Otto Julius Bierbaum
Das Seidene Buch
Otto Julius Bierbaum

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Osterpredigt in Reimen

        Verehrter Mitmensch, höre und vernimm
Freundwillig mit Hulden und ohne Grimm:
Dieweil es nun Ostern geworden ist,
Sollst du, von welcher Art du bist,
Ob Heide, Jude, Moslem, Christ,
Durchaus vergnügt im Herzen sein,
Osterwürdig und osterrein.

Mit einem Birkenreise kehre
Aus deiner Seele den Geist der Schwere!
Der Wenns und Abers und Achs und Os,
Die hart und starr dein Herz umrindet,
Daß der Geist der Leichte kaum Eingang findet,
Mache dich hurtig und heiter los!

Du brauchst nichts weiter dazu zu tun,
Als dich im Grünen auszuruhn.
Da atmet sich's sehr wonnig ein,
Was dir das Herz macht frei und rein:
Der jungen Blumen frischer Hauch;
Und die Augen haben der Wonne auch,
Denn nichts ist lieblicher anzusehn,
Als wie sie da hold beisammenstehn,
Blau, weiß und rosa, klar und licht,
Der Erde süßestes Ostergedicht.

An ihnen dir ein Beispiel zu nehmen,
Sollst du, o Mensch, dich keineswegs schämen!
Vergiß dein Gehirn eine Weile und sei
Gedankenlos dem lieben Leben
Blumeninnig hingegeben;
Vergiß dein Begehren, vergiß dein Streben
Und sei in seliger Einfalt frei
Des Zwangs, der dich durchs Hirn regiert!

Er hat dich freilich hoch geführt
Und vieles dir zu wissen gegeben,
Aber das allertiefste Leben
Wird nicht gewußt, wird nur gespürt.

Der Blumen zarte Wurzeln fühlen
Im keimlebendigen, frühlingskühlen
Erdboden mehr von ihm als du.

Und bist doch auch ein Kind der Erde.
Daß sie nicht sinnenfremd dir werde,
Wende ihr heut die Sinne zu!

Das ist der festlich tiefe Sinn
Der Ostertage: Mit Entzücken
Sollst du zum Mutterschoß dich bücken.
Gib heut, o Mensch, dich innerst zu beglücken,
Der Mutter Erde frühlingsfromm dich hin!


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