Wald zu. Die dunklen Massen sickerten zu Klumpen, schlossen sich, nun fanden sich wieder einige winkende Degen vor ihnen, und voran stürmte im Schnellschritt der junge Hornist mit seinem hellstimmigen Horn. Die Sonne schien auf ein rotes Bändchen an seiner Brust; der Tapfere verdiente sich heute zur Ehrenlegion die Offiziersepauletten. Bajonettreihen senkten sich zaundicht, – das am Paschberg geworfene Bataillon wagte noch einen Sturm; es war schon dem Waldsaum nahe – – –

Da hob am Korethof der junge Würffel seine Büchse und zielte auf das glührote Band an der Brust des jungen Trompeters.

»Recht so, Steirer! Stopf ihm's Maul!« Rasch ruckte die Büchse empor, Rauchstrahl und Knall, ein schriller Trompetenschrei unten im Tal, und der junge Trompeter lag auf dem Antlitz.

Da brach der Beifallssturm der Bauern los, als ob längs des ganzen Paschberges Schotterkarren abgeladen würden, und in das Lachen knatterten die Schüsse, und unten stolperte, fiel und verwirrte es sich von neuem, wich und stockte, und zog sich dann ins freie Feld hinaus, wohin die Stutzen nicht mehr reichten.

Die Bauern wischten sich die Stirne und sahen sich an. War nun alles gut? War es zu Ende für heut? Noch stand halbhoch die Sonne über der Martinswand.

Sollte man ins Feld vorstürmen? Es tat selten gut.

Der Kampf verknallte, stockte, rastete; eine Stunde und zwei.

Schon ging ein Geraune umher, man verhandle an der Sillbrücke und die Bayern ergäben sich, wie im April.

Aber dann schien plötzlich die Stadt nach Süden aus allen Poren verborgene Truppen auszustoßen.

Am späten Nachmittag kam es unten schauerlich in erneuten, langen Reihen hinter Wilten zur Triumphpforte heraus gequollen – blaue Vierecke erschienen beim Sillhof, verstärkten die dort stehenden, verlängerten sich über das hellgrüne Land und schoben sich von Wilten gegen die Ziegelstätten am Inn. Noch war die Welt hell und lichtgolden. Ferne Trompeten bliesen, Trommeln wirbelten, Reiter flitzten kreuz und quer über das Feld, und starre Dragonerschwärme hielten da und dort und warteten verbissen, bis die Bauern ihnen die Lust antaten, in die Ebene vorzuprallen. Grauenvoll lugten die einäugigen Kanonen mit hochgereckten Rohren gegen die Berge.

Und dann fuhr abermals der erste blaue Stutzenrauch da und dort aus dem dunklen Waldsaum heraus, zögernd kam Knall auf Knall. Unten fiel, wimmelte es, ordnete sich, blitzten Gewehr- und Bajonettzäune, rasselten, stockten, in lauernder Ruhe, und dann stand ein Peloton nach dem anderen in Rauch, Feuerstrahl und Knall; oben aber im Walde heulten, rissen und knickten die Kugeln.

Noch vermischten sich die beiden langen Rauchwellen nicht; die eine lag wallend in der späten, heißen Luft vor dem Waldsaum, die andere ringelte sich riesenschlangenträg vor den blauen Vierecken in der Ebene; endlich löste sich eine dritte vor den Schützenschwärmen los, die hinter Graben, Zaun und Straßendamm gegen den Berg hin vorschlängelten. Es waren zuletzt drei lange, schwere Rauchbänder längs des ganzen Bergsaumes, als der Abendwind anhub und sie zerfetzte, hin- und herschwenkte und gegen den Inn hinübertrieb. Dann ward die Landschaft herrlich rotglühend, und allen den verzerrten Angesichtern, die sich Haß und Tod zustarrten, leuchtete Gottes Fackel ins Antlitz; die Sonne ging unter, und der gewaltige Tag trat ernst von dem Tale fort, in dem er ein Schlachtfeld gefunden hatte: Ein jaulendes, knirschendes, anrennendes Würgen, kühlbedachten Schützenhinterhalt, Seelennot und jauchzendes Hinwerfen des Lebens, leuchtende Augen und zerrissene Eingeweide, heilig flammende Herzen und Branntweingebrüll – auf jeder Seite Gut und Böse nahe zusammengedrängt, aufeinander losrollend, flüchtend, Haß in allen Größen, Zorn in allen Heiligkeiten, Bestialität in allen Lauten. Und doch war alles groß gewesen; groß. Die Pulse der Natur selber brauten und sotten, und Gott hatte Fieber und wirre Träume: sein Leben wimmelte gegeneinander an und zerhackte sich, verzehrte sich – und erlöste sich.

Es mußte sein.

Dann ward das Tal kühlgraublau und müde und still, die Bayern ließen von den unbezwingbaren Berghängen ab und zogen sich in milchübernebelte Wiesengründe zurück, wo man sie bald nur mehr, wie halb im Nebel geronnen, rufen, trommeln und blasen hörte.

Nur an der Innseite jenseits der Stadt über Hötting begann es noch ein wenig zu knallen.

»Die Oberinntaler sind eingetroffen!« brauste es freudig und sicher durch die todmüden Bauernscharen. »Morgen geht's den Bayern schlecht!«

Sie wußten sich sicheren Sieg.

Oben hoch brannten noch hell und grell die allerhöchsten Bergspitzen im Abendrot, dann vergrauten auch sie, und es war, als senkten sich die Felshäupter gramvoll vor dem Dunkel, das sie zu umhängen begann.

Auch die schweren, heißen Bauernköpfe sanken, und in den langen Reihen am Waldrande suchte Würffel seinen Waffengefährten Joas. Endlich hörte er Stimmenwirren, unten gegen die Sillbrücke, wo auf kleiner Waldwiese ein Heustadel stand. Dort war Spital; dort fand er Joas, bleich, schwach und sehr still. Hilflose Augen tat er ein einziges Mal auf nach dem Freunde und schloß sie dann wieder; umher wirtschafteten ein paar rohe Dorfbader. Die Schulter des armen Joas war in dicke Binden gewickelt, aber sie troffen von durchsickerndem Lebensrot.

Da lockerte Würffel in angstvoller Eile den schlechten Verband, unter dem ihm das Blut des Freundes anklagend entgegensprang. Schnell preßte er den Daumen auf die Wunde. »Einen Stein, so groß wie eine Nuß,« rief er dem nächsten Barbiergesellen zu. »Schnell, ich bin Doktor!« Da brachte der erstaunte Mensch einen rundlichen kleinen Kiesel herbei: »Tut's der?«

»Ja. Zieh mir mein Taschentuch aus der rechten Brusttasche. So; knote den Stein in der Mitte ein, nur in die Mitte, ja; fest!«

Die Dorfbarbiere dachten an ein Sympathiemittel und kamen trotz des Seufzens und Stöhnens, das in der engen Hütte war, herbei. »Schaut her, ihr Kerle, der hätte sich verblutet. Eine Schlagader zwängt man immer gegen das Herz zu ab.« Und er schnürte den Stein hart gegen die blutende Wunde und schloß den Strom, durch den das Leben schon halb entwichen war.

»Joas! – – – – – – – – – – – Joas, Bruder!«

»Ja?«

»Du bist gerettet.«

»Gib mir zu trinken.«

Würffel gab ihm Wein mit Wasser; da wurden die resignierten Augen etwas heller.

»Wie ist das geschehen? Dich hat's unter den Arm getroffen, nahe an der Achselhöhle und in den Arm ein glattes Loch geschlagen.«

»Das war, wie ich den Ladstock zuletzt aus dem Lauf hochgezogen hab',« sagte Joas und sank vor Schwäche in Ohnmacht.

»Da steh' ich und frage dummes Zeug, bei dem mein Herz nicht ist. Was will ich nur? Was ist mir nur? Ja, so. Helfen soll ich.«

»Ist umher noch einer, dem beizuspringen wäre?« fragte er umher. »Da, der junge Bayer?«

»Der Hornist? Der hat genug. Den Morgen sieht er nimmer,« sagte einer der Dorfchirurgen.

In die Augen Würffels brannten die beiden fremden, angstvollen, stillen, schwarzen Augen des Verwundeten, des Feindes, den er nie gesehen, – oder nur: Da! Das Kreuz der Ehrenlegion an der linken Brust, und darüber ein düsterroter, feuchter Fleck.

Es riß den jungen Arzt am Herzen. Nun wußte er, wer hier dem Sterben entgegenharrte. Diese Wunde erzählte mit schauriger Quelle von seiner Kugel.

Könnte er hier helfen! Helfen! Gäbe es doch eine zweite Kugel, die diesen Menschen wieder gesund machen könnte; gegen sich selber würde er sie abfeuern. Er trat zum Schwerverwundeten hin.

»Fehlt's arg?« fragte er weich.

Die großen dunklen, klagenden Augen wanderten den blauen Augen Würffels entgegen und starrten lange hinein. Es war nicht zu ertragen: Gott der heiligen Liebe!

Würffel wollte sachte unter dem Schulterblatte des armen Jungen nachfühlen, ob und wo die Kugel durchgeschlagen sei. Er hatte von hoch oben geschossen; es war ein Jammer. Sie mußte den ganzen Leib durchwühlt haben, aber wenn sie nur herausgegangen war. Vielleicht, eine Lungenwunde kann heilen! Er fühlte am Rücken des stillen, starrenden Menschenkindes hinab. Nichts, nichts. Sein Blei, sein nichtswürdiges Blei saß noch versteckt in diesem Gefäß des göttlichen Lebens.

»Schmerzt es da?«

Der Verwundete öffnete die Lippen; gierig horchend, neigte sich der junge Doktor; aber da hustete ihm der ärmste Junge unter krampfigem Atemringen hellroten Blutschaum ans Ohr, und demütig wischte der gepeinigte Mörder die Anklageschrift ab.

Kein Wort, keine Antwort.

Hätte er nur gesprochen, nur den Namen seiner Mutter genannt! Würffel wäre hingereist, wo die Ärmste auch wohnte, und hätte ihr schweigend gedient, sie gestützt und getröstet, bis sie ihn wie einen Sohn geliebt hätte, und wäre bei ihr geblieben bis an das Ende. Aber nein, er schwieg und suchte mit den wandernden Augen umher wie ein hilflos leidendes Tier. O diese Marter!

Dann und wann kam ein Hustenstoß, und Würffel wischte ihm dann das Blut von dem wachsblassen Antlitz. So zitterte und bangte er bis Mitternacht an dem Lager dessen, der ihm nun in dieser ganzen Welt am teuersten geworden war.

Dann ward der Blick des stillen Menschenkindes angstvoll, wild und starr, in der Brust röchelte es, neuer Blutschaum trat aus, und dann erstickte dieses herrliche, kühne, unschätzbare junge Leben vor den entsetzten Sinnen des hilflosen jungen Arztes.

Da warf der Fluchbeladene noch einen Blick um sich. Joas schlummerte nun; er ging ihn nichts mehr an. Die anderen waren versorgt. Bayern waren sonst keine da; denen hätte er vor allem helfen mögen! Noch einmal, da ihn der Anblick des Joas an etwas Schreckliches erinnerte, wandte er sich zum toten Bruder Menschen hin. Nun gebot ja die Pflicht, den Toten zu durchsuchen. Es graute ihm, aber vielleicht gab ein Brief, ein Schreibbüchlein, ein Blatt Papier kund, wer er war und wo der arme Konrad zu sühnen hatte. Umsonst. Er war leergestohlen; erbarmungslos ausgeplündert, bis auf das Kreuz der Ehrenlegion, das ihm vielleicht eine letzte Bitte gerettet hatte.

Nur für Würffel hatte das junge Blut gänzlich geschwiegen; für ihn hatte es nur entsetzte, stille, brechende Augen gehabt.

So stieg er nun mit wankenden Knien zu Berge empor und schaute jammervoll ringsum. Da schlief unten das geängstigte Innsbruck; seltene Lichtlein zitterten in dem nächtigen Häusergewirr, und in der Ebene, über der der Nebel wie ein stillgrauer See lag, war nicht ein feindliches Feuer.

Auf allen Bergen hingegen brannten die Wachtfeuer der Bauern, diesmal unzählig, im halben Kreis an den Bergen empor gesät, in drohendem Geflacker. Und jenseits flimmerten abermals die Lichtpunkte. Alle Berge ringsum waren voll drohender Bereitschaft. – Morgen ward die Ebene erwürgt, morgen würden die Bayern erdrosselt, überflutet. Von allen Seiten kam die Lawine.

Morgen, morgen in der letzten Schlacht. Da wird ein gepeinigtes Herz den Tod suchen …

Der junge Würffel stieß Erde und Sand in seinen Stutzenlauf; es sollte ihn auch nicht die Versuchung mehr ankommen, zu töten. Mit geschwungenem Kolben, als stürmte er, wird er das starrende Karree anrennen und dann den Bajonetten die Arme entgegenbreiten, ihnen, der letzten verzeihenden Liebe, die Gott noch für seine jammervolle Brust hatte.

Sterben, schlafen, nichts mehr wissen!

Die alten Fichten rauschten, der Inn brauste von ferne. Ein Lagerfeuer knackte hinter den letzten Büschen und hauchte warmen Rauch herüber. Da schlief das arme, gequälte Kind des Hasses ein.

* * *

Nicht für lange, denn bald strich ihm der schauerliche Hauch der Morgenahnung über die Glieder: ein Frosthauch ging über die Berge dem fernen Sonnenaufgang entgegen; und, in das Tiefste der Nerven geschüttelt, stand der junge Mensch auf. Nun mußte bald Tag sein, und von der Wiltner Klosterkirche schlug es drei.

Sein letzter Tag. Milchweißlich graute das Tal im letzten Mondschein; unter diesem Nebelsee schlummerte noch der Feind. Ach, wäre es Tag! Wäre es wieder Abend und alles zu Ende! Das junge Herz, das viel von seinem Weh verschlafen hatte, begann sich angstvoll zu wehren. Im Osten sah kaum noch ein bleicheres Grau aus dem Talwinkel hervor; der Mond ging unter. Es war weder Tag noch gänzlich Nacht mehr. Vor dem Schlosse Ambras sah er Lichter. Er wußte, was dort vorging. Die Frühmesse ward gelesen, noch in der Halbnacht, bevor die Schlacht begann, und der Priester erteilte den Betenden Sündenablaß, damit ihre Seelen fröhlich durch die klaffende Leibeswunde auszufahren vermöchten.

Widerstrebend ging er hin, und dennoch zog und lockte es mit rührenden Kindheitsstimmen in ihm. Dort ist Gott! Gott bloß in einer Form, die du nicht erkennen willst, die aber einer halben Menschheit so und nicht anders besteht. Öffne dein wehrendes, fremdes Herz; hier ist nur ein enger Spalt zu seinem Wesen, aber sein Mitleid fließt auch durch ihn!

Ringsum loderten die Feuer der Bauern von allen Bergen; da schien ihm das ganze riesenhafte Berggesenke wie ein Friedhof zu Allerseelen, dem Feste des Todes. Und abermals rüttelte die schneidende Angst an seinem Herzen. Da ging auch er zur Messe, das ungläubige, hochgescheite Kind Doktor Konrad Würffel.

Der Frühmesser von Ambras las sie im Freien; denn Tausende waren hier oben, und die Kirche unten im Tal war in Feindesbedrohung und klein. An der Mauer des Schlosses war ein Altar errichtet, bekränzt von liebenden Händen, als sei Fronleichnam.

Die Kerzen rußten, flackerten und tropften, leise plaudernd schlugen ihre Flammen im frostigen Vorfrühhauch nach der Seite. Die Fichten waren zu starr, sich ihm zu beugen. Schwarz und still ragten sie in das tiefgraue Düster, und gegenüber von der Frau Hitt glühte weißbläulich der Schnee.

Das Mahnglöcklein läutete zur Wandlung; und ein Heer von Bauern kniete weit ringsum nieder; es war im Düstern, als ob Schollen in einem Erdbeben sich senkten; nur das leise Anklirren der Stutzen verriet bewaffnete Menschen.

Der Morgen wurde fahler und lichtblaß, da wandte sich der Priester im Kerzenscheine um, hielt das runde weiße Brot des Heilands empor und sprach die Worte der heiligen Kommunion: »O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund.«

Es war, als ob die schollige Erde selber murmelte, als die Tausende, die sich hier zum Tode weihten, aus ihrem Staube die Worte wiederholten.

Da schnaubte der junge Mensch in heilvoller Ergriffenheit, und Tränen stürzten aus seinen Augen.

Ein Schuß krachte irgendwo, ganz ferne, in den Höhen oder aus dem Tale. Rollend und schratend lief sein Echo rings umher; lange dauerte es, bis die Bergfalten es freigaben und sterben ließen. Ein Schreck war in das ganze gebückte Heer gefahren, und sie horchten hochauf.

Auch der Priester stockte. Aber es blieb alles still, nur die Nacht ward fahler und lichter.

Da sprach der Priester zum zweitenmal die Worte demütiger Bitte, und der junge Doktor, der wußte, daß ein Heide, der römische Centurio, in Kapernaum sie gesprochen hatte, wagte nicht, heidnischer zu sein als jener; er sprach mit bebenden Lippen mit, und sein Gefühl schwang sich über alles Bekenntnis und allen begrenzten Glauben hinweg an den, an das, welches das Ende sein muß und die Erlösung. An den vaterstarken Altgeist, den Sammler, den Heimberufer, der zuletzt alles gutmachen muß.

Und während der Priester zum drittenmal die Hostie hob und die Worte der Bitte sprach, und sie im Namen aller, die hier mitbeteten, nahm, um ihnen die Sündenlossprechung und eine Himmelfahrt in Christi Namen zu verheißen, während dieser Augenblicke schaurigen Tagerwachens betete der junge Doktor: »Du, größer als die Menschen dich wähnen, du, der zu groß ist, um sich von kleinen Einzelwillen eine niedrige Sorge abbitten zu lassen, sieh an, wie klein und töricht ich bin. Beten möchte ich zu dir, was beten heißt: Deine Größe bekennen. Und sieh, ich vermag es nicht, denn meine Seele ist voll Angst. Ich bitte! Ich bitte so klein und eng und niedrig, wie jemals einer dieser Bauern um das Leben eines Tieres bat, das ihm krank geworden. Ich bitte dich, erfülle mich gänzlich mit dem Geiste dessen, was ich heute soll. Sterben! Nur nimm die windende Angst meiner schwachen Leiblichkeit hinweg. Wozu du mich bestimmt hast, das laß mich ganz sein! Gib mir ein Zeichen, daß ich stark werde zu sterben, denn ich bin elend und klein!«

Der Priester wandte sich zum Altar, kniete und betete, und die geduckte Feldschollenschar der Graulichen, der Halbnächtigen, der Schlachtbereiten betete mit. Sie fühlten sich entsühnt, und dem Heidenkinde weit hinten fraß der Neid im Herzen ob des Glaubens dieser Armen im Geiste. Denen war Sterben ein Gewinn, und er wartete immer noch auf den Geist, der ihm einen Hauch der Erlösung brächte zur Todesstunde.

Da kam unten in den Fichten des Abhangs und später noch aus der Ebene ein unbestimmbares Rufen auf. Regellos schrien sich Posten an, die erst jetzt vom Schlaf erwachten; die Beter rafften sich empor, faßten die Stutzen und eilten an den Abfall des Berges. Was war das? Und kein Schuß?

Immer wieder schrie es und winkte im heller werdenden Morgengrauen von unten. Kein Mensch wußte, was geschah.

Endlich erlöste ein altes, herzliches Bauernzeichen die Seelen. Unten aus dem Tale kam ein langer, freudetrunkener Ruf, als sei ein Gemsbock in sonnenblauer Höhe gefallen.

»J – –.i … ju, ju, ju, juuuu hui!«

Ein Juchzer, ein wilder, übervoller, toller, erlöster, lebenstrunkener Juchzer!

Starr sahen sich die Bauern an. Haben sich die Bayern ergeben?

Dann kamen Stimmen näher, eilige Rufe, aufgeregt vor Gier, die erste Nachricht auszubringen. Keiner verstand sie.

»Woas ischt?«

»– – – on – – aus – – – urt –«

»Woas ischt?«

»Die Boarn sein furt! Abaus ins Unterland verloffen. Die Stadt ischt frei leer!«

Die Bayern geflüchtet, allesamt! Bei Nacht und Nebel, unter der milchigen Decke des Taldunstes weggeglitten, eine, zwei Divisionen verjagt!

Herrgott, wie zerbrachen jetzt die Bergwände ihre Stimmen an der Pflicht, das Juchzen und Johlen, das nun losging, ins Hundertfache zu necken! Und kinderschnell rollte und sprang das kniesehnige Volk hinunter, die geleerte, zum zweitenmal eroberte Stadt anzusehen.

Hinten, weit hinten stand wie geschlagen, taumelnd, betäubt und fast ohne Atem das Heidenkind, dem jene Macht, für die es sich keinen Namen wußte, nun eine ihrer Antworten gegeben.

»Leben, leben sollst du!«

Da warf, nach einer langen Frist aufjauchzenden Erwachens, Konrad Würffel seinen teuren, vortrefflichen Stutzen weit von sich fort und stürmte mit hohen Knien durch Gestrüpp und Waldkraut den Berg hinunter nach der Ebene, nach der Triumphpforte, nach der Stadt!

* * *

IV.

In den Straßen wimmelte es von Bauern in allen Farben, aber auch Militär rückte ein. Langschläfer bekamen die schönste Tagreveille, denn eine Musikbande durchzog um acht Uhr die Stadt. Da Soldaten da waren, blieb diesmal, bis auf ein paar Dutzend wohlverteilte Prügel, Friede in der Stadt; die Kranken und Wunden in den Spitälern hatten es gut, und es war eine friedliche, freudige und festliche Gloria ohnegleichen, durch deren reine Glücksstimmung nur der arme Würffel, mit einem zwiespältigen Herzen ohnegleichen, hindurchging.

Hinter ihm stockte vergossenes Blut, heiliges Leben klebte zerdrückt an seinen Schuhen. Vor ihm blühte neue Gnade empor. Wohin sollte er sich werfen? Was tun? Wie genesen?

Zur alten Heimat waren alle Brücken abgebrochen; sein ganzes Vermögen lag in ein paar Basler und Züricher Wechselstuben, und überall war ein Testament dabei, daß das ganze Geld dem durch Krieg unglücklich gewordenen Lande Tirol gehören sollte, wenn er fiele oder sonstwie stürbe.

Fortlaufen? – Sein steinalter Oheim Krieseisen hätte ihn nach Tirol zurückgewiesen: »Ist denn der Krieg zu Ende? Bist du zu gar nichts mehr gut, wozu ein Mann gehört?«

»Wohin? Wozu dies wiedergeschenkte Leben? Was soll ich mit ihm beginnen! Napoleon ist stark und schlägt uns wieder und wieder. Die Bayern kommen abermals. Wir werfen sie. Sie aber kommen von neuem – mit den Franzosen von Nord und Ost, mit den italienischen Regimentern von Süden, in alle Poren des Landes gedrungen. Und ich soll immer noch stehen und lauernd schießen oder stürmend raufen, und Leben vernichten, nichts mehr als Menschenleben vernichten, ohne zu glauben, daß es gut getan sei? Dieses Leben ist so schön, und es ist so schön, es hinzuwerfen. Hätte ich es verloren, als ich die stille, arme, kleine Frau von Angst erlöste, hätte ich es gestern von mir tun dürfen, es wäre gut, ja heilig geschehen gewesen damit!

Nun ist Honig und Galle in mir beisammen; ich freue mich, daß ich Frist habe und jung bin; ich habe Lust an Essen und Trinken, an dem beglückenden Blick des blauen Himmels; an der, die mir lieb geworden ist in der feindlichen Ferne, – und dennoch ist in mir eine Verwirrung ohnegleichen. Ich bin wie ein Hund, der den Herrn verlor. – Wohin?«

* * *

Der Abend kam.

Herr Würffel, lebensstark und hungrig wie nach jeder körperlichen und seelischen Not, aß und trank als ein echtes Weltkind beim »Weißen Ochsen« am großen Platze und schlief dann bleimüde ein.

Am anderen Tage war er abermals einen Grad weltnäher geworden. Aber glücklich war er nicht. Das desperate »Wohin« trieb ihn immer noch umher. Nur dachte er in harmonischen Untertönen an eine, die diesem Wohin eine liebliche Perspektive verlieh; eine Perspektive mit sanftem Entgegenschauen: »Komm' du, komme nur getrost, armer, hochherziger Freund. Ich will dein rufendes Herz stille machen.«

Am dritten Tage dann schrieb er ihr bei seiner Mittagsrast vor einem köstlichen Wirtshause am grünschäumenden Inn folgenden, sehr zerwühlten Brief:

 

»Gnädige Frau, schönste, mildeste und allergnädigste Frau, Frau! Ich rufe wie ein ertrinkendes Kind aus fernen Wellen zu Ihnen, ein Kind, das jeder Liebe auf Erden enträt, vor allem der Mutterliebe.

Ach, gnädigste Frau, mir ist auf Erden kein Schoß gegeben, darin ich meine weinenden Augen verstecken könnte, und ich weiß in der Welt keine milde Stimme, die mein Schluchzen mit guten, lieben, ruhigen Worten beträufeln könnte.

Ich habe nichts, wo ich weinen kann; denn selbst beim Kreuze des Erlösers ist mir wehe, weil man falsche Rosen darum geschlungen hat, die von ewiger Freude und ewigem Leben sprechen. Ihre Blüte ist aus Papier vorgetäuscht. O, ist mir wehe!

Ach, gnädige Frau, während hier von den hohen, ernsten Bergen noch das harte Weiß des Winters herunterblendet, blühen im Tale die Rosen, die gebenedeiten Rosen. Und ich bin jung, und meine Seufzer rufen umher, ob ein junger Hals auf Erden sei, um den ich die Arme ringen könnte; ob, um an ihm zu weinen, oder zu jubeln? ich weiß es nicht. Aber die Rosen sind da, und mein Leben geht einsam und zur Hälfte abgespalten zwischen ihnen hin.

Ich war also im Kriege, mitten im Kriege, und habe mit Gier und Lust getötet. Keine liebste Ehefrau vermöchte mir so viele Kinder zu geben, als ich Müttern Söhne erschossen habe. Ach, Sie Gütige, hätte ich Ihrer milden Mahnung gelauscht; ich glaubte, meine Seele in das heiligste Feuer zu tauchen, und es war nur ätzendes Gift. Ich bin nicht von dem Adlergeschlechte, das stark und reuelos töten kann. O, ist mir wehe!

Hier im Lande, diese seliggesprochenen Blindgläubigen, sie beichten, werden stets von neuem reine Kinder und sündigen und sehen doch den Himmel offen. Ich habe niemand, dem ich mich zu Füßen werfen könnte und ihm sagen: »Wie schwer bin ich beladen und wie voll Makel.« – Niemand, als dieses Blatt Papier, denn ich weiß nicht, ob ich sagen darf: ich habe Sie.

Sie fliegen nun in die geöffneten Arme – zärtlicher Freundinnen? – und erzählen immer noch vom bösen, rauhen Tirol und klagen um Ihren Mann? Ich höre Sie bis hierher, liebste, verschreckte Frau! Sie leben unter hundert Kerzen, beim Klange des Klaviers, das Ihnen viel bessere Töne zuklingt, als hier meine Klagen sind; es spricht mit der Seele des von Ihnen so sehr geliebten Gluck, vielleicht auch des fürtrefflichen Haydn zu Ihnen. Mich, mich sollen Sie nicht hören; ich bin der Aufschrei eines wilden Waldtieres zur Nacht; das gehört nicht zu Ihren Lichtern, nicht in Ihre Harmonie, nicht zu den fröhlich Versammelten. Wohin aber soll ich fliehen?

Ach, gnädige Frau, und ich sprieße hier wie in Dornen zum Himmel empor und bin im Leide eingewurzelt und sende alles, was ich an Seufzern reichlich zugesegnet erhalten habe, in leidenschaftlicherem Dunste dem Firmamente zurück, als alle die Rosen, die hier im Tal zusammen blühen, ihren Duft. Ich bin Ihr ärmster

K. W.«

 

Einen Augenblick dachte Würffel nach, wie er diesen Brief sicher nach München begleiten sollte, denn er wußte, wie schwer mißtrauisch die Bauern in diesen wandelbaren Tagen geworden waren; er wußte, daß sein Brief auf dem Wege zur Grenze zehnmal geöffnet werden würde! Wie ihn sichern? Da endlich kam ihm ein guter Gedanke; und da an diesem Tage eben die Siegesbotschaft von Aspern einlief, setzte er im Postskriptum bei:

»Indem meine Seele so sehr nach Erlösung ruft und nach Frieden, trifft hier erfreuliche Post ein, daß der Erzherzog Karl den Frankenkaiser nahe bei Wien aufs Haupt geschlagen und in die Inseln der Donau zurückgeworfen habe, wo nun ein gottgesandtes Hochwasser den Menschen üble Arbeit ersparen möge, da hiedurch der Weltfriede am allersichersten beikommend zu erwarten wäre. Zur Feier dieses Ereignisses bitte ich Sie, von meinem Ihnen wohlbekannten Depot an der Bank des Herrn G. für mich hundertundfünfzig Reichstaler zu erheben und solche der Kirche unserer lieben Frau zu Absam, den Kapuzinern zu Wilten und der Kasse des vertriebenen Bischofs von Chur zu gleichen Teilen zukommend machen zu wollen.«

Den Brief ließen die Tiroler heilig durch; er war genügend rekommandiert.

Aber der gute Würffel war doch ein nichtsnutziges Weltkind. Nach dem Briefe und namentlich nach dem erlösenden Streiche, der seinen Schluß bildete, ward ihm erheblich leichter. Von seinem Herzweh blieb allerdings auch dann, nachdem der Brief auf die Post getan war, ein leidvoll dumpfes Grämen um den armen Kerl, den er zuletzt so schmählich erschossen, ein unbestimmtes Weh um das Land, dazu aber eine endlose Sehnsucht nach Frau Elmiren. Diese drei Leidenschaften taten sich zu einem Klump zusammen und machten sich auf höchst kuriose und etwas lyrische Weise von seiner Kehle bis zu den Eingeweiden abwärts patzig.

Nun war es dazu inbrünstige Junizeit, und sämtliche lebensfähigen Gefühle des Herrn Würffel hatten das heilige Recht, hochauf zu Gottes Himmel empor zu verlangen, so gut, wie das Heer der bäuerlichen Wünsche, die in diesen Tagen zahlreich um fette Ernte baten.

Da lief nun also schon, kaum daß er büßen, beten und sterben hatte wollen, der alte Tor zwischen Rosen und Jelängerjelieber umher und war so unsinnig und begeistert wie je.

Sein Brief war schon neun Tage unterwegs, und wenn Glück auf dem Wege war, konnte stündlich holde, weichstimmige Antwort auf der Post liegen.

Am achten Juni also geschah es, daß Herr Doktor Würffel allwiederum vergebens an der Post nachgefragt hatte und nun, keineswegs enttäuscht, vielmehr um einen Hoffnungstag reicher gemacht, den alten, lieben Weg von Innsbruck über die Brücke nach Mariahilf und von da nach dem wiesenholden Absam lief, um seine Seele zu behandeln wie ein übermütiges Rößlein, dem man die Zügel schießen lassen darf, weil es gar so jung sei und noch viel Weg hinter seine Beine zu werfen hätte, bis Gesittung in sein Benehmen kam.

Verzweifelt war er immer noch; aber es war nur mehr eine holde Desperation.

Da war dieselbe Stadt, in der er einst die liebe, stille, schüchterne Frau aus großer Angst befreit, jedoch ihre Gasse war leer. Er selber hatte sie fortgeführt. Wozu nun hatte er gemordet und Innsbruck geholfen, frei zu werden? Damit er in einer kühlen, öden Gasse zu den verschlossenen Läden einer verlassenen, weiland trauten Wohnung aufseufzen könne?

Der volle Frühling war los. Blüten über das ganze Tal! Und sie, nur sie war fort. Ach, wo war der herbe, verschwiegene April!

Damals rannte er wie heute an den Südhängen des Höttinger Hochlands bis nach Absam dahin, aber er suchte nach Veilchen für eine Ersehnte, die er zu erreichen wußte: dort und dort, nahe an der Hofkirche, im zweiten Stockwerk eines Hauses, daran in einem Wandbild ein heiliger Christoph stand. Und nun wäre die Welt so schön gewesen mit ihr.

Da fiel es ihm so recht schwer auf das vielerfahrene und dennoch töricht gebliebene Herz, wie allein er in dieser Welt stände, an deren einem Ende Tod und Krieg fraßen, während am anderen Rande die Rosen blühten und die Amseln vor lauter Liebe ihre kleine Brust mit Gesange fast zerrissen, und mittendrin stand er zwischen Tod und Leben und hatte nichts als eine lächerliche Sehnsucht und also das Recht, tolle Briefe zu schreiben.

»O Gott, o Gott, die Rosen blühen, als sängen Engel mitten im ewigen Leben deine Gloria, und rundum steht der Feind, und Krieg ist in der Welt.

»Ach, wer keinen Krieg gesehen hat, der kennt die Welt nicht; aber darum ist es Glück, die Welt nicht zu kennen!

»Wer mich irgendwo hintrüge, wo zufriedene, gestillte Herzen, die sich zur Harmonie durchgerungen hätten, beisammen säßen, und einer läse die Gedichte des hochverehrten Herrn von Goethe vor! Oder es gäbe ein heimliches, leise ansagendes Klavier und die tiefen, leidvoll schönen Töne einer Kniegeige dazu. O du eiserne, blutige, brandrauchende Welt, in die ich so hochaufatmend hineinlief um zu raufen, mich verlangt nach Stillung, nach holdem Trug, und mir, der ich zu schlagen und zu töten herzog, reißt es das Herz aus nach einem Celloton oder Lied, oder Bildern, oder Geschichten!

»In München! Die liebe, stille Frau, die ist dort hingeflüchtet, wo es das nun gäbe. Hier, – mag sein, daß jetzt irgendwo in einem Bürgerhause die holde Kunst ein Inselchen des Friedens vortäuscht. Aber sind viele reiche Häuser hier im Lande, die über dem Elend dieser harten Welt schwimmen, wie das Rosenöl über den Festungsgräben von Schiras, über die es Millionen Rosenblätter hinweht? Und verstehen diese Familien zu blühen? Denn blühen heißt leuchten oder duften! Wahrlich, in dieser Welt gibt es nichts Schlimmeres und Verächtlicheres, als Reichtum und Unkultur beisammen. Das einzige, was den Reichtum erträglich und versöhnlich macht, ist feinste Durcharbeitung der Seele, weil Zeit und Muße hierzu ist. Ich will fortab auch meine Glücksgüter besser nutzen, denn als Parteigänger des Bruderkrieges.

Ach, wäre ich nur in München!«

* * *

Am anderen Tage dann war ihr Brief da.

»Teuerster Freund! Da es Sie so sehr nach Ihrem armen Schützling verlangt, so mögen Sie wissen, daß auch ich Sie gerne wieder zur Seite habend wissen möchte.

Sie seufzen, teurer Freund, ob des Elends, in dem Sie mit allzu unglücklicher Hand noch haben wühlen müssen, und das nun in Ihr Herz übersiedelt ist? Wohlan, mein Freund; dieses Geständnis gibt mir den Mut, Sie zu bitten, dies gräßliche Schlachtfeld der Mißverständnisse, das, leider, soviel Leben und Glück dahinfrisset, zu verlassen und zu hoffen, daß ich Ihnen die Pein aus dem Herzen rede.

Diese Zeit ist hart, und ich muß es überwinden, daß Sie schrieben, Sie hätten meiner Landsleute, ach, von meinen und Ihren deutschen Brüdern, allzuviel getötet. Wir sind sonst in diesen Tagen, leider selbst Frauen, gewöhnt, mit Stolz auf solch einen Freund zu blicken, und ich bin so sehr das Kind dieser durch ein grausames Zirkusspiel des Cäsars Napoleon verhärteten Zeit, daß mir vor Ihnen immer noch nicht grauet. Freilich, denn Sie haben ein Herze und haben was für ein Herz!

Ach, liebster Freund, kommen Sie; Sie finden wohl hier weder den zu umklammernden Hals noch einen Schoß, darin zu weinen, weil sich auch letzteres für eine noch so zärtliche Freundin in solcher Abwesenheit von deren Mann nicht wohl schickte, aber Sie finden ein Herz, das, mütterlich, nein: da es zu jung hierzu ist, denn schwesterlich, Ihnen gehöret.

Kommen Sie, retten Sie Ihr traurig glühendes Herz in die es zu kühlen bereiten Hände Ihrer Freundin, Elmire von der Brieg.«

V.

Worauf Herr Doktor Konrad Würffel wie ein flüchtendes Kind nach München eilte. Denn seit er dem armen erschossenen Trompeter des leichten Bataillons ein schönes Begräbnis und seinem Freunde Joas die Möglichkeit einer Genesung verschafft hatte, war all sein Werk in Innsbruck abgetan, und ihn verlangte nach holdem Frieden.

In München dann nahm er am Isartor Wohnung, und er nahm sie bescheidener, als er sonst getan hätte, denn die harte Zeit mahnte ihn zu sparsamem Hausen. Es ward sein Quartier ein helles Zimmerchen in der Mansarde eines der hochalten Häuser an der Mauer, die über den Fluß hin nach Süden schauten, wo ihn die weißen Schneeketten mahnten, ernst zu bleiben. Hintenwegs ging seine Schlafkammer mit dem Ausblick auf die nahen Kirchen Sankt Peters und des Heiligen Geistes; eine erbauliche Nachbarschaft. Himmel war über ihm weitaus so viel gespannt, als ein Menschenkind nur haben kann.

Er hatte sich Frau Elmiren nicht verkündigt, sondern war verhohlen gereist. Über die Grenze war er nur durch einige Widergänge entkommen und hatte sich aus jeder Verzögerung ein wenig Freude gesucht, daß nun die besorgte Frau immer noch auf Antwort warte.

Gegen Abend war er eingerichtet und ging dann mit einer starken, stillen Freude Frau Elmire besuchen, von der er wußte, daß sie um Vesperzeit selbst an einem Tage zu Hause sei, den sie für Abend vergeben hatte; umkleidenshalber. Auch heute fand er sie; sie kam ihm an der Tür entgegen und hatte allen Atem verloren, ihn zu begrüßen; so groß waren Schreck und Freude.

Diese beglückende Fassungslosigkeit verwirrte Herrn Würffel so sehr, daß er ihre Hände sehr viel öfter und stärker küßte, als ohne eine Liebeserklärung erlaubt war. Frau Elmire aber war zu ängstlicher Natur, als daß sie gezerrt oder gescholten hätte. Sie wußte, wie sehr der einsame, arme Junge sie liebte, und es tat ihr wohl. Sie wußte auch, daß er scheu und leicht zu verweisen wäre, und ohne ihn wegen seiner allzuheiß werdenden Ehrfurcht zu strafen, sagte sie: »Ach, daß Sie endlich gekommen sind; der König erwartet Sie jeden Tag in Audienz!«

Es waren diese Worte wie eine Handvoll Salz auf einen Blutegel. Erschrocken ließ der eifrig küssende Freiheitsheld von den schönen, milden Händen ab und schob den Rücken vor Unbehagen hin und her: »Der König, gnädigste Frau!«

»Ach, er möchte Ihnen für meine Rettung danken, und er bedarf endlich eines gebildeten Mannes, der ihm ein völlig tirolerisch gefärbtes Bild der Gründe jenes unseligen Aufstandes treuherzig vor die Augen male. Aber Sie sind ja ganz verschreckt, liebster Freund. Kommen Sie ans Fenster. Ach, sehen Sie harmvoll aus. Haben Sie so sehr gelitten?«

»Sehr,« sagte der junge Würffel zerstreut. »Aber könnte man dem Könige nicht ausweichen?«

»Ausweichen?« rief Frau von der Brieg erstaunt. »Ich hatte gedacht, Doktor Würffel wiche dem Tode selber nicht aus, viel weniger der Möglichkeit, Gutes zu tun!«

»Ach, gnädige Frau, Sie haben recht. Vielleicht vermag ich es,« sagte der leicht wendbare junge Mensch in neuer Ergriffenheit. »Vielleicht sendet mich der, der mich töten hieß, zur Sühne auch dorthin, wo ich Leben und Gnade zu erwirken vermag. Ja! Ich will mit dem König reden, denn mein Herz ist voll genug.«

»Gott segne Sie dazu,« sagte die junge Frau.

Sie saßen nun an ihrem Nähtischlein einander gegenüber, und eine kleine Pause entstand.

Unten rasselte die Straße, und von der nahen Frauenkirche brummten mit schweren Erzstößen die Abendglocken, es ward in dieser Gassenenge schon Dämmerung.

»Sie hatten also meiner dennoch nicht vergessen,« sagte Frau von der Brieg.

»Und Sie?«

»Ich verzweifelte, daß Sie wiederkämen, und fürchtete, Sie könnten verrohen; wahrlich, Herr Doktor!«

Doktor Würffel setzte sich geradewärts in seinem Sessel empor. »Das haben Sie gedacht, gnädigste Freundin?«

Frau von der Brieg blieb sehr still.

»Gnädige Frau,« sagte Würffel, »das haben Ihnen Ihre sehr verehrten und sehr zahlreichen Damengesellschaften gesagt.«

»Ich bin einsam geworden, seit ich nicht mehr das Allerneueste zu verkünden habe,« sagte die junge Frau recht traurig.

»Sie sind einsam? Und Sie riefen mich nicht zu sich?«

»Weil ich Ihretwegen einsam wurde.«

»Gnädigste Frau!?«

»Ach, Herr Doktor, das mag ich Ihnen nun wohl erzählen; es ist lehrreich. Aber machen wir nun vorher Licht. Sie ist unheimlich, diese Dämmerung. Man glaubt stets etwas Schlimmes zu gestehen.«

Als die Lampe brannte, fuhr Frau Elmire fort: »Sehen Sie, Herr Doktor, als ich in Innsbruck beim großen Wechsel der Dinge ein wenig die Welt kennen lernte, als sich dort alle Menschen vor mir zurückzogen und mich mieden und Sie Einziger Ihr Leben an die Sicherheit einer Fremden, ja einer Feindin setzten, da hoffte ich, diesen einen, einzigen Freund nach München zu verpflanzen. Darum nun brachte ich Sie überallhin, wo Schönheit, Bildung und Reichtum war, und hoffte, eine meiner jungen, annoch unverehelichten Freundinnen würde Ihr Herz rühren. Ach, Herr Doktor, wo haben Sie indes Ihre Augen gehabt?«

Der arme Doktor wollte sagen, wo.

»Nein, das war jetzt keine Frage,« rief Frau Elmire schnell und ängstlich. »Davon also kein Wort! Wahrheit ist, daß Sie, Herr Doktor, zärtliche Neigungen genug erregten und fürwahr nicht selten in trefflichen Herzen. Da Sie aber überall schieden, ohne links- und rechtshin zu sehen, so schien es überall, als wäre ich es, die Sie siegesfroh wieder mit sich nach Hause nähme. Kein Wort, ich bitte Sie, Herr Doktor! Mein Versuch schlug also fehl; den zweiten, der Sie an München fesseln sollte, unseres wahrhaft genialischen Königs lebhafte Liebenswürdigkeit, machten ebenfalls Sie zunichte. Ihr erstbesagtes Benehmen, teurer Freund, zu rügen, war ich Ärmste zu schwach. Ihre Flucht vor dem Könige zu hindern, war ich zu gering; ich erkannte in Ehrfurcht Ihren edlen Unwillen. Nun bin ich beinahe so etwas wie verfemt; nicht so arg wie zu Innsbruck. Man sähe mich gern, denn es ist die Schadenfreude der Mütter und Mädchen, Herr Doktor, weil Sie mich Unvorbereitete so jählings verließen. Denn daß man von einer Frau fliehen kann, um sich totschießen zu lassen oder selber zu töten, das versteht man in dieser Gesellschaft, wo Klavier, Cello, Gedicht und sanfteste Historienmalerei geschätzt sind, keineswegs.«

Da hatte nun der Herr Doktor die Fadenseite seines Bildes von Kniegeige und Goethes Gedichten. Die eine Welt kannte die andere nicht, und es sollte doch ein Wesen sein?

»Herr Doktor?« mahnte Frau Elmire den tief sinnenden, jungen Arzt.

Würffel sagte: »Jedes Ihrer Worte geht zu meinem Herzen, gnädige Frau. Ich habe alles verstanden und ich bin glücklich, zum erstenmal zu vernehmen, daß Sie bedeutender sind, als ich Sie bisher empfunden habe.«

»Böse Zeiten lehren uns vieles, mein Freund,« sagte Frau Elmire. »Nun denn, vernehmen Sie, wie sehr vernünftig ich bin; nicht bedeutend, mein Freund; nur nachdenklich zu unser beider Nutzen. Also denn: Wenn Sie zum Könige gehen und ihm gefallen, so gefallen Sie all denen, welchen der König gefällt. Sie sind also groß und schön in den Augen all derer, in deren Sinnen Macht, Ansehen, Gunst und Glück obenan stehen, und die sich ›die Welt‹ nennen. Dabei gewinne dann auch ich, denn ich habe eigennützige Wünsche. Man soll Sie wieder zusammen mit mir in Gesellschaften rufen und soll uns sehen, ohne Anstoß zu finden.«

»Ich will, Frau Elmire,« sagte der junge Doktor und erhob sich. »Sie wissen es, daß ich Sie liebe. Sie wissen, daß diese Liebe hoffnungslos ist. – Frau Elmire: Wirklich?«

»Wirklich,« sagte die junge Frau mit bebender Stimme. »Sie ist hoffnungslos. Und dennoch habe ich Sie lieb, lieb, lieb.«

»Nun gehe ich gern zum König,« sagte der Doktor. »Nur eines, gnädigste Freundin: Führen Sie mich in jene Gesellschaft, die Ihnen so teuer ist, und endlich zu einer hin, die schöner, gütiger, milder und reicher an Herz und schüchterner Klugheit ist als Sie.«

Er ging schon fort und wandte sich erst an der Tür um, wo er fast schreiend hinzufügte:

»Sonst verzweifle ich und gehe wieder von neuem töten und schießen!«

Frau Elmire stand auf, und ihr zitterten Knie und Brust und Kehle. Sie wußte selber nicht mehr, ob sie Geliebte oder Freundin war:

»Adieu, mein Freund,« atmete sie ihm nach; und zur Tür begleitete sie ihn diesmal nicht.

Es war eine schwache Stunde gewesen, so klug sie gesprochen hatte.

Am anderen Tage war sie wieder aufrecht und dachte recht wohl daran, daß sie Ehefrau und daß ihr Gatte ferne im Elend war. Trotz alledem ging sie mutig an das Isartor hin, um aus schwesterlicher Liebe mit anzusehen, wie Herr Doktor Würffel aufgenommen und eingerichtet war; durfte er ihr nicht mehr sein als Freund, so sah sie ihn als Kind an und preßte eine ganze keimende Neigung in Fürsorge um diesen Mann hinein, der stets prüfungslos von einer Situation in die andere mit beiden Beinen hineinsprang, als wäre ein Menschenkind stets fröhlich zu Hause, wohin es immer geriete: Kriegsdrohung, Karfreitagsschauer, Frauendienst, Mitleid, Rache, Freiheitskampf, Meuchelmord, tätige Hilfe, Selbstmord, Rosenlyrik, Ehebruch, Selbstaufopferung, bis hin zu einem gänzlich unerwarteten Gespräch mit einem König.

Sie besuchte Herrn Doktor Würffel, der eben am Fenster lehnte und in nachdenklichster Seelenmischung seine fernen Tiroler Berge ansah, die ihm die Südsonne vor den Augen recht ferne, aber recht klar hinzeichnete, weiß wie eine große Reihe Linnen, die im Lande Tirol eben von Blut reingewaschen und langhin zum Trocknen aufgehangen worden wären.

Da kam sie zu ihm ins Zimmer, und erschrocken fuhr er herum.

»Ja,« sagte sie lächelnd. »Ich bin bei Ihnen. Ich werde viel bei Ihnen sein, denn ich habe sonst niemand. Ihre Zimmer sehe ich mir nur einmal an; nur heute, denn ich habe Sorge, ob Sie es in München schön finden würden. Es ist sehr schön bei Ihnen, viel hübscher als bei mir, und ich bin zufrieden.«

In dem jungen Menschen brach plötzlich der Verdacht empor, daß dieser Besuch Koketterie sein könnte. Sie war schon auf dem Wege zur Türe. »Elmire, liebste Elmire!« rief er stürmisch und verstellte ihr den Weg.

Sie neigte ernst den Kopf hin und her und sah mit geraden, traurigen Augen in die seinen. »Freund, mein Freund?« fragte sie strafend.

Da gab er augenblicklich die Türe frei und glaubte an sie. Sie ging an ihm vorbei und blieb erst auf der Treppe stehen. Inzwischen hatte ihn schon die Angst gerüttelt, er könnte ihre Gunst verloren haben. Da sagte sie ruhig, als wäre nichts geschehen, zu ihm hinauf: »Ich kam auch, um Ihnen anzuzeigen, daß Seine Majestät Sie übermorgen nach elf Uhr in Audienz empfangen wird.«

Würffel ließ sie gehen. Er war ganz wirr vor Beschämung und Zorn über sich selbst, über die kleine, schwache Frau, die ihn so sehr bezwingen konnte, und antwortete ihr gar nicht mehr. Aber ans Fenster lief er dennoch und sah bald danach ihre leichte Gestalt durch Gasse und Kirchenwinkel dahinwandern, und gar schnell war sie fort; die Stadt hatte sie wieder.

»Ist sie ein Engel? Ist sie die Geliebte des Königs? O, wie bin ich wirr mit Urteilen. Und wie bin ich froh ob dieser Wirrnis. Denn sie gibt mir endlos zu träumen. Sei, Elmire, wie du bist, ich liebe dich.«

Zweiten Tages kaufte Würffel sich einen Staatsfrack, und am dritten Vormittag stand er in bürgerlicher Selbstverkrochenheit hinter Uniformen, Soutanen, Galaröcken und Livreen an einer Wand des Wartesaales und besah zwei Stunden länger, als er bestellt war, die Bilder an den Wänden; nichts als Schlachtenbilder. Im Vorzimmer des Königs sah es aus, als bestünde dessen ruhmreichste, heiligste und einzige Pflicht im Dreinhauen.

»Er mag recht haben,« dachte sich Herr Würffel. »Die Menschheit bittet ja geradezu um Prügel, so oft sie sich wohl fühlt. Vielleicht auch ist das Gewitter die Hauptsache und der Glanzpunkt aller Weisheit im Regimente Gottes.«

So schob er sich an den Wänden entlang, ward kaum bemerkt oder verachtet und verdiente es wahrlich. Denn dieses breite, kurze Menschenkind hatte zwei Tage und zwei Nächte Zeit gehabt, sich auf eine Rede an den König vorzubereiten und hatte nicht einmal daran gedacht, was es sagen sollte. Würffel erwartete in gläubigem Vertrauen alles entweder vom König, oder, wenn der nicht frisch genug auf seinem eigenen Geiste saß, vom lieben Augenblick. Er war voll Scheu, Ehrfurcht und Angst; aber er war wie ein Schüler, der unüberwindlich faul ist. Er weiß, es geht ihm bei der Prüfung übel; aber lernen kann er nicht.

Solcherart war Doktor Würffel vorbereitet, als der Adjutant ihm zunickte: nun dürfte er eintreten.

Es war, als führe eine Tür vom Düstern und Wimmelnden in lichte Stille, von der Bedrängnis zur Heiterkeit. Hier war ein kleines Zimmer und ein einziger Mensch, der sich von einem Schreibtische erhob und ihm entgegentrat.

Schweigend, freundlich und fragend sah ein prächtiger, wohlgenährt und gut aussehender Herr mit hellen Augen und allerlei lieben Schmunzelfalten und Sorgenfurchen dem jungen Doktor mitten ins Gesicht.

Ein Hamburger Großkaufmann wäre ihm viel kühler und schauerlicher zu schauen gewesen, dem wackeren Freiheitskonrad. Immerhin war er befangen, und um zunächst nur grad nichts zu verderben und die fragliche Situation zu klären, sagte er: »Eurer Majestät ehrfurchtsvoll ergebener Doktor Konrad Würffel, gebürtig aus Graz, herkommend aus Innsbruck, stellt sich alleruntertänigst vor.« Er hörte seine eigene Stimme; all das war furchtbar fremd.

»Ja, ach ja, das ist nun der Würffel,« erinnerte sich Majestät. »Derselbe, der Madame von der Brieg Ehre, Vermögen und Leben gerettet?« fragte er mit freundlich erhobener Stimme.

Gleich ward der gute Würffel warm. »Ich hab' halt ein Dutzend Gesindel, das dort geplündert hat, hinausg'jagt und dann die Madam', weil sie im österreichisch gewordenen Tirol übel angeschrieben war, nach München begleitet,« erzählte Würffel, dem es nie gelungen war, hochdeutsch und bescheiden zugleich zu reden, in gemäßigtem, aber gemütlichem Steirisch.

»Kannten Sie die Dame früher schon?« fragte der König interessiert.

»Ja, hat sie das Eurer Majestät nicht erzählt? Ich bin vom Iselberg kerzengrad gekommen, wie sie unten auf der Gasse ihren Mann gevierteilt haben –«

»Gevierteilt?« rief der König erschrocken …

»Ja so,« sagte der Doktor; »das scheint Madam' nicht angesehen zu haben.« Und er erzählte den groben Bauernspaß. Der König rückte Augenbrauen, Mundwinkel und Nase; es war ein Gemisch von Entrüstung und Amüsement.

»Geradeso wie bei mir,« dachte Würffel. »Er ist doch ein Mensch; Gott sei Dank.« Und er berichtete weiter, wie er Madame, die er gar nicht kannte, ohne Besinnen, wiewohl durch ihre süße Schwermut gerührt, gerettet hätte.

»Hat es Ihnen Madame gebührend gedankt?« fragte der König mit leisem Lächeln.

»Gebührend; denn sie hat mich bescheiden gemacht wie ein Kind, und also dankbar,« sagte der junge Doktor mit aufrichtiger Wehmut.

»Ah,« sagte der König und warf den Kopf empor. »Nun aber zu unserem Schmerzenskind, dem Lande Tirol. Sagen Sie: was klagt man dort am lautesten? Warum haßt man uns am meisten? Sie sind dem Lande zu Hilfe geeilt; ich will mit Ihnen nicht darüber rechten, ich hätte es als junger Mensch auch getan. Geradeheraus, mein lieber Doktor: Was hat Ihnen in diesem Lande am bittersten ans Herz gegriffen? Was hat Sie mit zu solcher Feindschaft gegen uns erregt? Geradeaus, ich bitte Sie, Lieber, wenn Sie mein Freund sein wollen, wie ich der Ihre!«

»Ja,« sagte Würffel und senkte lange und nachdenklich den Kopf; »es ist eine Dummheit und doch steckt sie mir im Herzen und tut mir weh wie eine Pfeilwunde. Ich habe etwas mit ansehen müssen, das mir die Seele vor Mitleid zerrissen hat und das mich in seiner traurigen Drolerie dennoch mit einer Erkenntnis durchleuchtete.

In den Tagen, nachdem die Flammen von Schwaz mein Herz vom schönen, seelenvollen München wie einen Magnet zur Rache gezogen hatten, mich so gut wie zwanzigtausend Tiroler, die sonst daheim geblieben wären – in diesen Tagen, bevor ich den Weg zum Brenner fand, schlich ich mich auf alten, lieben Wegen bei Hall umher, und als ich zwischen blühenden Syringen auf eine Wiese hinuntersah, ward ich zum Zeugen einer Exekution.«

Der König senkte das Haupt; dann aber hob er es rasch und energisch und sah den Sprecher mit lebhaften Blicken an. »Weiter,« sagte er ruhig.

»Zwei Bauern sollten erschossen werden. Ich hatte von dem Todesurteil vernommen: Wenn man die Bayern fragte, waren beide mitten im Aufruhr handhaftbar gemacht worden. Das Volk schwor, der eine sei schuldlos und nichts mehr und nichts weniger als ein Pechvogel, der sein ganzes Leben lang immer der unglückseligsten Stunde entgegengetappst wäre, und der andere habe unwillig, ahnungslos und trübsinnig zu den Waffen gegriffen, bloß, weil er an eine heilige Pflicht geglaubt hatte. Der Priester aber, der sie im Kerker besuchen durfte, erzählte, es seien Heilige an stillem, schlichtem Mut, Gottvertrauen und Himmelsbereitschaft.

Es war alles zu ihrem Ende gerüstet; die Schützen des leichten Bataillons hatten geladen, das Karree rückte gegen beide an, indem es die Seite nach dem Inn offen ließ, und die zwei armen Teufel standen genau so kopfhängerisch und hilflos wartend und drehten ihre Hüte, als wären sie auf das Landgericht vorgeladen worden und wüßten nicht warum. Da sie so sanft waren, hatte man sie nicht gebunden.

Der Geistliche trat zu ihnen, und da waren sie nun wieder zu Hause. Sie warfen sich auf die Knie und küßten und küßten endlos das Kreuz dessen, der auch lange vor ihnen schon um Dinge gelitten hatte, die ihn nichts hätten angehen dürfen. Es war, als könnten sie sich gar nicht trennen von dem, was in dieser Welt ihr Letztes, Verständlichstes und Teuerstes war.

Dann blieben sie knien und waren bereit.

Aber da kam der Hauptmann an sie heran, ein Mann, dem es todschwer ums Herz war und der hier die tapferste und härteste Stunde seines Lebens zerbeißen mußte. Er blieb trotzig und ruhig, denn er mußte ein strafendes Exempel geben. Nun sagte er schwertönig zu den beiden Bauern: ›Nehmt eure Sacktücher heraus und verbindet euch die Augen.‹

Die beiden starrten ihn mit verwirrten Blicken an, denn sie waren längst dem Himmel näher als der Erde.

›Eure Taschentüchel, die Schneuztüchel sollt ihr nehmen; die Vorschrift sagt, daß ihr euch die Augen verbinden müßt.‹

Da suchten die beiden armen Kerle in allen ihren Taschen. Sie hatten niemals ein Schneuztuch gehabt, oder kaum an hohen Feiertagen zum Staat, und auch da nie, um es an die Nase zu führen. Aber sie suchten gänzlich verwirrt in ihren Taschen. Da das Gesetz war, so mußte auch das Taschentuch da sein; nun fanden sie natürlich keines.

Da sahen sie einander mit Blicken an, aus denen die ganze Hilflosigkeit der weltunverständigen Kreatur klagte.

›Nun?‹ sagte der Hauptmann. ›Ich hätte geglaubt, es sollte euch eiliger sein.‹

Da schlug der eine seine Lodenjoppe empor und verhüllte das Antlitz damit, und der andere tat es ihm nach; die groben, gelben Hemden klagten darunter von hartem Leben, und es sah grotesk aus; sie knieten und hatten die Arme gehorsam oben und hielten den Kopf in die schlechten Jacken gehüllt. Und dennoch schnaubten mir Herzeleid, Mitgefühl und Neid wegen ihrer glücksgläubigen Himmelfahrt durch die Nase empor, und ich schluchzte wie ein Kind.

Dann kam das Geknatter, und sie legten sich hin, still, so wie sich jenes Land noch hinlegen wird, denn Flinten waren immer dauerhafter als Herzen. – Verzeihung, Majestät.«

»Machen Sie nun Ihre Folgerung,« sagte der König. Er war wie in einem Käfig und sah umher, als wollte er versteckt weinen. Da schloß der junge Mensch seinen Vortrag: »Wer noch nicht einmal Taschentücher hat, woher soll der luxuriöse Gesinnungen haben und die edelsten Absichten eines Königs verstehen, der ihnen allzuweit an glücklicherer Zukunft voran ist?

Solche Schneuztüchel, solchen Luxus – ich bleibe beim Bilde – verlangte man von den Ärmsten in Schule, Kirche, Verwaltung, Militärstellung, im Familienleben, der Hauswirtschaft, den Steuern und der Verfassung, und sie hätten es gerne hervorgezogen, hatten es aber noch nicht.«

»Das tut wehe,« sagte der König und wandte sich fort. Denn seine Ergriffenheit war sehr viel stärker als sein Unmut über das freimütige Daherreden des Doktors, der ja nicht sein Untertan war. Der lebhafte Herr atmete schnell und tief, bezwang sein krampfendes Herz und sagte dann: »Was also sollte man tun?«

»Ach,« seufzte Würffel kleinlaut; »daß das Volk, bis zur Seele empor, Überfluß haben sollte, um sich in Kultur zu bringen, das wünsche ich so sehr wie Majestät, aber ich bin um guten Rat genau so hilflos wie Majestät. Am Kriegführen allein ließe sich ein bißchen sparen, und das geht nicht.«

»Das geht nicht, leider,« sagte der König in gedrücktem Ton. »Ihre Geschichte mit den Taschentüchern aber steht in meinem Herzen, lieber Würffel – ich will sie mir gar sehr merken. – Schrecklich, lieber Würffel; wahrhaft gräßlich. – Nun: Sie bleiben in München?«

»Ach, ja, Majestät, ich habe mein Herz schon voll genug.«

»Haben Sie einen Wunsch dazu? Ich täte Ihnen gerne etwas Liebes. Ich bin Ihnen nun zweimal Dank schuldig.«

»Wenn ich hier bleiben und meine unterbrochenen Studien in einem Hospitale wieder aufnehmen dürfte, Majestät? Andere Wünsche habe ich nicht.«

»Sie sind ein braver Mensch. Wenn uns das Herz weh tut, gehen wir helfen und heilen, nicht wahr, lieber Würffel? Gut. Immerhin hoffe ich, daß Sie nicht vergessen werden, wie ich Ihnen geneigt bin. Sie haben einen Wunsch frei. Der Weg zu mir bleibt offen; kommen Sie wieder. Adieu, lieber Doktor Würffel.«

* * *

Die Geschichte kam herum. Der König selber entlud sein schweres und gequältes Herz in vorwurfsvollen Erzählungen an Montgelas, an Hompesch und eine Freundin. Würffel berichtete über die Audienz an Frau von der Brieg, die von der Erzählung des Endes der armen Bauern tief ergriffen ward und schüchtern da und dort davon sprach. Da ging die Mär durch ganz München, und das mangelnde Tiroler Schneuztüchlein ward sprichwörtlich; das kleine Vorkommnis hatte sein Gutes, denn nun erstanden viel mitleidige Herzen für Tirol. Doktor Würffel aber wurde, da er die Gnade des Königs hatte, wegen dieser armen, kleinen Geschichte viel gefeiert und, wie die Menschen übertreibsam sind, so ward Würffels trauriges und nachdenkliches Histörchen gleich mit der Parabel von den drei Ringen verglichen und obendrein in einem Gedichte! Der König war Saladin und Würffel Nathan der Weise.

Nun kamen die Einladungen wieder, und es hätten jetzt Herr Würffel und Frau Elmire ungescheut als Geliebter und Geliebte in den Salons erscheinen dürfen – wenn sie es gewesen wären.

Diese zwei Menschenkinder aber blieben rein. In ihm waren Scheu, Verehrung und Rührung sehr groß und sie blieb ihrem Manne desto ängstlicher anhänglich, je weiter fort und gehudelter er war. In dem Bewußtsein der Innigkeit und Freudigkeit ihres Zusammenseins blieben sie jedoch viel miteinander allein, und statt des derben Strickes der Sinne spannen sich spinnwebfeine Fädlein kreuz und quer zwischen beiden, so heikel, ängstlich und berührungsscheu wie das zarte Gefaser, das sich zwischen Wundrändern hervorwagt, um sich zu binden, zu schließen, sich zu verfilzen und zuletzt ein Fleisch und Blut herzustellen.

Nun gingen sie auch am hellen Tage und lieber noch bis in die aufatmenden Sommerabende hinein miteinander und mieden die Gesellschaften gerne. Nur daß Frau Elmire dem Österreicher zuliebe gern ein paar gute Leute ins Haus lud, die keinerlei Konversation machten, sondern sehr bald nach dem Essen sachlich zusammenrückten, sich mit Instrumenten zurechtsetzten und dann um ein aufmerksames Klavier mit Geigen und Cello zu sprechen anfingen: in der Sprache, die der liebe Gott spricht; der gesegneten Musik, in der sich das Leid und die Erlösung einer Welt viel kompendiöser und abdestillierter niederschlägt, als in der genialsten Historie.

»Ach,« sagte dann Herr Würffel, wenn ihm der geliebte, ruhig tröstende Ton des Cello in die Seele redete, »seit die Musik hier auf Erden vollkommen ist worden, hat der Himmel über uns nichts mehr voraus. Zwei Dinge haben wir ihm weggenommen. Erst das Feuer für die Leibesnotdürfte. Dann die Musik zur Verklärung der Seelen. Fehlt nur mehr, daß wir auf den Himmel verzichten und ihn auf Erden einrichten: indem jede Einzelseele sich daran gewöhnte, in sich die ganze Welt zu empfinden.«

Da sah ihn Frau Elmire liebreich an und sagte einmal: »Sie sind hilfreich, großherzig und gescheit dazu; Sie sind ein Denker!«

»Still,« sagte Würffel. »Der göttliche Mozart spricht, die graziöse Geige, die bescheiden unterdrückte Allwelt des Klaviers. Und mein Cello!«

So gab es auf dieser ganzen Erde ein einziges, auf das Frau Elmire eifersüchtig sein durfte, denn das ging ihm selbst über den milden Hauch ihrer zutraulichen Stimme.

Einmal fragte sie scherzend: »Also steht von allen Geschöpfen dieser Erde der Österreicher dem Himmel am nächsten, weil er der Musik so nahe steht?«

Da küßte er ihr gerührt, dankbar und vielmals die lieben, leisen, kleinen Hände.

* * *

Am kindlichsten und reinsten waren sie, wenn es sich fügte, daß sie an heißen Sommertagen und wohl auch im schönen September jenes Jahres der Stadt entflohen, um in den Auen der Isar oder auf der wehenden freien Hochebene, in den Wäldchen und an den zahlreichen Wasserfädlein des Dachauer Mooses Kühlung zu suchen.

Da standen, so seelenruhig wie Statisten bei Cäsars Leichenbegängnis, die beschneiten Berge im Süden und blieben still und stimmenlos, so oft auch Konrad nach ihnen hinsah, als könnte und könnte diesem Landl dahinter in alle Ewigkeit nichts geschehen und alles Notgeschrei wäre nur Grillengezirp.

Bei solch erhaben gleichgültigem Gottesbeispiel vergaß er immer wieder von neuem das Mahnen seiner wehleidigen Seele und ging sehr gerne und freundlich an Frau Elmirens Seite. Im August brachen oft Gewitter los; da warteten sie, bis der Herrgottsskandal anging, und flüchteten dann wonnig in eine geduckte Bauernhütte oder gar in ein Wirtshaus und tranken zum Donner ganz scheu und verlegen ihren Wein. Herrn Würffel war es fast behaglich, daß er hier mit Frau Elmire mitten in den Honigwaben der Heiterkeit saß, während hinter den Bergen ein Volk sich wehrte, verzehrte und abstarb.

Bis aber die schwarz heranziehenden Wolken über ihnen standen, hielten sie im Freien aus und beschauten sich das herrlich schaurige Ding, wie der blaue, zarte Himmel gefressen wurde, Zoll um Zoll, von dem giermäuligen, ringelbäuchigen Natterngeroll, in dem es schwefelgelb umherzüngelte.

Welch ein Wunder, wie in dieser Stille so jäh ein Wind aufstieß: Wunnn. Dann ward es wieder still.

Dann abermals: Ww – hunnn.

Da war Frau Elmire einmal so keck und sagte: »Ganz derlei beginnt Ihr Beethoven in Wien seine Symphonien.«

Er aber bat: »Horchen wir also; es ist ehrfürchtig genug.«

Die Pappeln an der Straße hatten sich lange Zeit als die einzigen Wesen gebärdet, die von dem Wetter wußten, und jedes Blatt, das sich plaudernd von Nachbar zu Nachbar umdrehte und eilige Kundschaft umherplapperte, war ein zitterndes Schauergeistlein gewesen. Bald grün, bald silberblaß, zapplig, flatternd, schauerlich beregt und endlos geheimnisvoll, wie die unruhigen, wühligen Nerven eines armen Menschengeschöpfes. Es war ein Geistertanz in den Lüften.

Dann ging der Sturmwind ordentlich los, und sechzig oder hundert Pappelblätter, im Herbste über tausend, rissen sinnlos durch die Lüfte aus und davon, als wär's eine Pferdepanik.

Nahe und tief schrie Gott-Vater die beiden an, und seine rollende Stimme fürchteten sie liebend und verkrochen sich und waren klein und duckefroh, während es draußen mit Rutenhieben in das Antlitz der schuldlosen Erde losging, als sollten die zwei Kinder in der Schänke dem Leid eines großen, stillen Prügelknaben zusehen.

Frau Elmire war überhaupt ein Kamerad, der selbst über Sturzäcker klaglos, ja heiter mitmarschierte, was immer ein Maßstab für die treue Anhänglichkeit einer Frau ist.

Im September rauchten die Heidefeuer da und dort über dem Dachauer Moos. Da bekam der Doktor Würffel doch etwas Heimweh nach dem heiligen Freiheitskrieg und erzählte Frau Elmire, mit wie wunderbarer Lichterkrönung des Nachts die Bauern das eingeschlossene Innsbruck umgeben hatten. Im Mai hatten hundertdreiundneunzig Lagerfeuer gebrannt; neulich bei der großen Augustschlacht am Berge Isel, da die Bauern sogar den Marschall Lefèvbre verjagt hätten, wäre es vielleicht noch schauerlich schöner gewesen. Ach, die Lagerfeuer! Ach, die braunen, kühnen Gesichter, die dort fröhlich umherblitzten, und morgen stand der Tod im Kalender, und sie starben, ohne Lohn zu fordern; sie: Bauern, denen man den eingerostetsten Eigennutz nachsagt.

Da bekam Frau Elmire eine geschwinde Angst, daß ihr Freund, ihr bescheidener, treuer, demütiger Freund abermals die in ihm steckende verschwiegene Wildheit loswerden und vor lauter Liebe nach Tirol morden gehen könnte. Sie sagte also gleich: »So ein Lagerfeuer, wie wird das gemacht? Können Sie's selber? Es wäre doch zu reizend, wenn auch wir an einem säßen.«

Da ging der junge Würffel auf den Leim, holte umständlich Stahl, Stein und Zunder hervor, steckte sie wieder ein, da noch kein Brennmaterial da war, und bat Frau Elmire, ihm solches suchen zu helfen. Dann häufte er ein hübsches Zweigbündel, steckte es in Brand und schob eifrig Holz nach. Hochgerötet standen sie und schauten zufrieden in ihr warmes Opus. Dann schlugen sie ein Lager auf, und Würffel ging in ein nahes Einkehrhaus, um Wein, Brot und Räucherfleisch zu holen. Nun spielten sie Tiroler am Berge Isel, und Würffel erzählte eifrig und fand alles so hübsch und tröstlich, daß sein scheugewordenes Herz sich wieder begütigte. Frau Elmire sah ihm verehrungsvoll in die Augen und drückte ihm die Hand, da war er König, blieb genau so gut in München wie Max Joseph und zog es vor, platonisch und nur dann und wann an Tirol zu leiden.

* * *

Nun aber gab es auch einen Spätherbst auf der Welt, einen ernsten, trauerhängigen, feuchten, mahnenden Spätherbst, und der begann damals in München schon frühe im Oktober.

Da ging der Doktor Würffel unruhig umher. Er war viel verlassen in diesen Tagen, denn Frau Elmire hatte die Nachricht, daß ihr Gatte bald frei werden und aus der Verbannung heimkehren würde, und sie war nunmehr ängstlich bemüht, sich den unentbehrlich gewordenen, stillen und so sehr gezähmten Freund abzugewöhnen. In den letzten Briefen hatte der Gatte einige ungnädige Ausdrücke über ihren Verkehr fallen lassen; ein Zeichen, daß er sich wohler fühlte.

Hinter den Bergen, die immer weißer und klarer wurden und immer helldeutlicher im Sonnenschein nach München hinübermahnten, wehrten sich immer noch die Tiroler. Es war Waffenstillstand auf dem ganzen übrigen Kriegsschauplatz, und der arme Würffel verzweifelte an ihrer Statt; sie aber kämpften. Es kam der Friede von Schönbrunn, der sie an Bayern auslieferte. Sie litten und darbten, ließen ihre Dörfer hinter sich angezündet stehen, rotteten sich an den Engpässen zusammen und schossen und stritten weiter.

Das gemeine Volk und mehr noch alles, was, ohne den blauweißen Farbenstrich zu achten, deutsch war, fühlte Gram und bohrendes Nagen im Herzen, weil diese armen, bloßfüßigen Bauern bis in den Allerseelenreif hinein standen und sich wehrten, indessen Deutschland für Napoleon Flachs spann wie ein dienendes Weib. Der bayrische König hinderte nicht mehr, daß in München zahllos die Bilder des herrlichen herzreichen Sandwirtes Andreas Hofer verkauft wurden, und der arme Würffel, wo er stand und ging, immer sah er diese armen, schlichten, halb ähnlichen, halb lächerlichen Bilder, deren heiliges Leben und Urbild er gesehen und wenig beachtet hatte. Nun ward ihm der Sandwirt zum Mahner seines Herzens. »Du hätt'st nit gleich greinen und fortlaufen sollen,« sagten diese Bilder zu ihm. »Mir tut das Leut' erschießen so weh wie dir, aber um das herzliebste Land muß es ertragen und getan sein.«

Geschichten kamen aus Tirol, die ihm das Herz brachen, und er saß hier einer hübschen Frau zuliebe und hatte sich vorzeitig an dem süßen Frieden festgeküßt, bevor der noch reif war. O abermalige Schwäche des Fleisches, du ärmster Apostel der Freiheit. –

Und umher in allen kleinen Läden gingen von Hand zu Hand und hingen die Hoferbilder und sahen den Doktor aus ihren runden, schwarzen Augen so treuherzig, flehend und wehmütig an, als läge in ihm das Vertrauen und Heil des Landes Tirol.

Dann, mit dem Frieden, kam der Herr Amtsrichter und Kanzleirat von der Brieg mit der Passauer Post nach München, und Frau Elmire hatte dem armen Würffel gesagt, nun fürchte sie, werde es eine Zeit dauern, bis sie ihren im Grunde herzensguten Mann dahin umgestimmt haben würde, daß er selber den Helfer und Retter seiner Frau einlüde und versuchte, dessen Freund zu werden.

So schlich der arme Würffel mit wehem Herzen in der Stadt herum, ging wieder nach Hause in seine Mansardenstube, schaute gegen Süden, wo die weißen, langen, harten Schneewellen der Hochgebirge hingezogen standen, und schaute über die Dächer umher. Gegenüber dem Tore in einem Mansardenfenster, das nach Norden ging, arbeitete still und fleißig über seine Staffelei gebeugt ein Maler an einem Madonnenköpflein. Würffel erkannte aus der Ferne, daß es gütig, schlicht, still und blond war, und dachte an Frau Elmire.

Näher an ihm begoß eine hübsche, behende Nachbarin mit vieler Herzlichkeit ein paar Reihen später Astern in einer Holzkufe, die vor dem Fenster angebracht war; mit hellem Geträufel und Gekicher tippte das überlaufende Wasser in die Dachrinne, ja bis auf den Torplatz hinab. Der Tag war wehmütig rein, klar und still, und in der Oktobersonne wanderten silberglitzig die segelnden Marienfäden; ein Kätzlein saß im Winkelwerk eines Nachbardaches und war beschaulich wie ein Zisterzienserpensionär. Von ferne kam eine Geige, die klagte und scharrte ein wehmütiges Volkslied: »Morgen muß ich fort von hier«; die Isar rauschte dazu, und alles war so lieb und gestillt und schön und traurig, daß sich ihm vor Sehnsucht und Melancholie das Herz ausriß.

Nun käme der Winter; der graumantlige Winter, der dort in den Bergen schon lange bereit lag und lauerte. Wohin sollte Würffel? Dort in das bittere, elend zu Boden geschlagene Land: in eines der sonnenarmen Hochtäler, um weiter kämpfend zu leiden? Oder hier bleiben, in seinem sehnlich stillen kleinen Südzimmer, hoch über den Dingen der Erde, in trauter Zwiesprache mit Sonne und Sperlingen, vor sich die wunderbar weite Welt, hinter sich die Stadt, in der zehnfach gedrängt auf ihn harrte, was er liebte: Musik und Dichtkunst, nachdenkliche, heitere und heroische Bilder, die Gunst eines Königs, die Geneigtheit einer liebsten, teuersten Frau und das volle reiche Leben?

Was sollte er tun?

Der stille Tag sagte ihm nicht ja noch nein, sondern lächelte wie eine Frau, die über Liebe sinnt. Die Astern standen hochauf und meinten, sie stießen heuer noch mit den Köpfen an die Sonne; die Isar schlang sich streichelnd durch Au und Wiese; die Geige klagte aus ihrer Dachverborgenheit in den warmen Tag hinaus, und so blieb alles freundlich und schmerzlich wie es war. Da hielt er diese stille Welt nicht aus, denn sein Herz riß an ihm wie ein ungebärdiges Hündlein, das zum erstenmal an der Kette liegt.

Er mußte wieder hinunter und durch Gassen und Winkel streichen, ruhelos und ängstlich, denn ein Ziel hatte er, das ihm verboten war. Es war das der Platz vor dem Posthause, wo heute die Regensburger Extrapost ankam. Da band er sich trotz des warmen Tages einen Schal um den Hals, zog ihn und die Spitzen seiner Vatermörder bis zu den Augen empor, drückte einen breiten, künstlerisch schäbigen Schlapphut tief ins Gesicht und stellte sich unter den Postlauben hinter einer Säule auf Vorpaß. Das Herz hämmerte ihm, als stünde es mit einer Wasserkraft in Verbindung und hätte dickes, großes Eisen zu schmieden.

Denn auf dem Platze stand Frau Elmire, allerliebst im Sommerhut mit bloßen Schultern und in lichtem Kleide, – so schön und festlich und freudig, wie er sie noch nie gesehen hatte, und drehte sich nach der Uhr und lief die Straße hinauf, streckte sehr den neugierigen Hals und kam in Unruhe wieder zurück. Sie würde ihn nicht bemerkt haben, auch wenn er sich breit vor seine Säule gestellt hätte.

Dann donnerte die enge Gasse, und über das Steinpflaster schwankte gewaltig die große Postkutsche mit ihren zwei Etagen, mit Körben, Schachteln und Koffern daher und aus beiden Fenstern wehten Taschentücher.

Sie hielt an und zuerst stiegen Damen aus; zwei, drei. Frau Elmire trat von einer Zehenspitze auf die andere und tanzte vor ungeduldigem Vergnügen. Dann kam ein schöner, schlanker, tief ergriffener Mann, den Konrad gar wohl kannte; aber nun sah er ihm einem Gotte ähnlich, von vielem Leide, Prüfung und Überwindung. Dem flog Frau Elmire entgegen, nahm seinen Kopf zwischen die Hände, tat ihm den Hut weg und schaute ihn an, ob an ihm viel Leid zu lesen stünde. Dann schluchzte sie, warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn so wild und oft, so voll Entbehrungsnot und Lust, daß es dem armen Faster, der das zu sehen gekommen war, das rote Blut vor Überraschung und heißem Leide bis in die Stirne trieb. So also konnte Frau Elmire lieben, du Konrad! Du, mit dem Prädikat »beiseite«!

Am Abend lag ein Brief auf seinem Bette, von ihr. Sie lud ihn ein, bald zu kommen. Ihr Mann wisse nun alles aus ihrem Munde, und er sei entzückt von ihm. Aber Konrad hatte eine wilde, wütende, verzweiflungsvolle Nacht. Er verfluchte sich und den Schlaf, der nicht kommen wollte, und zum erstenmal fraß düsteräugige Leidenschaft in ihm. Er stöhnte vor Neid und Eifersucht und konnte es nicht lassen, daran zu denken, daß Frau Elmire jetzt ein Weib war, wie er es sich niemals vorzustellen gewagt hatte.

Nun taten ihm seine Reinheit, seine Zartheit und Scheu wehe, wehe. Erst gegen Morgen schlief er ein, erwachte in den Vormittagsstunden; da sah er übernächtig aus, war fahl, und seine Augen brannten.

Aber zu Frau Elmire ging er nicht; er vermochte nicht, sie anzusehen.

Dennoch kam er von der Stadt nicht los, und um ihr Haus strich er in den Dämmerstunden wie einer, der auf Mord sinnt. Einmal sah er sie, am anderen Tage zur Vesperzeit, als sie geschäftig die besten Dinge zum Abendmahl für ihren Mann nach Hause trug. Da sah sie gerade so übernächtig aus wie er, und am liebsten hätte er sie erschlagen.

»Kein Wort hat sie gesagt, daß ihr sterbliche, irdische Liebe in den Adern glimmt, und gewartet hat sie, entbehrt und gewartet: – auf ihn! Kreuz Gottes, ich wollte, ich wüßte, wo ich schlechte Gesellen fände um mit ihnen zu saufen, zu raufen und Schindluder zu treiben neun Nächte lang, bis ich nimmer wüßte, was für ein Hund aus mir heult!«

Am Abend saß er in einem Wirtshause, das denselben Schild wie sein liebes Innsbrucker Einkehrhaus hatte, aß ganz ein wenig Wurst, trank aber Bier, schwer Bier; er wollte sein Herz kühlen, denn das war wie ein Glutherd, und es schien ihm, als zischte es, wenn er so das braune Vergessen in sich hineinstürzte. Bis an Mitternacht ward er nicht voll, und es ward ihm nur heißer und wilder zumute: endlich schwindelte ihm, und es war gut. Er war halb betrunken. Da trollte er mit düsterwirbelnden Sinnen durch die Gassen, und wie einst in der holden Frühlingsnacht zu Innsbruck stieß er da und dort an ein Tor. Er fand sein Haus, krachte die Stiegen hinauf, riß seine Kleider und Schuhe herunter und verschmiß sie verachtungsvoll an alle vier Stubenwände. Dann sank er in sein Bett, sagte: »Luder« und schlief ein, wie erstarrendes Blei nach dem Gusse.

So trieb er es am anderen Tage von neuem. Am dritten Tage lag wieder ein Brief von ihr da, so lieb und besorgt, so ängstlich und bittend, wie nur sie mit ihrer sachten, schmeichelnden Hand zu schreiben vermochte. Diesmal stand auch von ihm unter dem Namenszuge Elmirens zu lesen. »Kommen Sie bald und bleiben Sie lange; es muß Ihnen die Hände drücken und Ihre ehrlichen Augen sehen Ihr Norbert von der Brieg.«

Seine ehrlichen Augen! Ja, das waren sie gewesen, nun waren sie irre und wunschheimlich wie die eines Diebes. Er ging nicht hin. Er ging in den weißen Ochsen. Nun hatte er schon gute Bekannte dort, Philister, so sitzfest schwer und beschränkt wie Prellsteine, fett und beruhigend, beruhigend satt und platt! Mit denen sprach er vom Bier und vom Napoleon, von der Weißwurst und vom Frieden, vom schlechten Einschenken und dem Typhusfieber. Sie gossen das milde Fett ihres schmackhaften Indentaglebens mit erhabenem Gleichmut über alles hin und genossen und verdauten alles, auch das, was ihm, Würffel, ehedem das Herz zerrissen hatte.

Unter all dem verging der Oktober, und es kam gramvoll feucht und allerseelentraurig der November. Die Briefe der Frau Elmire blieben aus, der Herr Rat aber ließ zweimal mündlich nach Herrn Würffels Befinden fragen, und wo er anzutreffen wäre.

»Im weißen Ochsen; nur im weißen Ochsen,« sagte seine Wirtin mit einiger Besorgnis. Denn sie ahnte, daß Herr Würffel nicht des Bieres wegen zum Biere ging, und hatte schwere Sorge um den tüchtigen Menschen, der tagsüber im Spital arbeitete wie ein Erlöser und in der Dankbarkeit aller Kranken stand, und abends so ungut viel trank, »nur um zu schlafen,« seufzte er; »nur um zu schlafen.«

Sonderlich gefiel er sich nicht, der junge Doktor, als er merkte, daß sein Leben auf solche Weise zwar möglichst schmerzlos aber auch so eintönig wurde, daß es völlig gleichgültig war, ob ein Menschengeschöpf in solcher Weise einen Monat oder fünfzig Jahre hinlebte. Und trotzdem der Winter ihm das Kneiplokal willkommener hätte machen sollen als andere Jahreszeiten, überfiel ihn eine alte, oft gefühlte Unruhe mitten in der trägen ewigen Stammtischblüte dieser Zeitlosen.

VI.

Sein Herz, das zu tun, immer zu tun haben wollte, wucherte schon wieder und trieb lange Luftranken, die annoch nach allen Seiten ins Leere griffen. Da er wußte, wieviel Unkraut die letzten Wochen neben diesen Sehnsuchts-Ranken gezeitigt hatten, begann er langsam auszuroden. Vor allem setzte er leise und fein langsam den alten Gottesdienst für Frau Elmire darin wieder ein, versöhnte sich mit der Tatsache, daß sie verheiratet sei, und erklärte das Wort Luder für Lästerung. Es war nur der Ventilpfiff seiner Enttäuschung und seines Zornes gewesen; nun war der abgetan und teilweise totgetrunken, und die alte, leise Zärtlichkeit erwachte wieder in ihm.

Als er eines Abends wieder in der Nähe ihrer Fenster umherstrich, begegnete er ihr, und beide blieben mit scheugewordenem, halb fremdgewöhntem Herzen voreinander stehen.

»Gnädige Frau,« miaute Würffel wehmütig.

»Würffel,« sagte die junge Frau und sah ihm ein wenig abseits und verlegen ins Gesicht. »Gut sehen Sie nicht aus. Sind Sie so sicher, daß Sie uns hier in München so ganz entbehren können? Haben Sie wirklich Freunde?«

»Keine,« sagte der arme Konrad in Demut.

»Geht es Ihnen denn gut?«

»Nein, gnädige Frau. Und Ihnen?«

Frau Elmire wollte sagen: »Sehr gut.« Aber sie dachte daran, was dieser gute Mensch um sie gelitten hatte, sie wußte, daß er aller Aufrichtigkeit wert sei, und überdies war eine große Bitterkeit in ihr, denn es ging ihr wirklich nicht so, wie sie diesen ganzen Sommer erträumt hatte. So sagte sie leise: »Auch mir geht es nicht gut.«

»O, wenn Sie krank wären,« rief Würffel, »da wollte ich schon sorgen, daß Sie schnell genäsen!«

»Krank bin ich eigentlich nicht.«

»Aber was denn? Sie haben Ihren Mann; Sie sind glücklich, und nichts fehlt Ihnen mehr.«

»Ja, meinen Mann habe ich,« sagte sie halb unfroh. Dann sah sie ihn an. »Wollen wir ein wenig miteinander gehen wie ehedem?« fragte sie.

»Ach, wie gerne,« sagte der gute Junge.

Da gingen sie, wo die Gassen am dunkelsten, stillsten und winkeligsten waren; immer ein paarmal um diese oder jene Kirche herum, langsam wie ein Liebespaar. Am wohlsten war ihnen um Heiligengeist und Sankt Peter, dorthin kam kein Aufgeklärter, und den stillen bedrückten Menschen in der Nachbarschaft dieser Kirchen waren sie nicht auffällig, denn die schliefen oder waren todmüde.

Frau Elmire mußte sich die Seele freibeichten. »Ich bin so schwach und vermag schwer allein zu leben, Herr Doktor,« begann sie. »In der Zeit, da ich einsam und hilflos war, klammerte ich mich mit allen Kräften an Sie, tat ein übriges, um Sie von Ihrem Befreiungskriege loszuziehen, und war stolz und glücklich, daß ich stärker war als Ihr Opfermut. Solange ich den Freund brauchte und nichts anderes hatte, war mir wohl, und ich gedachte, Sie niemals von mir zu lassen. Nun kam nach langer Verbannung, nach Demütigung, Herzweh und heilkräftigem Elend mein Gatte heim, den ich herzlich liebte. Das Mitleid und die Angst um ihn, die Entfernung und die Erinnerung hatten ihn mir noch lieber gemacht, und ich nahm für selbstverständlich, daß er alles, was Sie sind, auch wäre, daß auch er um jede einsame Frau getan hätte was Sie um mich gewagt haben. Sie verehrte ich; ihn aber mußte ich lieben.«

»Freilich,« sagte der arme Würffel wehmütig, »er sieht sich auch viel besser an wie ich; ein schöner Mann ist er, weiß es und tritt leidlich bescheiden aber feste danach auf; das verdoppelt seine Kräfte.«

»Ein schöner Mann, ja,« sagte die junge Frau traurig. »Ich sehnte mich immer mehr nach ihm, und Sie, mein Freund, schienen mir nur mit einiger Heiterkeit und Humor betrachtet hübsch zu sein.«

»Ich weiß das selber,« seufzte Würffel.

»Da nun mein Mann kam, hätte ich Sie heilfroh auf die Gasse geworfen wie einen verbrauchten Kohlstrunk, denn nun hatte ich Edelmut, Hilfe, Ritterlichkeit und Liebe; unsinnige, törichte Liebe. An Sie dachte ich kaum mehr, undankbar und blind, wie ich war, und nur er war mehr da.«

»Das ist nicht wahr, gnädige Frau,« sagte Würffel betreten. »Sie luden mich doch ein.«

»Ja, damit begann es,« sagte die junge Frau langsam und sehr ernst. »Denn mein Mann hatte sich in der Verbannung zurechtgelegt, wie gründlich dieses Elend, seines Diensteifers wegen, bei dem dankbaren Könige für seine fernere Laufbahn sprechen müsse. Er kam hochauf vor Freude hierher und erlangte kaum eine zerstreute, kurze Audienz. ›Ach,‹ hatte der König geseufzt, ›ich wünschte, daß Leute Ihres Diensteifers öfters mit einem Doktor Würffel zusammenkämen, damit er Sie ein wenig nachdenklich über dieses Tirol machte. Es ist gut, mein lieber Brieg.‹

Damit war die Audienz aus, und mein Mann kam zu mir und fragte mich voller Erregung nach Ihnen aus. Da sagte ich ihm, wie hoch Sie mit Ihrer Schnupftuchgeschichte bei dem weichherzigen Herrn in Gunst geraten wären, und andere machten ihm den Kopf noch wirbeliger über die höchste Gnade, in der Sie stünden, ja daß Sie einen Wunsch beim Könige frei hätten.

Da hatte er es auf Sie fortab, als seien Sie seine erste und einzige Liebe. ›Glaubst du, ist er so hochherzig, als jene vom König gewährte Gunst für mich einiges zu erbitten? Ich verdiente doch mindestens eine Direktorsstelle im Ministerium; nicht? Wenn unser prächtiger Freund erst mein Martyrium so wirksam schildert wie die Kleinigkeit mit jenen beiden Kerlen, die sich in Daum und Zeigefinger zu schneuzen gewohnt waren!?‹

Und so sehr drängte er mich, Sie recht nahe an mich zu ziehen, daß ich ihn einmal im Ärger, weil ihm ein fettes Amt über mich ginge, fragte: ›Und wenn ich ihn nun, der sich für dich opferte, besser und liebenswerter fände als dich?‹

Da stockte er, ruckte sich empor und sagte groß und stolz: ›Wen mein König liebenswert findet, den darf eine arme, schwache Frau wohl auch nicht verabscheuen.‹ Mein König! Dabei stammt er von jenseits der Elbe, aus Böhmen, oder sonst wo!« Die Nasenflügel der jungen Frau zitterten, und sie war nahe am Weinen.

»Liebste, schönste, gnädige Frau!« bat Würffel.

»Ach, Sie sind ihm schöner als ich,« sagte sie gedrückt. »Hören Sie nun; das mußte ich Ihnen gestehen, denn Ihnen tat ich unrecht, schwer unrecht; Sie besaßen alles, was ihm fehlt und was ich nun in diesen Tagen, da Sie sich mit Ihrem blutenden und bescheidenen Herzen aus dem Staube drücken wollten, in Weh erkennen lernte. Ich weiß, daß Treu und Glaube, Hilfe und Schutz bei Ihnen ist, ich weiß, daß Sie mutig und hingebend sind, und ich weiß auch, daß Sie mich schön finden, mein Freund; alles, was ich lieben sollte, ist in Ihnen und nichts ist, was mich von Ihnen trennt, als daß mein Mann, mein Mann selber haben will, daß Sie ein Nest in unserem Hause bekämen. Es verleidet mir jeden lieben Gedanken an Sie, daß Sie in solchen Handel geraten sollen. Sie, der nach Tirol ging, um für die Bedrückten zu sterben! Konrad, was soll ich tun?«

Es war nun für die leidvolle Seele des armen Würffel, die stets gewohnt war, lieber zu geben als zu nehmen, ein Verhängnis. »Ihn betrügen!« vermöchte er unmöglich zu jubeln, sondern er sagte, was er schon einmal einem Könige gesagt hatte, seufzend und traurigen, ehrlichen Herzens: »Da bin ich so hilflos wie Sie.«

Frau Elmire zitterte, und ein Stich ging durch ihr Herz, als sei sie verschmäht worden. Aber die sorgsamen, lieben und treuen Ratschläge, die ihr der arme Würffel dann zu geben versuchte, und die alle mißrieten, weil er im Aufruhr seines Herzens an nichts dachte, als daß diese Frau begänne, ihn zu lieben – dieses Wirrwarr von Sorge und Freude, von Scheu und trunkener Liebe sagte ihr schnell wieder: »Ach, wie sehr liebt er dich!«

Diesen Abend kam er sehr spät ins Wirtshaus zum Ochsen; denn auch nachdem Frau Elmire ihm gute Nacht geboten und in ihre einsame Wohnung geeilt war, selbst dann noch taumelte der arme, viel umhergeworfene Konrad umher, als ob er schon lang im Ochsen gezecht hätte. Nun stand die Pforte zur Seligkeit offen: Die zartesten Wünsche des Frühlings, das wildeste Verlangen der letzten Tage, alles sollte mit einemmal gestillt werden! Nur, damit er es nicht laut in die Gassen schrie, daß er jetzt Frau Elmire in Stücke küssen wolle, nur damit er ihr nicht sogleich nachrenne, nur um seinen Schatz vorläufig wie in eine Kasse zu verstecken und den Deckel zuzuschlagen, nur um eine Rinde um diese Köstlichkeit zu legen, ging er heute wieder ins Wirtshaus.

»Na,« empfing ihn ein miselsüchtiger Pensionist. »Wir haben schon geglaubt, Sie wären wieder ins Tirol hinein?«

»Warum soll ich nach Tirol?«

»Na, weil Sie jetzt Ruh' dort hätten. Weil ordentlich Mod' g'macht is worden.«

»Ja, dös Völkl liegt fein auf der Erd',« schmunzelte ein anderer. »Zerdrückt, zertreten; Fersen auf der Gurgel. So ham mer's jetzt!«

»I hab schon glaubt, der König hätt Ihnen dort a schöne Stell' verschrieben. Na, gut is, daß 's no da san, Herr Doktor.«

»Warum denn?«

»Warum? Weil der Krieg: Wenn der wo weggeht, so zarrt er seine Därm' nach. Krankheiten und Elend. In Tirol is also Hungersnot. In Tirol is die rote Ruhr, in Tirol is das Nervenfieber, das Lagerfieber – und die schwarzen Blattern schau'n si aa das Völkel an, das si durchaus net impfen lassen will.«

»Ja, da wär' halt jetzt ein Doktor notwendig, der den Tod kennt und nicht fürchtet,« sagte Würffel halb unwillkürlich. Dann stand er auf. »Das sind schlimme Nachrichten, meine Herren,« sagte er, »ich hab' meine Familie in Tirol.«

»Aber kein Wort, daß's uns gesagt hätten, Herr Doktor,« riefen die Herren. »Gehn's, bleiben's da; erzählen's!«

»Nein, nein,« sagte Würffel. »Ich muß fort.«

* * *

Nun ging er in der tiefnebligen, dichttrüben Novembernacht umher. Er sah nicht drei Schritte vor sich. Er sah nur: Da war Frau Elmire und dort war das ärmste Tirol, das sich nicht mehr zu helfen wußte. Den Feind verjagen, das konnten sie allein, die adlerschnäbligen wilden Bergkerle, viel besser als er, der hilfreich zu ihnen geeilt war und dann in alle Dinge nur gepfuscht hatte; sogar ins Töten. Nun aber, da das Elend am größten und die armen hilflosen Menschen am schwersten geschlagen waren, nun wußte er zum erstenmal, daß dieses Land seiner bedurfte. Er, das Lehrkind der größten Ärzte seiner Zeit, wußte viel mehr als alle Doktores in jenem Lande; er wußte das reine Wasser zu gebrauchen, kannte Kräuter, die in jenem Lande nicht wuchsen und wie sie halfen, und wußte, was Reinlichkeit für ein Heilgott sei.

Hier in der Stadt lockte ein Rausch ohnegleichen; er war bloß mit etwas Schamlosigkeit und Betrug, vielleicht auch durch einen gemeinen Handel zu erkaufen. Dort war Gefahr, Elend, hilflose Menschen, endlose Kämpfe mit den Kranken selbst, um sie zu zwingen, gesund zu werden, und wenig anderer Lohn als der seines Herzens.

Ja! Könnte er Frau Elmire nach Tirol mitnehmen, damit sie ihm hülfe, und mit ihm litt und siegte. Er, der keinen anderen Kirchenglauben hatte, als den seines heiligen, jähen, aber liebestarken Herzens, vergaß gänzlich, daß Tirol und Bayern katholisch seien.

Morgen würde er Frau Elmire fragen, ob sie offenkundig mit ihm gehen wollte.

* * *

Und am anderen Tage machte er seinen Besuch.

Der junge Herr Rat, der seine Zeit abzuwarten wußte, nahm nach dem herzlichsten Empfange diskret seinen Hut und schied, nachdem er ausgesprochen hatte, er hoffe Herrn Würffel auch beim Mittagessen wiederzufinden. Frau Elmire und Konrad blieben allein.

»Ich weiß den Ausweg, Frau Elmire,« sagte der junge Arzt langsam. »Ich will, nein, ich muß abermals nach Tirol; diesmal, um jenen Feind zu bekämpfen, den ich gelernt habe, zu bekämpfen: Seuche, Elend und Erschöpfung. Kommen Sie mit mir, Sie Liebste auf Erden?«

»Wie das?« fragte Frau Elmire.

»Als mein Weib.«

»Aber wir sind doch Katholiken!« rief die junge Frau erschrocken. »Und selbst wenn wir überträten: In Tirol gälte unsere Ehe niemals.«

»Dann ohne Ehe und bloß in solcher Treue, wie wir beide sie einander aus tiefstem Herzen zu halten vermögen,« sagte Würffel in inniger Ruhe.

»Konrad, das wäre ein Marterleben. Denken Sie nicht daran, daß die Menschen in jenem Lande mit Fingern nach uns zeigten, mit Steinen nach uns würfen, mit dem Fluch ihres Glaubens uns auswichen? Konrad, auf jede Insel, in jede Einsamkeit. Nach der Schweiz, nach Frankreich, wenn Sie wollen, nur nicht unter jene engen, harten Menschenherzen, die zwischen ihren Bergen wie zwischen den Scheiterhaufen der Inquisition wohnen! Ich will nicht groß und geehrt sein wie mein Mann. Ich will bloß unbeachtet sein und lieben dürfen. Liebster, Liebster! Muß es, muß es Tirol sein?«

»Es muß,« sagte Konrad traurig und leise. »Anderswo lebte ich, als hätte ich Sie gestohlen, und würde mich bis in das Mark für elend und feige halten. Aber, Elmire, bedenk' es. Ich komme doch und bringe denen dort Hilfe. Kennst du die Menschen so schlecht? Hast du nicht an deinem Mann erlebt, wie sie ihr Herz wandeln, wenn sie uns brauchen? In diesen Tagen der Seuche, wenn du und ich ihnen Arzenei, Labung, Unterstützung, Hilfe bringen, wird kein Mensch fragen, ob wir aneinander geklebt sind, wie es sich von Buchbinders wegen gehört. Erst wenn uns diese Ärmsten nicht mehr brauchen, dann werden sie uns auch nicht mehr dulden wollen. Dann, Elmire, dann gehen wir, wohin dein scheues, furchtsames Herz verlangt, und gehören uns an.«

»Du kennst die Priester jenes Landes nicht. Der katholische Tod ist ihnen lieber als das Leben, das einen Buchstaben daneben grasen möchte. Du kennst die Frauen dieses Landes nicht. Auf dem Sterbebette fragen sie nach dem Beichtzettel ihres Nächsten. Siebzehn Freundinnen hatte ich, als mein Mann mächtig war. Siebzehnmal erfuhr ich, wie sie mich haßten. In Hilflosigkeit und Plünderung ließen sie mich, bis du, der Heide, kamst und Christentum übtest! Ich gehe nicht, ich gehe nicht in dieses Land!«

»Wie ungerecht bist du, Elmire. Diese Tiroler pflegten ihre Feinde, fütterten sie trotz eigener Armut, und die Priester dieses stierharten Volkes, drei oder vier ausgenommen, wagten ihr Leben um Friede und Liebe!«

»Mag sein,« seufzte Elmire, »daß sie den überwundenen Feind lieben. Die freie, helfende Hand aber stoßen sie sicherlich zurück. Konrad, du wirst es erleben, und ein Martyrium harrt deiner dort hinter den Bergen. O, wenn du voll Weh und Wunden zurückkehrst, hier! Hier warte ich deiner. Hier ist deine Heimat, hier!«

Und sie breitete die Arme aus und zog ihn an ihre Brust. »Geh, du guter Mensch; geh hin,« sagte sie voll inniger Liebe. »Geh allein, ohne mich. Du bist stark; ich bin klein, ängstlich und schwach. Du aber wirst deiner ganzen einsamen Kraft bedürfen. Geh, und Gott segne dich.«

Und dafür, daß er sie verließ und helfen ging, bekam er einen sanften, leisen, bebenden Kuß von ihren Lippen auf die seinen; halb höchste Reinheit, halb zarteste Sünde. Den einzigen Kuß.

Dann ließ sie ihn von sich.

* * *

In dem unglücklichen, zerbrochenen, betörten und heiligen Lande Tirol fiel der Schnee. Endlos und dicht, wie das Unheil, die Krankheit und die Trostlosigkeit über dieses Land sanken. Die Gegend war still und weiß; das ganze Volk war blaß bis in die Lippen und ließ sich einschneien, wie es Gott gefiel. Eine entsetzliche Zeit kam heran; der Tiroler sah seine Schwielen an, seufzte und nahm diese Zeit in seine harten Hände, um auch sie zu zerkleinern und zu überwinden, wie er sein Leben lang getan hatte in einem Lande, wo das Leben selbst überwunden werden muß als ein Leid. Religion ist dort so nötig wie Handwerkszeug. Dieses Land ist geheiligt; heute wie einst.

Durch das Inntal fuhr lautlos eine Postkutsche im tiefen Schnee, sie trug wieder die bayrischen Farben. Der Postillon blies nicht; nur daß er trank, wie ein Kutscher muß, dem es warm bleiben soll. Ward seine Nase blau, er trank sie wieder rot. Die Berge hallten nicht, das Tal freute sich nicht, die Menschen grüßten nicht. Als ob sie im Jenseits dahinführe, so weichhin schaukelte die Kutsche durch den tiefen Schnee. In ihr saß ein einziger Gast, und das war ein Mann.

* * *

Die Postkutsche schwankte hin und her; er saß stille. Denn das Hin und Her um ihn, das Glauben und Hassen, das Nichtsentscheidenkönnen, das ewige Schwanken des richtigen Menschen rüttelte ihn nicht mehr; er übersah es und ließ es gewähren wie ein milder König.

Es war Doktor Würffel, der nun still gefaßt und gar nicht mehr im Fortissimo in das Land Tirol kam, zum dritten und letzten Male, um ihm zu helfen. Den Krieg verstand er.

Am Tor beim Saggen ließ die Wache den großen Wagen gleichgültig durch. Es war nur ein einziger Mann darin.

* * *

Ja, ein Mann; aber ein ganzer – endlich!

* * *


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