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12.

Ich bewerbe mich um eine Anstellung als Chorist. Ich bekomme sie. A. Charbonnel. Unsere Junggesellenwirtschaft.

 

Unterdessen nahte der Winter heran. Infolge des Eifers, mit dem ich mich der Komposition meiner Oper hingegeben, hatte ich meine Schüler ein wenig vernachlässigt. Meine lukullischen Gelage konnten nicht mehr in meinem gewöhnlichen Saale am Pont-Neuf stattfinden, der nun ohne Sonne und von einer naßkalten Atmosphäre umgeben war. Ich brauchte Holz und wärmere Kleider. Woher zu dieser unumgänglichen Ausgabe das Geld nehmen? ... Der Erlös aus meinen Stunden, die Lektion zu einem Franken, reichte hierzu bei weitem nicht aus und drohte bald in nichts zu zerrinnen. Entweder mußte ich zu meinem Vater zurückkehren, mich für schuldig und besiegt erklären, oder Hungers sterben! Das war die Alternative, die sich mir darbot. Aber die unbezähmbare Wut, mit der sie mich erfüllte, gab mir neue Kräfte zum Streit, und ich entschloß mich, alles auf mich zu nehmen, alles zu erdulden, selbst Paris zu verlassen, wenn es nötig wäre, um nur nicht in la Côte schlechthin vegetieren zu müssen. Zur Musik gesellte sich meine alte Leidenschaft fürs Reisen, und so entschloß ich mich, zu den Korrespondenten auswärtiger Theater meine Zuflucht zu nehmen und mich als ersten oder zweiten Flötisten in einem Orchester von Newyork, Mexiko, Sidney oder Kalkutta zu verdingen. Ich wäre nach China gegangen, Matrose, Freibeuter, Büffeljäger, Wilder geworden, ehe ich mich ergeben hätte. So bin ich nun. Es ist ebenso vergeblich und gefahrvoll für einen fremden Willen, dem meinen entgegenzuarbeiten, wenn ihn Leidenschaft beseelt, als zu glauben, man könne die Explosion von Schießpulver durch Druck verhindern.

Glücklicherweise waren meine Nachsuchungen und Bemühungen bei den Theaterkorrespondenten vergeblich, und ich weiß nicht mehr, wozu ich mich entschließen wollte, als ich von der bevorstehenden Eröffnung des Théâtre des Nouveautés hörte, wo, zusammen mit Possen, komische Opern von einer gewissen Länge gegeben werden sollten. Ich eile zum Regisseur und biete mich ihm als Flötist für sein Orchester an. Die Stellen für Flöte waren bereits vergeben. Ich bitte um eine als Chorist. Es gab keine mehr. Tod und Teufel!! ... Der Regisseur schrieb gleichwohl meine Adresse auf und versprach mir, mich zu benachrichtigen, falls man sich zur Vermehrung des Chorpersonals entschlösse. Diese Hoffnung war recht schwach; trotzdem hielt sie mich einige Tage aufrecht, nach deren Verlauf ein Brief der Verwaltung des Théâtre des Nouveautés mir ankündigte, daß der Wettbewerb um die Stelle, das Objekt meines Ehrgeizes, ausgeschrieben sei. Die Prüfung der Bewerber sollte im Saale der Freimaurer in der Rue de Grenelle-Saint-Honoré stattfinden. Ich ging hin. Fünf oder sechs arme Teufel, gleich mir, erwarteten schon ihre Richter in angstvollem Schweigen. Unter ihnen fand ich einen Weber, einen Grobschmied, einen abgedankten Schauspieler von einem kleinen Vorstadttheater und einen Kirchensänger von St. Stachus. Es handelte sich um eine Konkurrenz für Bassisten; meine Stimme konnte zwar nur für einen mittelmäßigen Bariton gelten, aber, dachte ich, unser Examinator wird es vielleicht so genau nicht nehmen.

Es war der Regisseur in Person. Er erschien, gefolgt von einem Musiker namens Michel, der noch zu dieser Stunde dem Vaudeville-Orchester angehört. Weder ein Klavier, noch ein Klavierspieler waren vorgesehen. Michels Violine mußte zu unserer Begleitung genügen.

Die Sitzung wird eröffnet. Meine Rivalen singen der Reihe nach, auf ihre Weise, verschiedene, sorgfältig studierte Arien. Als die Reihe an mich kommt, fragt mich unser wohlbeleibter Regisseur, der ergötzlicherweise Saint-Léger hieß, was ich mitgebracht hätte.

– »Ich? nichts.«

– »Wieso nichts? Und was singen Sie denn dann?«

– »Meiner Seel', was Sie wollen. Haben Sie nicht irgendeine Partitur hier, ein Solfeggio, ein Heft mit Vokalisen? ...«

– »Nichts von alledem. Übrigens«, fährt der Regisseur in ziemlich verächtlichem Tone fort, »singen Sie doch, sollt' ich denken, nicht vom Blatt? ...«

– »Bitte sehr, ich singe vom Blatt, was man mir vorsetzt.«

– »Ah, das ist etwas anderes. Aber, da wir gar keine Noten hier haben, könnten Sie nicht irgendein bekanntes Stück auswendig?«

– »Ja, ich kann die Danaiden, Stratonice, die Vestalin, Cortez, Ödipus, die beiden Iphigenien, Orpheus, Armida auswendig ...«

»Genug, genug! Teufel, was ein Gedächtnis! Nun also, da Sie so bewandert sind, singen Sie uns die Arie des Ödipus von Sacchini: ›Mir bleibt Antigone‹.«

– »Gern.«

– »Kannst du sie begleiten, Michel?«

– »Und ob! Ich weiß bloß nicht mehr, in welcher Tonart sie steht.«

– »In Es-Dur. Soll ich das Rezitativ singen?«

– »Ja, los mit dem Rezitativ.«

Der Begleiter gibt mir den Es-Dur-Dreiklang an, und ich beginne:

Mir bleibt Antigone, die Tochter, die allein
mir Heimat, Sippe ist und all mein tiefstes Sein.
Im Leide hat sie mich, mit kindlich treuer Sorge,
mit ihrer Zärtlichkeit verschwenderisch beglückt ...

Die anderen Kandidaten sahen sich mit saurer Miene an, während die edle Melodie dahinströmte. Sie verhehlten sich nicht, daß sie, im Vergleich mit mir, der ich doch gewiß kein Pischek oder Lablache war, nicht wie Kuhhirten, sondern wie Kälber gesungen hatten. Und in der Tat sah ich an einem kleinen Zeichen des dicken Regisseurs Saint-Léger, daß sie – wie es im Kulissenjargon heißt – bis zur dritten Versenkung durchgefallen waren. Am nächsten Tage erhielt ich meine offizielle Ernennung. Ich hatte über den Weber, den Schmied, den Schauspieler, ja selbst über den Sänger von St. Stachus gesiegt. Mein Dienst begann unmittelbar, und ich bekam fünfzig Franken monatlich.

So war ich also, in der Hoffnung, ein verruchter Komponist werden zu können, Chorist an einem Theater zweiten Ranges geworden, verachtet und ausgestoßen bis ins innerste Mark hinein! Ich muß bewundern, wie trefflich die Bemühungen meiner Eltern, mich vom Abgrund zurückzureißen, gelungen waren.

Ein Glück kommt niemals allein. Kaum hatte ich den großen Sieg davongetragen, als mir zwei neue Schüler vom Himmel fielen, und ich einem Studenten der Pharmazie, meinem Landsmann Antoine Charbonnel, begegnete. Er wollte sich gerade im Quartier latin einrichten, um dort Chemie zu hören, und sich, gleich mir, heroische Entbehrungen auferlegen. Wir hatten nicht sobald einander unser Schicksal erzählt, als wir, die Worte Walters im »Leben eines Spielers« parodierend, fast gleichzeitig ausriefen: »Ah, du hast kein Geld! Nun denn, so müssen wir uns zusammentun, mein Lieber!« Wir mieteten zwei kleine Zimmer in der Rue de la Harpe. Antoine, der mit Öfen und Tiegeln umzugehen verstand, etablierte sich als Oberkoch und machte mich zum einfachen Küchenjungen. Allmorgendlich gingen wir auf den Markt, um unsere Vorräte einzukaufen, die ich, zur großen Beschämung meines Kameraden, tapfer unterm Arm nach unserer Wohnung trug, ohne mir die Mühe zu nehmen, sie den Blicken der Vorübergehenden zu entziehen. Eines Tages gab es darüber sogar einen wirklichen Streit unter uns. O pharmazeutische Eitelkeit!

So lebten wir also wie Fürsten ... in der Verbannung, jeder für dreißig Franken monatlich. Seit meiner Ankunft in Paris hatte ich mich noch nicht eines solchen Wohlstandes erfreut. Ich leistete mir verschiedene kostspielige Phantasien; ich kaufte ein Pianino Es kostete mir 110 Franken. Wie schon gesagt, spiele ich nicht Klavier; gleichwohl besitze ich gerne eines, um von Zeit zu Zeit Akkorde darauf anzuschlagen. Übrigens liebe ich die Gesellschaft von Musikinstrumenten, und wenn ich reich genug wäre, würde ich beim Arbeiten immer einen großen Flügel, zwei oder drei Erardsche Harfen, Saxhörner und eine Sammlung von Stradivarius-Violoncelli und -Violinen um mich haben. ... und was für ein Pianino! Ich dekorierte mein Zimmer mit den säuberlich eingerahmten Bildnissen der musikalischen Götter und verschaffte mir Moores Dichtung »Himmlische Liebe«. Antoine, der geschickt war wie ein Affe (sehr schlecht verglichen; denn die Affen können nur zerstören), verfertigte in seinen Mußestunden eine Menge angenehmer, nützlicher Gegenstände. Aus Scheitern unseres Brennholzes machte er uns zwei Paar sehr taugliche Überschuhe; um in die etwas spartanische Eintönigkeit unseres Alltags Abwechslung zu bringen, verfiel er sogar darauf, eine Falle nebst Lockpfeifen herzustellen, mit denen er im Frühling auszog, um in der Ebene von Montrouge Wachteln zu fangen. Ergötzlich war es, daß Antoine, trotz meiner periodischen Abwesenheit am Abend (das Théâtre des Nouveautés spielte jeden Tag), während der ganzen Dauer unseres gemeinsamen Lebens nicht wußte, daß ich das Unglück hatte »die Bretter besteigen zu müssen«. Ich war wenig erbaut darüber, nur ein einfacher Chorist zu sein, und es erschien mir kaum angezeigt, ihn mit meinem niedern Stande bekannt zu machen. Wenn ich mich nach dem Theater begab, glaubte er, ich unterrichte in einem entlegenen Stadtteile von Paris. Ein Stolz, würdig des seinen! Mich hätte es geschmerzt, meinen Kameraden sehen zu lassen, auf welche Weise ich ehrlich mein Brot verdiente, und er entrüstete sich, so daß er schamrot von mir weglief, wenn ich, ihm zur Seite über die Straße gehend, mein ehrlich verdientes Brot offen zur Schau trug. Die Wahrheit zu sagen – diese Gerechtigkeit bin ich mir schuldig – leitete sich der Grund meiner Verheimlichung durchaus nicht von einer so dummen Eitelkeit her. Trotz der Strenge meiner Eltern und der gänzlichen Verlassenheit, der sie mich anheimgegeben, hätte ich ihnen nicht um alles in der Welt den – bei ihrer Anschauung unberechenbar großen – Schmerz antun mögen, sie meinen Entschluß wissen zu lassen, dessen Mitteilung in jedem Falle ganz unnötig gewesen wäre. Ich fürchtete also, die geringste Unvorsichtigkeit von meiner Seite möchte ihnen alles entdecken und schwieg. Wie dem Antoine Charbonnel blieb auch ihnen meine »Bühnenlaufbahn« unbekannt, bis sie, sieben oder acht Jahre nach ihrer Beendigung, biographische Notizen lasen, die in verschiedenen Zeitungen über mich veröffentlicht wurden.


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