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Fünftes Kapitel

§ 1

Ganz nahe an dem Mißverständnis, das eine Frau, was noch immer vorkommen soll, in einen Tenorsänger sich verlieben läßt, ist der Irrtum, der sie an die Dichter führt. Die musikalische Liebhaberei glaubt an des trikotierten Helden Heldentum in allen Situationen des Lebens, wo er es sich doch schwitzend nach der Vorstellung abschminkt; die dichterische Liebhaberin ist vielfacher nur in den Vordergründen ihres Sentiments; im Letzten ist auch sie das Opfer einer Illusion, meint auch sie, der Intensive müßte natürlich auch extensiv zu spüren sein, und seine Extension müsse das ihr zufallende herrliche Teil werden. Sie meint, die Dichter seien für sie gemacht, wie sie für die Dichter. Aber das ist ein schmeichelhafter Irrtum, denn die Frau unterschlägt die Größe oder verachtet sie als unnütz oder haßt sie als grausam. Sie begreift es nicht, daß sie der Phantasie des Dichters nicht allein genügt und daß diese ganz weit von ihr sein kann. Aber der Schweifende lockt sie. Sie meint, sie würde seine Muse sein, und wird treuestes Publikum oder Impresario, wie Roxane Müller, die jedem, der es nicht wissen will, beweist, daß ihr Mann ein Dichter sei, eine arme Frau, längst aus der kurzen Täuschung, der doppelten Täuschung: kein Dichter und kein Dichtergeliebter, geweckt und nun einem Schatten sich opfernd aus der Verzweiflung: Was denn sonst tun? – Wie wachte die Herzogin von Albany auf, da Alfieri, dessen Muse sie sich glaubte und dessen Opfer sie gewesen, gestorben war! Kam aus dem Haus, in dem sie sich Jahrzehnte verschlossen hatte mit ihm, trat in die Sonne und rieb sich die Hände: wie kalt war es doch drinnen ... Und es war eine Liebe gewesen, gegen die sich eine Welt gesetzt und die sich gegen eine Welt behauptet hatte. Beatrice, lilienweißes Symbol, aufgeblüht vor einem schweren Leben! Eine Zeit, der kein Dante und also auch keine Beatrice möglich ist, wird es bestenfalls zu jener Dame bringen, die arme, aber junge Dichter aufsuchte, wie eine chiffonierte Fee. Sabina verweilte ein bißchen, rauschte mit den Röcken und ging. Sie ließ aber nicht nur ihr Parfüm zurück, sondern einen kostbaren Solitär oder sonst ein Schmuckstück, wie verloren. Der arme Junge bringt das wertvolle Ding natürlich nicht zurück, verkauft es, wenn auch mit schlechtem Geschmack im Munde, kann ohne Sorgen sein großes Gedicht vollenden, berühmt werden, reich ... – so dachte es sich die Sabina. Es stimmte aber immer nur bis zum Verkaufen. Sie ist auf diese Weise recht viel Schmuck los geworden; aber ihr Traum, eines Tages käme ein tadellos angezogenes berühmtes Genie herein und sagte: »Das danke ich Ihnen ...«, der Traum erfüllte sich nicht. Diese Dame war vielleicht nur eine kleine Variation der so häufigen Mänade des Ruhmes, die weder den Mann, noch den Dichter, sondern ihre Berühmtheit durch die ihres Gefährten will und sonst nichts. Das ist keine Frau, sondern eine Monstrosität, und davon kein Wort.

Aber jene Dalila der Philister ist vielleicht das stärkste Symbol dieses Verlangens der Frau: dem Genie die Locken zu schneiden. Sie will nicht seinen Ruhm teilen, nicht seine Muse sein, nicht sein Publikum, nicht seine Roxane, nicht seine Sabina. Sie will dies: des Dichters Einzeltum zerstören, das sie aufregt wie das Keuschheitsgelübde eines jungen Mönches. Sie will stärker sein als dieses Daimons Ungeheuerliches, das den Künstler entrückt dahin, wo er alles um sich verzweifeln und sterben läßt für die göttliche Not eines Verses. Die Einsamkeit des Künstlers ist der Frau stärkste Nebenbuhlerin: über sie zu siegen ...! Aber die Marquise von Pescara war nie des Michel Angelo Geliebte und Raffael, der an der Fornarina gestorben sein soll, hielt in seinen erlahmenden Händen nicht seiner Geliebten Brüste, sondern seine Pinsel. Dem die Locken abgeschnitten wurden, das war kein Genie, sondern ein General. Und war es schon einmal ein Dichter, so hatte er bereits vorher einen Kahlkopf.

 

§ 2

Vor Jahren, als ich noch klein war, hatte ich in Paris eine reizende Freundin: siebzehn Jahre, wohnte in Belleville und hieß Sophie. Ihre allgemeine Bildung war sehr mäßig. Sie schrieb ihren Namen Sophie mit keinem einzigen richtigen Buchstaben darin, nämlich: Caufy. Weder mich noch ihren Beichtvater, wir beide ihr einziger gebildeter Umgang, genierte das. Wir legten beide mehr Wert auf ihre besondere Bildung, die ersten Ranges war, im Katholischen wie im Verliebten (bei Frauen übrigens verwandt). Wenn ich einmal am Sonntag, wo ich sie immer zur Messe abholte, das Veilchensträußchen mitzubringen vergaß, gab sie mir jedesmal eine kleine Ohrfeige. Caufy hat damit außerordentlich viel für meine Erziehung getan. Nach einem Jahre machte sie eine seriöse Bekanntschaft, gegen die ich nichts hatte, haben konnte, denn meine Pariser Zeit sollte bald abgelaufen sein. Es war ein Mann aus Nancy und machte einen wohlhabenden soliden Eindruck. Das ging so etwa vier Wochen, als mir das liebe Kind einen großen Krach machte, ich hätte mich nie ernsthaft um sie gekümmert und so. Ja, wie denn »so?« Kurz, der andre hat sich um ihre allgemeine Bildung gekümmert, sie konnte jetzt richtig Sophie schreiben, wußte, daß der Mensch vom Affen abstamme, Österreich nicht die Hauptstadt der Türkei sei, und was derlei Wissenschaften mehr sind. Ich bekam den Abschied, brieflich, in einem Französisch, schön wie das von Marcell Prévost. Nach Jahren sah ich Sophie im Luxembourggarten wieder. Ich erkannte sie nur an ihrem famosen rostbraunen Haarschopf und dem frechen Stubsnäschen – das übrige war ganz ruiniert und im fünften Monat schwanger. Ein Bub von vier, und ein Mädel von fünf Jahren, etwas Drittes in einem elenden Kinderwagen: ihre Kinder. Sophie nähte an einer armsäligen Kindswäsche, das Gesicht von Tränen, die lang nicht mehr flossen, ganz zerknittert. Ich kaufte ein Veilchensträußchen und gab es dem Mädel, das einmal nah an meinem Stuhl lief: »Bring das Mama«, und ging schnell fort.

Ich wollte sagen: Die Kenntnisse sind für die meisten Leute ein Malheur, bringen sie von ihrem eigenen Weg in den gemeinen, auf dem sie sich nicht zurechtfinden, ein schlechtes Wissen um die Welt bekommen und darüber ihr Eingeborenes versäumen, vergessen, verlieren. Was für eine Karriere hätte der rote Schopf als Caufy gemacht! Was für einen Jammer lebt Sophie!

Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben. Als Bub hütete er im Gebirge die sieben Kühe eines Weilers, der aus fünf Hütten bestand. So im Sommer. Im Winter lag der stundenweite ungangbare Weg zur nächsten Schule im tiefsten Schnee. Als Schustergeselle ging er zu Fuß nach der Residenz drei Wochen weit. Mehr als sein Handwerk interessierte ihn das Häuserbauen. Er wurde Steinträger auf einem Neubau. Und hatte, als er wie ein Weiser über den Tod scherzend starb, ein paar Dutzend Häuser in der Stadt gebaut, nach den Plänen, die er bis in das Detail selber zeichnete. Aber Lesen und Schreiben hat er nie gelernt bis auf ein Gekratz, das man mit viel Phantasie als seine Unterschrift ansprechen konnte. Mit Lesen und Schreiben wäre er sicher Schuhflicker geblieben.

In Island traf ich meinen Hauswirt einmal am frühen Morgen am Strand auf das Meer schauen, ganz versunken. Er drehte sich zu mir um und sagte: »Das große Meer.« Hätte der Mann lesen und schreiben gekonnt, die Augen wären ihm für das Meer verdorben gewesen.

Aber ich gebe zu, es ist an den meisten Leuten nichts zu verderben, und sie können ruhig lernen, was man lehrt, ohne Schaden für die Seele, die sie nicht haben. Es gibt nämlich eine allgemeine Regel: Jeder Mensch hat eine Seele. Und es gibt eine besondere Regel: Die meisten Menschen sind eine Ausnahme von der allgemeinen Regel.

 

§ 3

Sie beklagen sich, meine Gnädige, daß man Sie immer nur mit dem Modischen der Mode und nicht auch mit dem Modischen der Wissenschaft unterhalte und daß Sie nicht minder gern auch darüber etwas erführen und ob ich Ihnen nicht kurz sagen wollte, was da dahinter sei, hinter dieser Relativitätstheorie zum Beispiel. Nun, nichts leichter als das. Lernten die jungen Mädchen auf der Schule statt all dem historischen Zeug in Geschehen, Literaturen und Künsten die paar Formeln des Denkens, sie hätten damit die Schlüssel, die ihnen die Gärten der wissenschaftlichen Theorien aufsperrten, die zauberischer sind als die der Armida, ja phantastischer als eine Modenschau bei Paquin. Ich überreiche Ihnen die Schlüssel.

Bei den theoretischen Unterhaltungen über die Natur der menschlichen Vernunft kam man schließlich auf den besten, vom alten Descartes formulierten Satz, daß Form und Natur der menschlichen Vernunft bei allen Menschen die gleichen seien. Das klingt plausibel, so lang man glaubt, daß bestimme Axiome und bestimmte Wege des Denkens unvermeidlich ein Teil von dem seien, was man die Vernunft nennt. Dieser Glaube hatte wie alle Theorien indirekt höchst praktische Folgen, wie z. B. die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Dogmen der französischen Revolution. Oft überleben nämlich die aus einer Theorie gezogenen praktischen sittlichen und politischen Folgerungen die Theorie, denn die Theorie von der Identität der »Vernunft« bei allen Menschen ist längst aufgegeben. Man verlangte die Entdeckung des wahren Zustandes der Axiome, zumal als man neben der alten euklidischen Geometrie andere Geometrien schuf, und forderte wieder eine genaue Untersuchung darüber, wie denn die Menschen denken. Sogar die Philosophen zeigen, von den andern Menschen ganz zu schweigen, außerordentlich wenig Spuren der behaupteten gemeinsamen »Vernunft«. Oder es hindert sie diese, falls sie vorhanden, nicht, erstaunlich verschiedene Schlüsse aus ihr zu ziehen. Nicht einmal ein mathematisches Theorem hat für verschiedene Mathematiker die gleiche Meinung! Sehen Sie sich, Verehrte, ein Dreieck an, so was, wie Sie meinen, höchst Simples und Eindeutiges. Für den alten Euklid gibt es so was wie ein Dreieck nur aus der Definition, und seine Eigentümlichkeiten sind die logische Folge eines angenommenen Axioms, einer behaupteten Forderung. Ein Dreieck bedeutet für den Euklid nichts, existiert nicht, außer als logische Beziehung zu einer Definition. Für Schopenhauer wieder ist das Dreieck etwas »Gegebenes«. Des Dreiecks Eigentümlichkeiten seien experimentell feststellbar. Er kann aber nur feststellen, daß es da ist, nicht aber wie Euklid, daß seine Eigentümlichkeiten logisch notwendig sind. Für einen Scholastiker hinwieder ist die Euklidische Definition eines Dreiecks willkürlich: es könne in seiner wahren Natur nur gesehen werden unter Einbezug der göttlichen Vollendung und nur so verstanden. So ähnlich auch der Spinoza, der auch in wirklichen Schöpfungen des Menschen ein kosmisches Prinzip sehen will. Und Goethe kommt zum Verständnis des Dreiecks auf dem »mystischen Wege«, wie er ihn selber nennt. Für ihn ist es nicht etwas für sich, auch keine Definition, auch kein Teilausdruck göttlicher Vollendetheit, sondern Verkörperung eines Prinzipes der Dreieckigkeit, so wie die Zahl 8 für die Pythagoräer Liebe, Freundschaft und Harmonie ausdrückte.

Ich könnte Ihnen, Verehrteste, diese Beispiele, wie verschieden ein Dreieck angesehen wird, endlos vermehren. Aber es genügt für das, was ich Ihnen sagen will: daß die Lehre, eine und die gleiche vernünftige denkerische Fähigkeit in allen Menschen qualitativ gleich anzunehmen, ein Irrtum sein dürfte. Gewiß haben die verschiedenen Wege des Urteilens ein Gemeinsames und die Regeln der formalen Logik dürften der Ausdruck dieser gemeinsamen Elemente sein, soweit sie bisher isoliert wurden. Aber auch die Logik hat eine Geschichte und ihre Regeln werden diskutiert. Man hat sie unter nicht geringen Schwierigkeiten und recht langsam entdeckt und sicher nicht erschöpfend entdeckt. Möglich, daß sie für eine bestimmte Form des Denkens, nämlich für das, was man die ableitende Form nennt, erschöpft sind. Aber ein sehr großer Teil menschlicher Verstande denkt nicht so ableitend. So einfach mit der Axt teilbar ist der menschliche Verstand nicht, teilbar in Intellekt, Gefühl, Wille. Wahrscheinlich reagiert der Mensch immer als ein Ganzes, wobei auch der Leib nicht unterschlagen werden darf. Wahrscheinlich gibt es so viele Konzeptionen des Dreiecks als es Individuen gibt. Und wie das erst bei komplexeren Dingen!

Sie sagen, Verehrte, daß Sie mit dem Schlüssel immer noch an dem Schloß herumprobieren und möchten schon im verheißenen Zaubergarten seien. Sie sind zu ungeduldig.

Lassen Sie sich noch auf das sehr Interessante aufmerksam machen, wie in die Schöpfung großer Deutungssysteme des Universums spezifische menschliche Qualitäten sich einbeziehen. Die Geschichte der Wissenschaft gibt dafür die klarsten Beispiele. Sogar in der Physik, der einfachsten Wissenschaft, sind die einen Gelehrten außerstande, die metaphysischen Einheiten wie den absoluten Raum, die absolute Zeit Newtons aufzugeben und Einsteins Einstellung anzunehmen, welche ist: daß nur beobachtete Tatsachen als entscheidend für die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie in Betracht kommen. Der Physiker Lord Kelvin erklärte, er könne nur das verstehen, woraus er ein mechanisches Modell herstellen könne. Andere wieder sahen nicht ein, warum die Weltstruktur in ihren Elementen und deren Beziehungen etwas sein müsse, das ein Ingenieur in seiner Werkstatt reproduzieren können müsse. Maxwell verlangte trotz eines kleinen Appetites dafür keine Modelle, denn der mehr abstrakte Typus seiner Phantasie ließ ihn in andern Erklärungen Befriedigung finden. Die Erklärung der Bewegung der Himmelskörper stützte sich auf nichts als ein ästhetisches Prinzip der vollendeten Kreisbahn.

Aber ich muß Sie gleich warnen, Verehrte: der historische Gang der Wissenschaften ist zwar wechselvoll, aber nicht launisch. Das Ziel war, auch wenn es erst in den letzten Jahren bewußt wurde, doch immer gewesen, daß bloß beobachtbare, wahrnehmbare Faktoren als in ursächlicher Abhängigkeit voneinander betrachtet werden sollen. Gewiß ist dieses Prinzip nicht einmal in der Physik rigoros eingehalten, und es ist möglich, daß es als ein unhaltbares Ideal wieder aufgegeben wird. Aber in andern Wissenschaften, der Biologie zum Beispiel, geht es immer noch viel chaotischer zu. Der Denktypus des nächsten biologischen Genies wird hier erst die Richtung geben, die in der Physik der Hirntypus Einstein gegeben hat. Denn die Art der wissenschaftlichen Theorie einer Zeit hängt nicht bloß von dem Zustand der Wissenschaft in dieser Zeit ab. Einstein hätte zu Newtons Zeiten ganz gewiß nicht den Erklärungstypus erfunden, den Newton erfunden hat. So wie Einstein heute sich nur jenen Denkern als das rechte Denken ergibt, die seine Art der Erklärung lieben. Was seine Art sei? Ganz allgemein: die Verdienste der Theorie Einsteins sind die sehr geringe Zahl primärer Annahmen und die große Allgemeinheit der daraus gezogenen Schlüsse. Die Anziehung, die ein so ökonomisches System ausübt, Gnädige, können Sie sich verdeutlichen, wenn Sie denken, was Sie alles in Ihrem Hause mit dem elektrischen Strom anfangen können. Es arbeitet sich leichter.

Es scheint dem Begriff System zu widersprechen, aber es ist etwas Willkürliches in jedem System einer Erklärung. Es kann ein wissenschaftliches Schema mit einem nichtwissenschaftlichen widerspruchslos die gleichen Abschnitte einer Erfahrung decken, so wie Sie eine Landkarte mit Quadraten oder mit konzentrischen Kreisen überziehen können. Die verschiedenen Methoden, mit denen Sie das Äußere einer Karte ordnen, werden Ihnen verschiedene Informationen über sie geben, aber diese Methoden führen nicht zu sich widersprechenden Informationen. Die sich auf Dostojewski gern berufenden Leute, daß man sich nichts aus der Wissenschaft machen solle, erliegen einem Mißverständnis über die Grenzen, innerhalb welcher sich die Wissenschaft nach ihren eigenen Prinzipien bewegt. Sie ist, wie das Kunstwerk, ein Spiel mit seinen eigenen Spielregeln.

Gehen Sie bitte nicht diesen Weg, der Sie in die Zahlen führt! Dazu muß man mit Lernen vorbereitet sein. Bleiben wir auf dieser Allee, Gnädige. Bleiben wir beim wissenschaftlichen Typus im allgemeinen. Und lassen Sie sich noch dieses sagen: alle Systeme, denkerische, moralische, ästhetische, welche die fundamentale Verschiedenheit der Menschen leugnen, ob es nun Gesetzbücher sind oder kritische Kanons oder Moralsysteme, – sie sind wesentlich ungerecht, unrichtig und mißführend. Es gibt weder ein Ideal des Denkens, noch der Kunst, noch des Tuns. Ihr Scotchterrier hat bei der Ausstellung einen Preis bekommen, und das Zuchtschwein Ihres Gatten hat bei einer andern Ausstellung einen Preis bekommen. Sie wissen, daß die Points des Hundes und des Schweines nicht dieselben sind. Und damit, o wißbegierige Frau, nehme ich Abschied.

 

§ 4

Bei dem diplomatisch-balleteusen Tee, den Karl Vollmöller in seiner Wohnung am Pariser Platz gab – die momentane Hausfrau trug ein Teagown aus Kiwifedern – traf ich den Herrn von Wedderkop. Er gondelt um die Fünfzig, beginnt schon Brust mit Bauch zu verwechseln, ist aber immer alert, und sein buttergelber Handschuh zittert nicht ein bißchen beim zwanzigsten Martini. Er langweilt sich nie und nirgends, außer in dem Fall, daß das dritte Beefsteak – er ißt immer drei Beefsteaks zum Supper – zu lang auf sich warten läßt. Man weiß, Herr von Wedderkop hört das Gras wachsen. Das ist sein Stolz. Er lebt immer in dem von ihm erhorchten Übermorgen und erklärt das Morgen für vieux jeu. Er ist der überzeugteste Snob, der mir je untergekommen ist.

Er sagt: »Ich diniere heute abend mit zwei Amerikanerinnen, wollen Sie der Vierte sein?« Ich nahm an. »Frack?« – »Smoking genügt.« Gegen neun, zur verabredeten Zeit, holte ich Herrn von Wedderkop ab und wir fuhren ins Adlon, wo die eine unserer beiden Damen wohnte. Dahin sollte auch die andere aus dem Bristol kommen. Die gnädige Frau ist noch nicht ganz fertig und läßt die Herren heraufbitten. Man weiß sofort, daß es noch eine Stunde dauern wird bis zum Fertig. Wir wollen so lange nicht im Salon warten.

Sie sitzt vor dem Toilettenspiegel, mit dem Coiffeur hinter sich, der Maniküre neben sich. Die Zofe kommt und geht mit Kleidern, geht und kommt. Herr von Wedderkop setzt sich aufs Bett, ich mich auf einen Koffer, um die Balance zu halten gegen Herrn von Wedderkops Intimität. Sein Sitz wäre unpassend erschienen, hätte ich auf einem Fauteuil Platz genommen. So war aber nichts dabei.

Betsy Shaugnessy, so heißt sie, ist keine komplizierte Frau. Sie sieht aus wie alle Frauen, die in das gerade schicke Restaurant in der Wilhelmstraße soupieren fahren. Eine Hand hat sie in der Schale der Maniküre, die andere auf dem Kissen. Auf ihren rosafarbenen nicht mehr ganz sauberen Peignoir fallen abgebrannte Haarspitzen. Sie hat den Kopf etwas gesenkt und schaut mit einem höchst interesselosen Blick von unten hinauf in den Spiegel. Die Herzkirsche ihres Mundes liegt im Schatten. Eine Brust wie eine weiche kleine Birne kommt aus den schwarzen Spitzen ihres Soutiengorge. Auf ihrem gerundeten Rücken zwischen den Schulterblättern bettet sich die große Schließe eines Kolliers in ein weißes Fett. Auf dem Toilettentisch nichts weiter Überraschendes. Sonst auf Tischchen, Stühlen und dem Boden Strümpfe, Pantoffel, Schuhe, Blumen, der New York Herald, leere Flaschen, Wäschestückchen. Die Etiketten auf den Koffern, der Coiffeur, der freudlos das orangegelbe Haar dressiert, das weißrose Wesen mit dem Kirschenmund, die Zigaretten, ich auf dem Koffer, Herr von Wedderkop auf dem Bett, beide im Smoking, ein nicht zu definierender Geruch aus Parfüm, angebranntem Haar, Fleisch, Bett und Tabak: alles das sagt hinreichend, daß wir uns in dem befinden, was Herr Vollmöller heute nachmittag das große Leben genannt hat. Der herbeigeklingelte Kellner bringt Mumm und Whiskysoda.

Es geht auf zehn. Die andere Amerikanerin kommt, laut, lebhaft, in einem umfangreichen Chinchilla und einem Parfüm, das frisch riecht, weil sie es über die Straße getragen hat. Sie heißt Dolly Mac Kintosh und ist eine ganz unkomplizierte Frau. Sie sieht aus wie alle Frauen, welche usw. Man siehe Seite 234 Darling ... so late ... Man raucht Abdulla mit Rosenblattmundstück. Betsy ist so weit. Das Kleid ist exzessiv flach, exzessiv beperlt, zu hell und viel zu kurz. Auf der Schulter gespendelt mit der traditionellen Orchidee, die sich zum Ohr hinaufneigt wie der Mund eines Telephonhörers, dazu bestimmt, aufzufangen, was beim andern weiblichen Ohr hineingesprochen hier bei diesem Ohr herausfällt. Die Hände sind zu weiß, die Fingernägel zu rot. Im Ausschnitt der Schuhe drückt sich das Fleisch etwas zu sehr durch. Zerstäuber. Mantel.

Unser Entrée um halb elf im schicken Restaurant machte trotz der Stunde keinerlei Aufsehn, denn es war zu voll. Im großen Saal hätten wir leicht Platz gefunden, aber es ist höchst unschick, im großen Saal zu sitzen. Das tun nur so Leute vom Land herein. Man kann nur im kleinen Salon sitzen und der ist überbesetzt. Wir bekommen ein arg bedrängtes Tischchen eingeschoben. Die Kellner schwitzen, der Maître d'Hôtel hat keinen Atem mehr. Neben mir am Nebentisch sitzt eine Dame, deren Sitzteil sich eines Drittels meines Stuhles bemächtigt. Ich tue mein möglichstes, ihr Platz zu machen. Ich fühle ihre Atmung am rechten Oberschenkel. Die Düfte und Gerüche drücken. Ich rieche deutlich, daß ich mich im großen Leben befinde, von dem Herr Vollmöller sprach. Oder war es der fette Herr Kasimir Ede Schmidt? Ja, er war es. La grande vie, vous savez, sagte er mit leichtem Darmstädter Akzent, der so anheimelnd die große Allüre dämpft, in der er sich zu gefallen sucht, wenn es ihm auch viel Arbeit macht, mit dem dicklichen guten Pastorsjungen, der er ist, fertig zu werden.

Herr von Wedderkop begrüßt eine Menge Bekannte, froh, daß sie da sind und froh, daß er auch da ist. Der kleine Herr Kutisker baut seine Prächtigkeit auf zwischen einer Magnum, einer Kiste Havanna und einer grünen Frau. Herr Vollmöller saß mit drei jungen Damen da und sah genau aus wie ihre Tante. Warum legt er nicht ein Rüschenhäubchen um und macht Doppelleben? Herr von Simolin mit einem versteinerten Wohlbehagen im glänzenden Gesicht. Herr von Bismarck in Brillen aus hellgrünem Galalith. Frau Else Berna etwas angestrengt, so hübsch auszusehen wie sie heute mittag war. Adi, eben aus Hamburg ausgebrochen, in einer Maske, die ihm Herr Jannings nicht nachmachen kann. Der natürlich auch da war und seine Frau mit einer siebenfachen Kette schwarzer Perlen. Herr Flechtheim tat sein möglichstes, seine physiognomischen Bestandteile blitzen zu lassen, ironisch, skeptisch, spanisch, jüdisch, seigneural, kavalleristisch. Sehr viele Amerikaner und Argentinier waren da. Und blaue mittelamerikanische Kinne in bräunlichen Indio-Gesichtern. Herren aus Mecklenburg, lächerlich rosig dagegen, sahen alle aus wie Herr Ludendorff: aus den Kragen quellende Pölsterchen, etwas rötlich bestoppelt, meliert mit Sommersprossen trotz Januar. Finger wie dichtbehaarte Würstchen. Tenorige Stimmen, die sich gern hörten. Und Glatzen durchaus.

Es wurde zwar nicht getanzt, aber das Orchester spielte so als ob würde. Man verstand kein Wort, das man sich sagte. Und da man sich nicht unterhalten konnte, nahm man diesen gewissen stupiden Gesichtsausdruck an, der zum großen Leben gehört. Selbst Herr Flechtheim fiel zuweilen ins gewöhnlichste Glotzen. Das große Leben! Es kann aber auch der bekannte Maler Orlik gewesen sein, der davon schwärmerisch sprach und der dort drüben saß und wie immer, bei Tag und bei Nacht, zeichnete. Man weiß, er zeichnet mit dem linken Fuß so geschickt wie mit der rechten Hand, es ist nicht zu unterscheiden. Er kann auch in der Hosentasche zeichnen. Ja, es wird behauptet, daß er über ihrem Kopf und auf dem Kissen die ersterbenden Augen einer Frau gezeichnet hat, ohne daß sie etwas merkte, weder das Zeichnen noch sonst was. Aber das ist natürlich eine Fabel. Keine Fabel aber ist, daß der Maler Orlik zu gleicher Zeit an drei und mehr verschiedenen Orten sein kann. An einem Junimorgen des Jahres 1915 fuhr ein Auto die Linden herunter. Darin saßen der Kaiser Wilhelm, Herr Flechtheim und Professor Orlik. Wer kommt bei der Charlottenstraße dem Auto entgegen? Herr Paul Cassirer, der Papst und Professor Orlik.

Betsy und Dolly beschäftigten sich damit, die Preise der verschiedenen Kolliers abzuschätzen und die Herkunft der verschiedenen Toiletten zu erraten. Gegen Mitternacht, nach dem vierten Fleischgericht und der dritten Flasche Yquem, hatte Herrn von Wedderkops rote Gesichtsfarbe ihr koloristisches Maximum erreicht mit einem schönen Rotviolett. Es ist sehr heiß, aber nicht chick, vor zwölf aufzubrechen. Betsy wünscht Crêpe Suzette, was vollständig jeden Verkehr aufhebt, denn dazu braucht es ein Anrichttischchen mit einem Réchaud. Sie lächelt mit einem in vielen Proben erreichten Lächeln. Es wird noch heißer und noch enger. Ich habe das Gefühl, nicht mehr ich selber zu sein. Ich habe das Gefühl, als gehörte ich zu dem Etablissement wie ein Gegenstand, wie die Tische und Stühle. Ich habe das Gefühl, als käme ich nie mehr hier heraus.

Nach Mitternacht geht man. In den Tanzpavillon Scaramuccio natürlich, der jetzt chick ist. Es sind da alsbald genau die selben Leute wie in der Wilhelmstraße, um einige Dutzend Amerikaner und Frauen vermehrt, welch letztere die Gelegenheit mit sich bringen. Die Dame des Herrn Kutisker, der wieder vor einer Magnum sitzt, ist noch grüner geworden. Es ist nicht der geringste Platz zum Tanzen. Zwei Orchester lösen einander ab. Sie könnten auch gleichzeitig verschiedene Sachen spielen, man würde es nicht merken. Herr von Wedderkop ist eifrig dabei, Betsy von der Liebe zu überzeugen. Ich glaube, es gelang ihm. Denn nachdem wir Dolly im Bristol abgesetzt hatten, fuhren wir nicht Betsy ins Adlon, sondern in die Wohnung Herrn von Wedderkops. Da ließ ich das Paar nach einer Viertelstunde, um nach Hause zu gehen. Das große Leben – gewiß. Aber wozu, fragte ich mich auf dem Heimweg, wozu der Aufwand von großen Leben, wenn man am Ende wie irgendein Portier, wie ein Tischlermeister oder der »letzte Mann« mit einer Frau nach Hause geht?

 

§ 5

Die Dämmerzeit des kleinen Mädchens dürfte der Menelaus kaum merkbar gestört haben. Da brach der Trompetenstoß des Raubes in die Stille: die Romantik, von der die jungen Mädchen leben, bevor sie leben. Paris war der Page von siebzehn Jahren, also eigentlich zu jung für Helena und noch zu sehr beschäftigt mit der Idee vom Weibe, als daß er von irgendeiner Inkarnation ganz hätte erfaßt werden können. Er erlag einem Rätselvollen in Augenblicken, deren Intervalle er, weil von Helena distanziert, darauf verwandte, diesem Rätselvollen nachzusinnen. Inzwischen aber wuchs die Frau hoch über den Knaben hinaus. Paris wäre sicher dazu gekommen, die währende Situation mit Helena jenen gewissen Anfällen vorzuziehen, die ihm, jung und platonisch wie er noch war, in der Sinnlosigkeit des Sinnlichen nur wie eine Grimasse und ein obszönes Gebärdenspiel vorkamen. Als auf einmal in dieses Spiel der Beziehungen der zehnjährige Krieg einbrach, in dem Helden ohne Zahl eine Stadt um einer Frau willen belagerten, einander abstachen, zu Tode schleiften. Helena begriff es nicht nur, sondern empfand es bis in die Haarspitzen: alle Männer der Welt kämpfen um mich. Daß nach acht Tagen Kampfes dieser Anlaß vergessen und die Kämpfe Selbstzweck geworden waren, das übersah Helena. Was Illusion des Mannes ist, hält sie für seine Wirklichkeit. Helena bekam ihren zweiten Charakter: sie konnte sich denken. Und von unten herauf drang in ihr Schlafgemach der Blutdampf, das er mit mehr als einem Paris erfüllte. Zehn Jahre erlebte sie das Getümmel der Männer, das sie sich so um ihren Besitz geltend einbildete, und die Eroberung der Stadt fiel knapp vor den kritischen Moment, daß in ihr Zweifel sich zu regen begannen, nicht darüber natürlich, daß und ob noch ihr der Kampf gelte, sondern ob die Männer eigentlich ernst zu nehmen seien. Zu Hause angekommen, begann Helena zu schreiben, das heißt nicht etwa, sie wurde das, was wir unter einer Schriftstellerin heute verstehen, sondern –: kann man nicht die Behauptung wagen, daß die schreibende Frau – nicht die Schriftstellerin natürlich – die sentimentale Geste ihrer nichtschreibenden Schwestern aufgibt, um dem Manne mit einer stärkeren Magie sich zu nähern als jene Frauen, die darin sich zufrieden geben, daß man sie »mysteriös« findet und die man recht eigentlich zur Seite stellt für gelegentliches Erinnern? Die Frau gibt ja immer ein Mehr als nötig ist. Die Dame weiß, daß schon eine weit geringere Anstrengung ihrer Toilette genügte, und die Kokotte, daß es des meisten, was sie der Liebe wegen tut, nicht bedarf, denn der Mann ist ja gegen die Frau hin so einfach. Dieses »mehr als nötig« ist ein Ausdruck des Künstlerischen in der Frau, und da, wie die schöne Madame Aurel sagt, jede Frau einsam, Witwe und bloß ist, so ist sie auch ein Künstler, denn deren Zeichen ist Einsamkeit, Trauer und Reinheit. Ein Künstler, ein Dichter. Denn nicht von den Frauen ist die Rede, welche berufsmäßig diese Romanmaschinen montieren, zu deren höchstem Lobe man dann sagt: es könnte sie ein Mann geschrieben haben. Nein, nein, nicht diese. Die Frauen, die nicht wie ein Mann, sondern zu dem Mann hin schreiben, werden vom Wichtigen des Tages sprechen, von seinem Traum, seinem Unterricht, und nicht, weil es ihr Metier ist, sondern weil es – o Sehnsucht nach dem Manne aus solcher Vorbereitung! – ihre stärkere Verführung ist. Die so schreibende Frau wird nicht erfinden, aber finden, und wird den Mann steigern in seinem Wesen, da er sich dieser Frau gegenüber nicht in dem Dunkel jenes Mysteriösen befindet, wo es leicht ist, kleiner Verführer spielen, sondern in einer Halbklarheit, die, wenn überhaupt, so viel größere Kunst der Verführung verlangt. Die Schriftstellerin bewundert den Mann so sehr, daß sie ihm – o grenzenlose Bescheidenheit – gleichen will. Jene Dichterin aber, die es aus dem großen Mehr ihres Weibtums, das nach dem Manne verlangt, wird, die aus dem Zuvielen ihres Liebenkönnens das Gedicht ihrer Angst, ihres Zitterns, ihrer Exaltation, ihrer letzten Minute schreibt: diese Frau wird die Situation mit dem Manne nicht verschüchtert oder ängstlich oder kindisch finden, denn ihr Schreiben war ein Weg zum Manne hin.

 

§ 6

Verehrte Frau!

Die Einsicht in Ihre mir übersandten Schriften bedankend bin ich verlegen, dem Dank die Wahrheit, die Aufrichtigkeit zu lassen, ohne ihm die Höflichkeit, die sich ziemt, zu nehmen. Es muß doch gesagt werden: die Lektüre solcher von Ihnen aufgeschriebener Dinge oder Beziehungen von Dingen schafft eine innere Verwirrung, wie sie allem Problematischen eignet, das sich uns nähert, indem es das eigene Problematische, über das wir Fassung bewahren und hüten, neuerlich bewegt, was für eine kleine Dauer einen Zustand erzeugt, dessen erste Phase die leidvollste Unruhe, dessen nächste die Melancholie ist, aus der dann und endlich wieder die gut geordneten Denkformen entsteigen, welche die innere Ordnung herstellen, die Ruhe des Herzens gewähren, die eine Gleichgewichtsschwebe von der Empfindlichkeit einer Apothekerwage ist. Es gibt eine soignierte Pedanterie der Lebensführung, die nicht nur spät erreichte rechte Form individuellen Lebens, sondern des Lebens überhaupt ist. Der unverbundene Übermut der Jugend, Ihrer Jugend, Verehrteste, wird darüber spotten, oder nicht? Die Haltung, die sich in den Worten ausdrückt: »davon will ich nichts wissen«, ist Weisheit, denn weise können wir ja nur in der Einschränkung, in der Verabschiedung unserer hybriden Neugierde sein, nicht im Alles-Wissen, das nur ein Immermehr-Wissen sein kann, – und welcher rechte fromme Mensch wird sein Leben unter diese Hetzpeitsche des Immermehr stellen?

Sie schreiben über gefährliche Dinge, denn sie stehen aus ihrem Wesen immer im affektvoll Diskutierten, – das Zirkelspiel des Methodus vertragen sie nicht, nicht anders wenigstens denn als ein kokett übergeworfenes Netz, wie Sie es mit wechselndem Geschick, aber immer mit Anmut handhaben. Möchte einer die Liebe schon denken, – wer möchte sie gedacht bekommen als ein so und so Gesetzhaftes, dem er nicht entrinnen könne? Und dann: alles gegen die Liebe hat nur die Liebe gedacht, denn der Haß ist blind, nicht sie. Alles gegen die Liebe seit – ja seit sie heruntergekommen ist. Wenn Athene in der Schlacht einen Helden streifte, ward er bleich und bebte. Wer erlebt das heute noch? Und wo? In zoologischen Gärten vor einer Löwin vielleicht. Die kleine Jeanne aus Domremy, der Schiller schon einen Liebhaber, wenn auch einen ohne ganzes Glück gibt, hätte heute die ganze von ihr kommandierte Armee zu Kurmachern, deren letzter mindestens was er fühlt mit einem wienerischen Küßdiehand ausdrückte. Würde einer erbleichen und zittern? Das maximal Erreichbare wäre, daß die herrisch Beschiente einem eine komplizierte erotische Episode würde. Die Schuld daran? Mein Gott, diese ganze große Zeit ist ja minder, warum nicht dieses Stück daraus auch?

Ein guter, ein ganz vortrefflicher Gedanke, mehr noch, eine blitzhelle Einsicht ist Ihnen, verehrte Frau, geläufig geworden: daß es für uns Männer nur darauf ankommt und wir nur darauf, wenn überhaupt, Wert legen, ein Mittelglied in den Interessen der Frau zu sein, und daß es uns lächerlich macht, verkrüppelt, langweilt, zur Lüge zwingt, zur Gemeinheit, wenn die Frau uns zu ihrem ausschließlichen Gedanken macht oder – was in der Wirkung auf uns dasselbe ist – so tut. Wir wollen unser Spannungsverhältnis nicht so einfach und billig haben, sondern vielfach und kostbar. Dann wird, wie Freund Musil sagte, eine Zeit kommen, wo man nur die in der Mehrzahl möglichen erotischen Relationen gelten läßt und die bipolare Erotik als eine blöde Sünde und Schwächlichkeit ansieht, beinahe ebenso geistlos wie das Vergessen der Geliebten in der Untreue. Heute ist die Erotik unter dem Schutz eines feigen Schamgefühls degeneriert. Aber es kommt darauf an, daß Eros jedes erreichte Schamgefühl verwirft, um immer wieder ein persönlicheres zu suchen, ein innerlicheres ...

 

§ 7

Nicht erst an die keusche Strenge sei erinnert, welche den Frauen auf Van Eycks Bildnistafeln eignet, sondern an die Frauenbildnisse einer Zeit, da die Frau mehr als vorher den Ton bestimmte: wie einfach, zurückgezogen, bescheiden sind sie auf den Tafeln etwa des Latour dargestellt. Und nun die heutigen Frauenbildnisse: wie sicher, ihrer bewußt, unnahbar, fast verachtungsvoll blicken sie auf den Tafeln – nicht Renoirs, aber der kompläsanten Maler: lauter Königinnen spanischen Zeremoniells möchte man glauben, so stark ist die Distanz betont, und Stubenmädchen, nette, liebe, sind daneben Latours Marschallin von Belle-Isle und Madame de Brienne. Die sogenannte moderne Demokratie, d.h. die Herrschaft der reichgewordenen Heraufkömmlinge, verlangt die Distinktion – man adelt sich in dummer Kopie vermeintlicher Adligkeit (der als Stand verlorene Adel beginnt schon die Kopie zu kopieren), und die Bilder heutiger Frauen sagen uniform: Ich bin sehr delikat, nur das Erwählteste ist für mich, ich bin ein Rätsel, ich las auch einmal George, ich bin indifferent wie ein Götzenbild, ich bin bedeutungsvoll und brauche drei Stunden für meine Toilette, ich nehme ungeheuer viel Platz ein, und wie blöde ist der Mann in seiner Einfachheit, ich habe die Liebe erfunden, aber die Männer sind nicht das kleinste Stückchen davon wert ... Natürlich sind die Frauen nicht so, aber es gefällt ihnen, so zu scheinen, weil es den Männern so gefällt – wenn sie nicht, was eine andre Prätention ist, verkannte Bacchantinnen sich dünken. Aber die Betreffende, eine für alle, heißt Meier Marie, wohnt dritte Etage, ihr Mann ist Häuseragent (oder Zahnarzt?), sie hat drei ganz gewöhnliche Kinder, und wird noch zwei bekommen, hat nie einen Liebhaber gehabt, denkt auch im Ernst nicht dran, und: daß sie zu allen Theater-Premieren geht ist ihre einzige Ausschweifung.

Übrigens muß gleich erinnert werden, daß ein Ähnliches auch in der männlichen Bildnismalerei dieser Zeit festzustellen ist. Die gemalt sein wollen, legen Wert auf eine Ähnlichkeit, die den Angestellten und Untergebenen sofort auffällt, und die Maler befleißigen sich, diese offizielle Maske festzuhalten. Angestellte und Untergebene erkennen den porträtierten Herren sofort, nur dessen Frau und dessen Freunde erkennen ihn gar nicht.

 

§ 8

Keiner von ihren Freunden bestritt es bei sich, wenn Irene wiederholte, sie sei eine Frau wie irgendeine andere, weder hübsch noch häßlich, weder gescheit noch dumm, weder langweilig noch interessant. Jeder gab es bei sich zu, sie sei wie irgendeine der vielen, der meisten Frauen, die im Zufall ihres Geschlechtes eine Auszeichnung tragen, die sie, ganz ehrlich, als eine dumme Last empfinden. Und dennoch zog Irene die Männer durch etwas an, das zu definieren sie sich vergeblich bemühten. Ein Duft, meinte der eine. Etwas im Gang, sagte der andere. Und ein dritter traf es am richtigsten mit dem banalen Wort, sie habe das gewisse Etwas. Seit fünf Jahren verheiratet, gab die kinderlose Ehe mit einem älteren Mann ohne Tun und Titel – er nannte sich einen Privatgelehrten und schien sich mit Astrologie zu beschäftigen – hinreichend viel Liberalität in Verkehr und Situation, um es öfter als einmal geschehen zu lassen, daß einer der Männer des Kreises den Vorstoß auf Irene wagte und seine Liebe erklärte. Da sie durch keinerlei Koketterie dazu herausforderte und unter den ja immer blöden Liebesreden zu leiden schien, blieb sie beim zweiten, beim dritten und vierten Male bei der beim erstenmal erprobten Abwehr, die eine gut abkühlende Wirkung hervorgerufen hatte, von ihr gar nicht weder erwartet noch überlegt. Denn Irene besaß weder besonderen Geist noch gar die Geschicklichkeit einer selbstbewußten Frau. Sie wiederholte die Sätze des Verliebten, zweimal, dreimal; es war Hilflosigkeit gewesen und wirkte wie überlegte Parodie. Was nicht hinderte, daß die Abgeblitzten nach einiger Zeit wieder mehr als je dem gewissen Etwas verfielen und sich verliebt im Duftkreis dieser Frau bewegten, die war wie irgendeine andere.

Da kam ein Zwanzigjähriger in Irenens Nähe – nicht nötig, ihm einen Namen zu geben –, und diesem jungen Menschen müssen die Worte seiner Werbung wohl sparsamer, aber heißer aus dem Innern gebrochen sein als seinen abgeschlagenen Vorgängern, denn Irene vergaß es vollkommen, sie parodistisch zu wiederholen, ja, sie ließ ihm die Hand, die er gefaßt hatte, und mehr noch, sie mußte ihre Finger in diese fast noch knabenhaft derbe Hand eingraben, wie um sich im gefühlten Sturz und Flug zu halten. Aber es währte nur einen Augenblick. Ihre Augen sahen wieder das Umgebende, das Nächste, sich selber. Ob es nun die heftig andrängende Jugend des übungslosen Mannes war, die solche Poesie aus ihr lockte, oder ob es Erinnerung an einen gestern gelesenen Satz war, sie sagte anderes als sonst in solcher Situation. »Knaben«, sagte sie, »werfen flache Kiesel zum Spiel über das Wasser. Es bäumt sich nicht hoch. Es müßte mir ein Felsblock in die Seele ...« Erschrocken selber hielt sie den Satz auf. Denn der junge Mensch wurde ganz Feuer. So kam die fatale Stunde.

Irene wehrte ihn ab, als er ihr helfen wollte, sich zu entkleiden. Und als sie nackt vor ihm stand, weder schön noch häßlich, sondern wie irgend jede Frau, die nichts anhat, da sagte sie es, was sie in seinem Blick zu lesen glaubte: »Nicht wahr? Eine Frau wie alle andern. Nun ist's zu Ende mit der Liebe, nicht wahr?« Sie kam sich mit einem kleinen Mitleidgefühl zu sich selber vor wie ein armes Tier, dem ein Dämon für diesen einen Satz menschliche Stimme verliehen hat, diesen einen Satz: »Ich bin ein armes Tier.«

Was dann weiter geschah, mit Irene, dem jungen Mann oder mit beiden, das ist für dies Bildnis ohne Bedeutung. Aber um keine falsche Spannung zu erregen: es geschah nichts.

 

§ 9

Ein Mirakelvogel mußte in ein Zaunkönigsnest sein Ei gelegt haben, aus dem dieses Eltern und zwei schwächlichen Brüdern ganz unähnliche Wesen geschlüpft war. Als Manon mit achtzehn Jahren eine so seltsame Probe auf ihr Frauenschicksal wagte, war sie wie das Meisterstück eines jungen Mädchens, wie das großartige Beispiel nachkommenden Schwestern, schlank und üppig, voll Nerv und Eleganz, jedes Stück des Leibes in Vollendung. Man sah um die helle Stirn rostrot das Haar flackern und übersah die Augen, weil den Blick sofort der Mund einfing, der, nicht die Augen, des Gesichtes Lebendigstes war in der Kurve seiner Linien, im dunklen Inkarnat der Lippen, die leicht geschlossen über den Reihen der Zähne lagen wie ein Siegel über einem Geheimnis. Aber der Mund meinte es nicht so pathetisch. Eine Linie sagte: nimm nur ein Federmesser. Und die beiden kaum merklichen Grübchen in den Wangen, wenn der Mund lächelte, bestätigten wie ein Echo. Aber fragte man auf Tod und Leben die Augen, stieß man an grauen Stahl.

Von der jugendlichen Mutter kam keine Liebe zu der kleinen Manon. Und Ungeschick vom viel zu alten Vater. Keine Zärtlichkeit ging von Manon zu den Eltern. Früh kam sie in Pensionen, Institute. Später war sie überzeugt, ihr wirklicher Vater sei ein ganz anderer und sie das unerwünschte Kind der ehebrecherischen Mutter. Vereinsamt wuchs sie auf, alles ablehnend, was als Erziehung, als Mahnung, als Beispiel auf sie einzuwirken suchte. Sie fand den Vater verächtlich und haßte die Mutter; um sich dazu alles Recht zu geben, um ohne schlechtes Gewissen diese Position gegen die Eltern zu behaupten, mußte sie aufhören, das Kind zu sein. Mußte sie das tun, was sie zur Frau machte, der Mutter gleich und, da sie als die weit jüngere ihr überlegen, den Vater, da sie dann den Mann kannte, ganz ausschalten und in das Lächerliche des nicht mehr kompetenten Greises abschieben. Mit sechzehn gab sich, genau an ihrem Geburtstage, Manon einem kaum viel älteren Menschen hin, der gelegentlich ins Haus kam. Sie nahm sich ihn. Er brach zerstreut eine Frucht, die über den Zaun hing.

In Manons Vorstellung wurden zur Zeit dieses Geschehens zwei dem Wort nach gekannte Begriffe scheinlebendig, das wahre Motiv des Vorganges zunächst dicht verschleiernd: die Liebe und die Sinnlichkeit. Jene glaubte sie als Verliebtheit in dem Jungen vorhanden, und das Sinnliche zu erleben, es wirklich zu spüren, bemühten sich Träumereien, Neugierde, Zynismus. Trotz ihres Frautums sah sich aber Manon unverändert unter Spruch, Lehre, Zwang der Eltern. Nichts hatte sich hier geändert. Sie konnte sich die Frage nicht stellen, aber Antwort gab sie sich: es hatte das, was geschehen war, auch in ihr nichts geändert. Bald wußte sie, daß sie weder liebe noch geliebt werde. Sie verabschiedete den Jungen wie einen Dienstboten, den man für eine Zeit engagiert hat und nicht mehr braucht. Als sie ihn nach dem halben Jahre zum letzten Male sah, erschrak sie über einen ganz fremden Menschen, der du zu ihr sagte. Es entsprach dem Stolz ihres Alters und einer von keiner Zärtlichkeit durchwärmten Kindheit, daß Manon alles, was den Begriff Liebe bestimmt, im Verhalten und Denken der Menschen karikierte. Nicht durch Witz und Wort, die ihr nicht zur Verfügung standen, sondern durch ihr Tun. Nach einer Pause gefiel es Manon, vier junge Leute mit von ihnen vermeinter Liebe glücklich zu machen, und an einem Tage bei allen vieren die Schäferin gewesen zu sein erschien ihr als der beste Streich, den es sie noch damit zu überbieten lüstete, daß sie alle vier gleichzeitig zum Tee einlud, jeden sich für den allein Erwählten halten ließ, keiner vom anderen wußte und Manon sich um keinen mehr kümmerte, weil sie an einen fünften schon dachte in Verbindung mit hier zu forderndem Gelde. Denn dieser fünfte, der Begehrte, war dick, verheiratet, reich und über vierzig. Im kritischen Moment wehrte sich die Scham, aufgewachsen auf dem Umstand des Reichtums von Manons Eltern, dagegen, das gebotene Geld zu nehmen. Aber die Zärtlichkeiten ließ sie geschehen und blätterte dabei eine illustrierte Zeitung.

Das war Manon, als sie mit siebzehn Jahren einen Mann traf, der sie zu lieben glaubte und mit den hellseherischen Augen einer guten Liebe das um seinen Stolz verzweifelte Kind, das Manon war, erkannte. Er verbarg sich und reichte nichts als die Hand, Manon aus dem Schreck der Sackgasse herauszuführen. Es war ein junges Mädchen von reinster Schönheit, das er an den Tag führte, sich in ihm spiegeln ließ. Er wußte, die Gifte, einmal so geschlungen, sind nicht auszutreiben, aber die Hülle darum so zu dichten, daß sie ihre zerstörerische Kraft verlieren. Und sich im ganzen auf Gott und sein Geschöpf verlassen, das er in Manons leiblicher Schönheit so gesegnet hatte. Der leitenden Hand, dem stützenden Arm folgten Mund und Kuß, Wunsch und Wille ausgeschaltet, ganz nur ein Geschehenlassen. Daß nur ein Trugbild der Liebe entstände zwischen ihm und Manon, das ahnte der Mann, der nie von Liebe sprach, das wußte nicht Manon, die von dem Manne so geführt in ihr Kindtum von zwölf Jahren sank, ins Wohlgefühl gestreichelt zu werden von einer guten Hand, unter einem Auge, das über den Schlaf wacht. Da mußte der Mann, ganz kurz vor der höchsten Spannung, welche in sich die Entspannung in der Umarmung trägt, verreisen. Als er nach drei Wochen in einem Brief Manons – es war ihr erster – las, daß sie es für richtig halte, ihm es zu sagen, daß sie einen andern liebe, legte er sich eine Rolle zurecht, die ihm den Abschied erleichtern sollte, ein Gemisch aus Erzieherei, Güte, Christlichkeit, aber er fand doch den Trank recht fade, als er ihn hinuntergoß und den bleibenden Rest, Manon an einen andern verloren zu haben, so widerlich bitter. Also gab er sich die neue höhere Aufgabe, in dieser für ihn schwierigen Situation seine Liebe zu Manon sie ganz brutal spüren zu lassen. Er vergaß den Vorsatz, als er sie nach sechs Wochen Abwesenheit wiedersah – er war nichts als durch Leid gesteigerte Liebe in Verzweiflung. Er traute erstaunt Manons tröstendem Wort nicht, daß es mit dem andern zu Ende sei oder bald sein würde. Er quälte durch kühle Indifferenz jetzt und dann wieder durch stundenlanges nächtliches Warten auf Manon am Tor des andern. Er riß das Mädchen in seine Verwirrtheit, daß sie taumelte und alles natürliche Spielen und Lügen der Frau abfiel, nichts mehr sonst da war als der tragische Mensch. In dieser ins Äußerste gezerrten Situation war es, daß Manon ganz triebhaft ihre Probe wagte. Sie gab sich auf einem Balle, den sie allein und in plötzlichem Einfall besuchte, nicht ohne ein bißchen zuvor zu trinken, einem flüchtig ihr bekannten Mann, einem Beiläufigen, hin, der ihr dienen mußte, sie, vor die beiden Männer gestellt, zu entsinnlichen in einem sinnlichen Akte, der sie befreite. Jetzt stand sie, nachdem dies getan war, mit den beiden auf dem gleichen Boden, den sie brauchte: in Augenhöhe mit den beiden Männern, von denen keiner sie lassen wollte und deren einen sie lassen mußte. Sie wußte nun zu wählen, ohne daß eine heiße Stimme flüsterte. Und sie entschied sich. Daß Manon zu dem ersten zurückkam, darin glaubte dieser den Beweis dafür zu sehen, daß Manon giftfrei geworden war, ob nun Stolz oder Liebe oder die Sinne entschieden hatten.

 

§ 10

Vier Wochen nach ihrer Hochzeit bildeten einige an sich kleine Äußerlichkeiten, wie gut geschlafen haben, Zehnuhrsonne im spiegelnden Zimmer nach Regentagen, das gute Frühstück im Bett, besonders zärtlicher Abschied des Gatten, der in den Beruf ging, und Vorfreude auf das Bad, das nebenan in die Wanne rauschte, – bildeten solche Kleinigkeiten ein Ganzes von solchem Wohlbehagen, daß Rosalie die Bilanz ihres bisher Erreichten zog und größtes Vertrauen zu in der Zukunft noch zu Erreichendem faßte. Als sie damals, mit dreiundzwanzig, plötzlich zu verfetten anfing, da hatte das dicke, unförmliche Mädchen bedeutende Anstrengungen gemacht, schlank zu werden, und es gelang ihr, wenn auch nicht ohne nachteilige Folgen für Brust und Hüften. Das gab ihr die Überzeugung, daß ihrer Energie alles gelingen würde, was sie nur wolle. Und sie machte ein halbes Jahr später gleich die Probe darauf. Klein, unansehnlich, fast ein Äffchen, mit nichts sonst ausgerüstet, einen Mann zu bekommen, als einer Mitgift, warf sie den Angel nicht in das stehende Gewässer der tüchtigen, heirats- und mitgiftlustigen Kaufleute, wie sonst die Mädchen ihrer Herkunft und Artung, sondern hoch und weit ins fließende Wasser der edleren akademischen Fische. Der anbiß, war bei solidem Berufe ein Mann von schlimmem Ruf, ein Schönling und Abenteurer bei Frauen. Und gerade das wollte Rosalie: eine interessante, reliefgebende Ehe mit einem Manne, an dessen Erfahrungen sie das werden wollte, was ihr, der es die Natur versagt hatte, als das Ideal eines Frauendaseins erschien: eine dämonische Natur zu sein. Ein Temperament, sagte sie anfangs, bevor sie das klangvollere Wort kannte. Da sie ganz kühl war und schon froh, überhaupt zu leben, schien ihr nichts leichter, als auf eine raffinierte Weise die Männer an der Nase herumzuführen. Von ihren Sinnen düpiert zu werden, das hatte sie ja nicht zu fürchten. Es kommt nur auf die Kunst an, sagte sie sich, da sie von der Natur ausgeschaltet war. In dem Salon, den sie alsbald mit Hilfe einiger Bekannter ihres Mannes und Bekannter dieser Bekannten arrangierte, kam auf zehn Männer eine Frau: Rosalie. So im Anfang. Später, als sie über ihre Unwiderstehlichkeit keinerlei Zweifel mehr hatte, gab es auch eine kleine Garnitur von Frauen mit nicht ganz einwandfreiem Rufe, was Rosalie chick fand. In richtig gewählten Momenten und Ecken machte sie einem zufälligen Vis-à-vis, das nichts ahnte, heiße Augen oder versenkte rasende Lippen in einen Mund oder wagte ein Wort. Es gab nichts weiter, aber die im Grunde spießbürgerliche Gesellschaft in Rosaliens Salon hatte das prickelnde Gefühl, es vollzöge sich hier Ruchloses. Manche bedauerten den Mann. Rosalie war ganz glücklich. Sie glaubte sich voller Gifte. Sie war nur parfümiert.

Des Mannes Geschäfte hatten durch die beträchtliche Mitgift der Frau größere Ausdehnung bekommen, die viel Tätigkeit und Zeit verlangte. Aber es war nicht nur dieser Mangel an Zeit, der seine frühere Lebensweise in dem einen änderte, das die Frauen betraf. Es hatte ihn ja nicht Leidenschaft in den lebhaften Kommerz mit Mädchen und Frauen aller Art gebracht, sondern es war etwas wie Flucht in eine billige Erregung gewesen aus stagnierenden Stunden, aus Geldverlegenheiten, aus Ärger über mißglückte Unternehmungen. Nun war der Tag ausgefüllt mit Arbeit und Erwerb. Es gab reichlichen Verdienst, und schon verschlang die Gier, ihn zu steigern und dem Besitz höchsten und einzigen Wert zu geben, jedes andere Interesse. Der Gatte fand so, ohne daß die Frau solches ahnte oder gar gewußt und gewollt hätte, durch die gespielte Kokotterie und den erotischen Snobismus der Frau den Weg in das Bürgerliche. Zuerst von dem geschäftigen Gaukelspiel der kleinen Frau erregt und gefesselt, erkannte er nach einer Weile, daß hier ja nicht getafelt würde, sondern nur eine reichliche Speisekarte betont vorgelesen. Zunächst belustigt, suchte er den Sinn dieser ekstatischen und schwülen Grimassen. Und da er keinen fand und dies seine am Geschäftlichen geübte Exaktheit und Zweckhaftigkeit störte, wuchs ein kleiner Widerwille gegen seine Frau, dem sich Ekel beimischte, wenn er sie, schon selten genug, des Morgens in ihrem Schlafzimmer besuchte und das glänzende Abendensemble der kleinen Person in fragliche Details auseinandergefallen sah, in verwelkenden Teint, erschlaffende Muskel, fast entwimperte Augen, zerfaserte Lippen. Als er Syndikus eines großen Industriekonzerns wurde und damit durchaus seriöse Persönlichkeit, nahm er sich eine Mätresse. Rosalie erfuhr davon. An dem Tage sagte sie »Lieber Freund« zu ihrem Manne, aber sie konnte dem mondänen Verständnis, das sie ihm mit der Liberalität einer erfahrenen und starken Frau zeigen wollte, doch keine überzeugende Kraft mehr geben, zumal sie merkte, daß der Mann gar nicht auf das hinhörte, was sie sagte, und eine Zeitung entfaltete. Sie verließ aus Angst, die Contenance zu verlieren und in kleinbürgerliche Banalität zu fallen, das Frühstückszimmer. Als der Gatte einige Wochen später die Qualität der Gäste seiner Frau bezweifelte und ihren Salon eine etwas trübe Bar nannte, die nicht zu besuchen er seiner Stellung schuldig sei, hatte Rosalie keine glückliche Stunde. Sie paradierte und parierte mit den billigsten Vokabeln der Bohême, und als der Mann lächelte, verlor sie ganz das Gesicht und nannte ihn einen Philister. Trotz seiner Mätresse. Und um ihm zu zeigen, daß sie es in diesem Punkte mit ihm aufnähme, machte sie mit einer Freundin und deren Freund eine kleine Reise. Als sie nach vier Tagen zurückkam, hatte ihr Gatte die Scheidungsklage eingereicht und gewann sie nach vier Wochen, trotzdem er eine Geliebte und Rosalie in allen diesen sieben Jahren ihrer Ehe keine anderen Vergnügungen genossen hatte als die mit ihrem Manne, deren Seltenheit ihr durchaus recht war.

Um sich leichter und ihrer bisher gespielten Rolle entsprechender in die Tatsache der Scheidung zu finden, half Rosalie mit Blick und andeutendem Wort, aber mit nichts mehr, den Gerüchten nach, die ihr ein riesiges Bündel von Schuld auflegten, erworben und verdient in Ausschweifungen und Launen aller Art. Mit dem Renommee einer Messalina bezog sie ihre etwas phantastisch garnierte Dreizimmerwohnung. War es nun die nicht allzu große Rente oder der Umstand, daß Rosalie merklich korpulenter wurde, oder daß es die alten Bekannten langweilte, vom einmal Gewesenen und dem ehemaligen Gatten unterhalten zu werden – Rosaliens Verkehr schmolz zusammen. Mit ihrem Elan zu einem Temperament, das sie nicht besaß. Immer weniger auffallend wurden ihre Toiletten. Immer weniger wichtig die Wahl von Parfüms und Seifen. Rosalie war mit fünfunddreißig eine sehr runde kleine Frau, die mit ihrem kurzbeinigen Dackel spazieren ging, mit einer Nachbarin klatschte und einen Heiratsantrag überlegte, den ihr ein älterer Ministerialbeamter und Witwer mit zwei Kindern gemacht hatte.

 

§ 11

Als man erzählte, daß Frau von Sevigné zusammen mit Herrn von La Rochefoucault einen Roman schreibe, meinte das boshafte Fräulein von Scudery, sie seien beide in einem Alter, daß sie was andres miteinander nicht mehr gut machen könnten. Manches vielleicht, sicher aber nicht die Gunst der Liebe wird von der Frau dem Manne zuteil werden, den, wie den Don Juan der Teufel, das Alter holt. Dieser Teufel ist – auch dies – ein Verlegenheitsschluß der Legende, denn ein alter Don Juan ist eine unappetitliche Lächerlichkeit. Der wahre Held muß auf dem Schlachtfelde sterben, nicht in Pension. Aber die Wirklichkeit ist grausam genug, dem Helden der Liebe meist diese schöne Himmelfahrt aus dem Himmelbett zu versagen, und dann tröstet sich zuweilen der Verlassene damit, in der Erinnerung zu erleben, was die traurige Gegenwart des Alters ihm ganz versagt: er schreibt seine Memoiren. Man muß es ihm da nachsehen, daß er in der grauen Melancholie seiner Einsamkeit die Farben etwas lebhafter wählt und oft ein bißchen lügt. Er ist im nachschreibenden Alter wie schon damals in der erlebenden Jugend das Opfer seines Rufes, der immer ein bißchen schlimmer ist als die Wahrheit – was er gern hinnimmt, denn dem Rufe verdankte er mehr, als er nun im Alter zugeben will.

Wie viele Frauen erlagen dem Don Juan wegen der List seiner Liste! Wie viele dachten: allen diesen tausend und mehr wird er untreu um meinetwillen und sah in keiner diese Schönste, die er nun in mir findet! Wie viele führte ihm die Neugierde der Frauen auf ihre Vorgängerinnen zu! Aber das wäre nicht zureichend, den Erfolg des Don Juan zu erklären. Liegt er nicht darin, daß er die Frauen – verachtet, das wäre zuviel gesagt, aber daß er sie leicht nimmt, duldet, in der Bestimmtheit seines Zieles der Frau die immer etwas übertriebene Komödie erspart, den sogenannten »psychologischen Moment« der Frau mit so sympathischem Ungestüm zu dem physiologischen Moment macht, der er in Wirklichkeit ist? Die Frau liebt im Don Juan den Mann, der nicht für sie aus Liebe stirbt: die Erlösung von der Sentimentalität und von der oft so schweren Verpflichtung zu großen Gefühlen, die zu kunstvoll belastet sind für das natürliche Geschöpf Frau.

Der Don Juan tut so, als liebte er: um geliebt zu werden. Selbst zu lieben ist ihm versagt. Er ist ein Abenteurer. Nur als Abenteurer kommt er zu dem, was Montaigne die wichtigste, zweitwichtigste und drittwichtigste Lehre in der Liebe nennt: die Zeit richtig treffen. Und dazu muß man Zeit und darf man keinen Beruf haben. Denn wer auf den Fulmen d'amor wartet, der ist kein Don Juan. Wer auf den kritischen Moment der Frau wartet, der wird sich dann vielleicht mit ihr verloben oder wird sie heiraten. Der Don Juan muß den Moment provozieren, wann es ihm paßt. Nicht darauf warten, bis es der Frau paßt. Das ist schwierig, wenn man acht Stunden in einer Bank beschäftigt ist. Oder wenn man ein Dichter ist. Der Don Juan tut nichts, ist in einer Tätigkeit undenkbar. Casanova war ein Spieler und Hochstapler, auch wenn er Verse machte oder mathematische Abhandlungen verfaßte. Richelieu war ein Spieler in der Politik ebenso wie der Kardinal Retz. Wer möchte behaupten, daß Friedrich von Gentz mehr war? Eines haben diese Männer gemeinsam: sie kennen die Frau, das heißt, sie wissen um das, worin die Frau anders ist als der Mann, ohne dieses anders besser oder schlechter zu nennen. Dieses Wissen um die Frau haben sie in ihr Mannestum eingeschlossen und besitzen es dermaßen, daß es der Frau erspart bleibt, daraus ihre Abwehrkünste zu entwickeln, die dem Naiven gegenüber nie versagen. Feminin ist deshalb der Typus des Don Juan durchaus nicht, im Gegenteil, er ist sehr männisch, worin er nur davon einen Knixer bekommt, daß er – es aushält, sein Leben mit Frauen hinzubringen. Er ist männisch, aber nicht mannhaft.

Da nur die tüchtige Männlichkeit in der europäischen nach den Leistungen urteilenden Welt etwas erreicht, sucht sich der Mann ein sichtbares Zeichen solcher Tüchtigkeit und daß er als Eroberer schon oder noch immer zähle in einer Geliebten zu geben. Was man der alternden Frau übel nimmt, das ziert den alternden Mann: die zur Geliebten eroberte Frau. Damit drückt er aus: ich zähle noch mit, man kann mir jeden Kredit geben, ich schaffe noch was, man kann mir jeden Direktorposten anvertrauen, denn ich bin, wie ihr seht, noch ein Mann. Wie oft sind die Inkommoditäten, die ihm ein solches Verhältnis bereitet, weit größer als das Vergnügen, das es ihm verschafft, aber er nimmt sie auf sich. Und hält die Frau wie ein ihn schützendes Schild gegen den nahenden Tod. Was stellt dieser alternde Mann nicht alles an, sich diese Kokarde einer hübschen, ihm gehörigen Frau ins Knopfloch zu stecken! Wie viel heimliche Demütigung erträgt er, wie viel Blamage im Schlafzimmer! Aber dennoch gibt sie ihm den Glauben, daß sich seine Reste noch mit dreißig Prozent verzinsen.

Dieser alternde Mann der heroischen letzten Anstrengung gehört gewiß unter die Verführer, wenn auch das Mittel seiner Verführung nichts weiter ist als das Geld. Aber die Frau kann auch, wie man es oft hört, sagen, der Mann verführe durch seine Geistesgaben. Sie will aus Schamhaftigkeit und um in der geistigen Männerwelt einen konvenablen Platz zu finden, nicht zugeben, daß sie vor dem alten häßlichen Philosophen Respekt hat, aber daß sie ihm faktisch den jungen hübschen Mann vorzieht, der gar kein Philosoph ist, sondern ein Flieger, ein Boxer oder ein Rennfahrer. Keiner von diesen kräftigen, hübschen, jungen Männern hat je die Kunst der Verführung gebraucht, denn er konnte sich mit seiner Natur der Verführung erfolgreich durchs Leben schlagen.

Vielleicht war der Verführer nie was anderes als eine Legende oder ein Wunschgebilde von Frauen, die den Mann, der kommen müßte, mit ganz besonders wirkenden Tugenden ausstatteten. Daß im Zeitalter des amerikanischen Lebensstandards, Reichtum zu erwerben ist der Sinn des Lebens, sich ein Mann mit der Frage beschäftigt: »wie verführe ich eine Frau?« ist ganz unwahrscheinlich. Das Geldverdienen hat viel phantastischere und aufregendere Wege als jene, die eine kleine hübsche Freundin weist und die ein Mann gerade nur so nachstolpert. Die ehemals berühmten Verführer sind heute etwas verblaßte Figuren geworden, gemessen an dem Teint eines Ozeanfliegers, der den ehemaligen Operntenor abgelöst hat. Damals glaubte das naive Frauenzimmer, dieser auf der Bühne als ein Held schreitende und schreiende Mann wäre auch als Privatherr so. Heute glaubt sie es so ähnlich vom Flieger, daß er auch in den Situationen der Liebe ein Adler über der stürmenden See wäre. Ohne solche Irrtümer wäre die Komik in der Liebe ja ausgestorben. Nur in der Pseudoromantik der Filmstreifen verfolgen drei Liebhaber eine bestimmte Frau um den Erdball, weil sie es anders nicht aushalten. Es ist in der Wirklichkeit schon schwierig, einen heutigen Mann bis nach Nizza zu locken.

 

§ 12

So einfach bestimmt ist eine Frau gar nicht mit der Aussage, sie sei unsinnlich. Männer gehen mit diesem Wort Frauen gegenüber leichtfertiger um als gegen sich selber. Sie scheinen für das Anfallshafte ihres sinnlichen Appetites so etwas wie ständige Bereitschaft der Frau als Komplement zu verlangen und wenn sie dann im Einzelfalle diese Bereitschaft nicht finden, das mit Unsinnlichkeit zu erklären. Die Männer vergessen, daß auch die sinnlichsten unter ihnen und gerade sie plötzlich degoutiert sind vom Fleische und seinem, wie ein Freund es ausdrückte, protoplasmatischen Vergnügen, und eine Sehnsucht nach Doktrinen bekommen, die als eine Theorie ausgearbeitet dieser anfallenden Entfremdung vom Fleische das Zufällige und etwas Komische nehmen. Am besten kommen dabei jene Männer weg, die nach den aus Büchern überkommenen und auch nicht von ihnen bezweifelten Fiktionen, daß die Liebe ein Gefühl sei und anders nicht zähle, dieses Gefühl nie bei sich konstatieren können, in das das Vergnügen des Fleisches mehr oder minder, je nach den Schulen, impliziert sei, aber nicht als Determinante.

Vielen als unsinnlich bestimmten Frauen fehlt nun nicht die Sinnlichkeit, sondern die Überzeugung. Sie besitzen eine ein für allemal erkannte Hierarchie der Güter und Freuden und diese kann die Umarmung eines Mannes nicht auf den Kopf stellen. Als einen solchen Fall möchte ich den der Frau Eyrie F. anführen, die in einem guten und einfachen Sinn fromm war, durchaus Gott und den Teufel glaubte, zur Messe ging, beichtete und kommunizierte. Aber alles das wohl eingeordnet in ein recht geführtes Leben in ihrer Ehe, in ihrer Gesellschaft und der Welt. Nun ist es, weil viele Umstände das begünstigen, nicht schwierig, im ehelichen Leben die Liebe zu jener das Leben durchsüßenden Sublimierung zu bringen, wohl aber ist es nicht so einfach und leicht, aus solcher Sublimierung jeweils wieder und wieder in den generellen Akt zu stürzen. Von einer sehr frommen Frau wird berichtet, daß sie, um ganz sicher zu sein, daß der eheliche Liebesakt eine Sünde sei, ihn mit allem ausstattete, was ihre aufgehetzte Phantasie und ihr Geschick erfinden konnte. Sie hat, weil sie in ihrem Gatten den rechten Partner dafür nicht fand, einen Liebhaber genommen – aus Frömmigkeit. Was nun Frau Eyrie F. betraf, so liebte sie vorbehaltlos ihren solcher Liebe auch durchaus würdigen Mann und bewies ihm alle Zärtlichkeit und Gefälligkeit, aber sie konnte ein gewisses Staunen nicht unterdrücken über die Bedeutung, welche dieser Akt für den Mann besaß oder nach allen Zeichen doch zu besitzen schien. Und er kam ihr darin etwas kindlich vor und sie mußte ein Gefühl der Nachsicht für den Mann produzieren zugleich mit der Anerkennung, daß sie seine sinnliche Hingerissenheit sehr bewege, daß sie sich aber doch freue, ihm anderes noch zu bedeuten als dies. Es waren junge Eheleute voll zärtlicher Intelligenz zueinander. Und doch fiel der Mann nach zwei Jahren in den Irrtum, seine Frau sei eigentlich, so sagte er, unsinnlich, und fand sich für sein Vergnügen ein nichts als lustiges, bettfrohes, aber sonst nichts weiter ihm bedeutendes Typmädel.

 

§ 13

Frau Balsamine setzte sich einen Geliebten wie eine Wunderbrille auf die Nase, um ihren über alles geliebten Gatten noch herrlicher zu sehen als er war. Natürlich gab es eine kleine Voraussetzung beim Gatten: er war nach zehnjähriger Ehe des sinnlichen Wesens seiner Frau und Mutter zweier Kinder etwas müde, aber von beschaulicher und nobler Art suchte er das ihm durchaus zweifelhaft gewordene bloße Vergnügen der Sinne nicht bei anderen Frauen. Er war groß, gütig, schön anzuschauen. Er blieb bei seiner Frau aus Indifferenz gegen andere Frauen, ein bißchen aus Trägheit, die sich gewöhnt hatte, und aus Gründen, die man insgesamt als Familienhaftigkeit bestimmen könnte. Frau Balsamine fürchtete natürlich die Gefahr, die darin lag, daß mit wachsender Anziehung des Geliebten der Gatte gewisse wichtige Reize verliere. Aber sie sagte sich, daß es nicht so kommen müsse. Es könne auch umgekehrt sein. Der Gatte könne durch die besondere und andere Art des Geliebten für sie Reize erhalten, die sie bis nun nicht an ihm gekannt hat. Und so würde sie sich vom Geliebten weg wieder stärker zu ihrem Gatten wenden. Das alles hat mit dem, was man Verdorbenheit nennt, gar nichts zu tun. Denn Frau Balsamines Verdorbenheit war unbedeutend. Sie war eine überaus zierliche Frau mit grauen Augen, oft etwas leicht entzündeten Lidern, hatte grüngoldenes, sehr feines Haar und besaß eine außerordentliche Kraft, ihren physiognomischen Ausdruck zu beherrschen. Nie war ihr Lächeln strahlender und glücklicher als wenn ihr ganz zum tiefsten Weinen war. Sie verstand es, dem Geliebten so eine Art Caché eines kleinen zweiten Gatten zu geben. Aber sie verlangte auch mehr und seltsam paradox Klingendes von ihm. Weil sie in ihren Mann verliebt war, in einer Art unglücklicher Liebe. So sagte sie einmal ganz niedergeschlagen zu ihrem Freunde: »Du tust nichts, aber auch nichts, was mich meinem Mann näher bringt. Das ist nicht schön von dir.« Sie schien es zu wissen oder zu ahnen, daß sie ihren Mann nervös, verstimmt und abgeneigt machte, wenn sie zu ihm hin einen sinnlichen Appetit zeigte. Kaum einen Wunsch, nur so eine leiseste Andeutung. Damit sie das um der Liebe zu ihrem Manne willen vermeide, hatte sie eben den Freund, der gern bereit war, sich die Fallen stellen und sich darin fangen zu lassen. So bewahrte sie ihrem Manne eine reinste Liebe wie er sie nur brauchte, um mit ebenso reiner Liebe darauf zu antworten.

 

§ 14

Frau Sobeide zeigte in allen Dingen des täglichen Lebens ein gewisses Ungeschick und Nichtzurechtkommen. Mann, Kind, Haus, Gesellschaft: es war das alles ihr durchaus entsprechend und sie war da nicht hineingeraten wie in ein ihr nicht Passendes oder Fremdartiges. Was sie darin ungeschickt sein ließ, war, daß sie sich aus der schwächlichsten Tendenz ihrer Seele ihr Wesen geschaffen hat. Dabei war sie weder unnatürlich noch snobisch, denn es gehörte ihr wirklich alles, was sie äußerte. Sie denk-fühlte etwa so: »wäre das und das nicht, was mich so zu sein veranlaßt, dann wäre ich so und so.« Und weiter dann: » ... denn eigentlich bin ich so.« Und es war in der Tat eine Möglichkeit dazu in ihr, ein kleines Etwas, daß sie »so« sein konnte. Aus diesem kleinen Etwas, aus diesem geringsten ihrer seelischen Besitztümer, aus diesem mikroskopischen Ansatz machte sie sich das Wesen ihrer Person und suchte und fand sich einen Geliebten dazu. Der Mann und die Bekannten kennen Sobeide als die gute liebe brave und auch tüchtige einfache Person, die sie ist. Nur der Geliebte erfährt ihre andere Persönlichkeit, die sie sich aus ihren schwächsten Ansätzen gebildet hat. Aus diesen Ansätzen heraus denkt sie sich Szenen von großer Kühnheit zum Manne hin aus. Zu denen es natürlich nie kam. Es genügte ihr, dieses ihr allgemein gekanntes und richtiges Leben an den Rändern und nur ihr sichtbar seltsam irisieren zu lassen. Der Geliebte war nur das Brechungsmittel, durch das sie ihr winziges Licht schickte, ihren kleinsten Ansatz, ihr »eigentlich bin ich so ...«

 

§ 15

In der Chemie der Liebe kann man ein oft an diesem Ort falsches und fälschendes Element feststellen: den Stolz, vanitas. Beim Manne als Stolz auf die Schönheit der Frau, bei der Frau Stolz auf die Bedeutung des Mannes, die geistige, sittliche, wirtschaftlich-finanzielle Bedeutung. Den wenigen, die bei der etwas sich isolierenden Lebensweise des Ehepaares L. die Möglichkeit eines Urteiles bekamen, fiel auf, daß Elvira L. gar nicht stolz auf ihren Mann war, trotzdem sie bei der großen geistigen Bedeutung, die L. besaß und die ihm auch mit allen Ehren zuerkannt wurde, allen Grund dazu gehabt hätte. Aber Elvira war was man eine häßliche Frau nennt, im allergewöhnlichsten Sinn häßlich. Das Auffallendste, der sich beim Lachen allzu weit öffnende Mund, ließ sehr ungleichmäßig geordnete und keineswegs gute Zähne sehen. Die Augen hatten einen Flimmer-Tik und konnten keinen Blick aushalten. Das Haar war immer etwas im Durcheinander, die Hände immer ein wenig schmutzig. Das Ensemble Elviras schleppte einen vagen Geruch von sinnlicher Bettwärme mit sich, wozu auch ihre etwas trägen Bewegungen gut paßten, die sie, ob sie ging oder saß, alle wie liegend ausführte. Alles fiel auf, daß L. die Gesellschaft junger Mädchen und Frauen mied, fast brüsk, wenn er allein, nachgiebiger, wenn seine Frau bei ihm war. Aber er ließ unbekümmert sein Unbehagen merken. Er liebte Elvira. Mit einer fast obstinaten Leidenschaft. Darum irritierten ihn in Gesellschaft diese fragenden, auf seine Frau gelegten Augen, welche die Häßlichkeit Elviras immer wieder feststellten und sich dann ihm zuwandten, fragend, warum er so wenig stolz sein könne, eine so häßliche Frau zu lieben. Denn daran, daß er Elvira mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit liebte und sie das hinnahm wie etwas ihr ganz selbstverständlich Zukommendes, zweifelte niemand. L. hat während der zehn Jahre, welche nun diese Ehe dauerte, keiner anderen Frau auch nur das stumme Zugeständnis eines gewissen Blickes gemacht, der so etwas wie ein aufflackerndes Begehren ausdrückte. Er sieht die schönen Frauen eher feindlich an. Und Elvira, die das immer merkt, quittiert mit einem in sich hineingelachten Lächeln. L., dessen mathematische Fähigkeiten so bedeutend sind wie ausgeprägt seine Neigung zur Abstraktion, könnte dieser seiner geistigen Struktur nach sagen, daß was die Plastik einer Frau zunächst an Glück verspreche alle Wichtigkeit im Augenblick der Lust verliere. Und daß da nur eine bislang verborgene, nun befreite geheime Kraft zähle. Sicher ist nun das in den Momenten der Lust der Fall – aber vorher und nachher? Muß man, um sich dieses Vorher und Nachher erträglich zu machen, die Isolierung suchen, den Vergleich meiden, die Aufmerksamkeitserregung? Caroline Lamb, die hinkte und häßlich war, schrieb sich auf: »Byron liebt mich, aber er schämt sich, mich zu lieben, weil ich häßlich bin.« Und Horace Walpole litt bis zum Bruche mit ihr unter den stürmischen Liebesbriefen der alten und blinden Dudeffand. Er fürchtete, und nicht ohne Grund, daß man ihre Briefe insgeheim und vor dem Abschicken lese und er lächerlich würde. Von solcher Angst hatte L. nicht die Spur. Er liebte Elvira wie im Trotz. Er glaubte wirklich zu lieben, weil er nie von einer zufälligen und hinfälligen Schönheit düpiert werden, verlogen gemacht werden konnte, Empfindungen zu heucheln, die er gar nicht hatte und zu haben vorgab, weil die schöne Frau das verlangt, bloß weil sie schön ist. L. war gar nicht eingenommen von den üblichen Glücksvorstellungen des gemeinen Lebens, wozu auch »eine schöne Frau« gehört. Das ließ ihn eine Frau »wählen«, die nicht schöne Attrappe ist, sondern im allgemeinen Urteil ganz häßlich und ohne die Spur einer sogenannten interessanten Häßlichkeit. Elvira klebte sich gar keine geistvollen Mouchen an. Sie hatte nicht mehr Verstand und Witz als irgendeine Frau. L. war ein Problematiker. Auch des Erotischen. Und das Epiphänomen der weiblichen Schönheit desorientiert den Problematiker als ein zeitliches Akzidens von höchst fraglichem Wert. Die Schönheit drängt vom weiblichen Wesen ab. Die Häßlichkeit macht es deutlich.


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