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Sir James Frazer, wohl der größte Mythologe unseres Zeitalters, sagt in The Golden Bough: »Die Übertragung des Bösen, der Grundsatz vom Vikariatsleiden, ist die allgemeine Auffassung und Praxis bei Rassen, die auf einer niedrigen Stufe sozialer und intellektueller Kultur stehen. Es erscheint in der Geschichte des klassischen Altertums, so lange die Völker noch in der Barbarei leben. Das typische Beispiel ist die Opferung Iphigeniens.«

Der Dienst der syrischen Gottheit Attis hatte mit dem Christentum die seelische Reinigung durch Vergießen von Blut gemein. Bezeichnenderweise wurde nach seinem Ritus das Blut des geweihten Ochsen gerade an der Stelle vergossen, wo jetzt die St.-Peters-Kirche steht.

Niemand betrachtet heute das Johannesevangelium noch als ein Zeugnis der historischen Vorgänge, es ist lauter Symbolik, lauter Theologie. In ihm kehrt die seit zahlreichen Jahrhunderten existierende Messiasauffassung in verjüngter Form wieder.

Alles, was die früheren Evangelien – die sogenannten Synoptiker – mitgeteilt haben, wird hier zu Sinnbild und Mystik. Die Zahl der Wunder, die hier berichtet werden, ist sieben. Es ist der siebente Tag, der Sabbat, an dem der Lahme geheilt wird. Die lange Reihe von Jahren, die er als Krüppel darniedergelegen, symbolisiert das jüdische Volk, das auf den Messias gewartet hat. Die Heilung selbst wird (5, 17) als Sinnbild des ganzen Werkes Jesu bezeichnet. Die Vervielfältigung der Brote ist ein Sinnbild vom Brote des Lebens. Das Wunder, wie Jesus über das Wasser schreitet, bedeutet, daß der Messias siegreich, daß er Geist ist, das Wort, das zu seiner Ewigkeit zurückkehrt. Die Heilung des Blindgeborenen bedeutet, daß der Messias das Licht der Welt, die Erweckung des Lazarus, daß er das Leben ist.

Man findet hier eine starke Zahlenmystik. Jesus wandert dreimal in Galiläa, dreimal in Judäa, überall tut er drei Wunder, dreimal bezeichnet er Judas als Verräter (13, 18, 21, 26). Jesus steht am dritten Tage aus dem Grabe auf, er offenbart sich darauf dreimal.

Dies Evangelium scheint in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts verfaßt zu sein. Aber soweit man vermuten kann, sind die zusammengestückten, überarbeiteten Kompilationen, die man Synoptiker nennt, wohl zwanzig bis fünfzig Jahre jünger als die echten Briefe Pauli.

Paulus, d. h. der kleine Saul, ist ein heftiger und gefährlicher kleiner Mann gewesen, von dem in der Apostelgeschichte erzählt wird, daß er als Arbeiter in Korinth bei dem unter Klaudius aus Rom vertriebenen Zeltmacherpaar Aquila und Priscilla beschäftigt wurde.

Diese beiden – heißt es – seien in die Tumulte verwickelt gewesen, von denen Suetonius an der berühmten, merkwürdigen Stelle spricht, die er von irgendeinem Jahrbücherverfasser abgeschrieben zu haben scheint. Er sagt:

»Als die von Christus aufgehetzten Juden andauernd Unruhen veranstalteten, vertrieb er (Klaudius) sie aus Rom.«

Chrestus war damals ein gewöhnlicher Name für Sklaven und Freigelassene. Er kommt 80 mal auf Inschriften vor, die in Rom unter der Peterskirche gefunden wurden, als man sie in der Spätrenaissance erweiterte.

Aquila und Priscilla müssen sich unter den aus Rom ausgewiesenen Juden befunden haben. Sie lebten vom Bau von Zelten und Hütten und nahmen den kleinen, feurigen, unberechenbaren und unbändigen Saul aus Kilikien als Mitarbeiter in ihre Dienste.

Die echten und unechten Episteln, die unter seinem Namen gehen, sind viel älter als die Evangelien. Der Verfasser der Episteln hat Jesus übrigens nie gesehen und weiß – oder berichtet – nicht das geringste über seinen Lebenslauf.

Der sogenannte Paulus hat nur die rein theologische Auffassung von Jesus: »Welcher ist (Kolosser 1, 15, 16) das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen. Denn durch ihn ist alles geschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Obrigkeiten, es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.«

Bestimmungen wie diese entfernen uns wahrlich weit von dem jungen beredten und begeisterten Sohn eines Baumeisters in Galiläa, der seiner rein geistigen Agitation wegen von dem römischen Landesoberhaupt in Jerusalem hingerichtet worden sein soll. Aber zeigen wir heutzutage bei der Behandlung dieser Frage nicht eigentlich noch weniger gesunden Menschenverstand?

Lange Zeit hat man darüber gestritten, welche Teile der dem Paulus zugeschriebenen Briefe als echt aufgefaßt werden müßten und in welchen man spätere Hinzufügungen erkannte, gar nicht zu reden von denen, die überhaupt nicht von ihm selber stammen konnten. Echt sind aller Wahrscheinlichkeit nach nur der Galaterbrief, der Römerbrief und teilweise der erste Korintherbrief. Von beißender Unwahrscheinlichkeit ist jedoch im Galaterbrief die Erzählung von dem dreijährigen Aufenthalt in Arabien nach der Bekehrung; sie soll die Unabhängigkeit von Petrus zeigen.

Die Frage hat in unsern Tagen vermutlich etwas von ihrem Interesse verloren. Die Paulinischen Schriften können, wenn sie auch bedeutend älter als die Evangelien sind, vordatiert sein. Verschiedene, wie der Holländer van Manen, haben mit Nachdruck behauptet, es deute nichts darauf hin, daß im ersten Jahrhundert irgendein »Apostel« existiert habe, der paulinische Gedanken verkündete. Die Errichtung größerer Gemeinden, die nicht mehr jüdisch, sondern christlich waren, muß aller Wahrscheinlichkeit nach in das zweite Jahrhundert verwiesen werden.

Eine scheinbar halb scherzhafte, aber höchst ernst gemeinte Vermutung des hervorragenden englischen Bibelforschers Thomas Whittaker geht darauf aus, daß der wirkliche Begründer des historischen Christentums der Hohepriester Kaiphas gewesen sei mit dem »Rat an die Juden«, der ihm nach Behauptung des Verfassers des vierten Evangeliums durch göttliche Eingebung erteilt sein soll:

»Bedenket auch nichts, es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe. Solches aber redete er nicht von sich selbst, sondern weil er desselben Jahres Hoherpriester war, weissagte er, denn Jesus sollte sterben für das Volk«. Johannes 11, 50-51.

Und Kaiphas ist eine historische Persönlichkeit, als solche bekannt und erwähnt von Flavius Josephus, etwas, das man nicht von Jesus sagen kann, da die Fälschung in den Antiquitäten 18, 3 ja längst selbst von den konservativsten Forschern anerkannt ist.

Gleichzeitig mit Josephus hat ein Geschichtsschreiber gelebt, der wie er sowohl Krieger wie Historiker war. Er soll ein Landsmann von Jesus im engsten Sinne gewesen sein, da er aus der Gegend stammte, in der Jesus der Aussage nach geboren ist. Es ist Justus von Tiberias; wie Josephus schrieb er über den Krieg gegen die Juden und außerdem eine Chronik über die Jüdischen Könige von Moses bis Agrippa II. Beide Werke sind verloren gegangen, wurden aber im neunten Jahrhundert von Photios gelesen, der sich wunderte, daß hier so wenig wie bei Josephus Jesus je erwähnt wurde.


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