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Mein Freund Berger.

I.

Mein Freund Berger war ein hartherziger Mensch, – wenigstens hielt er selbst sich für einen solchen.

»Andreas,« sprach er zuweilen zu mir, »ich sage dir: möge Gott einen jeden Menschen vor einem solchen Charakter bewahren, wie ich ihn habe. Wenn der Zorn mich überkommt, weiß ich nicht mehr, was ich tu. Wirklich, wenn der Karo nicht wär', müßte ich schon längst als Sträfling in den Bergwerken Sibiriens Silber graben.«

Zum Teil hatte er mit dieser Behauptung recht: Karo hatte ihm schon über manche schwere Stunde hinübergeholfen. Aber davon will ich später erzählen, zuerst muß ich die Leser mit Bergers Feinden bekanntmachen.

Zwei Arten von Menschen ärgerten meinen Freund am allermeisten: die Weiber und die Advokaten. Und unter den angefeindeten Weibern stand in erster Reihe seine eigene Frau.

»Ich sage dir, Andreas,« erklärte er mir oft, »anstatt einem Weibe auch nur im geringsten nachzugeben, wandre ich lieber barfuß auf die Landstraße hinaus und klopfe Steine. Da ist z. B. meine Frau. Schöntun kann sie einem, die Schmeichelkatze! Alterchen hier und Alterchen da, – so geht's den ganzen Tag; zum Frühstück schenkt sie mir einen guten Kräuterschnaps ein, zu Mittag kocht sie recht was Gutes, – aber am Abend, da zeigt es sich dann, wozu das alles! Alterchen, das Mädel braucht einen neuen Hut! Alterchen, das Klavier muß durchaus gestimmt werden! Alterchen, sollten wir nicht einmal wieder ins Theater gehen? Und dann redet und redet sie, bis ich schließlich ja sage, um Ruhe zu haben. Du kannst es mir glauben, Andreas: wenn ich nicht so hartherzig wäre, – sie hätte mich schon längst an den Bettelstab gebracht oder ins kühle Grab, – meinem Bruder ist es ja auch so gegangen! An dessen Unglück war doch nur die Frau schuld!«

Das Unglück seines Bruders pflegte Berger stets zu erwähnen, wenn er über die Nichtsnutzigkeit der Weiber sprach. Damit stand es aber so: Bergers Bruder besaß einen kleinen Bauernhof; die Kaufsumme war zwar noch nicht ausgezahlt, allein es ließ sich auf dem Berghofe recht gut leben. Leider aber stand der Bauer vollständig unter dem Pantoffel: was seine Frau wollte, das geschah. Nun und diese Frau führte Krieg mit der Gebieterin des Nachbarhofes; Anlaß zum Ausbruch der Feindseligkeiten hatte, wenn ich nicht irre, ein ganz neuer Besenstiel gegeben, der auf dem Berghofe verschwunden und eines schönen Tages jenseits der Grenze, auf dem Acker des Kleinhofbauern, wiedergefunden worden war. Ein Wort hatte das andere gegeben, und schließlich war der Berghofbäuerin der Ausruf »Besendiebin« entfahren. Die Nachbarin hatte das nicht auf sich sitzen lassen und ihren Mann auf das Gemeindeamt geschickt, um die Feindin gerichtlich zu verklagen, und die Berghofbäuerin hatte richtig zwölf Stunden bei Wasser und Brot in der Gefangenenzelle des Gemeindehauses zubringen müssen. Nun war an einen Friedensschluß nicht mehr zu denken. Wenige Tage nach Rückkehr der Berghofbäuerin aus dem Gemeindeamte mußte die Kleinhofbäuerin dorthin wandern, weil sie die Nachbarin mit dem Kosenamen »Madame Zuchthäuslerin« belegt hatte, und kaum drei Wochen später bezogen beide Freundinnen zugleich das Gemeindehaus, diesmal auf zwei ganze Tage, weil sie sich vor Gewalttaten gegen die beiderseitigen Haarfrisuren nicht zurückgehalten hatten. Doch wenn der Ortsrichter gemeint hatte, durch diese Maßregel die streitenden Mächte zum Frieden oder wenigstens zum Waffenstillstand zu veranlassen, so hatte er sich gründlich getäuscht. Die Kleinhofbäuerin konnte es ihrer Gegnerin nicht verzeihen, daß diese aus dem Gebetbuche, das sie in die Zelle mitbekommen hatte, nur solche Stellen heraussuchte, die sich auf »böse Nachbarn«, »Demütigung durch böse Menschen« und dergleichen bezogen, und die betreffenden Gebete dann mit besonderem Nachdrucke so laut herunterlas, daß die in der Nebenzelle sitzende Kleinhofbäuerin jedes Wort verstehen mußte. So wurde denn der Kampf nach allen Regeln der Kunst weitergeführt, ja er nahm einen immer größeren Umfang an, denn allmählich wurden auch die Männer, die sich bisher neutral verhalten hatten, in den Krieg mit hineinverwickelt. Es kam zu endlosen Prozessen, für deren Weiterführung sich stets neue Gründe finden ließen.

Inzwischen hatte der Kleinhofbauer einen schmalen Fahrweg, der über seinen Grund führte, um einige Klafter verlegt, um bequemer zu seiner Tenne gelangen zu können. Da dieser Weg aber zuweilen auch von den Berghofleuten benutzt wurde, wenn sie zur Kirche fuhren, so glaubte die Berghofbäuerin neue Ursache zum Ärger gefunden zu haben und beschloß, diesmal ausgiebige Rache zu nehmen. Sie wartete geduldig, bis der Nachbar die Stelle, über welche der frühere Weg geführt hatte, aufgepflügt und mit Gerste besät hatte, dann erklärte sie eines Sonntags ihrem Manne, sie wolle einmal wieder in die Kirche fahren, das Gehen sei ihr zu fad; der Bauer solle anspannen lassen und mit ihr fahren. Berger ahnte zwar nichts Gutes, traute sich jedoch nicht, der Frau zu widersprechen, und tat, wie sie befohlen hatte. Als man an das neue Gerstenfeld herangekommen war, nahm die Bäuerin dem Manne die Zügel aus der Hand und lenkte das Pferd – den neu angelegten Weg nicht beachtend – über die zarten eben aufgesprossenen, grünen Hälmchen. Ganz langsam und gemütlich fuhr sie dahin, als wäre sie sich keines Unrechtes bewußt; dabei bedachte sie ihren armen Gaul, der unschuldig und verständnislos vorwärtstrottete, mit sonderbaren, laut hinausgeschrienen Scheltworten wie:

»Du Esel, ich will dich schon lehren! Freches Vieh, glaubst du, ich könne mit dir nicht fertig werden? Seht doch 'mal den eigensinnigen Dickschädel an!«

Wer hätte ihr beweisen können, daß diese Worte nicht dem Gaul galten? – Aber der Effekt, den sie sich von der Morgenfahrt versprochen hatte, trat zu ihrer großen Enttäuschung nicht ein: im Hause und auf dem Hofe des Nachbarn blieb alles still. Es war nämlich nur noch der Kleinhofbauer selbst daheim, und der sah und hörte zwar alles, konnte aber nicht hinaus, weil er sich gerade rasierte. Trotzdem sollte der Kampfesruf der Berghofbäuerin nicht umsonst erklungen sein.

Nach dem Gottesdienst hatte Frau Berger ihren Mann beredet, ins Wirtshaus zu gehen und sich durch einige Seidel Bier in eine kriegerische Stimmung zu versetzen. Er traf dort ein paar Freunde, denen er die Sache erzählte, und es schmeichelte ihm nicht wenig, daß sie den »Witz« seiner Frau belachten und ihm erklärten, sie habe damit nichts Gesetzwidriges begangen. Der Schneider des Dorfes, ein welterfahrener und mutiger Mann, reckte seinen krummen Rücken gerade, um Berger auf die Schulter klopfen zu können, und sagte aufmunternd:

»Nur nicht nachgeben, Berghofbauer, mag kommen was das will!«

Diese beherzigenswerten Worte tönten dem Bauern noch in den Ohren, als er an der Seite seiner kampflustig um sich blickenden Ehehälfte wieder dem Kleinhofe zufuhr.

Behaglich trabte der Gaul dahin, froh, daß es dem heimatlichen Stalle zuging, – als er aber an die verhängnisvolle Stelle kam, die von den kriegführenden Mächten zum Schlachtfelde auserkoren war, blieb er plötzlich wie verzaubert stehen: dort, wo er heute morgen, dem Befehl seiner Herrin gehorchend, über das junge Gerstenfeld traben mußte, war jetzt aus einigen Stangen eine Barrikade errichtet, hinter der sich zum Überfluß ein Graben zeigte. Doch der Berghofbauer war durch den Wirtshausbesuch in eine Stimmung versetzt worden, in der er den Kampf mit der halben Welt aufgenommen hätte, somit konnte ihm der Barrikadenbau des Nachbarn keinen Respekt einflößen. Er übergab seiner Frau die Zügel, stieg ab und machte sich daran, die Stangen auseinanderzunehmen und in den Graben zu werfen; dann faßte er das Pferd beim Zaum und zwang es, den Graben zu überschreiten. Die Stangen krachten, der Wagen schwankte, die Berghofbäuerin kreischte, – ihr Mann aber führte stolz lächelnd den Gaul über das Gerstenfeld des Kleinhofbauern der zweiten Barrikade zu, die sich drüben am Rande des neuen Weges erhob. Diesmal war das Hindernis nicht so leicht zu beseitigen: die Stangen waren fest miteinander verbunden und der Graben war so tief, daß an ein Hinüberkommen mit Pferd und Wagen nicht gut zu denken war. Trotzdem begann Berger auch hier sein Zerstörungswerk.

Da standen plötzlich wie aus dem Boden gewachsen der Kleinhofbauer und dessen zwei Knechte, die hinter einem Baume auf der Lauer gelegen, vor den Störenfrieden.

»Herr Nachbar,« begann der Kleinhofbauer mit ernster Miene, »was ist das für eine neue Sitte, die ihr einführen wollt? Ihr fahrt über fremden Acker und ruiniert fremde Zäune!«

»Schaut doch ein wenig genauer die Landkarte an, mein Lieber,« erwiderte der Berghofbauer, »dann werdet Ihr ja sehen, wo der Weg führt!«

Die Höflichkeit dieser diplomatischen Verhandlungen war nicht nach dem Geschmack der Berghofbäuerin, die nun mit schwerem Geschütz angefahren kam.

»Hier haust wohl eine Räuberbande,« rief sie, »die den Reisenden Hindernisse in den Weg legt, um sie leichter ausrauben zu können?«

»Jungens!« schrie der Kleinhofbauer darauf seinen Knechten zu, »ihr seid Zeugen, daß sie uns eine Räuberbande geschimpft hat! Das wird ja immer schöner! Über fremde Äcker fahren, andrer Leute Besitz zerstören und dann noch schimpfen! Jungens, spannt den Schimmel aus, ich nehme ihn als Pfand für den Schaden, der mir geschehen ist.«

Das überaus hitzige Gefecht, das sich nun um den zitternd dastehenden Gaul entspann und mit Fäusten und Knüppeln geführt wurde, endete mit einer schmählichen Niederlage des Berghofbauern: nach wenigen Augenblicken sah er sich selbst im Graben, seine Frau auf den Trümmern des zerbrochenen Wagens und seinen Schimmel auf dem neuen Wege, über den ihn die Knechte des siegreichen Feindes im Triumph davonführten. Sich mühsam aus dem Graben heraushelfend, schrie der geschlagene Held wie besessen:

»Flieh, Grete, flieh so schnell du kannst! Unser Hab und Gut ist uns geraubt, retten wir das nackte Leben!«

Und mit Riesenschritten eilte er seinem Hofe zu, gefolgt von seiner wehklagenden Gattin, deren kreischende Stimme alle Hunde der Nachbarschaft in Unruhe versetzte.

Was dann folgte, kann der Leser sich gewiß denken. Noch nach Jahren sprach man in der Umgegend von dem Sensationsprozesse zwischen den feindlichen Nachbarn, in dem Verbrechen zur Verhandlung kamen wie: Vernichtung einer Gerstensaat, Zerstörung von Zäunen, Ehrenbeleidigungen schwerster Sorte, sonntäglicher Friedensbruch, Beraubung unschuldiger Reisender usw. usw. Die Sache wäre wohl noch heute zu keinem Ende gekommen, wenn nicht ein unerwarteter Zwischenfall eingetreten wäre: der Tod des Berghofbauern. Die Witwe hätte den Krieg zwar gerne noch fortgeführt, es stellte sich jedoch heraus, daß der Hof infolge des Prozesses bereits über und über mit Schulden belastet war; der Bäuerin blieb nichts übrig, als Frieden zu schließen, Haus und Hof den Gläubigern zu überlassen und sich durch ihrer Hände Arbeit vor dem Verhungern zu schützen.

Das alles hatte mein Freund Berger mit eigenen Augen angesehen, denn er war Knecht auf dem Hofe des Bruders gewesen. Daher war es ihm nicht verborgen geblieben, daß im Grunde genommen nur die Frau an all dem Unglück schuld war. Freilich, die Herren Advokaten, die gelehrten Stadtherren, die hätten den Berghofbauern zur Vernunft bringen sollen, aber die waren ja gerade diejenigen gewesen, die immer neue »Punkte« aufgestellt hatten, solange ihr Klient nur zahlen konnte. Darum eben stellte mein Freund Berger sie auf der Liste seiner Feinde gleich hinter die Weiber.

Nach dem Tode des Bruders war Berger, dem das Landleben durch die geschilderten Vorkommnisse verleidet war, zur Stadt gezogen, hatte sich einige Kühe gekauft und eine kleine Milchwirtschaft eingerichtet. Als Andenken an die Heimat hatten er und seine Frau die kleine Tochter des verstorbenen Bruders mitgenommen, denn ihre eigene Ehe war nicht mit Nachkommenschaft gesegnet, die ehemalige Berghofbäuerin aber war nicht imstande, für die Erziehung des Mädchens zu sorgen.

Als Berger sich in der Stadt niederließ, waren ihm zwei Dinge so klar wie ein blauer Sommerhimmel: wenn der Mann vorwärts kommen will, darf er nicht auf die Weiber hören! und: vor dem Gericht und den Advokaten muß man sich hüten wie vor tollen Hunden. Und vorwärts kommen wollte er. So arbeitete er denn vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und seine Frau stand ihm darin nicht nach. Bald mußten noch mehr Kühe angeschafft werden, der Kundenkreis erweiterte sich, die Ersparnisse wuchsen. Vor einem Zusammenstoß mit Gerichten und Advokaten hatte Berger sich bisher mit Gottes Hilfe bewahrt, aber seine Frau machte ihm viel zu schaffen. Er blieb seinem Vorsatze treu, ihr niemals nachzugeben, daher ertönte oft genug seine grollende Stimme in Haus und Hof und Stall. Mit diesem »nicht nachgeben« war das aber so eine eigene Sache. Da kam z. B. die Frau aus dem Stalle und sagte:

»Alterchen, die Krippe der braunen Kuh muß wirklich erhöht werden, ich sagte es dir schon gestern!«

»Und ich sagte dir,« fuhr Berger sie an, »daß das eine dumme Idee von dir sei. Du hast immer neue Einfälle und bildest dir ein, ich müßte dir in allem folgen. Nicht im Traum fällt mir das ein!«

Damit stapfte er hinaus und warf die Tür mit aller Wucht hinter sich zu. Wenn die Frau dann nach einer Weile in den Stall kam, stand die Braune zufrieden kauend vor der erhöhten Krippe.

Und so ging es mit allem und jedem. Die Frau machte Vorschläge und äußerte Wünsche. Berger erklärte ihr, daß das lauter Unsinn sei, daß ein Weib gar nichts Vernünftiges vorschlagen und wünschen könne, – und dann ging er hin und tat schweigend, um was sie gebeten hatte. Denn nun glaubte er ihr ja bewiesen zu haben, daß er seine eigene Meinung habe und nicht unter ihrem Pantoffel stehe. Die Frau war schlau genug, ihn bei diesem Glauben zu lassen, passierte es ihr aber hier und da einmal in der Siegesfreude, daß sie ihm seine Gutmütigkeit zum Bewußtsein brachte, so nahm er schweigend Hut und Überrock und ging ins Wirtshaus, um mit ein paar guten Bekannten über die Unausstehlichkeit der Weiber, die Schlauheit der Advokaten und seine eigene Hartherzigkeit zu philosophieren.

Ganz arg wurde es mit Bergers »Hartherzigkeit«, als Lotti, sein Pflegetöchterlein, ins schulpflichtige Alter kam. Seine Frau hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, daß das Mädel die höhere Töchterschule besuchen müsse, um dereinst das Lehrerinnenexamen ablegen zu können.

»Wir selbst sind und bleiben ja einfache Leute, dumm und plump wie die Bären,« pflegte sie zu sagen, »aber die Lotti soll was Besseres werden. Wir haben ihrem sterbenden Vater versprochen, für sie zu sorgen, als wär' sie unser eigenes Kind. Und wozu hat denn Gott unsere Arbeit gesegnet und uns Hab' und Gut geschenkt, wenn nicht für die Lotti? Wär's denn nicht Sünde, wenn wir nicht nach Kräften für ihre Erziehung sorgten?« Und sie schickte Lotti in die höhere Töchterschule.

Heiße Kämpfe entspannen sich nun zu Anfang eines jeden Schulsemesters um das Geld für die vielen Bücher, für Kleider und Schuhe und Hüte und Jacken, denn Frau Berger sah darauf, daß Lottis Äußeres nicht von dem der anderen Schülerinnen absteche. Mein armer Freund bekam Rheumatismus und Rückenschmerzen »vor lauter Ärger über die Frauenzimmer«, wie er behauptete.

»Ich sage dir, Andreas,« erklärte er mir, »der Ärger fährt mir in die Knochen und verwandelt sich in Rheumatismus. Du kannst es mir glauben!«

Alle Wünsche von Frau und Tochter aber beantwortete er eine Zeitlang mit der wehmütigen Frage: »Wollt ihr denn durchaus mein graues Haupt in die Grube bringen?«

Seine Haare waren zwar noch durchaus nicht grau, aber es klang so ergreifend für ihn selbst.

So war denn die Zeit gekommen, in der Karo ihm von großem Nutzen werden sollte. Einer von Bergers Wirtshausfreunden nämlich, ein alter Haudegen, hatte ihm versichert, gegen den Ärger gebe es gar keine bessere Hilfe als jemanden durchzuprügeln. Wer dies Mittel nicht anwende, riskiere einen Schlaganfall. Schaudernd hatte Berger zugehört.

»Gott bewahre mich davor,« dachte er sich, »daß meine Hartherzigkeit einen so hohen Grad erreiche!«

Und von da an zitterte er davor, daß er einmal die Hand gegen Frau oder Tochter erheben könnte. Diese Angst beherrschte ihn derart, daß er sich gar nicht mehr zu schelten getraute, als seine Frau sich bald darauf mit dem Vorschlage hervorwagte, für Lotti ein Klavier zu kaufen. Ohne ein Wort zu antworten, ging Berger an die Geldlade und hielt ihr das Sparkassenbuch hin, dann ging er schnell hinaus.

»Ach Gott, ach Gott!« dachte die erschreckte Frau, »der Mann ist gewiß krank! Er wird doch nicht gar den Verstand verloren haben?«

Im selben Moment ertönte vom Hofe her jämmerliches Geheul; die Frau stürzte ans Fenster und atmete erleichtert auf: Berger hatte seinen Zorn an Karo ausgelassen! – Von nun an wurde Karo Bergers »Lebensretter«, der gut gefüttert und liebevoll behandelt wurde, solange Frieden im Hause war, aber seine vollgezählten Prügel bekam, sobald »die beiden Weiber« neue Einfälle und Wünsche hatten. Er gewöhnte sich bald so an seine Rolle, daß er bei den Zornesausbrüchen seines Herrn nicht einmal mehr das Weite suchte, wußte er doch, daß ein guter Bissen ihn nachträglich für die Schläge entschädigen würde.

Die Jahre vergingen und Lottis Bedürfnisse mehrten sich. Sie hatte das Lehrerinnenexamen mit Auszeichnung bestanden und bald darauf Anstellung an einer Privatschule gefunden. Es geschah nun öfters, daß ihre Kolleginnen sie besuchten oder daß Schülerinnen zu ihr kamen, die sie nicht in dem kleinen Stübchen, das sie bisher bewohnt hatte, empfangen wollte. Was war also zu machen? Die Eltern bezogen das Hinterstübchen und überließen ihr den »Salon« mit dem Klavier und ein großes, helles Schlafzimmer. O das waren schwere Zeiten für den armen Karo, doch er ertrug sie in gewohnter Resignation und sicherte sich dadurch den Dank seines hartherzigen Herrn. Aber eines Tages traten zwei Ereignisse ein, die meinen armen Freund Berger trotz Karos Ergebenheit nahe an den Rand des Grabes brachten, und wieder waren es nur die Weiber, die an allem schuld waren.

* * *

II.

Lotti – oder vielmehr Charlotte, wie sie jetzt genannt sein wollte, – hauste also in den schönen Vorderzimmern, in die allmählich ein Prachtstück von Möbel nach dem andern gestellt wurde, so daß sogar Berger selbst die Zimmer nur mit scheuer Ehrfurcht betrat, – d. h. wenn er allein war; in Gegenwart der Frauen stapfte er gern mit schmutzigen Stiefeln direkt aus dem Kuhstall in den »Salon«. Charlotte war bei ihren Freundinnen beliebt, wurde oft eingeladen und lernte bald auch die Herrenwelt ihres Kreises kennen. Auf den Bällen und Tanzkränzchen, die sie unter den Fittichen einer befreundeten Ballmama hier und da besuchte, fehlte es ihr nie an Tänzern. Alle Augenblick verbeugte sich vor ihr einer der befrackten Jünglinge, die Schnurrbart wirbelnd und mit dem Zwicker spielend die »Herreninsel« bevölkerten oder verbindlich lächelnd und schöne Redensarten drechselnd neben den auf- und niederpromenierenden Ballköniginnen einhertänzelten.

Auf einem der Bälle lernte Charlotte einen jungen – erschrick nicht, lieber Leser! – einen jungen Advokaten kennen, der mit großer Zungengewandtheit von seinem ersten, im nächsten Monat zur Verhandlung kommenden Prozeß erzählte und von den Lorbeeren, die er bei dieser Gelegenheit zu ernten hoffte. Dabei sah er Charlotte mit seinen hübschen dunklen Augen so zärtlich an, daß sie seinem Prozeß ein ganz besonderes Interesse entgegenzubringen begann. Der junge Rechtsgelehrte dagegen fing an, sich nach Charlottens Tageseinteilung, ihren Stunden, ihren Spaziergängen zu erkundigen und äußerte so ganz nebenbei, daß er – um sich für seine großartige Verteidigungsrede gesund zu erhalten und einen klaren Kopf zu bewahren – viel in der frischen Luft sein müsse. Ganz zufällig fügte es sich einige Tage nach diesem Ballabende, daß er seine Luftkur grade in der Straße vornahm, durch welche Charlotte von der Schule heimkehrte. Der Arme ahnte ja nicht, daß Vater Berger etwas sonderbare Ansichten über die Welt im allgemeinen und die Advokaten im besonderen hatte!

Bekanntlich macht die Liebe den Menschen blind gegen alle Gefahren; so konnte es denn geschehen, daß unser Pärchen harmlos zwischen Rosen wandelte, ohne die Schlange zu erkennen, die sich dahinter verbarg, prosaisch gesprochen: daß Charlotte sich ruhig Tag für Tag von ihrem Verehrer begleiten ließ, ohne zu ahnen, daß einer der Wirtshausbrüder ihres Pflegevaters – derselbe alte Haudegen, der Karo die Rolle des »Lebensretters« aufgebürdet hatte, – sie auf diesen Gängen beobachtete. Ich erinnere mich noch des wutverzerrten Gesichtes, mit dem Berger zur Tür stürzte, als der Freund ihn eines schönen Tages beim Frühschoppen auf den täglichen Begleiter seiner Tochter aufmerksam machte und etwas schadenfroh hinzufügte:

»Sie hat keinen schlechten Geschmack, Deine Charlotte! Der junge Mann sieht sehr stattlich aus. Er ist übrigens ein – Advokat!«

Frau Berger stand in der offenen Stalltür und beaufsichtigte die Arbeit der Kuhmagd, als das Hoftor plötzlich mit gewaltigem Stoß aufgerissen wurde und ihr Mann hereinflog wie eine abgeschossene Kanonenkugel. Schnell trat sie in den Stall hinein, denn es schien ihr nicht ratsam, ihrem Herrn und Gebieter grade jetzt sichtbar zu werden. Karos gleich darauf in der Küche ertönendes Klagegeheul bewies ihr, daß ihre Vorsicht nicht unangebracht gewesen war. Jetzt begann auch Charlottens geliebte weiße Katze jämmerlich zu miauen, und dann erdröhnte das Klavier in vorwurfsvollen Dissonanzen, als schlage jemand mit den Fäusten darauf. Ein solches Unwetter hatte noch niemals im Hause geherrscht!

»Er wird mir alle Möbel zertrümmern!« dachte Frau Berger und eilte, jede Vorsichtsmaßregel für ihre persönliche Sicherheit außer acht lassend, ins Haus.

»Na, na, Alter, was ist denn wieder los? Hast wohl zu lange im Wirtshaus gesessen und die armen Tiere müssen dafür büßen! Und was hat dir das Klavier getan, daß du es so malträtierst? Das Mädel kommt so selten zum Spielen und –«

Berger war inzwischen etwas ruhiger geworden, aber die Erwähnung des »Mädels« brachte ihn von neuem in Wut.

»Ja, nicht wahr, das gnädige Fräulein?« schrie er, »was Schönes hast du dir da herangezogen! Zum Klavierspielen hat sie keine Zeit mehr, aber sich mit Herren auf der Straße umhertreiben, das kann sie, was? Sein goldener Zwicker und seine gelben Glacés haben es ihr wohl angetan, nicht? Aber woher das Herrchen das Geld zu all dem nimmt, danach fragt sie nicht! Hab' ich's ihr nicht oft genug erzählt, daß die Herren Advokaten am Unglück ihres leiblichen Vaters schuld sind?«

Frau Berger verstand die Andeutungen ihres Mannes sehr wohl, hatten doch gute Freundinnen und getreue Nachbarinnen ihr bereits von dem Verehrer ihrer Pflegetochter erzählt. Sie hatte zwar gehofft, die Sache vor dem Haustyrannen geheim zu halten, bis die Zeit zu offener Attacke gekommen wäre, aber da das nun nicht mehr anging, nahm sie sich vor, ihren Liebling tapfer zu verteidigen, und sollte sie dabei ihren Kopf riskieren!

»Geh' Alter, mach' dich nicht lächerlich!« sprach sie halb ärgerlich, halb beruhigend, »was weißt denn du von Advokaten und von goldenen Zwickern? Nicht die Advokaten haben deinen Bruder zugrunde gerichtet, sondern seine Dummheit und sein Eigensinn. Und Dummheit und Eigensinn hätten auch dich schon längst an den Bettelstab gebracht, wenn ich nicht wäre! Warum soll Charlotte nicht mit studierten Herren spazieren gehen, wenn es ihr so gefällt? Glaubst du vielleicht, du müßtest sie lehren, was sich schickt und was nicht? Das weiß sie besser als du, mein Lieber! Dir wär's nach dem Sinn, wenn sie mit deinen Wirtshausbrüdern verkehren würde, nicht wahr? Ja, da kannst lange warten! Für die hab' ich das Mädel nicht erzogen!«

»Meine Freunde sind Ehrenmänner!« wetterte Berger wieder los, »und Lotte könnte froh sein, wenn sie einen von ihnen zum Mann bekäme!«

Seine Frau faßte diese Bemerkung als direkte Beleidigung auf und geriet nun auch in Wut.

»Ehe das geschieht,« schrie sie, »kannst du mich ins Grab legen, du herzloser Mensch! Solange meine Augen offen sind, soll keiner deiner Bierkumpanen über diese Schwelle treten. Was Schönes hast du dir da ausgedacht, wirklich! Gebildete, feine, gelehrte Leute tragen meine Charlotte auf Händen, du aber möchtest sie an irgend einen Gevatter Schuster oder Schneider verheiraten! Hat sie das Examen mit Auszeichnung bestanden, um die alten Hosen so eines Handwerkerlümmels zu flicken oder um Wassersuppen für seine Lehrlinge zu kochen? Schäm' dich in Grund und Boden hinein, Alter, daß du so etwas auch nur denken konntest.«

Mein armer Freund fühlte sich in der Tat versucht, sich »in Grund und Boden« zu verkriechen, denn ihm war bei dem Wortschwall seiner tapferen Gegnerin nicht recht wohl zumute; doch seine Mannesehre zwang ihn standzuhalten, bis sich eine passende Gelegenheit zur Beendigung des Streites dargeboten haben würde. Diese Gelegenheit fand sich schneller, als er gehofft hatte: noch bevor er den Mund zu einer scharfen Antwort auftun konnte, stürzte die Nachbarin ins Zimmer, weinend und händeringend.

»Ach Gott, ach du lieber Gott!« jammerte sie, »rettet uns, helft, Nachbarn, helft!«

Das Ehepaar Berger starrte entsetzt auf die Wehklagende und machte sich gefaßt, mindestens von einem fünffachen Morde zu hören, und mein Freund, der trotz seiner Hartherzigkeit kein Blut sehen konnte, versuchte es, hinter dem Rücken seiner Frau zur Tür hinauszuschleichen, blieb jedoch schuldbewußt stehen, als ihn ein strafender Blick seiner gestrengen Ehehälfte traf. Es stellte sich denn auch heraus, daß von Morden und ähnlichen Greueln gar nicht die Rede war. Aus den verworrenen Erklärungen der Nachbarin ließ sich entnehmen, daß ihr Bruder, der bei ihr im Hause wohnte, einem Wucherer viel Geld schuldete und heute gepfändet werden sollte, und daß daher ein Teil seiner Habseligkeiten irgendwo versteckt werden müßte; Bergers sollten doch so gut sein und bei sich zwei Koffer abstellen lassen.

»Sind die Koffer groß?« fragte Frau Berger, der die weinende Nachbarin leid tat.

»Ach nein!« beeilte sich diese zu versichern, »nicht viel größer als eine Zigarrenkiste. Helft doch, liebe Nachbarn! Was soll der arme Bursch anfangen, wenn sie ihm den letzten Rock fortnehmen?«

»Alterchen,« wandte Frau Berger sich freundlich zu ihrem Manne, als hätte sie nie im Leben mit ihm in Streit gelegen, »der Kreuzberg ist so ein lieber, lustiger Mensch, – ich denk', wir können ihm den Gefallen tun.«

Ohne die Einwilligung des Hausherrn abzuwarten, stürzte die Nachbarin, deren Tränen plötzlich versiegt waren, mit einem frohen »danke, danke!« zur Tür hinaus, um nach wenigen Augenblicken mit Hilfe ihres Mannes die beiden »Zigarrenkisten«, zwei ansehnliche Reisekoffer, durch das Hoftor hereinzuschleppen. Berger wollte zornig auffahren, doch ihm tat die Nachbarin leid, die mit Anspannung aller Kräfte an der einen »Zigarrenkiste« schleppte; er ging ihr entgegen und nahm ihr schweigend die Last aus der Hand. Die Koffer wurden auf dem Heuboden versteckt, die Nachbarin dankte mit vielen herzlichen Worten und ging sichtlich beglückt nach Hause.

Bald darauf aber trugen andere Nachbarn die Kunde ins Haus, daß der junge, lustige Kreuzberg verhaftet sei; den Grund wußte man noch nicht. Im Wirtshause aber, das Freund Berger nach all den Aufregungen des Tages ausnahmsweise zum zweiten Male aufgesucht hatte, erfuhr er, daß Kreuzberg verschiedene Diebstähle auf dem Gewissen haben solle. Berger erschrak bei dieser Kunde bis ins tiefste Herz.

»Wenn in den Koffern am Ende die gestohlenen Sachen versteckt sind!« fuhr es ihm durch den Sinn. Stumm und an allen Gliedern zitternd verließ er seinen Stammtisch.

Inzwischen war das Gerücht von den Diebstählen auch zu Frau Berger gedrungen und sie machte sich auf einen neuen Wutanfall ihres Tyrannen gefaßt. Wie erstaunte sie aber, als sie ihn langsam und ruhig ins Zimmer treten sah, mit totenblassem Gesichte. Um ihm ihre versöhnliche Stimmung zu zeigen, hatte sie ihm zum Nachtmahl einen besonderen Leckerbissen bereitet: Bratwurst mit Sauerkraut! und auch das Fläschchen mit dem Kräuterschnaps neben seinen Teller gestellt. Berger trank schweigend den Schnaps, das Essen aber mußte die Frau unberührt wieder hinaustragen. Er sprach kein Wort, denn er hätte ja von nichts anderem reden können als von dem, was ihn mit Angst und Entsetzen erfüllte, und das wäre doch unvorsichtig gewesen: wer wußte denn, ob nicht jemand unter dem Fenster nur auf das Geständnis wartete, um sofort zur Polizei zu laufen und zu melden: »Der Michel Berger verbirgt Diebesgut auf seinem Heuboden! Der Michel Berger ist auf seine alten Tage ein Hehler geworden!«

Als die Frau, die keine Frage an Berger zu stellen wagte, aus der Küche wieder ins Zimmer trat, lag er schon im Bett, die Decke bis an die Nasenspitze hochgezogen. Leise ging sie in den »Salon« hinüber, wo Charlotte sie mit verweinten Augen erwartete, um das Resultat des ehelichen Zweikampfes zu erfahren. Sie hatte sich die Wartezeit durch liebevolle Betrachtung einer Photographie verkürzt, die einen jungen Mann mit dunklem Schnurrbart und zwickergekrönter Nase vorstellte.

»Vater schläft schon,« flüsterte die Mutter, »er hat gar nichts mehr gesagt.«

Charlotte fand das etwas beleidigend. Sie hatte sich schon bereit gemacht, eine feurige Verteidigungsrede zu halten, in welcher schöne Worte wie: Lebensglück, Elternhärte, Mannesehre, gebrochene Herzen, Unverstandensein usw. durcheinander wirbelten, – und nun legte der Alte sich einfach zu Bett, als ginge ihn das Geschick seiner Pflegetochter gar nichts an! Lange noch flüsterte sie mit der Mutter über die Ereignisse des Tages, bis beide übereinkamen, vorläufig den Dingen ihren Lauf zu lassen und abzuwarten, bis die Grausamkeit des Vaters sich in die gewohnte Milde verwandeln würde.

Mit Ungeduld erwartete Berger die Rückkehr seiner Frau. Kreuzbergs Koffer benahmen ihm den Atem, als ständen sie auf seiner Brust und nicht oben auf dem Heuboden.

»Alte!« rief er jetzt leise der Eintretenden entgegen, »zieh' dich an und komm.«

»Ist was mit den Kühen?« fragte sie erschreckt, erhielt aber nur die Antwort:

»Tu, was ich dir sag', und schweig'.«

Beide zogen sich an und gingen in die finstre, kalte Winternacht hinaus.

»Hol' den Handschlitten!« befahl Berger, während er selbst zum Heuboden hinanstieg.

Mit Hilfe der Frau lud er dann in tiefem Schweigen die beiden Unglückskoffer auf den Schlitten und fuhr damit dem kleinen Hinterpförtchen zu, das von seinem Hofe in einen großen, jetzt im Winter von niemand betretenen Obstgarten führte. In der Mitte des Gartens befand sich eine kleine Wächterhütte, die Berger zum Ziel der nächtlichen Reise und zum Ruheort der armen »Zigarrenkisten« ausersehen hatte. Er sagte sich zwar, daß es richtiger gewesen wäre, die Koffer der Polizei zu übergeben, aber seine Angst vor allem, was mit dem Gericht in Zusammenhang stand, verhinderte ihn daran.

Der Mann zog, die Frau schob, und leise niedertanzende Schneeflocken bedeckten sorglich die Spuren, die das nächtliche Werk im Schnee hinterließ. Endlich war man bei der Hütte angelangt, endlich waren die Koffer abgeladen, und wie von unerträglicher Last befreit, atmete Berger nun auf. Schnell und sicher schritt er an der Seite seiner Frau, die nicht recht wußte, was sie zu dem allem sagen sollte, dem Pförtchen zu, als ihm plötzlich der alte Nachtwächter Anton mit seiner Laterne ins Gesicht leuchtete!

»So, so, Ihr seid's, Berger,« murmelte der in seinen grauen Bart, »was habt denn Ihr in der Nacht in des Nachbars Garten zu tun gehabt?«

»Was geht das dich an?« erwiderte Berger hochmütig, zog das Pförtchen schnell zu, schob den Riegel vor und folgte seiner vorangeeilten Ehehälfte ins Haus, um bald darauf in festen und ruhigen Schlaf zu versinken, ohne sich's träumen zu lassen, daß neue Unheilswolken sich über seinem Haupte zusammenzogen.

Am andern Morgen sagte Charlotte, die gerade am Fenster ihres Schlafzimmers stand, verwundert zu ihrer Pflegemutter:

»Sieh' doch mal, Mama, was hat denn der alte Anton jetzt im Winter im Nachbargarten zu tun? Auch der Gärtner selbst ist da.«

Frau Berger schlug entsetzt die Hände überm Kopf zusammen und eilte leise hinaus, um vom Hofe aus durch eine Zaunritze die beiden Männer im Garten zu beobachten. Richtig, sie gingen in die Wächterhütte hinein! Gleich aber wurden sie wieder sichtbar und eilten nun dem Nachbarhause zu.

»Wie gut, daß die Schlittenspur ganz verschneit ist!« dachte die Frau, aber ihr sonst so tapferes Herz klopfte doch recht bang in ihrer Brust. Bald darauf kamen zwei Polizisten in Begleitung des alten Anton in den Garten und schleppten die Koffer, die zu ewiger Wanderung verdammt schienen, mit sich fort.

Der Mut, der meinen Freund Berger in jener Nacht beseelt hatte, war bald verschwunden. Der arme Mann veränderte sich in acht Tagen fast bis zur Unkenntlichkeit.

»Andreas,« flüsterte er mir, seinem Vertrauten, mit bebenden Lippen zu, »ich sage dir: möge Gott jeden Menschen vor solchem Unglück bewahren. Vom Morgen bis zum Abend hab' ich nur einen Gedanken: der erste beste kann vor dich hintreten und dir ins Gesicht sagen, daß du ein Hehler bist, ein ehrloser Kerl! Und jeden Augenblick kann ein Polizist hereinkommen und dich ins Gefängnis abführen! Gestern z. B. erschien so einer von der Polizei auf unserm Hof, um zu sehen, ob er rein und in Ordnung sei, – mir aber stand das Herz still, ich verlor alle Besinnung und rannte wie gejagt auf den Heuboden hinauf, mich im Heu zu verkriechen.«

Ich versuchte, meinem Freunde Mut zuzusprechen, er aber schüttelte traurig den Kopf und erklärte:

»Ich sage dir, Andreas, wenn sie mich einsperren wollen, so hänge ich mich lieber auf. Sieh' mal, sechzig Jahre bin ich nun in Ehren alt geworden, und jetzt passiert mir so was! Und wer ist schuld daran? Die Weiber! – Oder –« fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »hat Gott mir diese Prüfung vielleicht als Strafe für meine Hartherzigkeit geschickt? Ich hab' der Frau und dem Mädel das Leben oft genug schwer gemacht. Ach Gott, das Mädel! Wie wird sie's ertragen, daß ihr Pflegevater im Gefängnis sitzt?«

Tränen traten in seine treuherzigen blauen Augen, und um seine Rührung vor mir zu verbergen, ging er mit kurzem Gruß davon.

Öfter als sonst kehrte Berger jetzt im Wirtshause ein, aber nicht, um mit den Freunden zu philosophieren: stumm saß er da und bemühte sich, durch ausgiebigen Genuß von Bier und Schnaps so bald als möglich in den Zustand zu gelangen, in welchem dem Menschen alles um ihn her gleichgültig zu werden pflegt. Dann stolperte er nach Hause und warf sich ins Bett, ohne das Nachtmahl zu berühren. Zuweilen schlief er sofort ein, zuweilen aber überkam ihn noch im Bett der alte Weiberhaß: dann murmelte er allerlei Scheltworte vor sich hin und verkündete seinen Entschluß, gleich am nächsten Morgen zum Pfarrer zu gehen und um Scheidung von seiner Frau zu bitten, denn niemand könne von ihm verlangen, daß er sich von seiner Frau zum Diebe machen lasse. Er wolle wieder zurück ins heimatliche Dorf und lieber einer der ärmsten Knechte sein, als sich noch länger durch seine Frau unglücklich machen zu lassen. Ohne Widerspruch und mit heißen Tränen hörte Frau Berger ihm zu; auch sie hatte sich verändert und fand nicht mehr so leicht wie sonst den Mut, ihren Willen zu bekunden. Sie lebte in beständiger Angst vor der Polizei und vor einer Gewalttat ihres Mannes, auch fühlte sie sich diesmal wirklich nicht ganz frei von Schuld, waren die abscheulichen »Zigarrenkisten« doch nur auf ihre Fürsprache hin ins Haus gekommen.

Weinend trat Frau Berger eines Abends, an dem ihr Mann seine Scheidungsgründe mit besonderer Energie vorgetragen hatte, in Charlottens Zimmer und – fand auch diese in Tränen.

»Wie dem armen Kinde mein Kummer zu Herzen geht!« dachte sie gerührt und begann: »Ach mein Lottchen –« doch die Tränen machten ihr das Sprechen unmöglich. So schluchzten beide Frauen denn eine Weile um die Wette, bis es Frau Berger nach einigen vergeblichen Versuchen gelang, etwas von »Gottes Prüfung« zu stammeln, die man geduldig ertragen müsse. Charlotte nickte verständnisvoll, verriet aber nicht, daß Gott ihr eine ganz andere Prüfung geschickt hatte als die, welche die Pflegemutter meinte. Es waren nämlich schon vier ganze lange, bange Tage vergangen, ohne daß Charlotte den jungen Rechtsgelehrten gesehen hatte! Er schien keine Luftkur mehr zu gebrauchen. Oder hatte er seine Promenaden in eine andere Straße verlegt?

»Er wird von der dummen Diebsgeschichte gehört haben, in die der Vater verwickelt worden ist, und will nun nichts mehr von mir wissen!« sagte sie sich anfangs; dann aber erfuhr sie zufällig, daß er sich in diesen Tagen auch sonst nirgends gezeigt hatte.

Da erfaßte eine andere Angst ihr junges Herz: »Der Arme ist am Ende krank und hat doch niemand, der ihn pflegen könnte! Vielleicht ist er gar schon tot und niemand weiß etwas davon!«

Am meisten quälte es sie, daß sie sich auf keine Weise Gewißheit verschaffen konnte. Sie wußte zwar, wo er wohnte, aber was half ihr das? Was konnte sie als wohlgesittete junge Dame unternehmen, um von ihm Nachrichten zu erhalten?

Während solche trübe Gedanken in ihrem hübschen Blondkopf wühlten, strömten die Tränen immer von neuem aus ihren Vergißmeinnichtäuglein, so daß Frau Berger ihren eigenen Kummer vergaß und, gerührt durch das Mitgefühl, das die Tochter ihrer Ansicht nach mit ihr empfand, Charlotte liebevoll an sich zog und sich im stillen vornahm, ihr zu Weihnachten ganz gewiß die goldene Uhrkette zu schenken, die sie sich schon so lange wünschte. Dann ging sie ein wenig getröstet ins Schlafzimmer zurück, aus dem ihr das Schnarchen ihres Haustyrannen gleich Donnergrollen entgegentönte.

Charlotte aber saß noch lange grübelnd vor dem Bilde des Geliebten, bis die Angst um ihn einen verzweifelten Entschluß in ihr zur Reife gebracht hatte, den ich vorläufig noch nicht verraten darf.

* * *

III.

Die Wohnung des jungen Rechtsgelehrten, der an Charlottens Kummer schuld war, bestand aus anderthalb Zimmern. In dem ersten empfing er seine Klienten – oder vielmehr: hätte er sie gern empfangen, wenn sie nur gekommen wären! – in dem zweiten, das eigentlich nur ein halbes Zimmer war, schlief er, kochte er sich auf der Spiritusflamme Tee und Eier, wechselte er nötigenfalls den Papierkragen, schlang er vor dem Handspiegel die Krawatte zu genialem Knoten, kurz, führte er seinen ganzen Junggesellenhaushalt. In den letzten vier Tagen aber hatte er sich nicht viel um diesen Haushalt kümmern können: der Termin seines vielbesprochenen ersten Prozesses war nämlich nahe herangerückt, und da der erste Prozeß für einen Advokaten dasselbe bedeutet, wie die erste Predigt für den Pfarrer, der erste Ball für den Backfisch, der erste zu rasierende Bart für den Friseurlehrling oder das erste Gedicht für den angehenden Poeten, so werden meine Leser es dem Herrn Doktor Neumann wohl nicht verdenken, daß er sich in überaus nervöser Stimmung befand. Er hatte für nichts mehr Gedanken als für seine Verteidigungsrede, an der es immer noch zu ändern und zu bessern gab. Heute wollte er eine Art von Generalprobe abhalten, um einem gar zu argen Lampenfieber vorzubeugen. Dazu mußte das Zimmer nach Möglichkeit umgestaltet werden: Dr. Neumann rückte den Schreibtisch von der Wand ab und stellte hinter ihm drei Stühle auf, – für den Vorsitzenden und seine Assistenten. An jedes Ende des Tisches wurde je ein Stuhl gerückt, – für den Schriftführer und den Staatsanwalt. Mitten im Zimmer bezeichneten zwei wacklige, aus der Schlafkammer herbeigeschleppte Sessel die Plätze des Klägers und des Angeklagten, während die auf den Fußboden gestellte Lampe stolz als Hauptzeuge fungierte. Zwei Schuhbürsten sollten die Berichterstatter der Zeitungen vertreten; das Publikum setzte sich aus einer leeren und einer vollen Wichsdose, einer Zündholzschachtel und zwei Tellern zusammen. Jetzt holte Dr. Neumann noch den kleinen Spiegel herbei und stellte ihn auf dem Tisch so auf, daß er jede seiner Handbewegungen und Schulterzuckungen beobachten konnte, um sich von deren Wirksamkeit zu überzeugen, legte den neuen Frack und die weiße Binde an und trat erhobenen Hauptes und gewichtigen Schrittes aus der Kammer in den »Gerichtssaal«. Da fiel ihm ein, daß er im wirklichen Gerichtssaal von der andern Seite hereinzukommen habe; wenn die Generalprobe also vollständig sein sollte, mußte er das Zimmer vom Stiegenhause her betreten. In würdevoller Haltung öffnete er daher die Gangtür und – fuhr erschreckt zurück: da stand, scheu an die Wand gedrückt und mit angstvollem Gesichtchen, Charlotte Berger!

Wie die hierher kam, wollen meine verehrten Leser wissen? – Das will ich jetzt mit aller Genauigkeit erklären.

Ich habe die Leser ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß Charlotte zu einem verzweifelten Entschluß gekommen war. Dieser Entschluß war ihr selbst anfangs so entsetzlich erschienen, daß sie im geheimsten Herzenswinkel an seiner Ausführung zweifelte. Und grade dadurch hatte sie den Mut gefunden, sich in Gedanken immer wieder mit ihm zu beschäftigen, denn gedacht war ja noch nicht getan! So malte sie sich denn bis ins kleinste Detail aus, wie sie, Charlotte Berger, die Straße und das Haus aufsuchte, wo Dr. Neumann wohnte, wie sie die vier Treppen hinaufstieg, von denen er ihr erzählt hatte, und an seine Tür klopfte; wie dann eine alte Aufwartefrau ihr öffnete und sie nach ihren Wünschen fragte. »Ist der Herr Doktor zu sprechen?« wollte sie dann sagen. Der Doktor würde kommen, würde erstaunt, verlegen sein und nicht wissen, was er denken solle, sie aber, die kluge und vernünftige Charlotte Berger, würde ruhig sagen:

»Ich möchte meines Pflegevaters wegen mit Ihnen sprechen, Herr Doktor; haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

»O, mein ganzes Leben lang!« würde er dann natürlich rufen und sie würde mit kaltem Lächeln antworten:

»Danke, ein paar Minuten genügen!« und ihm kurz und klar den Fall mit dem versteckten Diebsgut vortragen, so kurz und klar, daß er voller Bewunderung bemerken würde, er habe nie geglaubt, daß Damen für so ernste Sachen so viel Verständnis besäßen. Dabei würde er ihr zärtlich in die Augen blicken und dann ... dann ... Doch nein, meine geehrten Leser können von mir wirklich nicht verlangen, daß ich die Träume eines liebenden Mädchenherzens so genau kennen soll, um sie noch weiter zu verfolgen!

Das also war das eine Bild, das Charlotte sich von der eventuellen Ausführung ihres verzweifelten Entschlusses machte, aber während der langen, schlaflos verbrachten Nacht zeigten sich ihr auch noch andere Bilder. Z. B.: sie klopft an, – keine Antwort. Noch einmal, – alles bleibt still. Sie drückt auf die Klinke, die Tür geht auf und vor ihr liegt ein halbdunkles, eiskaltes Zimmer, in dem sich auf einem Ruhebett ein Kranker in wirren Fieberträumen wälzt. Sie tritt näher heran und blickt entsetzt auf das bleiche Antlitz, die mageren Hände, die glühenden Augen ... So quält er sich denn schon vier Tage lang und niemand sorgt für ihn, niemand reicht ihm einen Trunk frischen Wassers! Sie legt ihre kühle Hand auf seine brennende Stirn und flüstert: »Verzeih!« Er erkennt sie, sieht sie unendlich traurig an und sagt leise: »Lebewohl! Es wär' zu schön gewesen, es hat nicht sollen sein!«

Bei dieser Vorstellung schluchzte Charlotte laut auf, drückte das Gesicht in die Kissen und weinte, weinte sich in Schlaf.

Am andern Morgen schämte sie sich ihres Entschlusses und ihrer albernen Phantasien, als aber auch heute kein Zipfelchen von Dr. Neumann sichtbar ward, kehrten ihre Gedanken wie von selbst wieder zu den gestrigen Bildern zurück. In der Dämmerung stand sie eine Weile am Fenster und blickte traumverloren in die Ferne, dann zog sie plötzlich ihr schönes neues Winterkostüm an, drückte das weiße Pelzmützchen aufs Haar und ging aus dem Hause.

Zweimal war sie schon an dem Hause vorübergegangen, in welchem »er« wohnte, das drittemal ging sie nicht vorüber. Lautklopfenden Herzens stieg sie die Treppen hinan; jetzt war sie oben, – dort das Türschildchen aus etwas angelaufenem Messing trug »seinen« Namen, auf den das trübe Licht der Korridorlampe fiel. Charlottens Mut sank. Ach nie, nie wird sie die Courage haben, an jene Tür zu klopfen! Aber ein kleines Weilchen davorstehen und auf die Schritte horchen, die im Zimmer ertönten, das wollte sie. Da ging die Tür auf und – das übrige wissen wir ja schon. Aber wir haben unsern jungen Freunden nun Zeit genug gelassen, einander mit verliebten Blicken zu betrachten, erlösen wir sie also aus der schönen, aber auf die Dauer nicht haltbaren Situation!

Der junge Rechtsgelehrte, der eben noch mitten in seiner »Generalprobe« gesteckt hatte, fand vor Schreck und Überraschung kein Wort. Charlotte aber, die sich darauf gefaßt gemacht hatte, ihn sterbend zu finden, geriet durch den Frack und die weiße Binde außer Fassung. Dennoch kam sie zuerst zur Besinnung, – sie hatte sich ihre Anrede ja schon genau zurechtgelegt.

»Guten Abend, Herr Doktor! Ich möchte mit Ihnen wegen meines Pflegevaters sprechen, haben Sie ein paar Augenblicke Zeit für mich?« fragte sie, zwar nicht so ruhig und kühl, wie sie es sich ausgemalt hatte, aber immerhin recht unbefangen und ohne zu erröten.

»Guten Abend, Fräulein Lotti!« erwiderte der Doktor etwas verlegen, »aber natürlich hab' ich Zeit für Sie! Soviel Sie nur wollen! Nur – bitte, treten Sie ein. Hier auf der Treppe geht's doch nicht gut und – einen Advokaten dürfen Damen doch grad so ruhig besuchen wie einen Arzt, wirklich!«

Er trat zurück und ließ Charlotte an sich vorüber durch die Tür gehen, im selben Moment aber fiel ihm ein, daß sein Zimmer ja einen »Gerichtssaal« vorstellte, – was mußte die junge Dame von der seltsamen Unordnung denken?

»Verzeihen Sie, Fräulein Lotti!« stotterte er, über und über rot werdend, »meine Aufwartefrau hat – aber bitte, nehmen Sie doch Platz!« Und er griff in höchster Verlegenheit bald nach der Lampe, bald nach den Wichsschachteln.

Charlotte setzte sich gerade auf den Platz des Schriftführers und blickte erstaunt auf den Doktor, der einen der im Zimmer aufgestellten Gegenstände nach dem andern ins Nebenzimmer trug, schob und warf. Als er jetzt nach den Schuhbürsten griff, dachte sie mitleidig: »Er macht sich doch nur die Hände schmutzig, der Arme!«

»Lassen Sie doch, Herr Doktor! Glauben Sie, ich hätte noch nie eine Schuhbürste gesehen?« sagte sie.

Dr. Neumann blieb mitten im Zimmer stehen, in einer Hand die beiden Bürsten, in der andern den Spiegel; dann stotterte er eine Entschuldigung, deponierte seine Last auf den für den »Angeklagten« bestimmten Sessel und nahm Charlotte gegenüber Platz.

»Ich komme zu Ihnen, Herr Doktor,« begann das Mädchen, »weil ich mir gar nicht mehr anders zu helfen weiß. Sie haben vielleicht schon gehört, in was für Unannehmlichkeiten mein Pflegevater sich durch eigene Unvorsichtigkeit gebracht hat?«

»Gar nichts hab' ich gehört, Fräulein Lotti!« rief der Doktor ganz unglücklich, »ich bin tagelang mit keinem Schritt aus dem Hause gewesen; übermorgen soll der Prozeß zur Verhandlung kommen, – Sie wissen doch – mein erster Prozeß!«

Lotti atmete erleichtert auf. Daher also war er unsichtbar gewesen! Aber sie machte ein gleichgültiges, ernstes Gesicht und erzählte ihm so gut es ging von Kreuzbergs Koffern und allem Zubehör. Ganz so kurz und klar, wie sie es sich gedacht hatte, fielen ihre Erklärungen zwar nicht aus, aber Dr. Neumann verstand sie trotzdem und war sofort mit Leib und Seele bei der Sache.

»Was sollen wir nun anfangen?« fragte seine Klientin schließlich ganz verzagt.

Der junge Rechtsgelehrte nahm eine würdevolle Miene an, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, rückte nachdenklich am Zwicker und sagte dann:

»Verlassen Sie sich nur auf mich, Fräulein Lotti. Ich werde mein Möglichstes tun. Es wäre doch zu arg, wenn ein in Ehren grau gewordener Mann wie Ihr Herr Vater durch seine Gutmütigkeit in solche Ungelegenheiten geraten müßte! Seien Sie überzeugt, daß ich alle meine Kraft in den Dienst der Sache stellen werde – d. h. sobald mein Prozeß – Sie wissen ja, meine erste Verteidigungsrede –«

»Ich danke Ihnen von Herzen!« sagte Charlotte warm, indem sie ihm die Hand drückte. »Wird man Sie bald wieder sehen, Herr Doktor?«

»Nach dem Prozeß, Fräulein Lotti! Haben Sie mich vielleicht – irgendwo vermißt?«

»Nun, bisher traf man Sie doch hier und da auf der Straße,« meinte das junge Mädchen mit plötzlichem Erröten.

»Und – war Ihnen das angenehm?« erkundigte sich der Doktor, dem bei diesem Erröten sehr froh zu Sinnen wurde.

»Warum sollte es mir unangenehm gewesen sein?« lautete Charlottens Gegenfrage.

»Fräulein Lotti!« rief Neumann, atmete tief auf und verkündete dann mit triumphierender Stimme: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen!«

Lotti betrachtete sehr angelegentlich die Troddel an ihrem Muff, und fragte so harmlos als möglich: »Was denn?«

Der Doktor ergriff ihre Hand und sagte leise: »Nicht hier, – ich begleite Sie nach Hause!« – – –

Lieber Leser, vielleicht warst auch du einmal jung, – ich vermute es wenigstens. Nun dann weißt du auch, daß es Stunden gibt, in denen die Jugend keine Beobachter duldet. Lassen wir unser Pärchen daher allein des Weges ziehen! Ich will dir nur noch verraten, daß der Herr Doktor Neumann es heute noch nicht wagte, sich Vater Berger vorzustellen, daß er aber Lotti gegenüber siegesgewiß äußerte, es werde sicherlich eine Zeit kommen, in der ihr Pflegevater seinen Weiber- und Advokatenhaß ablegen werde.

* * *

IV.

Mein Freund Berger war unter der Beschuldigung, Diebsgut in seinem Hause verborgen zu haben, vor Gericht geladen worden. Da hatte er denn nach langem Protestieren eingewilligt, daß »der junge Advokat mit dem goldenen Zwicker und den gelben Glacés« seine Sache übernähme. Anfangs hatte er überhaupt nicht zur Verhandlung erscheinen wollen, sondern erklärt, er werde seinem elenden Leben vorher ein Ende machen, doch meine Bemerkung, daß das wohl noch eine viel größere Sünde wäre als das Verstecken der Unglückskoffer, hatte ihn zur Besinnung gebracht. – Am meisten kränkte er sich Charlottens wegen.

»An uns Alten liegt ja nichts!« sprach er zu seiner bekümmerten Gattin; »wenn ich aus dem Gefängnis entlassen werde, könnten wir uns ja in ein einsames Winkelchen zurückziehen und still auf den Tod warten, – aber was wird die Lotte anfangen? Wer wird ihr noch seine Kinder zum Unterrichten anvertrauen, wenn es bekannt wird, daß ich so einer bin? Was werden ihre Bekannten sagen? Welcher junge Mann wird sie noch heiraten wollen? Ach Frau, Frau, wie tief sind wir ins Unglück hineingeraten!«

Alles Zanken und Schelten im Hause war verstummt. Karo ging gelangweilt im Hofe umher und blickte seinen Herrn zuweilen verwundert an, als wolle er fragen: »Wie lange wird die Ruhepause währen? Warum lassen Sie mich nicht mehr Lebensretter spielen?«

Der Gerichtstag kam heran. Am Vorabend ging Berger nach vollendetem Tagewerk nicht wie sonst ins Wirtshaus, sondern kramte in den tiefsten Gründen seines Schrankes, als suchte er etwas.

»Man muß auch an seine Seele denken!« murmelte er dabei. Die Frau sah mit Verwunderung, wie er endlich ein altes, zerlesenes Buch hervorholte, – ein Gebetbuch. Schweigend rückte sie ihm die Lampe näher und reichte ihm seine Brille hin.

»Lies laut, Alterchen!« bat sie gerührt.

Berger nickte und begann zu lesen. Das erste Gebet, das er aufschlug, war eine Bitte um Schutz vor Feuersgefahr.

»Das paßt doch heute nicht recht,« meinte Frau Berger, »solltest du nicht lieber was anderes aufsuchen?«

»Stör' mich nicht!« lautete des Alten brummige Antwort, und in eintönig singendem Tone las er ein Gebet nach dem andern vor, wie's in dem Buche stand. Es war ihm nicht um die Worte zu tun, meinem armen alten Freunde in seiner Not, sondern um das Bewußtsein, zum helfenden Vater im Himmel sprechen zu dürfen. Die Frau saß ihm gegenüber, hielt die Hände im Schoße gefaltet und hörte andächtig zu. Da kam eine Stelle, an welcher von Adams Sündenfall die Rede war und davon, wie Eva ihn dazu verleitet hatte. Das war Wasser auf die Mühle des Weiberfeindes! Berger hörte zu lesen auf, nahm die Brille ab, wischte sich die Augen und sagte mit bewegter Stimme:

»Siehst du, Frau, sogar im Worte Gottes steht's geschrieben, daß der Mann durch das Weib ins Unglück kommt! Hätte die Eva das nicht getan, so würden wir heute noch im Paradiese leben und wüßten nichts von Kreuzbergs Koffern, von Advokaten und Gerichten. Aber so, – den Adam hat sie aus dem Garten Eden vertrieben und mich wird sie in die Bergwerke Sibiriens führen. Und Eva ist ihrem Manne wenigstens in die Wildnis gefolgt, aber du, – wirst du mir nach Sibirien folgen?«

Die Frau schluchzte laut auf. Das hatte Berger nicht gewollt, und so begann er sie denn zu trösten:

»Laß gut sein, Alte, was geschehen ist, läßt sich nicht ungeschehen machen. Und ich will auch lieber allein in die Verbannung gehen, – einer von uns muß ja doch bei den Kühen bleiben und beim Mädel. Du wirst dann einen tüchtigen Knecht halten müssen, schau nur, daß du einen braven Burschen findest!«

Und er bestimmte, was nach seiner Abreise »in die Verbannung« in Haus und Hof zu geschehen habe, wie seine Frau dies und jenes einrichten solle, wer ihr raten könne und desgleichen mehr. Frau Berger hörte weinend zu. Noch niemals hatte ihr »Tyrann« so lieb und verständig zu ihr gesprochen, nie so vernünftige Gedanken gehabt. Bisher hatte sie noch immer nicht daran glauben wollen, daß ihr Alter in die schrecklichen sibirischen Bergwerke verbannt werden würde, aber nun, da er selbst mit solcher Überzeugung davon sprach, schwand all ihre Hoffnung auf seine Freisprechung. Um so schwerer fiel es ihr aufs Herz, daß sie, nur sie allein all dies Unglück verschuldet hatte. Sie ging auf ihren alten Mann zu und gab ihm einen Kuß, was sie sonst nur vor der heiligen Kommunion zu tun pflegte. Beide fühlten, daß der morgige Tag eine Wandlung in ihrem Leben bedeuten mußte, – zum Guten oder zum Schlimmen?

Am Morgen des verhängnisvollen Tages erwachte Frau Berger vor Tagesgrauen, ihr Mann aber war nicht mehr in seinem Bette, auch nicht im Zimmer. Mit zitternder Hand warf sie ihre Kleider über und eilte auf den Hof hinaus. Aus der geöffneten Stalltür drang Laternenschein. Leise schlich sie näher und horchte. Gott sei gelobt, ihr Mann lebte noch! Deutlich drang seine Stimme an ihr Ohr. Jetzt erst wußte sie, wie lieb sie diese rauhe, brummige Stimme hatte! – Aber mit wem sprach er denn? Nun verstand sie die Worte:

»Und du, Braune, du hast ja kein schlechtes Herz, aber du zertrampelst immer so viel Heu. Tu das nicht mehr, dein Herr kann dir keins mehr schaffen. Behüt' dich Gott, mein Viehchen! sei gut zu der Frau, und stoß auch die Rote nicht, sie ist doch kleiner als du. Behüt auch dich Gott, Rote! Als ich dich im Sommer kaufte, haben wir das nicht gedacht, was? Ja, ja, Kinder, seltsam gehts in diesem Leben zu! – Karo, wo kommst du denn her? Nimm dich vor den Hörnern der Braunen in acht! Gelt, du bist mir nicht böse, mein Hündchen? Du weißt ja, wie alles kam ...«

Die Frau konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und lief schnell ins Haus, um sich nicht zu verraten. Bald kam auch Berger nach; man frühstückte, legte die Sonntagskleider an und machte sich auf den Weg zum Gerichtshause. Charlotte wollte etwas später nachkommen, – ob aus Teilnahme an dem Schicksal ihres braven Pflegevaters oder aus Interesse an der Verteidigungsrede seines Advokaten, das weiß ich nicht.

Dr. Neumann hatte eine wunderschöne, rührende Rede vorbereitet. Er wollte zuerst von den weißen Haaren und den tränenvollen Augen eines alten Ehrenmannes sprechen, dann dessen fröhliche Jugend schildern, seine harmlosen Kinderspiele am blauen See und zwischen silberschimmernden Birkenstämmen, sein arbeitsreiches Leben in der Stadt, seine Liebe zu Tieren, – von Karos merkwürdiger Stellung im Hause zu erzählen, hatte Charlotte nämlich nicht für nötig gefunden.

»Diesen fleißigen, gutmütigen, unbescholtenen Mann haben Nachbarn um einen Dienst gebeten,« so wollte der Verteidiger fortfahren, »ahnungslos hat er die Bitte erfüllt, er hat die Koffer, die gestohlenes Gut enthielten, in sein Haus bringen lassen, aber, meine Herren –« und dann wollte er in schwungvollen und eindringlichen Worten beweisen, daß hier unmöglich von einer Schuld gesprochen werden könne. Doch noch ist der Augenblick nicht gekommen, daß Herr Dr. Neumann seine schöne Rede vom Stapel lassen kann.

Mein Freund Berger und Gemahlin traten grade in dem Moment aus ihrer Haustür, als der alte Nachtwächter Anton vorüberging.

»Guten Morgen, Nachbarn,« sagte er ein wenig verlegen, »gehen wir zusammen?«

Berger nickte. »Ach Anton, was hast du mir da auf den Hals geladen!« seufzte er nach einer Weile.

»Ach Gott, Nachbar, ich tat's doch nur um der Gerechtigkeit willen. Sollte ich auf meine alten Tage vor meinen Augen was Unrechtes geschehen lassen? Ich wollte eine solche Sünde nicht auf mich nehmen.«

»Hast recht, Anton, hast ja recht. Aber schau, versprich mir nur das eine: wenn ich nun fort muß, so steh' du meiner Frau bei! Bewach das Haus gut, Anton, sieh zuweilen nach dem Vieh, – ich will dir's ja gern zahlen!«

»Sprecht doch nicht vom Zahlen, Nachbar!« erwiderte Anton ärgerlich, »es versteht sich doch von selbst, daß ich für die Frau Berger tun will, was ich kann!«

Das beruhigte meinen armen Freund und etwas getröstet setzte er den schweren Weg fort.

Jetzt war man an Ort und Stelle. »Nun denn, mit Gott!« flüsterte Berger, als er den Gerichtssaal betrat.

Dr. Neumann hatte seinem Klienten genau vorgeschrieben, wie er sich vor Gericht benehmen und was er antworten sollte. Berger hatte Gehorsam versprochen, im stillen aber dachte er sich:

»Ich werde mich hüten, so einem Advokaten zu trauen! Ich werd' nicht so dumm sein wie mein Bruder! Und warum sollte ich denn den Gerichtsherren alles erzählen, wie's war? Sollen sie's doch herausfinden, dazu sind sie ja da!«

Jetzt wurde Bergers Namen aufgerufen, die Anklageschrift verlesen.

»Bekennen Sie sich schuldig,« fragte der Richter, »das gestohlene Gut vor der Polizei versteckt zu haben?«

»Herr, ich war mein Leben lang kein Hehler,« erwiderte Berger.

Dr. Neumann erschrak und er bemühte sich, seinen Klienten durch warnende Blicke zur Besinnung zu bringen, aber der sah gar nicht zu ihm hinüber.

Der Richter stellte weitere Fragen, erhielt aber keine andere Antwort als:

»Möge Gott mich vor solcher Sünde behüten!«

Dr. Neumann wischte sich den Schweiß der Verzweiflung von der Stirn. Was sollte aus seiner rührenden Rede werden, wenn Berger nicht eingestand, keine Reue zeigte und keine Tränen vergoß? Seine Blicke schweiften angstvoll zu einer tiefverschleierten jungen Dame hinüber, die sich im Publikum befand. Ach, sie verstand seine Angst, seinen Zorn, aber sie konnte ihm nicht helfen. Am liebsten hätte sie zu weinen angefangen, doch dann hätte sie den Schleier ja zurückschlagen müssen, und das ging doch nicht gut an. In den Romanen, die sie gelesen hatte, blieben die Damen bei so ernsten Ereignissen stets »tiefverschleiert«.

Nun kamen die Zeugen an die Reihe. Der alte Anton setzte alles so klar auseinander, daß Dr. Neumanns Hoffnung auf Begnadigung seines Klienten bis aufs letzte Körnchen verschwand. Dann wurde Kreuzberg hereingeführt.

»Haben Sie die Koffer mit dem gestohlenen Gut dem Berger persönlich übergeben?« fragte ihn der Richter.

»Dem Berger?« Kreuzberg schien sehr verwundert. »Ich hab nichts mit Herrn Berger zu tun gehabt.« Dabei warf er dem Angeklagten einen beruhigenden Blick zu, als wollte er sagen: laß mich nur machen, Alterchen! »Ich hab' die Koffer mit dem alten Nachtwächter Anton in die Wächterhütte im Nachbargarten geschleppt.«

»Mit wem?« fragte der Richter erstaunt, während Anton entsetzt stammelte:

»Aber ich – ich hab doch nur um der Gerechtigkeit willen – wie können Sie so was sagen –«

Kreuzberg aber bestand auf seiner Aussage und beschrieb sogar sehr umständlich den Pelz, den Anton angehabt habe, als er ihm bei dem Verstecken der Koffer geholfen. Anton leugnete. Berger aber schwieg und dachte sich: wenn sie den Anton verurteilen, so melde ich mich, – wenn sie ihn freilassen, schweige ich still. Dr. Neumanns Rede war unrettbar verloren und er begnügte sich, mit wenigen Worten um Freisprechung seines Klienten zu bitten. Und der Freispruch erfolgte: wegen mangelnder Beweise. Auch Anton wurde nicht weiter behelligt, denn die Behauptung des Diebes Kreuzberg erschien dem Richter doch nicht recht haltbar.

»Alterchen, Alterchen!« schluchzte Frau Berger auf, und auch in den Augen ihres Mannes zeigten sich jetzt die Tränen, auf die sein Verteidiger vorhin vergebens gewartet hatte. Nachdenklich schaute der Richter ihnen nach, als sie zur Tür hinausgingen. – – –

Was bleibt mir noch zu erzählen übrig? Der Leser kann es sich ja selbst sagen, daß bald nach diesem ereignisschweren Tage der Herr Dr. Neumann im Hause seines Klienten einen Besuch gemacht und um Fräulein Lottis Hand angehalten hat. Mein Freund Berger aber hatte seltsamer Weise gar nichts gegen den Freier einzuwenden, denn erstlich war er froh, daß es ihm gelungen war, sich aus den »Schlingen« des jungen Rechtsgelehrten zu befreien, und zweitens meinte er:

»Das ist gar kein rechter Advokat, Frau! Er redet ja vor Gericht so gut wie nichts, – daher kann er auch kein Unheil anrichten.« Frau Berger aber hütete sich wohlweislich, das Advokatentum ihres zukünftigen Schwiegersohnes in Schutz zu nehmen, und auch Lotti hielt es für das Beste, jede Widerrede zu vermeiden.

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