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II

Natürlich war es eine Kränkung für Esch, daß Frau Hentjen seinen Brief noch immer nicht beantwortet hatte, wo es doch im kaufmännischen Leben üblich ist, einen Brief in angemessener Frist zu erledigen, und gar ein Privatbrief zweifelsohne eine gewisse und nicht alltägliche Leistung darstellt. Immerhin ließ Mutter Hentjens Schweigen sich aus ihrem Charakter erklären. Bekanntlich brauchte bloß einer nach ihrer Hand zu greifen oder zu versuchen, sie an den rundlichen Körperstellen zu tätscheln, und allsogleich war jene starr angeekelte Miene da, mit der sie den Zudringlichen stumm in die Schranken wies; vielleicht mochte sie mit ähnlichen Gefühlen auch seinen Brief in die Hand genommen haben. Schließlich ist ein Brief etwas, das von des Schreibers Hand beschmiert worden ist, ungefähr wie schmutzige Wäsche, und eine solche Ansicht war Mutter Hentjen ohne weiteres zuzutrauen. Sie war eben anders als andere Frauen; sie war nicht so eine, die in sein unaufgeräumtes morgendliches Zimmer treten würde und sich nicht einmal stören läßt, wenn er vor der Waschschüssel steht: sie war keine Erna, sie hätte niemals verlangt, er möge an sie denken und ihr schöne gefühlvolle Briefe schreiben. Und sie war auch keine, die sich mit einem Korn eingelassen hätte, obwohl sie viel irdischer war als Ilona. Gewiß war auch Mutter Hentjen etwas Besseres, allein es dünkte ihn, als müßte sie im Irdischen künstlich das verteidigen, was Ilona von vornherein gegeben war. Und wenn sie sich vor seinem Brief ekeln würde, so wäre es bloß recht und billig; fast wünschte er, böse Worte von ihr zu hören: es schien, als wüßte sie, wie er es wieder getrieben hatte, und er spürte wieder jenen Blick, mit dem sie ihn stets gestraft hatte, wenn er sich mit Hede einließ; nicht einmal das hat sie dulden wollen und dabei gehörte das Mädel immerhin zu ihrem eigenen Geschäftsbetrieb.

Nun aber, da er nach Köln zurückkehrte und sein erster Weg Mutter Hentjen galt, wurde Esch weder mit der erhofften Vertraulichkeit, noch mit dem gefürchteten Ekel empfangen. Sie sagte bloß: »Da sind Sie ja wieder, Herr Esch, hoffentlich für längere Zeit«, und er kam sich vor wie einer, mit dem man nicht mehr rechnet, fühlte sich geradezu verdammt, für alle Ewigkeit in der Kornschen Menage fortzuvegetieren. Als Frau Hentjen später doch zu seinem Tische kam, kränkte sie ihn sogar noch tiefer, indem sie bloß nach Martin fragte: »Ja, das hat er nun davon, der Herr Geyring«, sie hätte ihn oft genug gewarnt. Esch gab einsilbige Antwort; was er wisse, habe er ohnehin schon geschrieben. »Richtig, für Ihren Brief muß ich Ihnen auch noch danken«, sagte Frau Hentjen, und das war alles. Trotz seiner Enttäuschung zog er nun ein Paket hervor: »Ich habe ein Andenken aus Mannheim mitgebracht«; es war eine bronzene Nachbildung des Schillerdenkmals vor dem Mannheimer Theater, und Esch deutete auf das Bord, von dem der Eiffelturm mit der schwarz-weiß-roten Fahne herunterschaute: es würde sich dort oben vielleicht ganz gut ausnehmen. Und wenn er auch das Ding sozusagen bloß ablieferte, Frau Hentjen bekundete eine überraschend ehrliche Freude, denn da war etwas, was sie ihren Freundinnen zeigen konnte: »Oh, nein, hier sieht es ja kein Mensch; das ist viel zu schön, das kommt hinauf in meine Stube …, doch daß Sie sich solche Auslagen für mich machen, Herr Esch, ist nicht recht von Ihnen.« Ihre Herzlichkeit gab ihm die gute Laune zurück und er begann von der Mannheimer Zeit zu erzählen, wobei er es nicht unterließ, Ansichten zu äußern, die zwar aus dem Mund des Idioten Lohberg stammten, von denen er aber annahm, daß sie Mutter Hentjen wohlgefällig sein mußten. Manchmal unterbrochen, wenn sie zum Büfett mußte, pries er die Schönheit der Natur und insbesondere des Rheins, wunderte sich, daß sie stets in Köln sitze, niemals dasjenige genieße, was so leicht erreichbar sei. »Gut für Liebespaare«, sagte Frau Hentjen verächtlich, und Esch meinte respektvoll, daß sie ebensowohl allein oder in Begleitung einer Freundin solchen Ausflug unternehmen könne. Das klang für Frau Hentjens Ohren überzeugend und beruhigend und sie sagte, daß sie es vielleicht einmal beherzigen werde. »Übrigens«, meinte sie wegwerfend, »den Rhein kenne ich noch von meiner Mädchenzeit her.« Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, als sie erstarrt ins Leere blickte. Esch war nicht verwundert, denn er kannte diese abrupten Verstimmungen an Mutter Hentjen. Allein diesmal hatte es einen besonderen Grund, und das konnte Esch natürlich nicht ahnen: es war zum ersten Male, daß Frau Hentjen etwas von ihrem eigenen Leben einem Gast gegenüber erwähnte, und sie war nun darüber so sehr erschrocken, daß sie zum Büfett flüchtete, um vor dem Spiegel an dem Zuckerhut auf ihrem Haupte herumzufingern. Sie zürnte Esch, weil er ihr Konfidenzen entlockt hatte, und sie kam nicht zu ihm zurück, obwohl das Schillerdenkmal sich noch auf seinem Tische befand. Am liebsten hätte sie ihm befohlen, daß er es wieder einstecken solle, um so mehr als ein paar Freunde sich zu Esch gesellten und mit männlichen Augen und männlichen Fingern das Geschenk abtasteten. Sie flüchtete weiter in die Küche, und Esch verstand, daß er irgendeinen unerklärlichen Verstoß begangen hatte. Als sie schließlich doch wieder im Lokal erschien, erhob er sich und brachte die Statuette zum Büfett. Sie rieb sie mit einem der Gläsertücher blank; Esch, der keinen rechten Abgang wußte und stehen geblieben war, erzählte, daß in dem Theater, welches man gegenüber dem Denkmal errichtet habe, die Première – das Wort war ihm durch den Verkehr mit Gernerth geläufig –, die Première von Schillers Stück stattgefunden hätte. Er besitze jetzt überhaupt mehrfache Beziehung zum Theater und wenn alles klappe, werde er ihr bald mit Billetten dienen können. So? er habe Beziehungen zum Theater? nun ja, einen wüsten Lebenswandel hätte er ja schon immer geführt. Für Mutter Hentjen waren Beziehungen zum Theater nur im Wege liederlicher Schauspielerinnen denkbar und sie erwiderte verächtlich und obenhin, daß sie das Theater nicht leiden mochte, weil darin nichts als Liebe vorkäme; das langweile sie. Esch wagte nicht, irgend etwas dagegen einzuwenden, aber während Frau Hentjen ihr Geschenk, es in Sicherheit zu bringen, in ihr Zimmer hinauftrug, knüpfte er ein Gespräch mit Hede an, die ihn kaum begrüßt hatte, offenbar beleidigt, weil es ihm nicht der Mühe wert gewesen war, auch ihr eine Karte zu schreiben. Hede schien überhaupt übellaunig und übellaunig erschien das ganze Lokal, in das der Musikautomat, von einem heitern Gast in Gang gesetzt, sich nun plärrend ergoß. Hede stürzte zu der Maschine, um sie abzustellen, da das Musizieren zu solch vorgerückter Stunde polizeilich verboten war, und die Männer lachten über den gelungenen Scherz. Durch das halbgeöffnete Fenster hauchte ein Streifen Nachtwind herein, und Esch, der einen Atemzug davon abbekam, schlüpfte in die milde Kühle hinaus, rasch ehe Hede sich ihm wieder zuwenden konnte, rasch, damit er Frau Hentjen nicht neuerlich begegne; sonst brachte sie's noch heraus, daß er die Stelle bei der Mittelrheinischen gekündigt hatte: Mutter Hentjen würde sich nicht aufschwatzen lassen, daß das Ringkampfgeschäft ein seriöses sei, würde an die sicheren künftigen Erfolge nicht glauben, sondern im Gegenteil, sie würde hämische Bemerkungen daran knüpfen, – vielleicht sogar mit Recht. Aber für heute hatte er genug, und so machte er sich davon.

In den schwarzen kellerigen Gassen stank es kühl, wie es im Sommer immer gestunken hatte. Esch war auf eine unerklärliche Weise zufrieden. Die Luft und die dunklen Mauern waren anheimelnd; man fühlte sich nicht einsam. Fast hätte er gewünscht, daß Nentwig ihm jetzt entgegenkäme. Gerne und gut hätte er ihn verdroschen. Und Esch freute sich, daß das Leben manchmal einfache Lösungen bot. Lotteriegewinne sind indessen rar, und daher mußte es eben doch bei den Ringkämpfen bleiben.

 

Der Theateragent Oppenheimer besaß weder ein Vorzimmer mit Polstermöbeln noch einen Diener mit Anmeldeblock. Das verstand sich von selbst. Aber der Mensch tauscht ungern das Gute gegen Schlechteres, und Esch hatte sich irgendwo die Hoffnung bewahrt, einen Betrieb vorzufinden, der immerhin dem der Mittelrheinischen ähneln würde, bloß ins Theatergeschäftliche übersetzt. Na, es war anders. Nachdem er eine schmale dunkle Treppe zum Halbstock emporgeklommen war, die Tafel von Oppenheimers Agentur gefunden und niemand ihm auf sein Klopfen Antwort gegeben hatte, mußte er unangemeldet eintreten. Er kam in eine Stube, in der ein eiserner Waschtisch mit schmutzigem Wasser stand; auf allerlei Regalen lag eine Menge Makulaturpapier umher. An der einen Wand hing der große Reklamekalender einer Versicherungsgesellschaft, an der anderen unter Glas und Rahmen eine Gabe der Hapag, das Schiff »Kaiserin Augusta Victoria« in bunten Farben, wie es umschwärmt von kleineren Fahrzeugen den Hafen verläßt und die schäumenden blauen Wogen der Nordsee durchschneidet.

Esch nahm sich nicht die Zeit, es eingehend zu betrachten, denn er war zu Geschäftszwecken da; und weil Zurückhaltung nicht zu seinen Gepflogenheiten gehörte, drang er, wenn auch ein wenig zögernd, in ein zweites Zimmer vor. Fand dort einen Schreibtisch, der zum Unterschied von all der übrigen Unordnung nichts als eine kahle Platte ohne eine Spur irgendwelcher Schreibutensilien aufwies, sondern bloß tintenfleckig war, das braune Holz voll alter grauer und neuer gelber Kerben und das grüne Tuch vielfach zerrissen. Es gab keine weitere Tür. Wohl aber auch hier manch bemerkenswerten Wandschmuck, mit Reißnägeln an die Tapete geheftet, eine Menge von Photographien, so daß Eschs Interesse sich an den Bildnissen all der Damen entzündete, die mit Trikots oder mit Paillettekleidern angetan, in Stellungen der Verführung und Anlockung sich befanden, und er suchte, ob Ilona darunter sei. Dann jedoch hielt er es für anständiger, sich zurückzuziehen und Auskunft nach dem Verbleib des Herrn Oppenheimer einzuholen. Da kein Hauswart zu ermitteln war, klingelte er an mehreren Türen und erhielt, selber verachtet, verachtungsvolle Auskunft, daß Oppenheimer höchst ungewisse Bürostunden einhalte. »Sie können ja warten, falls Sie nichts Besseres vorhaben«, sagte eine Frau.

Also, nun wußte er es. Schön war's nicht, wie einen die Leute da behandelten, und wenn solche Verachtung zu seinem neuen Beruf gehörte, war das wenig erfreulich. Doch daran ließ sich nichts ändern, er hatte es Ilona zuliebe auf sich genommen (und das ergab ein kleines Wollustgefühl in der Herzgegend), es war eben sein neuer Beruf, und so wartete Esch. Nette Bürogewohnheiten hat sich dieser Herr Oppenheimer zugelegt. Esch mußte lachen; nein, das war kein Geschäft, bei dem man Zeugnisse vorzuweisen hatte. Er stand vor dem Haustor, sah die Straße hinab, bis endlich ein verächtlich kleiner, blondhaarig rosiger Mann auf das Haus lossteuerte und die Stiege hinaufging. Esch folgte ihm. Es war Herr Oppenheimer. Als er ihn über den Zweck seines Besuches aufklärte, sagte Herr Oppenheimer: »Wegen der Damenringkämpfe? Werd' ich machen, werd' ich machen. Aber sagen Sie mir, was braucht der Gernerth Sie dazu?« Ja, was brauchte Gernerth ihn dazu? warum war er hier? wie war er überhaupt hierher gekommen? jetzt, da er die Stellung bei der Mittelrheinischen aufgegeben hatte, war es ja gar nicht mehr die Dienstreise, mit der er immer gerechnet hatte. Warum also war er eigentlich nach Köln gekommen? doch nicht etwa, weil Köln näher zum Meere lag?

Wenn ein braver Mann nach Amerika auswandert, dann stehen seine Verwandten und Freunde am Kai und winken dem Scheidenden mit ihren Taschentüchern. Die Schiffskapelle spielt »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«, und mag man dies angesichts der Regelmäßigkeit der Ausfahrten auch als eine gewisse Scheinheiligkeit von Seiten des Kapellmeisters betrachten, so greift es doch vielen ans Gemüt. Spannt sich dann das Seil zu dem kleinen Schlepper, schwimmt dann der Ozeanriese auf dem dunklen tragenden Spiegel, dann tönt über das Wasser spärlich und verloren noch immer das blecherne Zirpen lustigerer Weisen, mit denen der besorgte Kapellmeister die Scheidenden aufzuheitern sich bemüht. Dann wird manchem klar, wie schütter die Menschen über die Erd- und Wasseroberfläche verstreut sind und daß es zwischen ihnen nur ganz dünne Fäden gibt, die von dem einen zum andern hinüberreichen. Wenn der Ozeanriese aus dem Hafen gleitet, das Wasser unter ihm farbloser wird und die Strömung des Flusses nicht mehr erkennbar ist und es gar aussieht, als hätte die Strömung sich gedreht und das Meer ströme in den Hafen hinein, dann schwimmt der Ozeanriese oft in einer großen Wolke unsichtbarer, dennoch gespannter Angst, so daß viele ihn zurückhalten wollen. An den Schiffen vorbei, die längs der rauchigen verwahrlosten Ufer liegen und ihre Krane rasselnd drehen lassen, unbestimmte Dinge zu unbestimmten Zwecken ein- und ausladen, vorbei an den verwahrlosten Ufern, die flußabwärts mit staubigem Grün sich bedecken und in einer kargen Ländlichkeit endigen, vorbei schließlich an den Dünen, wo man den Leuchtturm schon sieht, wird der Ozeanriese gezogen, gefesselt an seinen kleinen Wächter wie ein Ausgestoßener, und auf den Schiffen und an den Ufern stehen Menschen, die zusehen, wie dies geschieht, die Hand heben, als wollten sie ihn zurückhalten, es aber doch bloß zu einem schwächlichen und steif unbeholfenen Winken bringen. Schwimmt er dann weit draußen, verschwunden fast sein Rumpf in der Linie des Horizontes, kaum mehr seine drei Schlote sichtbar, so fragt sich mancher, der von der Küste aufs Meer hinausschaut, ob das Schiff dem Hafen zustrebt oder in eine Einsamkeit hinausgeht, die der Mensch am Ufer nie erfassen kann. Stellt man dann fest, daß es den Kurs zur Küste hält, dann ist ein jeder beruhigt, als trage ihm jenes Schiff ein Liebstes zu oder wenigstens einen Brief, auf den er lange gewartet hat, ohne es zu wissen. Manchmal treffen sich dort draußen in dem lichten Nebel der Grenze zwei Schiffe und man sieht, wie sie aneinander vorübergleiten. Da ist ein Augenblick, in dem die beiden zarten Silhouetten ineinander verschwimmen und eins werden, ein Augenblick von zarter Erhabenheit, bis sie sich sanft wieder voneinander lösen, so still und sanft wie der ferne Nebel, in dem dies geschieht, und jedes für sich wieder seine Bahn allein weitergleitet. Süße, nie erfüllte Hoffnung.

Doch der, der draußen auf dem Schiffe ist, weiß nicht, daß wir um ihn gebangt haben. Er sieht kaum den schwimmenden welligen Streifen der Küste und nur wenn er wie von ungefähr den gelblichen Strich des Leuchtturmes errät, weiß er, daß hier am Land noch welche sind, die um ihn bangen und an seine Gefahr denken. Er versteht nicht die Gefahr, in der er sich doch befindet, ist sich nicht bewußt, daß ein hoher Wasserberg ihn von dem Meeresgrunde trennt, der Erde ist. Nur wer Ziele hat, fürchtet die Gefahr, denn er fürchtet um das Ziel. Er aber geht über die glatten Schiffsplanken, die wie eine Radrennbahn im Kreise um das Deck herumführen und die ebener sind als alle Wege, die er bisher gegangen ist. Wer auf dem Meere ist, hat kein Ziel und vermag nicht sich zu vollenden; er ist abgeschlossen in sich. Was in ihm möglich ist, ruht. Wer ihn liebt, kann es bloß tun für das, was er verspricht, für das, was in ihm liegt, nicht für das, was er erreichen wird oder erreicht hat; er wird es nie erreichen. Darum weiß der Mensch auf dem Lande nicht, was Liebe ist und hält seine Angst für Liebe. Der Seereisende aber erkennt dies bald und die Fäden, die sich von ihm zu denen am Ufer hinübergespannt hatten, reißen ab, noch ehe die Küste versinkt. Fast ist es überflüssig, daß der Kapellmeister ihn durch seine Weisen aufheitere, denn dem Seereisenden genügt es, die Hand über die glatten braunpolierten Hölzer und die glänzenden Messingbeschläge gleiten zu lassen. Die blinkende See spannt sich vor ihm; er ist zufrieden. Mächtige Maschinen treiben ihn und ihr Dröhnen weist den Weg, der nirgendshin führt. Der Blick des Seereisenden ist anders geworden, es ist ein verwaister Blick, der uns nicht mehr kennt. Was einst Aufgabe war, der Seereisende hat es vergessen, er glaubt nicht mehr an die Richtigkeit der Addition von Kolonnen, und wenn ihn sein Weg bei der Kabine des Telegraphisten vorbeiführt und er hört das Ticken der Apparate, so bewundert er wohl die Mechanik, aber er kann nicht begreifen, daß jener damit Botschaft vom Lande empfängt, Botschaft zum Lande sendet, und wäre der Seereisende nicht ein nüchterner Mensch, er meinte, daß jener mit dem Weltall spreche. Er liebt die Walfische und die Delphine, die das Schiff umspielen, und er fürchtet nicht die Eisberge. Aber taucht eine ferne Küste auf, so will er sie nicht sehen und er verkriecht sich vielleicht im Bauche des Schiffes, bis jene wieder entschwunden ist, weiß er doch, daß ihn dort nicht Liebe erwartet, nicht Gelöstheit und Freiheit, sondern gespannte Angst und die Mauer des Zieles. Wer aber Liebe sucht, sucht das Meer: er spricht vielleicht noch von dem Lande, das jenseits des Meeres liegt, aber er meint es nicht, denn unermeßlich denkt er die Fahrt, Hoffnung der einsamen Seele, sich zu öffnen und aufzunehmen die andere, die im lichten Nebel auftaucht und einströmt in ihn, den Losgelösten, ihn erkennend als das Seiende, Ungeborene und Unsterbliche, das er ist.

So dachte Esch sicherlich nicht, wenn er auch von dem Gedanken besessen blieb, nach Amerika auszuwandern und die Buchhalter der Mittelrheinischen auf das Schiff mitzunehmen. Doch wenn er in das Büro des Herrn Oppenheimer kam, so betrachtete er lange und eindringlich die »Kaiserin Augusta Victoria«, wie sie die Wellen durchschneidet.

 

Er hatte sein altes Leben wieder aufgenommen, bewohnte sein früheres Zimmer und war oft Mittagsgast bei Mutter Hentjen. Sein Fahrrad benützte er eifrig, nur führte ihn sein täglicher Weg nicht mehr zu Stemberg & Co., sondern zu Herrn Oppenheimer. Frau Hentjen hatte die Änderung seiner Tätigkeit mit einem Blick betrachtet, in dem trotz aller Gleichgültigkeit so etwas wie Verachtung, Unzufriedenheit, vielleicht gar ein wenig Besorgnis lag, und obwohl Esch ihrer Besorgnis recht geben mußte oder eben deshalb, bemühte er sich, ihr die Vorzüge und Aussichten des neuen Berufes in ein helles Licht zu rücken. Es gelang ihm teilweise. Wenn sie auch nur mit halbem Ohre der kühnen Erzählung von dem großen Leben zuhörte, an dessen Schwelle er jetzt stand und das sich nicht nur über Amerika, sondern über alle Weltteile ausdehnen sollte, so erweckte diese Mischung von glanzvollem Reichtum, Künstlerschaft und Reisefreude, die er vor ihr ausbreitete, dieses Ziel, das nicht sie, sondern der andere erreichen sollte, solche Größe erweckte den Neid der Frau, die seit fünfzehn Jahren das Los ihrer schmutzigen Enge haßte. Man könnte sagen, daß sie von einer Art hämischer Bewunderung erfüllt war, denn während sie ihm einerseits die Hohlheit und die Unerreichbarkeit seiner Ziele vor Augen hielt, überbot sie auf der andern Seite seine Phantasie mit der ihren, gab ihm hochmütige Ratschläge und hielt ihm vor, daß er sich zum Herrn, oder wie er sagte, zum Präsidenten über das Heer der Künstler, Artisten und Direktoren aufschwingen könnte. »Erst muß der Bande einmal straffe Ordnung und Zucht beigebracht werden«, pflegte er dann zu erwidern, »daran fehlt es vor allem.« Ja, davon war er durchdrungen, und diese tiefe Verachtung alles Künstlertums begründete sich nicht nur am Anblick des fettigen Notizbuches Gernerths und des anarchischen Büros Oppenheimers, sondern sie deckte sich auch so sehr mit der Meinung Mutter Hentjens, daß in einem solchen Augenblick bewundernden Einverständnisses – oft mündet das Weltumspannende im Häuslichen – Frau Hentjen sein Anerbieten genehmigte, ihre Rechnungen und Aufzeichnungen seiner buchhalterischen Überprüfung anzuvertrauen; sie genehmigte es mit herablassendem Lächeln voll Überzeugtheit, daß ihr einfaches Kassabuch ohnehin in besonders sinnreicher und vorbildlicher Weise geführt sei. Doch kaum hatte sich Esch über die Kolonnen gebeugt, als Mutter Hentjen ihn anschrie, er brauche durchaus kein schnödes Gesicht ziehen, so ein bißchen Buchhalterei imponiere ihr noch lange nicht, er möge sich lieber um das Theatergeschäft kümmern, das solche Kontrolle nötiger habe als das ihre. Und sie entriß ihm die Bücher.

Ja, das Theatergeschäft! In der Beiläufigkeit dieses Betriebes hatte sich Oppenheimer daran gewöhnt, Zufälle ohne viel Nachdenken hinzunehmen, und durch die Beharrlichkeit Eschs in eine Art Wehrlosigkeit versetzt, lachte er darüber, daß jeden Morgen ein Mann auf einem Rade angefahren kam, welcher sich fast wie ein Kompagnon gebärdete; aber er nahm es gerne hin, seitdem er erfahren hatte, daß Esch Geld in die Ringkampfsache bringe, und er steckte auch die Grobheiten ein, mit denen Esch alltäglich die Unordnung im Geschäfte bemängelte. Gemeinsam hatten sie mit dem Besitzer des Alhambratheaters über die Pachtung für Juni und Juli verhandelt, und da für Eschs Arbeitseifer ein Feld geschaffen werden mußte, wurde er beauftragt, die Anwerbung der Ringerinnen vorzubereiten.

Esch, wohlbewandert in Kneipen, Bordellen und Mädchen, war hiezu wie geschaffen. Er durchzog die Lokale und fand er geeignete Mädchen, die sich dem sportlichen Zwecke dienstbar machen wollten, so schrieb er deren Namen und Personalien in ein Notizbuch ein, das er eigens angelegt hatte, wobei er es nicht unterließ, in eine ausgesparte Spalte, die die säuberliche Bezeichnung »Bemerkung« trug, zu jedem Namen seine Meinung über die Aufnahmewürdigkeit der Bewerberin nach Art einer Klassifikation einzutragen. Insbesondere bevorzugte er Mädchen fremdklingenden Namens und fremden Volksstammes, da es ja eine internationale Konkurrenz werden sollte, und bloß die Ungarinnen nahm er aus. Manchmal war es eine ganz lustige Beschäftigung, die Muskeln der Mädchen zu prüfen, und manchmal verführten ihn auch die kräftigen Reize. Dessenungeachtet freute ihn diese Tätigkeit nicht, und wenn er zu Mutter Hentjen bloß in beiläufiger und wegwerfender Weise davon sprach, sprach er wahr: er konnte eine solche Beschäftigung nicht mehr als seiner würdig betrachten, und er zog es vor, an dem nackten Schreibtisch Oppenheimers zu sitzen oder sich um die Alhambra zu kümmern.

Oft ging er dort durch den leeren grauen Saal, in dem die Schritte auf dem Bretterboden hallten, stieg über die wippenden Bohlen, die man über die Orchestervertiefung gelegt hatte, hinauf zur Bühne, deren graue kahle zyklopische Mauern fast zu wuchtig waren für den leichten Tapetenstand der Kulissen, die sie bald bergen würden. Durchmaß er die Bühne mit großen Schritten, so war es wie ein Triumph, daß hier keine Messer mehr geworfen werden durften, und er schaute in die Direktionskanzlei, erwägend, ob er sich nicht jetzt schon daselbst installieren sollte. Dachte auch daran, daß er Frau Hentjen sein neues Reich einmal zeigen müsse. Die Luft war befremdend grau und kühl, während draußen der Restaurationsgarten in heller, heißer Sonne glühte, und dieses in sich beschlossene Reich von verstaubter Fremdheit war wie eine abgeschlossene Insel der Unbekanntheit innerhalb einer Welt des Bekannten, war Versprechen und Hinweis auf das, was hinter dem großen grauen Meer fremd und verheißungsvoll lag. Auch abends fuhr er manchmal zur Alhambra hinaus. Dann war der Restaurationsgarten erleuchtet und eine Kapelle spielte auf dem Holzpodium unter den Bäumen. Das Theater lag dunkel und fast unbemerkt hinter den Lichtern, angefüllt bis zum Dachboden mit Finsternis, und niemand mochte sich dann seine Geräumigkeit und seine Einrichtung vorstellen. Esch kam gerne zu solcher Stunde, weil es ihm angenehm war zu denken, daß es ihm und keinem andern vorbehalten war, das Leben in dem dunklen Hause wieder zu erwecken.

 

Als Esch die Alhambra an einem der nächsten Vormittage wieder besuchte, fand er den Besitzer bei einer Kartenpartie am Schanktisch. Er setzte sich dazu und sie spielten bis in den späten Nachmittag hinein. Abends fühlte Esch sein Gesicht ausgeleert hölzern, und er war sich darüber klar, daß dieses Leben das gleiche war wie das in den Mannheimer Magazinen zur Streikzeit. Es fehlte bloß noch, daß Korn daherkäme und mit Ilonas Liebe prahlte. Welchen Sinn hatte also seine Kündigung bei der Mittelrheinischen gehabt? Er saß in geschäftiger Müßigkeit hier, verfraß sein Geld, und nicht einmal Martin hatte er gerächt. Wenn er in Mannheim geblieben wäre, er hätte ihn wenigstens im Gefängnis besuchen können.

Beim Abendessen klagte er sich an, daß er Martin so schmählich verlassen habe, doch als Frau Hentjen antwortete, jeder sei seines Glückes Schmied und Herr Geyring, der von ihr genügend gewarnt worden wäre, könne nicht verlangen, daß ein Freund seinethalben in Mannheim bleibe und auf eine glänzende Laufbahn verzichte, erboste er sich gegen sie und fuhr sie dermaßen hart an, daß sie hinter das Büfett flüchtete und sich an ihrem Haar zu schaffen machte. Er zahlte sofort und verließ das Lokal, wütend, daß sie solchen Müßiggang als glänzende Laufbahn lobte. Indes gestand er sich solchen Anlaß seines Zornes nicht ein, sondern warf ihr bloß ihre kalte Herzlosigkeit gegen Martin vor, und er grübelte die ganze Nacht über Maßnahmen, die Martin nützlich sein könnten.

Frühmorgens schon begab er sich zu Oppenheimer. Er hatte sich mit Schreibmaterial versorgt und verbrachte nun den ganzen Vormittag mit der Verfertigung eines bissigen Berichtes, in welchem er klarlegte, daß der verdiente Sekretär Geyring einer teuflisch-demagogischen Intrige der Mittelrheinischen Reederei und der Mannheimer Polizei zum Opfer gefallen sei. Diesen Artikel trug er schnurstracks in die Redaktion der sozialdemokratischen »Volkswacht«.

Das Haus, in dem die »Volkswacht« ihren Sitz hatte, war kein Zeitungspalast. Von Marmorvestibülen und Schmiedetoren keine Spur. Überhaupt erinnerte gar manches an Oppenheimers Büro, nur daß es hier emsiger zuging; aber sonntags, wenn der Zeitungsbetrieb feierte, mußte es genauso aussehen wie bei Oppenheimer. Das schwarze Eisengeländer der Treppe fühlte sich klebrig an, die abgeblätterte, abgeschabte Mauer zeigte die Spuren öfters erneuter Malerarbeit, und von einem Fenster aus konnte man in einen schmalen Hof schauen, in dem ein Wagen mit Papierballen stand. Druckmaschinen arbeiteten irgendwo mit asthmatischen Atemstößen. Durch eine ehemals weiße Tür, die hart klapperte, weil ihr Schloß nicht zusprang, gelangte man in die Redaktion. Statt des Versicherungskalenders hing dort ein Fahrplan, statt der Bilder der Tänzerinnen eine Photographie von Karl Marx. Nichts war anders, und daß er hergekommen war, wurde mit einem Male so völlig überflüssig, daß sogar der Artikel, der doch kräftig und drohend geklungen hatte, plötzlich matt und überflüssig erschien. Es ist überall das gleiche Pack, dachte Esch voll Zorn, Demagogenpack, das überall in der gleichen Unordnung lebt. Nein, es hatte keinen Zweck, denen oder jenen eine Waffe in die Hand zu drücken; sie wird schlaff in ihren Händen, denn keiner weiß, was hüben, was drüben ist.

Er wurde in ein zweites Zimmer gewiesen. Hinter einem Tische, der vielleicht einmal mit Tuch bespannt gewesen sein mochte, saß ein Mann in braunem Samtrock. Esch gab ihm das Manuskript. Der Redakteur überflog es eilig, faltete es und legte es in einen Korb neben sich. »Sie haben es ja nicht gelesen«, sagte Esch scharf. »Doch, doch, ich bin im Bilde, … der Mannheimer Streik; werden sehen, ob wir es verwerten können.« Esch war erstaunt, daß jener auf den Inhalt nicht neugierig war und sich so stellte, als kenne er ihn bereits. »Bitte, es sind Tatsachen, die ein ganz neues Licht auf den Streik werfen«, beharrte er. Der Redakteur griff nochmals nach dem Manuskript, um es aber gleich wieder hinzulegen. »Was für Tatsachen? Ich finde nichts Neues darin.« Esch hatte das Gefühl, jener wolle mit Allwissenheit prahlen. »Ich war doch Augenzeuge; ich war bei der Versammlung!« – »Nun? unsere Vertrauensleute waren ja auch dort.« – »Haben Sie es also schon veröffentlicht?« – »Meines Wissens ist dort nichts Besonderes vorgefallen.« Esch war so erstaunt, daß er sich einfach niedersetzte, obwohl ihn der andere gar nicht aufgefordert hatte. »Lieber Herr und Genosse«, fuhr der Redakteur fort, »wir können schließlich nicht warten, bis es Ihnen beliebt, uns einen Bericht zu bringen.« – »Ja, aber«, Esch verstand durchaus nicht, »aber warum haben Sie dann nichts getan, warum lassen Sie Martin«, er verbesserte sich, »warum lassen Sie Geyring unschuldig im Gefängnis?« – »Ach so … alle Achtung vor Ihrem Rechtsbewußtsein«, der Redakteur sah das Manuskript an, das mit Eschs Namen geziert war, »Herr Esch, … Sie meinen also, daß wir Geyring damit freibekommen könnten?« Er lachte. Esch ließ sich durch diese Heiterkeit nicht beirren: »Die anderen gehören ins Loch, … das ist mehr als klar für jeden, der dabei war!« – »Sie meinen also, daß wir das Direktorium der Mittelrheinischen an Stelle Geyrings einsperren lassen sollen?« Dreckiges Lachen, dachte Esch und schwieg. Den Bertrand einsperren? Also auch den Bertrand, nicht nur den Nentwig! Aber schließlich und bei Lichte besehen ist der Unterschied zwischen einem Präsidenten und einem Nentwig gar nicht so gewaltig. Allerdings der in Mannheim, der war was Besseres, für so einen genügte das Einsperren nicht. Versonnen sagte er: »Den Bertrand einsperren.« Der Redakteur lachte noch immer. »Das würde uns noch fehlen.« – »Warum?« fragte Esch gereizt. »Ein netter, freundlicher, umgänglicher Herr ist er«, versetzte entgegenkommend der Redakteur, »ein ausgezeichneter Geschäftsmann, mit dem sich immerhin leben läßt.« – »So, mit so einem, der es mit der Polizei hält, mögen Sie leben?« – »Du lieber Himmel, daß die Unternehmer mit der Polizei arbeiten, ist doch selbstverständlich; wenn wir oben sein werden, werden wir es auch nicht anders machen …« – »Feine Gerechtigkeit«, empörte sich Esch. Der Redakteur hob in heiterer Resignation die Hände: »Was wollen Sie, das ist eben die kapitalistische Rechtsordnung. Vorderhand muß uns ein Aufsichtsrat, der dafür sorgt, daß sein Unternehmen in Gang bleibt, lieber sein als einer, der es zugrunde richtet. Wenn's nach Ihnen ginge, und alle Fabrikchefs, die gegen uns sind, wären eingesperrt, so gäbe das höchstens eine Industriekrise, und für die würden wir uns bedanken, nicht?« Esch wiederholte bockbeinig wütend: »Trotzdem gehört er eingesperrt.« Die Heiterkeit des Redakteurs wurde wieder aufreizend: »Ach, jetzt verstehen wir uns, Sie meinen, weil er ein warmer Bruder ist …« – Esch horchte auf, der Redakteur wurde immer vergnügter, »... das also stört Sie? Na, über diesen Punkt kann ich Sie beruhigen: er macht es in Italien unten ab. Und überhaupt sperrt man einen solchen Herrn nicht so leicht ein wie einen Sozialdemokraten.« Das war es also: Polstermöbel, Silberdiener, Equipagen und ein warmer Bruder, und der Nentwig rennt frei herum! Esch starrte dem Redakteur ins heitere Antlitz: »Martin aber sitzt!« Der Redakteur hatte den Bleistift hingelegt, öffnete ein wenig die Arme: »Lieber Freund und Genosse, daran werden wir beide nichts ändern. Der Streik in Mannheim war urdumm, da blieb eben nichts anderes übrig als die Geschichte ablaufen zu lassen und die Schlappe einzustecken; so können wir jetzt nur froh sein, daß die drei Monate Geyrings uns Agitationsmaterial abgeben. Also schönen Dank für Ihren Artikel, lieber Freund und Genosse, und wenn Sie wieder mal was haben, so bringen Sie's uns rascher als diesmal.« Er gab Esch die Hand, und Esch vollführte trotz seiner Wut eine ungelenke Verbeugung.

 

Man näherte sich dem Juni. Esch machte für Oppenheimer die Wege zur Druckerei und zum Plakatinstitut; es war alles vorbereitet, wirksame Ankündigungen an den Säulen und Planken belehrten die Stadt, daß die stärksten Frauen der verschiedenen Nationen hier zusammentreffen würden, um ihre Kräfte zu messen, und wer daran zweifelte, konnte an der Liste der Namen die Wahrheit der Behauptung ersehen: da war Tatjana Leonoff, die russische Meisterin, Maud Ferguson, Siegerin des Championats von New York, Mirzl Oberleitner, Verteidigerin des Wiener Pokals, nicht zu vergessen die deutsche Meisterin Irmentraud Kroff. Die Namen waren zum großen Teil Gebilde von Oppenheimers Phantasie, dem die natürlichen Namen meistens von zu schwächlicher Charakteristik schienen. Esch hatte vergeblich gegen diesen Schwindel opponiert; also dafür sollte er sich geplagt haben, wirklich internationale Mädchen aufzutreiben, damit so ein Jude mit den Namen herumschmeißt. Er nahm es als neuerliches Zeichen für den anarchischen Zustand der Welt, in der keiner weiß, ob er rechts oder links, ob er hüben oder drüben steht, und in der es schließlich gleichgültig ist, ob Herr Oppenheimer einem den oder jenen Namen zulegt; man mußte froh sein, solange der Oppenheimer nicht auch noch einen ungarischen erfand. Weiß Gott, dieses Ungarn brauchte überhaupt nicht zu existieren. Und daß Italien von Oppenheimer in die Kämpferreihe eingestellt worden war, erschien ihm gleichfalls unpassend. War man sicher, ob es da drunten überhaupt Frauen gab? Lauter warme Brüder laufen dort herum. Dennoch sah er das Plakat mit den internationalen Namen nicht ungern: Land reihte sich an Land und die weite Welt war ihm hier gleichsam sein eigenes Werk, wurde ihm zur Zuversicht und zum Versprechen für den künftigen Weg. Er brachte das Plakat in Mutter Hentjens Wirtschaft, und ohne viel zu fragen, befestigte er es an der Holzwand unter dem Eiffelturm.

Frau Hentjen aber trug es ihm noch immer nach, daß er sie Geyrings wegen damals angefahren hatte, und sie rief vom Büfett herüber, daß er seine Plakate gefälligst dort ankleben wolle, wo es ihm gestattet sei; hier hätte sie zu entscheiden. Esch, der an den Vorfall längst nicht mehr dachte und erst durch ihr böses Gesicht stets aufs neue daran gemahnt wurde, tat, als wollte er ihrem Befehl gehorchen. Solche Nachgiebigkeit entwaffnete Mutter Hentjen; sie kam, immer noch scheltend, hinter dem Büfett hervor, um sich das Plakat anzuschauen. Als sie die Reihe der Frauennamen entzifferte, war sie von Mitleid und Ekel erfüllt: sie gönnte diesen Frauenzimmern die Erniedrigung, sich unter den Blicken der widerlichen Männer herumbalgen zu müssen, und sie bemitleidete sie zugleich. Esch, der dies alles zustande gebracht hatte, erschien ihr wie ein Pascha inmitten einer Frauenherde, und dies dünkte sie nun von einer besonderen Schlechtigkeit zu sein, von einer Verworfenheit, die so groß war, daß Esch damit auf einer anderen, ja fast höheren Ebene stand als all die übrigen Männer, die da herumsaßen mit ihren kleinen verächtlichen Begierden und Schlechtigkeiten. Seine kurzen steifen Haare, dieser dunkle Kopf, die gelblich-rötliche Haut, huch, das machte ihr Angst, nein, sie verstand nicht, wie sie den Menschen mitsamt seinen Plakaten hier noch dulden konnte, und sie erschrak, wie er sie jetzt beim Handgelenk packte: sah es nicht so aus, als wolle er sich nun auch noch an ihr vergreifen, sie wehrlos machen, um sie all den Frauennamen auf dem Plakate anzureihen? Fast war sie enttäuscht, daß nichts dergleichen erfolgte und Esch bloß ihren gehorsam ausgestreckten Finger von Namen zu Namen führte: »Rußland, Deutschland, Vereinigte Staaten von Nordamerika, Belgien, Italien, Österreich, Böhmen«, las er dabei vor, und weil es großzügig und gefahrlos klang, beruhigte sich Frau Hentjen. Sie sagte: »Da fehlt aber noch manches, zum Beispiel die Schweiz und Luxemburg.« Dann allerdings wandte sie sich von dem Plakat mit den Frauennamen ab, als ströme es schlechten Geruch aus: »Daß Sie sich aber mit diesen Weibern abgeben mögen!« Esch erwiderte mit Martins Worten, daß jeder Mensch dort stehe, wo Gott ihn hingestellt habe, und daß übrigens der Verkehr mit den Ringerinnen nicht seine, sondern Teltschers Aufgabe sein werde; er kümmere sich bloß um das Administrative.

Teltscher kam nach Köln und ließ die von Esch ausgewählten Damen in Oppenheimers Büro antreten. Er amtierte den ganzen Vormittag, schied viele von ihnen von vorneherein aus und bestellte die übrigen in die Alhambra, um ihnen eine erste Lektion zu erteilen und sie auf ihre Eignung zu den Vorführungen zu prüfen.

Es wurde eine fröhliche Angelegenheit: Teltscher hatte die Trikots gleich mitgebracht, und nachdem Esch an Hand seiner Notizen die Anwesenden festgestellt hatte, lud Herr Teltini die Damen ein, die Garderoben zu betreten und die Trikots anzulegen. Die meisten weigerten sich, dies zu tun, wollten erst einmal die anderen in dem ungewohnten Kostüm sehen. Aber als die nun nackt und höchlich geniert aus der Garderobe kamen, mußten sie alle lachen. Die Türen, die in den Restaurationsgarten hinausführten, waren weit geöffnet; das Grün der Bäume blickte lustig herein und wenn ein Windstoß kam, spürte man im Saale die warme Morgensonne. An den Türen, da stand der Besitzer des Hauses, standen die Köchinnen aus dem Restaurant, und Teltscher kletterte auf die Bühne, um die Regeln des griechisch-römischen Ringkampfes auf der weichen braunen Matte, die dort aufgespannt war, zu demonstrieren. Dann forderte er ein Paar zum Versuche auf, und keines der Mädchen wollte; sie stießen sich kichernd an, schoben die eine, schoben die andere vor, die sich sträubte und in das Rudel zurückdrängte. Endlich entschlossen sich zwei von ihnen; doch als Teltscher ihnen die ersten Griffe zu zeigen sich anschickte, da lachten sie bloß und ließen die Arme hängen und getrauten sich nicht, einander anzufassen. Teltscher forderte eine andere Dame auf, allein da sich das Spiel wiederholte, ließ er die Namen nochmals von Esch verlesen und trachtete mittels scherzhafter Bemerkungen eine kühne und verwegene Stimmung zu erzeugen. Gab es einen französischen Namen, so pries er die gallische Kühnheit und bat »Frankreichs Stolz« auf die Bühne, nicht minder die »Polnische Gigantin«, kurzum, er zeigte bereits, mit welch ehrenden und anfeuernden Worten er die Damen dem Publikum vorstellen würde. Manche kamen nun auf die Bühne, während andere kreischend zurückriefen, daß es trotz allem nichts für sie sei und daß sie sich wieder zu bekleiden wünschten, was Teltscher mit Ausdrücken des Bedauerns und mit einer komischen Verzweiflung quittierte. Freilich ging es nicht ohne Verstimmungen ab: als Esch den Namen Ruzena Hruska ausrief und Teltscher antwortete: »Herauf mit dir, o böhmische Löwin«, da drängte sich eine dicke weiche Frau, die noch nicht ausgekleidet war, zur Rampe vor, und mit dem harten singenden Tonfall ihres Volkes schrie sie, daß man über sie sich nicht wird lustig machen für lumpiges Geld: »Ich hab' ich schon mehr Geld wegschmissen, weil ich mich nicht laß' von Lumpen lustig machen«, schrie sie Teltscher an, und während der nach einem Witzwort suchte, um die Situation zu überbrücken, hob sie ihren Sonnenschirm, als wollte sie ihn hinaufschleudern. Doch dann verstummte sie; ihre runden weichen Schultern begannen zu zucken und man sah, daß sie weinte. Als sie sich umwandte und durch die schweigende Gasse der verschreckten Mädchen schritt, fiel ihr Blick auf Esch, der mit seinen Listen an einem Tische saß; sie beugte sich zu ihm und zischte ihn an: »Sie, Sie sinds schlechter Freund, habens mich herbracht zu Schande.« Dann ging sie weinend hinaus. Indes war Teltscher bald wieder Herr der Situation und der Zwischenfall hatte auch sein Gutes: die Mädchen, als schämten sie sich ihrer früheren Ausgelassenheit, waren nun zu ernsthafter Arbeit bereit; Teltscher belobte sie munter, und bald hatten sie alle die wilde Tschechin vergessen. Sogar Esch dachte nicht mehr an ihre Vorwürfe, wenngleich er zugeben mußte, daß er ein schlechter Freund war, aber getrost, er würde die Kerle schon noch dazu bringen, Martin freizugeben. Unter solchen Gedanken ging er heim.

Frau Hentjen schneuzte behutsam ihre Nase und betrachtete das Resultat in ihrem Taschentuch. Er hatte ihr den Vorfall mit der wilden Tschechin erzählt, vielleicht aus Schuldbewußtsein, und Frau Hentjen war über ihn hergefallen und hatte gesagt, daß es ihm zu gönnen gewesen wäre, wenn dieses bedauernswerte Weib ihm die Augen ausgekratzt hätte. Das käme davon, wenn man sich mit solchen Weibern herumsühle. Ob er denn gar nichts auf sich halte. Eine Person, die froh sein müßte, daß er ihr Gelegenheit zum Gelderwerb gegeben habe. Ja, das sei der Dank. Aber diese Tschechin habe ganz recht, so müsse man die Männer behandeln; sie verdienten es nicht besser. Sich zu freuen, weil ein paar arme Frauenzimmer im Trikot sich auf der Bühne herumbalgten! Zehnmal besser seien die noch als diese Männer, von denen sie sich alles gefallen lassen. Und bissig sagte sie: »Legen Sie doch endlich Ihre Zigarre weg.« Esch ließ es hochachtungsvoll über sich ergehen, nicht nur, weil sie ihm für ein lächerliches Entgelt einen überaus reichlichen Mittagstisch verabreichte, sondern auch weil er ihr das Recht einräumte, seinen sündhaften Lebenswandel in jenes Licht zu setzen, das er verdiente. Er war in einer üblen Lage; von seinen dreihundert Mark, die für das Ringkampfunternehmen bestimmt gewesen waren, besaß er nurmehr knappe zweihundertfünfzig, und obwohl er vom ersten Tagesgewinn sofort seinen Anteil erhalten sollte, so wußte er doch nicht, wohin er steuerte. Er brauchte eine Erwerbsbeschäftigung, wenn jenes Opfer, von dem er eigentlich kaum mehr wußte, daß er es für Ilona auf sich genommen hatte, nicht in eine Katastrophe ausarten sollte; gerne hätte er davon gesprochen, allein seine Eitelkeit verbot es ihm, denn Mutter Hentjen war nicht in der Stimmung, einsehen zu können, daß auch die glanzvollste Karriere aus kümmerlichen Anfängen sich entwickeln mußte. So sagte er bloß: »Besser Ringkämpfe als Messerwerfen.« Frau Hentjen betrachtete das Messer in Eschs Faust; was er gesagt hatte, verstand sie zwar nicht, aber es war ihr unangenehm. Darum antwortete sie einfach: »Vielleicht.« – »Gutes Fleisch«, sagte Esch über den Teller gebeugt und sie erwiderte mit der Würde des Fachmannes: »Lendenstück.« – »Der Fraß, den sie dem armen Martin jetzt geben …« Frau Hentjen sagte: »Fleisch bloß am Sonntag …« und sie setzte mit einer kleinen Freude hinzu: »sonst hauptsächlich Rüben, ja.« Für wen mußte Martin Rüben fressen? für wen opferte sich der? wußte es Martin selber? Martin war ein Märtyrer und betrachtete dieses Märtyrertum doch bloß wie einen teils fröhlichen, teils ärgerlichen Beruf; trotzdem war er ein anständiger Kerl. Frau Hentjen sagte: »Wer nicht hören will, muß fühlen.« Esch antwortete nicht. Vielleicht hielt Martin etwas geheim, was niemand außer ihm wußte; ein Märtyrer hat immer für irgendeine Überzeugung zu leiden, für ein Wissen, das er besitzt und das ihm sein Handeln vorschreibt. Märtyrer sind anständig. Frau Hentjen erklärte: »Das kommt von den Anarchistenzeitungen.« Esch stimmte zu: »Ja, das ist eine Saubande, jetzt lassen sie ihn im Stich.« Freilich, über die sozialistischen Zeitungen hatte selbst Martin sich lustig gemacht, obzwar man meinen sollte, daß es eben denen obliege, die sozialistische Überzeugung zu vertreten und voranzutragen. Hat also Martin eine sozialistische Überzeugung oder hat er keine? Esch ärgerte sich, daß Martin ihm etwas vorenthielt. Wer die Wahrheit besitzt, vermag die anderen zu erlösen; so haben es auch die Christenmärtyrer geübt. Und weil er auf seine Bildung stolz war, sagte er: »Zur Römerzeit hat es ebenfalls Ringkämpfe gegeben, aber mit Löwen. Da ist Blut geflossen. In Trier droben ist so ein Zirkus.« Frau Hentjen sagte gespannt: »Und?« Da aber keine Antwort kam, fuhr sie fort: »Das wollen Sie wahrscheinlich auch noch einführen, was?« Esch schüttelte schweigend den Kopf. Wenn Martin ohne Überzeugung und ohne besseres Wissen und niemandem zu Danke sich opferte und Rüben fraß, so tat er es wohl um des bloßen Opfers willen. Vielleicht mußte man sich erst opfern, damit – wie sagte doch dieser Idiot in Mannheim? – damit man die Gnade der Erlösung erfahren könne. Aber dann brauchte vielleicht Ilona auch die Messer um des puren Opfers willen; wer mochte sich da auskennen, und so sagte Esch: »Ich will überhaupt nichts. Vielleicht sind diese ganzen Ringkämpfe ein Blödsinn.« Ja, sagte Mutter Hentjen, das seien sie. Und da hatte er vor Mutter Hentjen wieder jene respektvolle Hochachtung, in der man sich geborgen fühlt.

Es roch nach Speisen und Tabakrauch, dazwischen süßlich nach Wein. Mutter Hentjen hatte recht; die Weiber wollten's nicht anders. Deswegen hatte Ilona sich den Korn genommen. Und besitzt der hinterlistige Krüppel wirklich ein besseres Wissen, so gibt er nichts davon her, läßt keinen daran teilhaben. Rennt fröhlich daher wie ein Hund auf drei Beinen, flitzt um die Ecken und ins Gefängnis, und das Gefängnis kann ihm ebensowenig anhaben wie dem Hund die Prügel. »Vielleicht macht es ihnen sogar Spaß, geprügelt zu werden, sich aufzuopfern …« sagte er sinnend. »Wem?« fragte Mutter Hentjen interessiert, »wem, den Weibern?« Esch dachte nach. »Ja, ihnen allen …« Mutter Hentjen war befriedigt: »Soll ich Ihnen noch ein Stück Fleisch bringen?« Sie ging in die Küche. Die Tschechin tat Esch leid; sie hatte so weich geweint. Aber auch hier hatte Mutter Hentjen wohl recht; auch die Hruska wollte es nicht anders. Und als Frau Hentjen mit dem Teller zurückkam, tat er ein übriges: »Die wird sich auch noch ihren Messerwerfer suchen, die Tschechin.« – »So«, sagte Mutter Hentjen. »Armer Teufel«, sagte Esch und wußte selber nicht ob er Martin oder die Tschechin meinte. Mutter Hentjen hingegen meinte bloß die Tschechin und versetzte spitz: »Nun, Sie können sie ja trösten, wenn sie Ihnen so leid tut …, gehen Sie nur gleich hin zu ihr.«

Er entgegnete nichts; er hatte gut gegessen, und so nahm er denn schweigend seine Zeitung, begann den Anzeigenteil zu studieren, der ihm das Wichtigste im Blatte geworden war, seit daselbst die Ringkampfankündigungen sich befanden. Doch die rechtschaffene Buchhaltung seiner Seele verlangte, daß auch Frau Hentjen ein Konto eingerichtet bekäme: hatte sie denn weniger Anrecht darauf als Ilona, die es sogar verschmäht, daß man ihr etwas Gutes tue? Sein Auge blieb auf der Ankündigung einer Weinauktion in St. Goar haften und er fragte Mutter Hentjen, woher sie ihren Wein bezöge. Sie nannte einen Kölner Weinhändler; Esch rümpfte die Nase: »Also denen werfen Sie das Geld in den Rachen! Warum haben Sie mich nicht schon längst gefragt? Ich behaupte nicht, daß es überall so zugeht wie in der Essigbude meines säubern Herrn Nentwig, aber ich könnte wetten, daß Sie kräftig draufzahlen.« Sie setzte eine gekränkte Miene auf: wer eine alleinstehende schwache Frau ist, muß sich viel gefallen lassen. Er machte ihr den Vorschlag, nach St. Goar zu fahren und für sie Wein zu kaufen. »Schade um die Spesen«, sagte sie. Esch geriet in Eifer: die Spesen wären im Preise leicht hereinzubringen, und wenn die Qualität danach sei, könnte man sie mit einer billigeren Sorte verschneiden; darauf verstehe er sich. Und schließlich käme es ihm nicht auf die Spesen an; ein Ausflug den Rhein hinauf – Lohbergs idiotisches Kauderwelsch von der Naturfreude kam ihm in den Sinn –, sei immer ein Vergnügen, und sie brauche ihm die Spesen erst zu ersetzen, wenn das Geschäft mit wirklichem Vorteil abgewickelt sein werde. »Da nehmen Sie wohl Ihre Tschechin mit?« sagte Mutter Hentjen mißtrauisch. Der Gedanke erschien ihm nicht unverlockend; doch er lehnte ihn laut und entrüstet ab; Mutter Hentjen möge sich überzeugen und gefälligst selber mitkommen, sie hätte ja erst kürzlich die Absicht geäußert, einmal wieder die Natur genießen zu wollen, – da ginge es gleich in einem, setzte er gereizt hinzu. Sie schaute in sein Gesicht, sah die gelb-braune Haut und rückte erstarrend von ihm ab: »Und wer soll in der Wirtschaft bleiben …? nein, das geht nicht.«

Nun, er hatte auch keinen solchen Wert darauf gelegt; seine Finanzen hätten einen Ausflug zu zweit jetzt ohnehin nicht gestattet, Esch sprach also nicht weiter davon und Mutter Hentjen gewann wieder Vertrauen. Sie nahm die Zeitung, sah zu ihrer Beruhigung, daß die Auktion erst in zwei Wochen stattfinden würde, und meinte, daß sie es sich noch überlegen könne. Ja, sie möge es sich überlegen, sagte Esch trocken und stand auf. Er mußte in die Alhambra, wo Teltscher Probe abhielt. Er nahm den Weg über die Straße, in der die Tschechin in einem Lokal bedienstet war. Aber er trat in sein Rad und fuhr vorbei.

 

Direktor Gernerth war jetzt ebenfalls eingelangt und Esch, ob seiner Fachkenntnisse im Speditionswesen hiezu designiert und vom Betätigungsdrang getrieben, kam täglich zum Hafen, um nach dem Fundus zu fragen, der auf dem Rheinweg verfrachtet worden war. Und wenn er den Weg vielleicht auch nur machte, um angesichts der Speditionsschuppen die Reue über seine vorzeitige Kündigung bei der Mittelrheinischen auszukosten, angesichts der Weinlager die Existenz Nentwigs aufs neue als bittern Stachel im Fleisch spüren zu können; er sah und erlebte all dies nicht ungern, denn es führte ihm vor Augen, daß sein Opfer neben dem Opfer Martins bestehen konnte. Auch daß Ilona nicht nach Köln gekommen, sondern bei Korn geblieben war, fügte sich in den Kreis und war wie eine höhere Schickung. Aber man stelle sich ja nicht vor, daß Esch ein leidensseliger Mensch gewesen sei. Oh, keineswegs! In seinen Selbstgesprächen scheute er sich nicht, Ilona eine Hure und sogar eine dreckige Hure zu nennen, und Teltscher einen Hurentreiber und Meuchelmörder. Und wenn er diesen Mordbuben Nentwig zwischen den aufgestapelten Weinfässern getroffen hätte, ja, so hätte er ihn eben verdroschen. Doch kam er dann bei den langgestreckten Magazinen der Mittelrheinischen vorbei, sah er dann die verhaßte Firmenaufschrift, so erhob sich hoch über all dem dreckigen Gesindel der kleinen Mörder eine Gestalt, vornehm und überlebensgroß, die Gestalt eines hochanständigen Menschen, kaum Mensch mehr zu nennen, so weit und hoch war sie entrückt, und dennoch Gestalt des Übermörders, unvorstellbar und drohend erhob sich das Bild Bertrands, des schweinischen Präsidenten dieser Gesellschaft, des warmen Bruders, der Martin ins Gefängnis gebracht hatte. Und diese vergrößerte und eigentlich unvorstellbare Gestalt schien die der beiden kleineren Schacher in sich aufzunehmen, und manchmal war es, als müßte man bloß diesen Antichrist treffen, um auch alle geringeren Mörder der Welt zu vernichten.

Natürlich könnte einem all dies schnuppe sein, man hatte ärgere Sorgen; lausig genug ging's einem ja, wie man da ohne Bezahlung am Hafen herumlungerte. Ein Mensch ohne richtigen Erwerb gehört umgebracht. Das müßte eigentlich auch Mutter Hentjen sagen und merkwürdig angenehm war es, sich solche Drohung vorzustellen. Ja, das klügste wäre es wohl, es käme so ein Übermörder und brächte einen kurzerhand um. Und während Esch den Kai entlang streunte und ihm die Tafel der Mittelrheinischen Reederei AG. wieder entgegenblickte, sagte er laut und deutlich: »Entweder er oder ich.«

Nun stand Esch beim Schleppboot und überwachte die Ausladung des Fundus. Er sah Teltscher mit dem rosigen Oppenheimer daherkommen: die beiden rückten sozusagen etappenweise vor, denn sie blieben immer wieder stehen, oftmals an den Knöpfen oder am Rockaufschlag sich haltend, und Esch fragte sich, was sie wohl so dringend zu besprechen hätten. Als sie nahe genug waren, hörte er Teltscher: »Und Ihnen sag' ich's, Oppenheimer, das ist kein Geschäft für mich – Sie werden sehen, ich laß' mir die Ilona kommen, und ich laß' mir den Kopf abhacken, wenn ich nicht in einem halben Jahr die Nummer in New York bring'.« So, so, Teltscher hatte die Ilona noch immer nicht aufgegeben. Na, der wird schon anders reden, wenn einmal Ordnung gemacht sein wird. Und Esch hatte keine Lust mehr auf den Tod. Er knurrte die beiden an, was sie hier suchten, ob sie etwa meinten, daß er noch nie eine Verladearbeit geleitet hätte, ob er vielleicht etwas wegtragen wolle, ob die Herren ihn vielleicht zu kontrollieren wünschten? überhaupt tue es ihm bitter leid, fremder Leute Geld in dieses Geschäft hineingesteckt zu haben, von seinem eigenen ganz zu schweigen. Jetzt arbeite er seit nahezu einem Monat umsonst für dieses zweifelhafte Unternehmen, gäbe sein Letztes her, und warum? weil ein gewisser Herr Teltscher, der selber auskneifen will, ihn beschwatzt hat. Voller Wut begann er, den jüdischen Tonfall des Herrn Oppenheimer ungeschickt nachzuahmen. »Heißt ein Antisemit«, sagte Herr Oppenheimer, und Teltscher meinte, daß die Laune des Herrn Speditionsdirektors sich übermorgen nach dem ersten Kassenrapport schon heben werde. Und weil er selber guter Laune war und Esch necken wollte, ging er um das Fuhrwerk herum, auf dem die Stücke aufgeladen wurden, und justament zählte er sie ab, trat dann zu den Pferden, holte Zucker aus der Tasche, um ihn den Tieren hinzuhalten. Esch, der sich wütend und beleidigt von den beiden Juden abgewendet hatte und die Kisten notierte, beobachtete ihn von der Seite und wunderte sich über Teltschers Gutmütigkeit; eigentlich wollte er nicht daran glauben, erwartete fast, daß die Tiere kopfschüttelnd die Gabe ablehnen würden. Allein die Pferde, wie Pferde eben sind, nahmen mit freundlich-weichem Maul den Zucker von Teltschers flacher Hand, und Esch ärgerte sich: immerhin hätte auch er sich's einfallen lassen können, wenigstens ein Stück Brot ihnen zuzustecken; freilich, wo nun das Aufladen beendet war, blieb einem nichts anderes übrig, als jedem der beiden Pferde einen nüchternen Klaps auf die Kruppe zu geben. Esch tat es, und dann fuhren sie alle auf den Kisten sitzend mit dem Wagen in die Stadt zurück. Oppenheimer verabschiedete sich bei der Rheinbrücke; Teltscher und Esch fuhren weiter, um bei Mutter Hentjen abzusteigen.

Teltscher war einige Male in der Wirtschaft gewesen und gebärdete sich, als ob er bereits ein alter Stammgast wäre. Esch fühlte sich schuldbewußt, weil er Mutter Hentjen solches Gesindel ins Haus brachte … statt etwas Besserem. Gerne hätte er den Kerl vom Wagen geschmissen. Setzt sich auf Martins Platz, so ein Judas, und hat keine Ahnung, daß es bessere, vornehme, hochanständige Menschen gibt, hat keine Ahnung, daß Martin von der Hand eines Mannes gefällt worden ist, der so einen Messerwerfer nicht mal anspucken würde. Und dieser Gaukler, dieser Hurentreiber spielt sich auf den Sieger heraus, dem Martins Platz gebührt. Taschenspielerkunststücke! mit toten Dingen herum jonglieren, unfruchtbare Arbeit voller Lug und Trug.

Sie waren angelangt. Teltscher kletterte als erster vom Wagen. Esch schrie ihm nach: »Na, und wer soll abladen? Kontrollieren und spionieren, das paßt Ihnen, aber um eine richtige Arbeit, da drücken Sie sich.« – »Ich habe Hunger«, versetzte Teltscher einfach und stieß die Türe zum Lokal auf. Dem Juden war nicht beizukommen; Esch folgte ihm achselzuckend. Und um die Verantwortung für diese Art Gäste abzulehnen, machte er einen Scherz: »Einen feinen Gast bring' ich Ihnen da, Mutter Hentjen, ja, es kommt nie was Besseres nach.« Plötzlich aber war er mit allem einverstanden: mochte Teltscher auf Martins Platz sitzen und Martin auf dem Platze Nentwigs: man kannte sich nicht aus, und trotzdem war es irgendwo in Ordnung. Irgendwo kam es eben nicht mehr auf die Menschen an, die waren alle gleich und es verschlug nichts, wenn einer im andern verfloß und der eine auf dem Platz des andern saß, – nein, nicht mehr nach guten und bösen Menschen, sondern nach irgendwelchen guten und bösen Kräften war die Welt zu ordnen. Giftig sah er zu Teltscher hin, der Taschenspielerkünste mit Messer und Gabel vollführte und nun ankündigte, er werde Frau Hentjen ein Messer aus dem Mieder ziehen. Sie fuhr kreischend zurück, doch da präsentierte Teltscher bereits das Messer zwischen Daumen und Zeigefinger: »Aber, aber, Mutter Hentjen, so etwas tragen Sie im Mieder!« Dann wollte er sie hypnotisieren und prompt erstarrte sie im voraus. Was zu viel ist, ist zu viel; Esch fuhr auf Teltscher los: »Herr, Sie sollte man einsperren.« – »Neuigkeit«, sagte Teltscher. Esch knurrte: »Hypnose ist gesetzlich verboten.« – »Interessanter Mensch«, sagte Teltscher und wies mit dem Kinn nach Esch, solcherart Frau Hentjen auffordernd, daß sie sich gleichfalls über den interessanten Menschen lustig mache; ihr aber saß der Schreck noch in den Gliedern und sie fingerte starr an ihrer Frisur. Esch nahm den Erfolg seiner Rettungsaktion zur Kenntnis und war zufrieden. Ja, den einen, den Nentwig hatte er laufen lassen, ein zweites Mal würde so etwas nicht geschehen, wenn es auch nicht auf die Person ankam, und wenn auch einer in den andern verfließt und die Burschen nicht mehr voneinander zu kennen und zu unterscheiden sind; losgelöst vom Täter besteht das Unrecht und das Unrecht allein ist es, das gesühnt werden muß.

Als er später mit Teltscher zur Alhambra ging, war ihm leicht zumute. Er hatte ein neues Wissen bekommen. Und beinahe tat ihm Teltscher leid. Und auch Bertrand. Und selbst Nentwig.

 

Er hatte bei Gernerth nun doch herausgeschunden, daß ihm mit Rücksicht auf seine Mitarbeit ein Gewinnanteil von hundert Mark im Monat garantiert werde, – wovon hätte er denn sonst leben sollen? – aber schon der Eröffnungsabend brachte ihm sieben Mark Anteil ein. Wenn das so weiter ging, war seine Einlage nach einem Monat verdoppelt. Frau Hentjen war nicht zu bewegen gewesen, der Eröffnungsvorstellung beizuwohnen, und Esch, beim Mittagstisch, erzählte angeregt von dem gestrigen Erfolg. Als er zu dem Punkt gelangte, man könnte wohl sagen, zu dem Höhepunkte, wie Teltscher eines der Trikots aufgeschnitten und nur lose hatte zunähen lassen, so daß es während des Ringens tatsächlich an jener rundgespannten Stelle platzte, und wie sich dieses Ereignis allabendlich wiederholen werde, als er darüber noch nachträglich so sehr lachen mußte, daß er statt zu reden immerzu mit der Hand winkte, da erhob sich Frau Hentjen und sagte, sie habe es nun satt. Es sei unerhört, daß ein Mensch, den sie für anständig gehalten habe und der früher einem anständigen Beruf nachgegangen sei, so weit sinken könne. Sie zog sich in die Küche zurück.

Esch, der verdutzt zurückgeblieben war, trocknete sich die vom Lachen noch tränenden Augen. In einem Winkel seines Herzens saß schlechtes Gewissen, in diesem Winkel erhielt Mutter Hentjen recht; die geplatzten Trikots auf der Bühne waren undeutlich verwandt mit den Messern, die auf dieser Bühne nicht mehr geworfen werden durften; doch davon ahnte Mutter Hentjen sicherlich nichts und eigentlich war ihr Zorn unbegreiflich. Er hatte Hochachtung vor ihr, wollte sie nicht beschimpfen wie den Idioten Lohberg, aber mit dem hätte sie sich gewiß besser verstanden, und er war eben nicht so fein wie Lohberg. Er betrachtete das Bild des Herrn Hentjen über dem Bord, ob es Ähnlichkeit mit Lohberg aufwies, und als er lange genug hingeblickt hatte, verschwammen tatsächlich die Gesichter des seligen Schenkwirtes und des Mannheimer Zigarrenhändlers. Ja, wo man hinsah, zeigte es sich, daß einer in den andern verfließt und daß man nicht einmal Totes von Lebendem unterscheiden könne. Keiner ist, was er zu sein glaubt: man glaubt, daß man ein Kerl ist, der fest auf seinen zwei Beinen steht, der seine sieben Mark Gewinnanteil einstreicht, und der sich hinträgt, wohin er will; und in Wirklichkeit steht man einmal auf diesem Platz und einmal auf jenem, und selbst wenn man sich opfert, ist man es nicht selber gewesen. Eine unbändige Sucht überkam ihn, den Beweis zu erbringen, daß es nicht so sei, nicht so sein dürfe, und wenn er es schon niemandem anderen beweisen konnte, so mußte er wenigstens der Frau da drinnen zeigen, daß sie ihn weder mit Herrn Lohberg noch mit Herrn Hentjen zu verwechseln habe. Kurzerhand ging er in die Küche hinüber und sagte, daß Frau Hentjen am nächsten Freitag die Weinauktion in St. Goar nicht vergessen möge. »Sie werden Begleitung genug finden«, erwiderte Frau Hentjen vom Herde her. Ihr Widerspruch reizte ihn. Was verlangte diese Person von ihm? Hatte er bloß jene Worte zu sagen, die sie ihm vorschrieb und die sie hören wollte? Er mußte an den Musikautomaten denken, in den jeder hineingreifen konnte. Aber den mochte sie ja nicht leiden. Wäre das Küchenmädchen nicht da gewesen, er hätte nicht übel Lust gehabt, sie, wie sie da am Herde stand, einfach zu übermannen, damit sie sich von seiner Existenz überzeuge. So sagte er bloß: »Ich habe es schon zusammengestellt: wir fahren mit der Bahn bis Bacharach, von dort mit dem Schiff bis St. Goar. Dort sind wir um elf Uhr, kommen noch zur Auktion zurecht. Nachmittags können wir zur Lorelei hinauf.« Sie erstarrte ein wenig unter der Festigkeit dieses Entschlusses, dennoch bemühte sie sich, einen spöttischen Ton in ihre Stimme zu legen: »Große Pläne, Herr Esch.« Esch war seiner sicher geworden: »Erst der Anfang, Mutter Hentjen; bis zur nächsten Woche habe ich jedenfalls schon meine hundert Emm verdient.« Er pfiff vor sich hin und verließ die Küche.

Draußen sah er noch die Zeitungen durch, die er mitgebracht hatte, und merkte die Berichte über die Eröffnungsvorstellung mit rotem Bleistift an. Daß er in der Volkswacht keinen Bericht fand, ärgerte ihn. Einen Parteigenossen und Freund, der sich aufgeopfert hatte, im Gefängnis schmachten lassen, ja das konnten sie. Aber nicht einmal zu einem lumpigen Bericht langte es. Auch hier sollte man eigentlich Ordnung machen. Er fühlte in sich die Kraft dazu und hatte die Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, das Chaos, in dem alles leidend verstrickt war, in dem Freund und Feind verbissen und doch kampflos ineinanderlagen, zu durchdringen und zu erlösen.

 

In der Pause durch den Saal gehend, erschrak er heftig, ja, das Wort vom »Stich im Herzen« fiel ihm ein, als er Nentwigs ansichtig wurde. Der saß mit vier anderen Leuten an einem Tische, und eine der Kämpferinnen, einen Bademantel über das Trikot geworfen, war bei ihnen. Der Bademantel klaffte und Nentwig war damit beschäftigt, durch listige Bewegungen seiner runden Hände den Spalt zu erweitern. Esch ging weggewandten Kopfes vorüber, aber das Mädchen rief ihn an, so daß er sich umdrehen mußte: »Hallo, Herr Esch, was machen Sie denn hier«, hörte er Nentwig. Esch zögerte; er sagte bloß kurz »'n Abend«, doch Nentwig verstand nicht die Abweisung, sondern trank ihm zu, und das Mädchen sagte: »Ich mache Ihnen schon Platz, Herr Esch, muß ohnehin zur Bühne.« Nentwig, der schon getrunken hatte, hielt die Hand Eschs gefaßt, und während er ein Glas für ihn einschenkte, sah er mit zärtlich-weinseligen Augen zu ihm auf: »Nein, so etwas, das ist einmal eine unverhoffte Überraschung.« Esch sagte, daß er gleichfalls auf die Bühne müsse, und Nentwig, seine Hand nicht loslassend, prustete vor Lachen: »So, zu die Damens auf die Bühne, komm' ich mit, komm' ich mit.« Esch suchte ihm verständlich zu machen, daß er von Berufs wegen hier beschäftigt sei. Endlich begriff Nentwig: »So, Sie sind hier angestellt? guter Posten?« Eschs Selbstbewußtsein erlaubte es nicht, die Frage zu bejahen; nein, er sei hier nicht angestellt, er sei am Geschäfte beteiligt. »So etwas, so etwas«, erstaunte sich Nentwig, »machte Geschäfte, gute Geschäftchen, sichtlich gutes Geschäftchen«, er sah sich in dem dichtgefüllten Saale um, »und vergißt, daß es einen guten alten Freund Nentwig gibt, der sich an so etwas stets gerne beteiligt.« Er wachte völlig auf: »Wie steht's mit den Weinlieferungen, Esch?« Esch erklärte, daß er mit dem Wirtsbetrieb nichts zu tun habe; das sei Sache des Saalbesitzers. »So, aber alles andere«, Nentwig machte eine große umfassende Geste über Saal und Bühne, »geht Sie an? na, trinken Sie doch wenigstens ein Glas«, und Esch konnte nicht umhin, sein Glas an dem des Nentwig klingen zu lassen, und er mußte auch den Begleitern Nentwigs die Hand geben und mußte mit ihnen trinken. Trotz der Hinterhältigkeit, mit der ihn Nentwig von rückwärts her hatte anrufen lassen, konnte er nicht den Haß gegen ihn aufbringen, zu dem er sich verpflichtet fühlte. Er versuchte, sich das Vergehen des Prokuristen wieder zu vergegenwärtigen; es gelang nicht; es waren irgendwelche Schweinereien in den Bilanzen gewesen, arge Schweinereien, und Esch reckte sich ein wenig auf, um nach dem im Saale befindlichen Schutzmann Ausschau zu halten. Aber es war so seltsam unfaßbar und konturlos geworden, daß Esch sich der Sinnlosigkeit seines Vorhabens sofort bewußt wurde, und etwas ungeschickt und beschämt griff er nach seinem Weinglas. Nentwig indessen sah seinen guten alten Buchhalter mit verschwommenen Blicken an, und da kam es Esch so vor, als wollte mit dem verschwimmenden Blick diese ganze rundliche Gestalt in Gleichgültigkeit verfließen. Dieser Essigfritze hatte ihm meuchlings Buchungsfehler vorgeworfen, hatte ihn um Brot und Existenz bringen wollen und wird ihn immer wieder meucheln. Man konnte ihm jedoch kaum mehr böse sein. Aus dem verworrenen Knäuel des Geschehens ragt ein Arm, droht die Faust mit dem Dolche, und entdeckt man dann, daß es der Arm Nentwigs ist, so wird es zu einem dummen und fast schäbigen Zufall. Der Tod, von eines Nentwigs Hand empfangen, er wäre kaum Mord mehr zu nennen, und das Gericht, gehalten über Nentwig, es wäre nichts als eigenste schäbigste Rache für einen Buchungsfehler, der keiner war. Nein, nutzlos ist es, einen Prokuristen der Gerechtigkeit zu überantworten, denn es gilt nicht, einen Arm abzuschlagen, selbst wenn der Arm den drohenden Dolch hält, es gilt das Ganze oder zumindest einen Kopf zu treffen. In Esch sagte etwas: »Wer sich opfert, ist anständig«, und er beschloß, Nentwig nicht weiter zu beachten. Der kleine feiste Mann war wieder in seinen Dusel zurückgesunken, und da die Musik nun zum Gladiatorenmarsch ansetzte, zu dessen Klängen die Ringerinnen unter Teltschers Anführung auf die Bühne marschiert kamen, merkte Nentwig nicht, daß Esch von seinem Tische verschwunden war.

Gernerth hingegen saß bei einem Glas Bier in der Direktionskanzlei und jammerte, als Esch eintrat: »Ist das ein Leben, ist das ein Leben …« Oppenheimer ging mit dem Kopf und dem ganzen Körper wackelnd auf und ab: »Möcht' wissen, was Sie so aufregt …?« Gernerth hatte sein Notizbuch vor sich: »Die Zinsen fressen einen auf. Wofür arbeitet und schindet sich unsereiner? Für die Zinsen!« Draußen klatschten die Griffe auf dem schwitzenden Fett der Frauenleiber, und Esch empörte sich, daß hier einer von Schinden sprach, weil er in einem Notizbuch rechnete. Gernerth jammerte weiter: »Jetzt sollen die Kinder auf Ferien; das kostet Geld … wo soll ich es hernehmen?« Hier zeigte Oppenheimer Verständnis: »Kinder sind ein Segen, Kinder sind eine Plage, Direktor; na, wird schon werden, sorgen Sie sich man nicht zu sehr.« Esch hatte Mitleid mit Gernerth, der brav war; und trotzdem verwirrten sich wieder die Angelegenheiten der Welt, dachte man daran, daß da draußen jetzt ein Trikot platzen müsse, damit die Kinder Gernerths auf Ferien gehen könnten. Irgendwo hatte Mutter Hentjen mit ihrem Ekel doch recht, freilich ganz wo anders als sie selber meinte. Auch Esch wußte es nicht; vielleicht war es die Unordnung, die ihn mit Ekel und Wut erfüllte. Er ging hinaus; in den Kulissen standen einige Ringerinnen und rochen nach Schweiß; Esch, um sich einen Durchgang zu schaffen, packte sie von rückwärts bei den dicken Armen oder bei den Brüsten und drückte sie sich gegen den Unterleib, so daß einige gierig zu lachen begannen. Dann trat er auf die Bühne und nahm seinen Platz als sogenannter Schriftführer beim Jurytisch ein. Teltscher, die Signalpfeife zwischen den Lippen, lag auf dem Boden und äugte scharf unter die Brücke, in der sich eine der Damen befand, während die andere sich auf ihr wälzte und scheinbar bemüht war, diese Brücke einzudrücken, selbstverständlich bloß scheinbar, denn die unten Liegende war die Germanin, zu deren Pflichten es gehörte, sich alsobald mit einem patriotischen Ruck aus beschämender Bedrängnis zu befreien. Und obwohl Esch das abgekartete Spiel kannte, hatte er ein erleichtertes Gefühl, da die fast Besiegte wieder auf den Beinen stand, und war doch voll empörten Mitleids für ihre Gegnerin, als Irmentraud Kroff sich nun auf die warf und unter dem nationalen Jubel des Saales die Schultern der Feindin gegen die Matte drückte.

 

Als Frau Hentjen aufstand, dämmerte es kaum. Sie öffnete das Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Der Himmel spannte sich hell und wolkenlos über dem noch grau-dunklen Hof räum, der in unbeweglichem Schweigen, ein kleines Viereck zwischen dunklen Mauern, vor ihr lag. Still lehnten dort unten helle Bottiche vom Waschtag her. Ein kühler Wind hatte sich zwischen den Mauern verfangen und roch nach Stadt. Sie schlapfte zur Kammer der Küchenmagd hinauf und klopfte an die Türe; sie wollte nicht etwa auch noch ohne Frühstück weggehen müssen, das hätte noch gefehlt. Dann begann sie sorgsam ihre Toilette und zog das Braunseidene an. Als Esch sie abholte, saß sie mürrisch vor ihrem Kaffee in der Wirtsstube. Mürrisch sagte sie: »Gehen wir«, indes im Hausflur erinnerte sie sich, daß Esch vielleicht auch Kaffee haben wollte; er bekam ihn rasch in der Küche und schlürfte ihn stehend. Auf den Straßen gab es schon Sonne, doch der helle Schein, der zwischen den langen Mauerschatten auf dem Pflaster lag, vermochte ihrer beider Laune nicht zu bessern. Esch gab bloß knappe und barsche Weisungen: »Ich nehme die Fahrkarten«, und »Bahnsteig fünf.« Schweigend saßen sie nebeneinander im Coupé; in Bonn zwar beugte er sich hinaus, fragte, ob es schon frisches Gebäck gäbe, und kaufte ihr ein Brötchen. Sie verzehrte es mürrisch und vorwurfsvoll. Nach Koblenz, als die Leute wie üblich ans Fenster traten, um die Rheinlandschaft in sich aufzunehmen, wurde auch Frau Hentjen angeregt, das nämliche zu tun. Esch hingegen rührte sich nicht von seinem Platze; er kannte die Gegend bis zum Überdruß und außerdem hatte er die Absicht gehabt, erst vom Schiffe aus Frau Hentjen die Natur vorzuführen. Jetzt ärgerte er sich, daß sie das Vergnügen vorwegnahm und überdies die belehrenden Erklärungen von den Coupégenossen einholte. So war jeder Tunnel, der die Aussicht unterbrach, seinem Mißmut genehm und sein Ärger stieg so sehr, daß er sie in Ober-Wesel kurzerhand vom Fenster wegrief: »In Ober-Wesel war ich auch mal in Kondition …« Frau Hentjen schaute hinaus; der Bahnhof bot nichts Bemerkenswertes. Sie sagte höflich: »Ja, man kommt so herum.« Esch war noch nicht zu Ende: »Miserabler Posten gewesen, hab's trotzdem ausgehalten, ein paar Monate lang, wegen einem Mädel im Ort … Hulda hat sie geheißen.« Da möge er gleich aussteigen und sie besuchen, war Frau Hentjens gereizte Antwort, ihrethalben brauche er sich keinen Zwang aufzuerlegen. Aber nun waren sie auch schon in Bacharach und Esch empfand zum ersten Mal in seinem Leben die Hilflosigkeit des Vergnügungsreisenden, der am Bahnhof steht und eine Stunde Zeit vor sich hat. Seinem Programm zufolge hätte ein Frühstück auf dem Dampfer eingenommen werden sollen und nur aus Verlegenheit schlug er vor, in einem der ihm bekannten Gasthöfe hier einzukehren. Doch als sie die engen Gassen der Stadt betraten, die still und anheimelnd im klaren Vormittagslichte lagen, da plötzlich vor einem der Fachwerkhäuser brach Mutter Hentjen in die Worte aus: »Hier möchte ich wohnen, das wäre mein Ideal.« Vielleicht war es der Blumenschmuck vor den Fenstern, der ihr solchen Eindruck machte, vielleicht war es nichts als das befreite Aufatmen, das vor dem Unbekannten oft im Menschen sich löst, oder vielleicht hatte sich ihre schlechte Laune einfach erschöpft, – kurzum die Welt war heller geworden; einträchtig schauten sie nun alles an, kamen sogar bis zur Kirchenruine hinauf, mit der sie wenig anzufangen wußten, eilten vorzeitig zum Anlegeplatz, um das Schiff ja nicht zu versäumen, und es machte ihnen nichts aus, als sie noch eine halbe Stunde zu warten hatten.

Auf der Fahrt allerdings gerieten sie mehrmals ins Streiten, denn auf die Dauer erlaubte Frau Hentjens Stolz es nicht, daß Esch allein die Gegend kennen sollte. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach bekannten Namen, begann ihrerseits mit ausgestrecktem Arm Vermutung und Belehrung abzugeben und war beleidigt, wenn seine Rechtschaffenheit keinen Fehler durchgehen ließ. Doch auch dies konnte ihrer guten Laune nichts anhaben, und in St. Goar angekommen, tat es ihnen leid, das Schiff verlassen zu müssen, ja, im ersten Augenblick wußten sie nicht einmal mehr, weshalb sie hier ans Land gingen. Der geschäftliche Zweck ihrer Reise war ihnen irgendwie gleichgültig geworden, und als sie im Auktionslokale erfuhren, daß der Verkauf der gewünschten wohlfeilen Sorten bereits stattgefunden hätte, wurmte es sie nicht, und fast war es ihnen wie Enthebung von einer Pflicht, denn viel wichtiger war es ihnen, zur Fähre zu kommen, die an weitgespanntem Seil nach dem verlockend besonnten Goarshausen hinüberschwamm. Und wenn Esch, die Obsorge des ordentlichen Kaufmannes mimend, die bei der Auktion erzielten Preise notierte, »für ein andermal«, wie er sagte, so war diese kommerzielle Haltung immerhin eine leicht hochstaplerische, und daraus ergab sich ein kurios schlechtes Gewissen, das ihn einerseits zwang, allzu günstige Preise geflissentlich zu übersehen, andrerseits ihn derart bedrückte, daß er, bereits auf der Fähre, die weggelassenen Preise aus dem Gedächtnis der Liste einfügte und Frau Hentjen mit unwohlwollenden Blicken maß.

Frau Hentjen saß auf dem sonndurchglühten Holz der Fähre, tauchte zufrieden einen Finger ins Wasser, sehr behutsam, damit ihr cremefarbener Spitzenhalbhandschuh nicht naß werde, und wenn es nach ihr gegangen wäre, so hätte man den Rhein noch einige Male überquert, denn das seltsam leichte Schwindelgefühl, mit dem man auf das schräg vorbeischießende Wasser schauen konnte, war angenehm. Aber die Zeit war schon zu sehr vorgerückt, und unter den Bäumen im Wirtshausgarten am Ufer war auch gut sein. Sie aßen Fisch, tranken Wein, und bei der Zigarre bedachte Esch die Notwendigkeit einer Steigerung, ernsthaft überlegend, ob nicht auch Mutter Hentjen, die schwer und prächtig dasaß, solche Steigerung erwartete. Freilich, sie war nicht wie andere Frauen, und so begann er bloß vorsichtig von Lohberg zu sprechen, dem er eigentlich die Anregung zu dieser schönen Fahrt verdankte, lobte Lohberg dafür, um nach dieser Überleitung nun die vegetarischen Ansichten von der wahren Liebe in passender Form zum Vortrag zu bringen; doch Frau Hentjen, welche gespannt merkte, worauf er abzielte, brach das Gespräch ab, und obzwar sie selber Müdigkeit verspürte und lieber der Ruhe gepflogen hätte, verwies sie auf das Programm, laut welchem sie nun zur Lorelei mußten. Esch war empört; er strengte sich an, wie Lohberg zu sprechen, und fand keine Anerkennung. Er war ihr wahrscheinlich noch immer nicht fein genug.

Er erhob sich und zahlte. Als sie den Wirtshausgarten durchquerten, bemerkte er die Sommergäste; junge hübsche Frauen gab es darunter und junge Mädchen: Esch begriff plötzlich nicht, was er mit dieser ältlichen Frau eigentlich vorhatte, mochte sie auch in ihrem braunen Seidenkleid recht stattlich einhergehen. Die Mädchen trugen leichte helle Sommerkleider und das Braunseidene war auf der Straße bald staubig und unansehnlich geworden. Nichtsdestoweniger war ihm dies alles irgendwo recht; man hatte ja ein Gewissen, und dachte man an Martin, der im Kerker nach der Sonne schmachtete und der sich für schnöden Undank geopfert hatte, so ging's einem selber eigentlich noch viel zu gut! Und wie er jetzt mit Frau Hentjen im Staub der Landstraße watete, statt mit einem der schönen Mädchen im Grase zu liegen, da war es ihm sogar auch recht, daß diese Frau ihm für das Opfer keinen Dank wissen würde. Wer sich opfert ist anständig. Er überlegte, ob er ihr sein Opfer geziemend vor Augen führen könnte, doch dann erinnerte er sich an Lohberg und ließ es sein: ein feiner Mensch leidet schweigend. Einmal, vielleicht wenn es zu spät sein wird, wird es ihr schon zu Bewußtsein kommen. Schmerzliche Rührung überkam ihn, und während er voranschritt, legte er erst den Rock, dann die Weste ab. Mutter Hentjen sah mit Ekel die beiden großen feuchten Flecke, mit denen das Hemd an den Schulterblättern klebte, und als er, in den Waldweg einbiegend, nun stehenblieb und sie nachkam, spürte sie zurückschreckend den hitzigen Geruch seines Körpers. Esch sagte gutmütig: »Na, Mutter Hentjen?« – »Ziehen Sie den Rock an«, sagte sie streng, doch mütterlich fügte sie hinzu: »Kühl ist es hier, schön kühl, aber Sie werden sich erkälten.« – »Im Gehen wird einem schon warm«, entgegnete er, »machen Sie lieber ein paar Haften am Halse auf.« Sie schüttelte den Kopf mit dem altmodisch geputzten kleinen Hut: nein, das mochte sie nicht, wie sähe das denn aus! »Nun, hier sieht uns ja niemand«, sagte Esch und diese plötzlich festgestellte Einsamkeit und Gemeinsamkeit, in der man sich voreinander nicht zu schämen brauchte, weil niemand es sieht, verwirrte sie. Sie fand es mit einem Male auch begreiflich, daß er sozusagen vertrauensvoll seinen Schweiß vor ihr entblößte; und fühlte sie noch den Ekel, sie fühlte ihn eigentlich nicht mehr an der Oberfläche, sondern wie stumpf und abgedämpft, nur so unter der Haut ekelte ihr, und selbst vor seinem Pferdegebiß fürchtete sie sich nicht mehr, sondern nahm es als Teil der so seltsam erlaubten Schamfreiheit, da er es jetzt wieder einmal lachend entblößte: »Also frisch weiter, Mutter Hentjen, keine Müdigkeit vorgeschützt.« Sie war beleidigt, weil er ihr offenbar nicht zutraute, daß sie mit ihm Schritt halten könne, und setzte sich mit etwas kurzem Atem und gestützt auf den fragilen rosa Sonnenschirm wieder in Bewegung. Esch hielt sich jetzt neben ihr und an steileren Stellen versuchte er ihr zu helfen. Sie sah ihn erst mißtrauisch an, ob dies nicht eine ungehörige Annäherung sein sollte, und nur zögernd nahm sie schließlich seinen Arm, allerdings um solche Stütze sofort loszulassen, ja wegzustoßen, sobald ihnen irgendein Wanderer oder auch nur ein Kind entgegenkam.

Sie stiegen langsam, und wenn sie verschnaufend halt machten, begannen sie mählich dessen gewahr zu werden, was um sie herum war: in der Hitze brüchig gewordener weißlicher Lehm des Waldwegs, die Pflanzen, deren fahles Grün in dem trockenen Boden steckte, Wurzeln, die mit verstaubten Fasern über den schmalen Weg sich legten, welker trockener Geruch des in der Hitze kaum atmenden Waldes, die Stauden, zwischen deren Blättern schwarze unbelebte Beeren standen, bereit, herbstlich zu verdorren. Sie gewahrten dies, ohne es benennen zu können, doch als sie die erste Aussichtsbank erreichten, sahen sie das Tal vor sich liegen, und obwohl sie den Loreleifelsen noch lange nicht erklommen hatten, schien es ihnen, als wären sie, die Landschaft aufzunehmen, bereits am Ziele, da sie sich niederließen; und Frau Hentjen strich das braunseidene Kleid auf der Rückseite sorgsam glatt, auf daß sie durch ihr Gewicht es nicht in Falten drücke. Es war so still, daß man die Stimmen vom Landungsplatz und von den Wirtshäusern in St. Goar herüber hörte und auch den sattdumpfen Ton, mit dem die Fähre an die Brücke anstieß; und den beiden war das Ungewohnte solchen Eindrucks wenig behaglich. Frau Hentjen betrachtete die Herzen und die Initialen, die in die Lehne der Bank und in den Sitz neben ihr eingekerbt waren, und mit gepreßter Stimme fragte sie Esch, ob er sich hier auch mit seiner Hulda aus Ober-Wesel verewigt hätte. Als er zum Spaße danach suchte, hieß sie ihn es bleibenlassen: sei es nun sichtbarlich oder unsichtbar, wo immer ein Mann hinträte, er fände stets seine besudelte Vergangenheit. Esch aber, der seine Witze nicht aufgeben wollte, sagte, daß er ja vielleicht ihren Namen ebenso in einem Herzen finden werde, und machte sie damit ernstlich böse; was er sich denn noch alles herausnehmen werde? ihre Vergangenheit sei gottlob rein und sie könne es mit jedem jungen Mädchen aufnehmen. Das werde einer, der sich zeitlebens und unausgesetzt mit Frauenzimmern herumgetrieben habe, freilich nicht verstehen. Und Esch, den der Vorwurf in der Seele traf, fühlte sich gemein und niedrig, weil er sie geringer geschätzt hatte als die jungen Mädchen im Wirtshausgarten, von denen vielleicht so manche nicht würdig war, Mutter Hentjen das Wasser zu reichen. Auch tat es ihm wohl, daß hier ein Mensch war, der eindeutig und bestimmt sich darstellte, ein Mensch, der wußte, wo sein Rechts und sein Links, sein Gut und sein Böse zu finden ist. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, daß hier der ersehnte Punkt sei, der aus der allgemeinen Unordnung klar und unverrücklich sich heraushob, an den man sich klammern durfte; aber da störte ihn der Gedanke an Herrn Hentjen und dessen Bild in der Wirtschaft, und es ließ ihn nicht los, daß doch irgendwo jenes Herz eingekerbt sein müsse, das ihre und Herrn Hentjens innig ineinander verschlungene Initialen umschloß. Er getraute sich nicht, daran zu rühren, sondern fragte bloß, wo ihr Elternhaus gestanden habe. Sie erwiderte kurz, daß sie aus Westfalen stamme; im übrigen gehe dies niemanden etwas an. Und weil sie nicht an ihre Frisur herankonnte, zupfte sie ihren Hut zurecht. Nein, sie mochte es überhaupt nicht leiden, wenn man immerzu die Nase in anderer Leute Leben hineinstecke, und so benähmen sich eben nur Menschen wie Esch oder ähnliche Kunden, die nicht imstande sind, sich vorzustellen, daß nicht ein jeder mit einer schmierigen Vergangenheit herumlaufe. Wenn solche Kerle eine Frau schon nicht selber haben können, so trachten sie wenigstens, ihr ein Liebesleben und eine Vergangenheit anzudichten. Sie rückte entrüstet ein Stückchen von ihm ab, und Esch, dessen Gedanken noch immer um Herrn Hentjen kreisten, war nun sicher, daß sie sehr unglücklich gewesen sein mußte. Sein Gesicht bekam einen bittern vergrämten Ausdruck. Schon möglich, daß sie mit Stockschlägen in diese Ehe hineingetrieben worden war. Also sagte er, daß er es nicht böse gemeint habe. Und gewohnt, Frauen, die weinten oder sonst ihm unglücklich erschienen, durch körperliche Berührung zu trösten, nahm er ihre Hand und streichelte sie. Vielleicht war es die außerordentliche Stille in der Natur, vielleicht aber bloß ihre Erschöpftheit; sie wehrte sich nicht. Sie hatte ihre Meinung gesagt, aber schon die letzten Worte waren ihr vom Munde verflattert, wie zerschlissene Federn, so daß sie selber kaum sie erkannte, und nun war sie völlig entleert, nicht einmal mehr fähig, Widerwillen oder Ekel zu empfinden. Sie sah das hingebreitete Tal, ohne es zu sehen, und wußte nicht mehr, wo sie war. Die vielen mechanischen Jahre, die sie zwischen dem Büfett und den paar bekannten Straßen gelebt hatte, schrumpften zu einem kleinen Punkt zusammen, und schier war es, als ob sie stets hier auf diesem unbekannten Fleck gesessen hätte. Die Welt so unbekannt, daß es unmöglich war, sie zu erfassen, und nichts verband sie mehr mit ihr, nichts als der dünne Zweig mit den stacheligen Blättern, der über die Lehne der Bank hing und an dem die Finger ihrer Linken auf und ab fuhren. Esch fragte sich, ob er ihr einen Kuß geben müsse, doch er hatte keine Begierde, und er hielt es auch nicht für fein.

So saßen sie schweigend. Die Sonne neigte sich gegen Westen und strahlte ihnen ins Gesicht, aber Mutter Hentjen empfand nicht die Hitze und nicht das Brennen der gespannten, geröteten und verstaubten Haut. Und fast schien es, als würde das Traumhafte, Halbwache zu Esch hinübergleiten und ihn umfangen wollen, denn sah er auch die breiter und länger werdenden Bergschatten im Tale als eine kühle Lockung vor sich, er scheute sich dennoch, die Lage zu verändern und nur zögernd griff er schließlich nach der Weste, die neben ihm lag und die große silberne Uhr enthielt. Es war Zeit zum Zuge, und die Willenlose gehorchte seiner Aufforderung. Abwärtssteigend stützte sie sich schwer auf seinen Arm, und er trug den dünnen rosa Sonnenschirm geschultert: Weste und Rock baumelten daran. Ihr das Gehen zu erleichtern, öffnete er zwei Haften an ihrer hochgeschlossenen Taille, und Mutter Hentjen ließ es geschehen, stieß ihn auch nicht von sich, wenn Wanderer ihnen entgegenkamen; sie sah sie nicht. Ihr braunseidener Rock strich im Staub der Landstraße, und als Esch am Bahnhof sie auf eine Bank setzte und sie verließ, um seinen Durst zu stillen, saß sie wunsch- und hilflos da, wartend, daß er zurückkomme. Er brachte auch ihr ein Glas Bier und sie trank es auf sein Geheiß. In dem dunklen Abteil des Personenzuges bettete er ihren Kopf an seine Schulter. Er wußte nicht, ob sie schlief, und sie wußte es wohl selber nicht. Ungeschickt rollte ihr Kopf auf seiner harten Schulter hin und her. Dem Versuch, sie an sich zu ziehen, leistete ihr breiter Körper in dem Fischbeingehäuse steifen Widerstand und die Hutnadeln auf ihrem wackelnden Kopf bedrohten sein Gesicht. Kurz entschlossen schob er ihren Hut zurück, der mitsamt der Frisur nach hinten rutschend, ihr das Aussehen einer Betrunkenen verlieh. Die Seide ihres Kleides roch staubig und erhitzt; nur manchmal merkte man den feinen Lavendelduft, der noch in den Falten geblieben war. Dann küßte er die Wange, die an seinem Mund vorbeiglitt, und schließlich nahm er den runden schweren Kopf in die Hand und drehte ihn zu sich. Sie erwiderte den Kuß mit trockenen dicken Lippen, etwa wie ein Tier, das seine Rüsselschnauze gegen eine Glasscheibe drückt.

Erst als sie im Hausflur standen, fand sie sich in der Welt wieder zurecht. Sie gab Esch einen Stoß vor die Brust, und mit noch unsicheren Schritten gewann sie ihren Platz hinter dem Büfett. Dort setzte sie sich nieder und schaute ins Lokal, das wie im Nebel vor ihr lag. Endlich erkannte sie Wrobek am ersten Tische und sie sagte: »Guten Abend, Herr Wrobek.« Aber sie sah nicht, daß Esch ihr ins Lokal gefolgt war, und sie merkte auch nicht, daß er zu den letzten gehörte, die das Lokal verließen. Als er sie zum Abschied grüßte, sagte sie teilnahmslos: »Gute Nacht, meine Herren.« Dennoch hatte Esch, aus der Wirtschaft tretend, ein sonderbares und fast stolzes Gefühl: Liebhaber Mutter Hentjens zu sein.

Wenn man eine Frau einmal geküßt hat, folgt alles übrige unabweislich und unabänderlich. Man kann es verlangsamen, aber man kann ein Naturgesetz nicht aufheben. Darüber wußte Esch Bescheid. Trotzdem war er nicht imstande, sich den Fortgang seines Verhältnisses zu Mutter Hentjen vorzustellen, und es war ihm daher angenehm, daß Teltscher ihn am folgenden Mittag in die Wirtschaft begleitete; das Wiedersehen mit Mutter Hentjen war dadurch erleichtert und überhaupt, es war einfacher.

Teltscher hatte etwas Neues ausgeheckt: man müßte eine Negerin auftreiben, das würde den Schlußrunden einen besonderen Reiz verleihen; er wollte sie »Schwarzer Stern von Afrika« nennen, und die Germanin müßte nach zwei unentschiedenen Runden den Schwarzen Stern schließlich besiegen. Esch fürchtete ein wenig, daß Teltscher diese afrikanischen Pläne vor Mutter Hentjen ausbreiten würde, und er hatte sich darin nicht getäuscht, denn gleich beim Eintritt brachte Teltscher seine Neuigkeit vor: »Frau Hentjen, unser Esch wird uns eine Negerin verschaffen.« Sie begriff erst nicht, auch dann noch nicht, als Esch wahrheitsgemäß versicherte, daß er kaum wüßte, wo er eine Schwarze hernehmen sollte, nein, Mutter Hentjen wollte überhaupt nicht hinhören, sondern wappnete sich mit saurer Bitterkeit: »Eine mehr oder weniger, das spielt bei dem wohl keine Rolle.« Angeregt klopfte Teltscher ihm aufs Knie: »Natürlich, ein Mann, dem die Damen derart zufliegen, mit dem nimmt's keiner auf.« Esch schickte einen Blick zu dem Bild des Herrn Hentjen: da war einer, der es mit ihm aufgenommen hatte. »Ja, so ist der Esch«, wiederholte Teltscher. Frau Hentjen war es eine Bestätigung ihrer eigenen schlechten Meinung und sie suchte das Bündnis mit Teltscher weiter auszubauen; sie betrachtete die kurzen steifen Haare Eschs, diese dunkle Bürste, unter welcher gelblich die Kopfhaut schimmerte, und sie fühlte, daß sie heute einen Bundesgenossen brauchte. Von Esch sich abkehrend, lobte sie Teltscher; es sei nur allzu verständlich, daß ein Mann, der etwas auf sich halte, von diesen Weibergeschichten nichts wissen wolle und sie lieber einem Herrn Esch in Auftrag gebe. Esch sagte gereizt, das seien Aufträge, um die mancher sich reißen würde, die freilich mancher nicht ausführen könne. Und er verachtete Teltscher, dem es nicht einmal gelungen war, Ilona für sich zu behalten. Aber gemach, bald wird die keiner mehr für sich behalten: »Nun, Herr Esch«, sagte Frau Hentjen, »nur zu, die Negerin wartet, machen Sie sich schleunigst an die Arbeit.« Ja, das werde er auch, erwiderte er, und kaum daß er gegessen hatte, stand er auf und ließ die etwas verdutzte Frau Hentjen in Teltschers Gesellschaft zurück.

Er lungerte eine Zeitlang herum. Er hatte nichts zu tun. Er ärgerte sich, daß er sie mit Teltscher allein gelassen hatte, und schließlich trieb es ihn zurück. Es war nicht anzunehmen, daß er Teltscher noch antreffen würde, doch er wollte sich vergewissern. Die Wirtsstube war leer und auch in der Küche fand er niemanden. Teltscher war also fortgegangen und er hätte sich ebenfalls entfernen können; aber es war ihm bekannt, daß sich Frau Hentjen um diese Zeit stets in ihrem Zimmer aufzuhalten pflegte, und jäh wußte er nun auch, daß er deshalb hierher zurückgekehrt war. Er zögerte einen Augenblick und dann stieg er leise die Holztreppe hinauf. Ohne anzuklopfen, trat er ein. Mutter Hentjen saß beim Fenster und stopfte Strümpfe; als sie seiner ansichtig wurde, stieß sie einen leisen Schrei aus und erstarrte. Er ging geradewegs auf sie zu, drückte sie auf den Stuhl zurück und küßte sie auf den Mund. Sie warf den schweren Körper abwehrend und ausweichend hin und her, gurgelte heiser: »Gehen Sie hinaus … Sie haben hier nichts zu suchen.« Schmerzlicher als unter seiner Gewalttätigkeit litt sie unter dem Gedanken, daß er, der von einer Tschechin oder Negerin kam, hier in ihrem Zimmer war, in dem Zimmer, das noch nie ein Mann betreten hatte. Sie kämpfte für das Zimmer. Doch er hielt sie fest, und schließlich erwiderte sie mit trockenen dicken Lippen seine Küsse, vielleicht nur, um ihn durch solche Milde zum Gehen zu bewegen, denn zwischendurch und mit zusammengebissenen Zähnen wiederholte sie immer von neuem: »Sie haben hier nichts zu suchen.« Zuletzt flehte sie nur noch: »Nicht hier.« Esch, des lustlosen Kämpfens müde, erinnerte sich, daß er eine Frau vor sich hatte, der Hochachtung und Respekt gebührte. Wenn sie einen Wechsel des Schauplatzes wünschte, warum nicht? er ließ von ihr ab und sie drängte ihn zur Türe. Als sie auf dem Flur standen, sagte er heiser: »Wohin?« Sie verstand nicht, denn sie glaubte, daß er nun gehen werde. Esch, nahe ihrem Gesicht, fragte nochmals »Wohin?«, und da sie unbeweglich blieb, keine Antwort gab, umfaßte er sie neuerdings, um sie wieder in das Zimmer hineinzubefördern. Sie empfand es als einzige Aufgabe, das Zimmer zu schützen. Hilflos sah sie sich um, sah die Türe zur guten Stube, hatte plötzlich die Hoffnung, daß des Raumes Vornehmheit ihn zu Vernunft und guten Sitten zurückführen werde, und wies mit dem Blick dorthin; er gab den Weg frei, folgte ihr aber, die Hand auf ihrer Achsel, als führte er einen Gefangenen.

Eintretend sagte sie unsicher: »So, jetzt werden Sie wohl vernünftig sein, Herr Esch«, und wollte zum Fenster gehen, um die verdunkelnden Läden zu öffnen. Indes er hatte sie nun von rückwärts umschlungen und Frau Hentjen konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie trachtete freizukommen, da torkelten sie ein wenig und gerieten in die Nüsse, so daß sie beinahe hingefallen wären. Die Nüsse zerbrachen ihnen unter den Schuhen, und als, den Vorrat zu schonen, Frau Hentjen zurückstrebte und sich dem Alkoven näherte, um dort Halt und festen Fuß zu fassen, gab es für sie einen Augenblick schlafwandlerischer Besinnung: war sie es nicht selber gewesen, die ihn hierher gelockt hatte? Allein dies erbitterte sie nur noch mehr und sie zischte: »Gehen Sie nur zu Ihrer Negerin … mich werden Sie nicht herumkriegen wie Ihre Weiber.« Sie klammerte sich an der Ecke des Alkovens an, erwischte aber den Vorhang; die Holzringe an der Vorhangstange klapperten leise, und aus Angst, den guten Vorhang zu beschädigen, ließ sie los, so daß sie nun in die dunkle Nische zu den Ehebetten hin gedrängt werden konnte. Noch immer hinter ihr stehend, hatte er ihre freigewordenen Hände nach rückwärts und an sich gezogen, so daß sie die Erregung des Geschlechts an ihm spüren mußte. Sei es darum, sei es weil der Anblick der Ehebetten sie in wehrlose Erstarrung brachte, sie erschlaffte unter seinem keuchenden Drängen. Und da er ungeschickt an ihren Kleidern riß, und da es jetzt wieder ihre Wäsche war, die in Gefahr gebracht wurde, half sie, wo es ihm nicht gelang, selber nach wie ein Delinquent, der selber dem Henker behilflich ist, und es erfüllte ihn fast mit Grauen, wie glatt nun alles vonstatten ging und wie Mutter Hentjen, da sie auf das Bett kippten, sich sachlich auf den Rücken legte, ihn zu empfangen. Und es erfüllte ihn mit noch tieferem Grauen, daß sie, unbeweglich und erstarrt, als käme sie einer alten Pflicht nach, als setzte sie bloß alte und gewohnte Pflicht fort, tonlos und lustlos es geschehen ließ. Bloß ihr runder Kopf rollte wie in einem steten Verneinen auf der Decke hin und her. Die Wärme ihres geöffneten Körpers fühlend, übersteigerte er seine Lust, um die ihre erweckend zu besiegen. Er hielt ihren Kopf zwischen den Händen, umklammerte ihn, als wollte er die Gedanken, die darin erstarrt waren und die ihm nicht gehörten, herauspressen und sein Mund folgte den unschönen schweren Flächen der feisten Wangen und der niederen Stirn, die stumpf und unbeweglich blieben, so unbeweglich und stumpf wie die Masse, für die Martin sich opferte und die unerlöst doch blieb. Vielleicht mochte Ilona die feiste Massigkeit Korns so empfinden, und für einen Augenblick war es beglückend, daß er ihr es gleich tat und daß es gerecht war und daß es für sie und für die Erlösung zur Gerechtigkeit geschehe. Oh, sich auszulöschen, stets verwaister zu werden, selber sich zu vernichten mit all der Ungerechtigkeit, die man trägt und die man angesammelt hat, dennoch auch die auszulöschen, deren Mund man sucht, auszulöschen die Zeit, die auch die ihre war, die Zeit, die in den ältlichen Wangen sich niedergelegt hatte, Wunsch, die Frau zu vernichten, die in der Zeit gelebt hatte, zeitlos sie neu erstehen zu lassen, erstarrt und bezwungen in der Vereinigung mit ihm! Nun hat sich ihr Mund an seinen suchenden gepreßt wie die Schnauze eines Tieres an eine Glasscheibe, und Esch war voll Wut, daß sie ihre Seele, damit er ihrer nicht habhaft werde, hinter den zusammengebissenen Zähnen gefangen hielt. Und als sie mit rauhem Grunzen endlich die Lippen öffnete, da empfand er Seligkeit, wie er sie noch nie bei einem Weibe erfahren hatte, verströmte grenzenlos in ihr, sehnend sie zu besitzen, die nicht mehr sie war, sondern ein wiedergeschenktes, dem Unbekannten abgerungenes mütterliches Leben, auslöschend das Ich, das seine Grenzen durchbrochen hat, verschwunden und untergetaucht in seiner Freiheit. Denn der Mensch, der das Gute und das Gerechte will, will das Absolute, und Esch ward zum ersten Male inne, daß es nicht auf Lust ankomme, sondern daß es um eine Vereinigung geht, die herausgehoben ist über den zufälligen und traurigen, ja sogar schäbigen Anlaß, um ein vereinigtes Verlöschen, das zeitlos selber, die Zeit aufhebt und daß die Wiedergeburt des Menschen ruhend ist wie das All, das dennoch klein wird und ihm sich beschließt, wenn sein ekstatischer Wille es bezwungen hat, damit das ihm werde, was allein ihm zu eigen ist: die Erlösung.

 

Was bedeutete es schon, Liebhaber Mutter Hentjens zu sein! Viele Männer gibt es, welche meinen, daß der Mittelpunkt des Lebens im Dasein einer bestimmten Frau gelegen sei. Esch hatte sich seit jeher von solchen Vorurteilen freizuhalten gewußt. Justament nicht, auch wenn Frau Hentjen in seinen Gedanken sich manchmal merkwürdig vordrängte. Justament nicht. Für sein Leben gab es größere und höhere Ziele.

In der Nähe des Neumarkts blieb er vor einer Buchhandlung stehen. Sein Blick fiel auf ein Bild der Freiheitsstatue, golden auf grünes Leinen gepreßt; darunter der Titel »Amerika heute und morgen«. Er hatte in seinem Leben noch nicht viele Bücher gekauft und er wunderte sich selbst, daß er jetzt eintrat. Die Buchhandlung mit ihren glatten Ladentischen und der schönen Ordnung der viereckigen Bücher erinnerte von ferne an ein Zigarrengeschäft. Er wäre gerne länger verweilt, um zu plaudern, aber da niemand ihn beachtete, zahlte er das Buch und hatte ein Paket in der Hand, mit dem er nichts anzufangen wußte. Ein Geschenk für Frau Hentjen? Sicherlich würde sie nicht das geringste Interesse dafür aufbringen, und trotzdem war da etwas, das den Kauf auf unerklärliche Weise mit ihr in Zusammenhang brachte. Unschlüssig blieb er nochmals vor der Auslage stehen. An einer Schnur hinter der Glasscheibe hingen die bunten Hefte der Sprachführer und auf ihren Umschlägen wehten die Flaggen der zugehörigen Nationen wie eine fröhliche Aufmunterung für den Lernbegierigen. Esch begab sich zum Mittagstisch in die Wirtschaft.

Mit einem ungeeigneten Geschenk wagt man sich lieber gar nicht hervor, und Esch trug sein Buch zum Fenster; hier pflegte er nach Tisch immer seine Zeitung zu lesen, warum sollte er also nicht auch mit seinem Buche hier sitzen. Es dauerte gar nicht lange und über die leere Gaststube hin rief Mutter Hentjen ihm zu: »Nun, Herr Esch, Sie haben natürlich Zeit, am hellichten Tag Bücher zu lesen.« – »Ja«, rief er erfreut zurück, »ich zeige es Ihnen schon«, stand auf und brachte den Band zum Büfett »Was soll's damit«, sagte sie, als er ihr das Buch hinhielt; er machte eine Kopfbewegung, daß sie sich's ansehen möge; sie blätterte ein wenig herum, betrachtete einige Bilder genauer und gab ihm das Buch mit einem »Na schön«, einfach zurück. Esch war enttäuscht; er hatte es sich ja gedacht, daß sie dafür kein Interesse haben würde, was wußte so eine Frau von größeren und höheren Zielen! Nichtsdestoweniger blieb er stehen und wartete, daß noch etwas nachfolgen werde, … doch es folgte bloß, daß Mutter Hentjen sagte: »Sie denken wohl, den ganzen Nachmittag mit dem Zeug da herumzusitzen.« Esch antwortete: »Ich denke gar nichts«, und beleidigt trug er sein Buch nach Hause, um es eben allein zu lesen. Und er nahm sich vor, allein auszuwandern. Mutterseelenallein. Und trotzdem vermeinte er immer wieder, das amerikanische Werk nicht nur für sich sondern auch für Mutter Hentjen zu studieren.

Jeden Tag las er ein Stück. Vorerst hatte er bloß die Bilder angesehen, und wenn er jetzt an Amerika dachte, so schien es ihm, als ob dort die Bäume nicht grün, die Wiesen nicht bunt, der Himmel nicht mehr blau wäre, sondern als ob alles Leben dort in den glänzenden und eleganten Schattierungen braun-grauer Photographien oder in den scharfen Konturen zart schraffierter Federzeichnungen sich abspielte. Später vertiefte er sich in den Text. Die vielen statistischen Zahlen langweilten ihn zwar, doch er war zu gewissenhaft, um sie zu überschlagen, und es gelang ihm, sich eine ganze Menge davon einzuprägen. Viel Interesse brachte er den amerikanischen Polizei- und Gerichtseinrichtungen entgegen, die, behauptete das Buch, in den Dienst der demokratischen Freiheit gestellt waren, so daß es für jeden, der ein Buch zu lesen verstand, einsichtig wurde, daß man dort keine Krüppel auf Geheiß lasterhafter Reeder einzukerkern pflegte; Martin sollte also mitkommen. Esch blätterte um, und sonderbar genug, die Photographie des Ozeanriesen vor der Landungshalle zu New York zeigte Mutter Hentjen im Braunseidenen, den dünnen rosa Sonnenschirm zwischen den Händen, wie sie an der Reling lehnte, die Blicke auf das Gewühl der Ankömmlinge gerichtet, während Martin mit seinen Krücken auf einer Kiste saß, ringsum aber die Laute der englischen Sprache ertönten.

Und gründlich wie er war, entschloß sich Esch nach einigem Zögern, den Buchladen, dessen Einrichtung ihn angeheimelt hatte, wieder aufzusuchen. Der neuerlichen Geldausgabe nicht achtend, erwarb er den englischen Sprachführer mit dem anlockend fröhlichen Union Jack und machte sich auch unverzüglich daran, die englischen Vokabeln zu lernen, und hinter jedem Worte stand das Wort »Freiheit« in den graubraunen eleganten Tönen einer seidig glänzenden Photographie, als sollte mit diesem Wort alles, was gewesen und in der alten Sprache ausgedrückt worden war, in Vergessenheit aufgelöst und erlöst werden. Er entschied, daß sie sogar untereinander sich der englischen Sprache bedienen würden, und daß zu diesem Zwecke Mutter Hentjen das Englische beigebracht werden müsse. Aber mit seiner gesunden Verachtung für alles Träumerische ließ er es nicht bei leeren Wünschen bewenden: sein Gewinnanteil wuchs, und wenn auch in den letzten Tagen der Besuch der Ringkämpfe etwas nachgelassen hatte, so blieben aus dem Geschäft jedenfalls an zweihundert Mark Überschuß, die er nun endgültig zum Grundstock des Reisegelds bestimmte; mithin konnte man handeln, konnte dem Kerker entfliehen, konnte das neue Leben beginnen. Oft trieb es ihn jetzt zum Dom. Schaute er von den Stufen über den Domplatz hin und tauchten Englisch sprechende Menschen auf, so war es wie ein Hauch von Freiheit, den man empfing und der die Stirne berührte, nahm man den Hut ab in dem lauen Sommerwind. Selbst die Straßen Kölns bekamen dann ein anderes, man könnte schier sagen, ein unschuldigeres Gesicht, und Esch betrachtete sie mit Wohlwollen und fast mit ein wenig Schadenfreude. Man sollte bloß erst drüben sein, jenseits des großen Teiches, dann wird es auch hier anders aussehen. Und würde man dereinst zurückkehren, so wird man sich von dem Englisch sprechenden Fremdenführer den Dom zeigen lassen.

Nach der Vorstellung wartete er auf Teltscher; in der milden regnerischen Luft gingen sie durch die Nacht. Esch blieb stehen: »Also, Teltscher, Sie haben stets von Ihren Amerika-Engagements geflunkert: jetzt heißt's Ernst damit machen.« Teltscher liebte Gespräche über das große Los: »Wenn ich will, kriege ich drüben Engagements so viel ich will.« Esch lehnte ab: »Mit Ihrer Messerwerferei … nun, ja, … meinen Sie nicht, daß man drüben auch Ringkämpfe oder so was machen könnte?« Teltscher lachte geringschätzig: »Wollen Sie vielleicht gar mit unseren Weibern hinüber?« – »Warum schließlich nicht?« »Sie sind ein Trottel, Esch, mit dem Material wollen Sie hinüber! Wenn überhaupt … drüben verlangt man sportliche Leistungen, was aber unsere Weiber aufführen …«, er lachte wieder. Esch schlug vor: »Das ließe sich doch zusammenstellen.« – »Unsinn, die warten drüben gerade auf uns«, sagte Teltscher, »und wo bringen Sie hier so geschulte Kräfte zusammen …« Teltscher dachte nach, »... wenn diese Kühe wenigstens nach was aussehen würden, dann wäre eher etwas zu machen. Allerdings bloß in Mexiko oder Südamerika.« Esch war erst nicht im Bilde und Teltscher ärgerte sich über solche Begriffstutzigkeit: »No, bei der Fleischnot, was die dort drüben haben … wenn's mit der Ringerei nicht geht, hat man für die Kühe jedenfalls schon den Stall vorbereitet, und die Reisespesen und die Provision hat man in der Tasche.« Das schien einleuchtend. Schließlich warum nicht Südamerika oder Mexiko. Und das braungraue Photographenbild in Eschs Kopf verwandelte sich in farbenprächtige Südlichkeit. Ja, es war überzeugend. Teltscher sagte: »Sie haben doch diesmal Ihre Sache recht schön gemacht, Esch. Sehen Sie zu, daß wir unsern Zirkus frisch herrichten, mit Weibern, die was gleichen. Ich kenne ein paar Leute, die uns die Geschichte da drüben ganz gut agentieren würden. Und dann fahren wir mit der ganzen Fracht los.« Esch wußte, daß dies verteufelt nach Mädchenhandel aussah. Aber er brauchte es nicht zu wissen, denn die Ringkämpfe waren ein legales Geschäft, und wenn es sich vielleicht etwas anrüchig anließ, was verschlug's: das Konto einer Polizei, die Unschuldige einkerkert, wurde damit ein wenig ausgeglichen. Eine Polizei, die im Dienste der Freiheit wirkt und die von den Reedern kein Geld nimmt, wird solche Richtigstellungen nicht zu gewärtigen haben. Gewiß war Mädchenhandel nichts Feines, schließlich aber betreibt auch Mutter Hentjen ihre Wirtschaft gegen ihre Überzeugung. Und auch Lohberg mag sein Geschäft nicht. Und immer noch besser, man bringt Teltscher mit dem Zirkus nach Amerika, als ihn hier Messer werfen lassen. Sie gingen bei einem Schutzmann vorbei, der in dem nächtlichen Regen gelangweilt auf und ab patrouillierte, und Esch hätte ihm gerne versichert, daß die Polizei sich trotzdem nicht zu beklagen haben würde, sie wird ihren Nentwig schon noch von ihm geliefert bekommen! Ein Esch hält Ordnung und hält seine Verpflichtungen ein, selbst wenn der Partner ein Schwein ist. »Schweinepolizei«, brummte er. Der nasse Asphalt glänzte wie Photographenpapier schwarzbraun im Lichte der gelben Lampen und Esch sah die Freiheitsstatue vor sich, deren Fackel all das verbrennt und erlöst, was herüben zurückgelassen wird, alles Gewesene und alles Tote dem Feuer überantwortet, – und wenn dies Mord ist, so ist es einer, über den die Polizei nicht mehr richten darf. Um der Erlösung willen. Seine Entscheidung war getroffen, und als Teltscher ihm beim Abschied zurief: »Und vergessen Sie nicht: blond und immer wieder blond wird drüben verlangt«, da stand es für ihn fest, daß er blonde Mädchen suchen und bringen werde. Er hatte vorher bloß noch seine alten Rechnungen glatt zu stellen, dann würden sie mit der ganzen blonden Fracht losfahren. Würden von des Ozeanriesen hohem Deck hinunterschauen auf das Gewimmel der kleineren Fahrzeuge. Würden der Alten Welt ein Valet zurufen, auf Nimmerwiedersehen. Vielleicht werden die blonden Mädchen auf dem Schiffe ein Abschiedslied anstimmen, werden es im Chore singen, und wenn das Schiff, an scharfgespanntem Seil gezogen, bei den Ufern vorbeigleitet, dann wird am Ufer vielleicht Ilona spazieren gehen und winken, sie selber blond, dennoch aller Gefahr entrückt, und die Wasserfläche wird immer breiter werden.

 

Eigentlich hätte er zugeben müssen, daß seine Geliebte eine ebenbürtige Partnerin war: hatte man die Liebe hinter sich gebracht, so wollte Mutter Hentjen nichts mehr davon wissen. Darin glich sie ihm, war sie auch von anderen Motiven bewegt. Ihr nämlich war die Liebe etwas so tief Geheimes, daß sie kaum deren Namen auszusprechen vermochte. Stets aufs neue vergaß sie die Existenz des Liebhabers, den sie nun einmal hatte und den sie nicht abhalten konnte, nachmittags zur Zeit ihres Schlummerstündchens oder nachts, nachdem die letzten Gäste das Haus verlassen hatten, zu ihr zu schleichen, und stets aufs neue senkte sich mit seiner Annäherung erstarrte Überraschung auf sie hernieder, Erstarrung, die erst langsam sich löste, wenn das dämmerige Zimmer und der Alkoven sie aufgenommen hatten: dann löste es sich zu einem Gefühl verantwortungsloser Einsamkeit, und der dunkle Alkoven, in dem sie lag und zu dessen Decke sie aufschaute, begann zu entschweben, schien bald nicht mehr Teil des wohlvertrauten Hauses zu sein, sondern war wie ein freischwebendes Gefährt, das irgendwo im Dunkeln und Endlosen hing. Dann erst erfaßte sie, daß da einer war, der sich bei ihr befand und sich um sie bemühte, und es war nicht mehr Esch und das war überhaupt nicht mehr einer, den sie kannte, es war ein Wesen, das seltsam und gewalttätig sich in diese Einsamkeit gedrängt hatte und dem man doch die Gewalttätigkeit nicht vorwerfen konnte, denn dieses Wesen war ein Stück der Einsamkeit, und mit der Einsamkeit fand man es erst, ein Wesen, ruhend und drohend, heischend, daß man seine Gewalttätigkeit besänftige: man mußte darum die Spiele mit ihm spielen, die es forderte, und war das Spiel also auch erzwungen, es war auch seltsam erlaubt, weil die Einsamkeit es umschloß, und selbst Gott schloß die Augen davor. Der aber, mit dem sie das Lager teilt, ahnt kaum etwas von solcher Einsamkeit, und sie wachte strenge darüber, daß er die Einsamkeit nicht sprenge. Von tiefer Stummheit wird er umfangen, und sie läßt an dieser Stummheit nicht rütteln, mag er sogar dieses ungefüge Schweigen für Blödheit oder Plumpheit nehmen. In der Stummheit zerbricht die Scham, denn das Wort erst hat die Scham geschaffen. Was sie erlebt, ist nicht Lust sondern Befreiung von der Scham: so einsam ist es um sie, daß, als sei sie für ewig allein, sie sich keiner Faser des Körpers mehr schämt. Er begreift diese Stummheit nicht und ist doch niedergeworfen von diesem schamlosen Schweigen, das sich in tierischer Unbewegtheit darbietet und fordert. Sie gibt ihm kaum ein Seufzen, und alles in ihm ist qualvolles Warten und Hoffen, daß sich die Stimme endlich in einem Schrei befreiter rauher Lust auflöse. Freilich, gar oft wartet er vergebens und dann haßt er die besänftigende Gebärde, mit der sie ihn einlädt, an ihrer unbewegten fleischigen Achsel einzuschlafen. Jedesmal aber schickt sie den Liebhaber jäh und hart weg, als wollte sie ihn und seine Mitwisserschaft plötzlich vernichten: sie schiebt ihn zur Türe hinaus, und wenn er die Treppe hinabschleicht, spürt er ihre Feindseligkeit im Rücken. Da ahnt er, daß er in fremdestem Lande gewesen, und trotzdem zwingt ihn diese Erkenntnis qualvoll und mit steigendem Begehren stets aufs neue zu ihr zurück. Denn in der Seligkeit zu versinken, stumm und namenlos aufzugehen in der Schamlosigkeit des Geschlechts, wacht unbesiegbar die Begierde, die Frau zu zwingen, daß sie ihn erkenne, daß das Jetzt aufleuchte in ihr wie eine Fackel und alles andere versenge, daß in dem erleuchtenden Brand sie seiner inne werde und aus dem nächtlichen Schweigen, das alle umfaßt, rauh die Stimme ertöne und zu ihm, dem Einzigen, du sage wie zu ihrem Kinde. Er weiß nicht mehr, wie sie aussieht, sie ist jenseits von schön und häßlich, von jung und alt, sie ist ihm nur schweigende Aufgabe, sie erobernd zu erlösen.

Obwohl er sich's in vieler Beziehung nicht anders wünschen konnte, ja sogar zugeben mußte, daß es gewissermaßen eine magistrale und eine das gewöhnliche Maß übersteigende Art der Liebe war, in deren Bann er sich befand, so war Esch dennoch jedesmal von neuem gekränkt, wenn er ins Lokal trat und Mutter Hentjen voll Angst, es könnten die Gäste etwas merken, ihm so wenig Beachtung schenkte, daß es entgegen ihrer Absicht geradezu auffällig wurde. Hätte er nicht weiteres Aufsehen oder gar Gerede vermeiden wollen und wäre es nicht um die wohlfeile und reichliche Mittagskost gegangen, er wäre kurzerhand ganz ausgeblieben. Also bemühte er sich, nachgiebig zu sein und in seinen Besuchen ein richtiges Mittelmaß zu finden; aber dies gelang nicht, er konnte es Mutter Hentjen einfach nicht recht machen: erschien er im Lokal, so zog sie ein unwirsches Gesicht und wünschte sichtlich sein Verschwinden, und kam er nicht, so fragte sie giftig und zischend, ob er vielleicht bei seiner Negerin gesteckt habe.

 

Teltscher war der Meinung gewesen, daß man Gernerth anständigkeitshalber die Teilnahme an dem südamerikanischen Projekt anbieten müßte. Damit wäre dem Projekt in den Augen Eschs eine gewisse Solidität verliehen worden. Gernerth aber lehnte mit dem Hinweis auf seine Familie ab, die er im Herbste, sobald er seine neue Pachtung anträte, doch zu sich nehmen wolle. Blieb also der Windbeutel Teltscher als alleiniger Associé. Mit dem war freilich kein Staat zu machen, aber man durfte die Sache nicht hinzögern; Esch begann sofort mit der Anwerbearbeit und machte sich auf die Suche nach exportfähigen Ringerinnen. Vielleicht ließ sich bei dieser Gelegenheit wirklich noch die fehlende Negerin auftreiben; das wäre natürlich ein Extraspaß gewesen.

Er durchzog wieder die Kneipen und Bordelle, und wenn er daselbst manchmal so etwas wie ein schlechtes Gewissen verspürte, so war es bloß, weil Frau Hentjen, käme sie ihm je darauf, doch nie glauben würde, daß er sich aus Geschäftsrücksichten zu derartigem hergegeben habe. Sozusagen als Nachweis seiner erotischen Uninteressiertheit, gewissermaßen als moralisches, wenn auch unsinniges Alibi, erstreckte er diese geschäftlichen Streifungen bis auf die Lokale der gleichgeschlechtlichen Liebe, Lokale, denen er bisher fast zaghaft aus dem Wege gegangen war. Und trotzdem fühlte er dunkel, daß noch ein anderer Grund vorhanden sein mußte, der ihn dorthin trieb. Was sich dort abspielte, hätte ihn natürlich gleichgültig lassen können, und eigentlich war es komisch, welches Grauen ihn überkam, wenn er die Männer Wange an Wange gelehnt miteinander tanzen sah. Immer mußte er sich dann seines ersten Besuches in solch einer Dreckbude erinnern und wie er, ein in der Welt herumgeworfener Bursche, der seine Mutter kaum gekannt hatte, am liebsten davongelaufen und zu ihr geflüchtet wäre, da er zum erstenmal einen Transvestiten zu Gesicht bekommen hatte, der in Schnürleib und seidenem Schleppkleid, mit Fistelstimme unzüchtige Lieder sang. Wenn er sich den Dreck jetzt wieder ansah und es auf sich nahm, daß ihn beim Anblick dieser warmen Brüder das Kotzen ankam, so könnte Mutter Hentjen, diese Pute, eigentlich begreifen, welches Vergnügen ihm diese Geschäftswege boten. Weiß Gott, er würde lieber zu ihr flüchten, als hier herumlungern und nach irgend etwas suchen zu müssen wie nach der verlorenen Unschuld. Geradezu lächerlich, daß man in dieser Gesellschaft etwa auf einen Reedereipräsidenten stoßen sollte, wo diese Strichjungen sicherlich keine Ware für so einen Präsidenten sind. Immerhin, bei der Sippe hat man auf alles gefaßt zu sein. Und da der Mensch in gewagten Lebenssituationen der Selbstbeherrschung bedarf, haute Esch den Herrchen nicht die geschminkte Fresse ein, wenn sie ihn ansprachen; im Gegenteil, er war liebenswürdig, bot ihnen süßen Likör an, erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen und – wurden sie zutraulich – auch nach ihren Einnahmequellen und nach den zahlenden Onkeln. Zwar wunderte er sich manchmal, weshalb er sich dieses Geschwätz anhörte, horchte aber auf, wenn der Name des Präsidenten Bertrand fiel; dann wurde das konturige zartschraffierte Bild, das er von der Gestalt dieses vornehmen Mannes kaum erfaßbar, dennoch überlebensgroß mit sich herumtrug, langsam farberfüllter, erhielt eine merkwürdige zarte Farbigkeit und wurde gleichzeitig ein wenig kleiner, da es sich nun verschärfte und verdichtete: auf einer Motorjacht fahre jener den Rhein entlang, er habe die schönsten Matrosen; alles sei weiß und himmelblau auf diesem Traumschiff; einst sei er nach Köln gekommen und der kleine Harry hat das Glück gehabt, ihm in die Arme zu laufen; bis Antwerpen fuhren sie mit der Zauberjacht und in Ostende lebten sie wie Götter; aber sonst gibt er sich mit unsereins nicht ab; sein Schloß steht in einem großen Park bei Badenweiler; Rehe äsen auf den Wiesen und die seltensten Blumen senden ihre Düfte aus; dort wohnt er, wenn er nicht in fernsten Landen weilt; niemand hat Zutritt und seine Freunde sind Engländer und Indier von unbeschreiblichem Reichtum; er besitzt ein Automobil und das ist so groß, daß er es zur Nachtruhe benützen kann. Er ist reicher als der Kaiser.

Beinahe vergaß Esch seine Anwerbungen, so sehr war er von dem Wunsch besessen, Harry Köhler zu finden; und als ihm dies gelang, hatte er Herzklopfen und benahm sich so respektvoll, als wüßte er nicht, daß der kleine Bursche kaum etwas anderes war als ein Strich junge. Er vergaß seinen Haß, vergaß daß Martin leiden mußte, damit diese Burschen ein feines Leben führen konnten, ja, er war fast eifersüchtig, daß er dem Knaben, der feinen und wohlhabenden Verkehr gewöhnt war, nichts Ähnliches zu bieten hatte, es sei denn einen Besuch der Ringkämpfe, zu welchen er Herrn Harry freundlichst einlud. Doch dieser ließ sich durchaus nicht imponieren, sondern machte bloß angeekelt und abweisend »Puah«, so daß Esch sich schämen mußte, Unpassendes vorgeschlagen zu haben; aber da er sich zugleich ärgerte, sagte er grob: »Ja, auf eine Jacht kann ich Sie nicht einladen.« – »Wie belieben Sie zu meinen?« war die etwas mißtrauische, dennoch sehr sanfte Antwort. Alfons, der dicke blonde Musiker, der ohne Rock im bunten Seidenhemd am Tische saß und dessen Fettwülste wie Weiberbrüste unter dem Hemd lagen, lachte mit weißen Zähnen: »Er meint schon das Richtige, Harry.« Harry zeigte ein gekränktes Gesicht: »Sie wollen hoffentlich niemanden beleidigen, mein Herr.« Bewahre, lenkte Esch ein, wo werde er denn, es tue ihm bloß leid, weil er wisse, daß Herr Harry Feineres gewöhnt sei. Harry, schwach und resigniert lächelnd, winkte müde mit der Hand: »Vorbei.« Alfons streichelte seinen Arm: »Kränk' dich nicht, Kleiner, sind so viele da, die dich trösten wollen.« Harry schüttelte den Kopf in weicher Traurigkeit: »Man liebt bloß einmal im Leben.« Der spricht ja wie Lohberg, dachte Esch, und sagte: »Das ist wahr.« Denn mochte der Mannheimer Idiot auch selten recht haben, hier sollte es so sein, und Esch wiederholte: »Ja, das ist wahr.« Harry war offenbar erfreut, Anerkennung zu finden, und sah Esch dankbar an, doch Alfons, der so was nicht hören wollte, empörte sich: »Und alle Freundschaft, die man dir entgegenbringt, Harry, bedeutet dir nichts?« Harry schüttelte den Kopf: »Was ist das bißchen Vertrautheit, das ihr Freundschaft nennt? als ob Liebe mit eurer Freundschaft und mit dieser Vertrautheit je etwas zu tun hätte!« – »Ja, Kleiner, du hast eben deine eigenen Ansichten von der Liebe«, sagte Alfons zärtlich. Harry sprach wie aus einem Erinnern heraus: »Liebe ist große Fremdheit.« Esch mußte an das Schweigen Frau Hentjens denken, indessen Alfons sagte: »Das ist für einen armen Musiker eben zu hoch, mein Kleiner.« Das Orchester erzeugte großen Lärm, und Harry, der sich weit über den Tisch gelehnt hatte, um nicht schreien zu müssen, sprach leise und geheimnisvoll: »Liebe ist große Fremdheit: da sind zwei und jeder ist auf einem andern Stern und keiner kann je etwas vom andern wissen. Und auf einmal gibt's keine Entfernung mehr und keine Zeit und sie sind ineinandergestürzt, so daß sie nichts mehr von sich und nichts mehr voneinander wissen und auch nichts mehr zu wissen brauchen. Das ist Liebe.« Esch dachte an Badenweiler: entrückte Liebe auf entrücktem Schloß; so etwas war wohl für Ilona vorbestimmt. Aber während er noch darüber nachdachte, durchzuckte ihn wütender Schmerz, – niemals würde er ergründen, ob es solch hohe Form der Liebe gewesen war oder eine andere, mit der Herr und Frau Hentjen einander geliebt und sich gefunden hatten. Harry fuhr fort und sagte es auf wie einen Bibelvers: »Erst in einer fürchterlichsten Übersteigerung der Fremdheit, erst wenn die Fremdheit sozusagen ins Unendliche geführt ist, kann das aufblühen, was als unerreichbares Ziel der Liebe gelten darf und sie ausmacht: das Mysterium der Einheit … ja, so heißt es.« »Prost«, sagte Alfons traurig, doch Esch war es, als hätte der Knabe ein höheres Wissen empfangen, und die Hoffnung erwachte, es möchte das Wissen, welches der Knabe in sich trug, auch Antwort auf seine eigenen Fragen enthalten. Und obwohl sein Gedanke keineswegs zu denen paßte, die Harry vorgetragen hatte, sagte er, was er einst zu Lohberg gesagt hatte: »Aber dann darf keiner überleben«, erfüllt von teils freudiger, teils bitterer Sicherheit, daß die Witwe Hentjen, weil sie noch am Leben war, ihren Gatten nicht geliebt haben konnte. Alfons flüsterte Esch zu: »Um Himmelswillen, reden Sie vor dem Kleinen nicht solche Dinge«, allein es nützte nichts mehr, Harry sah ihn entsetzt an und sagte tonlos, bloß eine Spur tonloser als notwendig: »Ich lebe ja nicht mehr.« Alfons schob ihm das Doppelglas Likör hin: »Armer Kerl, seit jener Geschichte führt er solche Reden … er hat ihn total verdorben.« Esch fühlte sich in die Wirklichkeit zurückgerissen; er stellte sich unwissend: »Wer?« Alfons zuckte die Achseln: »Nun er, der große Gott, der weiße Engel …« – »Halt den Mund, oder ich kratz' dir die Augen aus«, fauchte Harry, und Esch, dem der Kleine leid tat, herrschte Alfons an: »Laß ihn in Ruh'.« Harry brach plötzlich in hysterisches Weinen aus: »Ich lebe ja nicht mehr, lebe nicht mehr …« Esch war ziemlich hilflos, weil er nicht die gleichen Methoden anwenden konnte, die er sonst bei weinenden Mädchen zu üben gewohnt war. Also auch das Leben dieses Knaben hatte jener zerstört; er wollte Harry etwas zuliebe tun und sagte unvermittelt: »Wir wollen diesen Bertrand erschießen.« Harry schrie auf: »Das wirst du nicht tun!« – »Warum nicht? das muß dir doch Freude machen, er hat's wohl verdient.« – »Du, du wirst es nicht tun …«, der Kleine kreischte mit irrsinnigen Augen, »... du darfst ihn nicht anrühren …« Esch ärgerte sich, daß der Bursche so dumm war und die gute Absicht verkannte. »So ein Schwein muß abgestochen werden«, beharrte er. »Er ist kein Schwein«, flehte Harry, »er ist das Edelste, das Beste, das Schönste auf Erden.« Irgendwo hatte der Kleine sicherlich recht: man durfte jenem nichts tun – Esch war nahe daran, es zu versprechen. »Hoffnungslos«, sagte Alfons wehmütig und trank seinen Likör aus. Harry hatte das Gesicht zwischen den Fäusten, und wie ein Pagode nickend, begann er zu lachen: »Er und ein Schwein, er und ein Schwein«; dann schlug sein Lachen wieder in Schluchzen um. Als Alfons ihn an die seidige Fettbrust ziehen wollte, mußte sich Esch ins Mittel legen, um eine Balgerei zu verhüten. Er kommandierte, Alfons möge sich trollen, und zu Harry: »Wir gehen. Wo wohnst du?« Willenlos geworden, gehorchte der Knabe und nannte die Adresse. Auf der Straße nahm Esch seinen Arm, als ginge er mit einem Mädchen, und Schutz gebend, Schutz empfangend, waren beide fast glücklich. Der Wind strich leise vom Rhein herauf. Vor seiner Türe schmiegte sich Harry an Esch, und es schien, als ob er sein Gesicht dem Manne zum Kuß bieten wolle. Esch schob ihn in die Türe. Doch Harry schlüpfte nochmals heraus und flüsterte ihm zu: »Du wirst ihm nichts tun«, und ehe Esch sich dessen versah, hatte ihn der Junge umfaßt, ungeschickt seinen Ärmel geküßt und war ins Haus verschwunden.

 

Der Besuch der Ringkämpfe ließ merklich nach und es mußte etwas für die Propaganda geschehen. Ohne die anderen zu fragen, entschloß sich Esch auf eigene Faust, bei der »Volkswacht« einen Bericht über die Kämpfe zu reklamieren. Doch vor der verschmutzt-weißen Türe der Redaktion entdeckte er mit aller Deutlichkeit, daß ihn wieder einmal irgend etwas anderes hergeführt hatte. An und für sich war dieser Besuch völlig sinn- und zwecklos: die ganze Ringkämpferei war ihm gleichgültig geworden, denn selbst für Ilona leistete sie ja nichts, auch für Ilona mußte Wichtigeres, Endgültigeres geschehen, und er war sich auch klar, daß die »Volkswacht« keine Berichte bringen werde, wenn sie es aus irgendwelchen proletarischen Vorurteilen bisher nicht getan hatte. Im Grunde war die Haltung des sozialistischen Blattes lobenswert; da gab's wenigstens ein Links und ein Rechts, gab's eine reinliche Scheidung zwischen bürgerlicher und proletarischer Weltanschauung. Eigentlich sollte man Mutter Hentjen auf eine derartige Charakterstärke aufmerksam machen: sie würde diese Leute, die zwar gewöhnliche Sozialisten sind, die aber gleich ihr die Ringkämpfe verdammten, nicht mehr geringschätzig abtun, und auch den Sozialisten Martin wird sie nicht mehr über die Achsel anschauen dürfen. Esch stutzte, da er an Martin dachte, allein der Teufel mochte wissen, was er, August Esch, heute hier in dieser Redaktion zu suchen hatte! Daß es nicht wegen der Ringkämpfe geschah, das war klar. Noch beim Eintreten grübelte er darüber nach, und erst als der Redakteur in höchst kränkender Weise sich seiner nicht mehr entsann, erst als die Streikgeschichte herhalten mußte, um solch schlechtem Gedächtnis nachzuhelfen, erst da ging es Esch auf, daß es sich ihm um Martin handelte. Er platzte heraus: »Ich habe eine wichtige Nachricht für Sie.« – »Ach, der Streik«, der Redakteur versuchte mit einer Geste das Ereignis zu bagatellisieren, »der ist ja längst vorbei.« – »Freilich«, antwortete Esch gereizt, »aber Geyring ist noch in Haft.« – »Nun, und? er hat eben seine drei Monate.« – »Da muß endlich etwas geschehen«, hörte Esch sich mit größerem Stimmaufwand sagen, als er beabsichtigt hatte. »Na, schreien Sie nicht so mit mir, – ich habe ihn doch nicht eingesperrt.« Esch war nicht der Mann, der locker ließ: »Es muß etwas geschehen«, beharrte er grimmig und unduldsam, »ich kenne die Burschen, mit denen Ihr sauberer Herr Bertrand sich abgibt, … die sind in Köln, nicht in Italien!« setzte er triumphierend hinzu. »Die kennen wir schon etliche Jahre, lieber Freund und Genosse. Oder ist dies die Neuigkeit, die Sie uns bringen wollen?« Esch war vor den Kopf geschlagen: »Ja, aber warum unternehmen Sie dann nichts? er hat sich doch geopfert.« – »Lieber Genosse«, sagte der andere, »Sie scheinen etwas kindliche Vorstellungen zu haben. Immerhin könnten Sie wissen, daß wir in einem Rechtsstaat leben.« Er wartete, daß Esch sich nun empfehlen werde, indes der rührte sich nicht, und so saßen die beiden Männer eine Zeitlang einander gegenüber, wußten nicht, was miteinander beginnen, verstanden einander nicht und sahen ein jeder bloß die Nacktheit und die Häßlichkeit des anderen. Auf Eschs Wangen zeigten sich rote Flecken der Erregung, verebbten in der bräunlichen Haut. Der Redakteur hinwieder trug seinen leichten braunen Samtrock, und das ein wenig volle Gesicht mit dem braunen hängenden Schnurrbart war wie der Samt des Rockes weichlich und kräftig zugleich. In dieser Übereinstimmung lag so etwas wie Koketterie und erinnerte Esch an die gezierte Kleidung der Burschen in den Männerlokalen. Er wurde angriffslustig: »Den warmen Bruder droben, den schützen Sie also? Der andere darf dafür im Kerker schmachten.« Angeekelt verzog er den Mund und zeigte sein Pferdegebiß. Der Redakteur wurde ungeduldig: »Sagen Sie, lieber Herr, was geht das eigentlich Sie an?« Esch hatte einen roten Kopf: »Sie verhindern absichtlich alles, was ihn retten kann … den Artikel haben Sie nicht abgedruckt; den Kerl, der ihn ins Gefängnis gebracht hat, diesen Bertrand, den schützen Sie … und Sie, Sie geben vor, für die Freiheit einzutreten?!« Er lachte bitter auf. »Die Freiheit ist bei Ihnen gut aufgehoben!« Sichtlich ein Narr, dachte der Redakteur und darum antwortete er ruhig: »Hören Sie, es ist doch zeitungstechnisch nicht möglich, daß wir das noch als Neuigkeit veröffentlichen, was Sie uns Wochen und Monate zu spät herbringen: so etwas …« Esch sprang auf: »Sie werden von mir schon noch Neuigkeiten erfahren«, schrie er und war draußen, schmetterte die weiß-schmutzige Türe, die nicht ins Schloß fallen wollte, sondern einigemal klappte, hinter sich zu.

Auf der Straße hielt er verdutzt an. Warum hatte er sich in dieser Weise aufgeführt? Konnte er es denn ändern, daß diese Sozialisten Schweine waren? Wieder einmal hatte Frau Hentjen recht, wenn sie diese Bande verachtete. »Feile Presse«, sagte er vor sich hin. Und dabei war er mit der allerbesten Absicht gekommen, hatte ihnen die Chance bieten wollen, sich vor Frau Hentjen zu rechtfertigen. Von neuem begannen die Dinge und Standpunkte sich in der ärgerlichsten Weise zu verschieben und zu vermischen. Festzuhalten war, daß der Redakteur sich wie ein Schwein benommen hatte, erstens überhaupt und zweitens weil er diesen Präsidenten Bertrand mit allen Mitteln einer feilen Presse, ja einer feilen Presse zu schützen suchte. Und dieser Herr Präsident war erst recht ein Schwein, trotzdem es der Kleine nicht wahrhaben wollte und man diesem Schweinepräsidenten nichts tun durfte. Hingegen war das, was der Kleine über die Liebe geredet hatte, wieder richtig. Nichts ist eindeutig! höchstens das eine war klar hervorgegangen: Frau Hentjen konnte ihren Mann nicht geliebt haben; sie war zu der Ehe mit diesem Schwein gezwungen worden. Und da Esch solcherart mit großem Haß der Welt umher gedachte und der Schweine, die man abzustechen hätte, wie es Schweinen gebührt, haßte er immer deutlicher den Präsidenten Bertrand, haßte ihn ob seiner Laster und seiner Verbrechen. Er versuchte, sich ihn vorzustellen, wie er in seiner Üppigkeit, eine dicke Zigarre in der Hand, auf Polstermöbeln an der Tafel des Schlosses sitzt, und wenn das vornehme Bild schließlich wie aus Tabaknebel hervortauchte, so glich es dem eines geckenhaften Schneidermeisters, sehr ähnlich dem Porträt des Herrn Hentjen, das über dem Bord in der Wirtschaft hing.

 

Zu Mutter Hentjens Wiegenfest, das alljährlich von den Stammgästen entsprechend gefeiert wurde, hatte Esch eine kleine bronzene Freiheitsstatue aufgetrieben, und das Geschenk dünkte ihn sinnig, nicht nur als Hinweis auf die amerikanische Zukunft, sondern auch als ein glückliches Pendant zu der Schillerstatue, mit der er solchen Erfolg gehabt hatte. Mittags stellte er sich damit ein.

Leider war es ein Mißerfolg. Hätte er ihr das Geschenk in aller Heimlichkeit zugesteckt, so wäre sie sicherlich imstande gewesen, die Schönheit des Bildwerkes aufzunehmen; aber die panische Furcht, in die sie durch jede Annäherung in der Öffentlichkeit und durch jede Vertrautheit versetzt wurde, machte sie so blind, daß sie wenig Freude äußerte, und sie wurde auch nicht wärmer, als er entschuldigend bemerkte, daß die Statue vielleicht gut zu Schillers Monument passen dürfte. »Ja, wenn Sie finden …«, sagte sie unbeteiligt, und das war alles. Natürlich hätte sie auch dieses Geschenk zum Schmucke ihres Zimmers verwenden können; aber damit er sich nicht etwa einbilde, daß er für alles, was er daherbringe, solch bevorzugten Platz beanspruchen dürfe, und damit er ein für allemal zur Kenntnis nehme, daß sie die Reinheit ihres Zimmers noch immer hochhielt, ging sie hinauf und holte das Schillermonument, um es mitsamt der neuen Freiheitsstatue auf das Bord neben den Eiffelturm zu stellen. Da standen nun der Freiheitssänger, die amerikanische Statue und der französische Turm als Symbole einer Gesinnung, die Frau Hentjen nicht zu eigen war, und die Statue reckte den Arm, reckte die Fackel zu Herrn Hentjen hinauf. Esch fühlte seine Geschenke durch Herrn Hentjens Blick entweiht und er hätte gerne verlangt, daß man zumindest das Porträt entferne; allerdings, was hätte das genützt? das Lokal, in dem Herr Hentjen gewirkt hatte, wäre trotzdem dasselbe geblieben, und es war ihm fast lieber, daß alles deutlich und ehrlich an seinem Platz blieb. Wozu etwas unehrlich verheimlichen wollen, was zu verheimlichen nicht möglich war! Und er machte die Entdeckung, daß er nicht bloß durch die Wohlfeilheit der Kost angelockt wurde, die er unter den Augen des Herrn Hentjen verabreicht bekam, sondern daß er auch dessen Gesicht zu irgend etwas Geheimnisvollem brauchte wie eine besondere und bittere Würze dieser Kost: es war die gleiche unentrinnbare Bitterkeit, mit der er sich durch das mürrische Gehaben Mutter Hentjens kränken ließ und sich doch unentrinnbar ihr verfallen fühlte, als sie ihm nun mürrisch zuraunte, daß er nachts kommen dürfe.

Er verbrachte den Nachmittag unter geilen Gedanken an die sachlichen Liebesriten Mutter Hentjens. Und war wieder gequält von dieser Sachlichkeit, die in so krassem Widerspruch zu ihrer sonstigen Abweisung stand. In welchen Nächten hatte sie diese Gewohnheiten angenommen? Eine Hoffnung, an die er selber nicht glaubte, dämmerte auf und versprach, daß dies alles abfallen werde, sie müßten bloß erst einmal in Amerika drüben sein, und die Milde solcher Hoffnung verschmolz mit der Erregung, die ihn überkam, da er ihren Haustorschlüssel in der Tasche spürte. Er nahm den Schlüssel heraus, legte ihn auf die flache Hand, befühlte das glatte Eisen des Schaftes. Die englische Sprache zu erlernen, hatte sie wohl abgelehnt, aber der Hauch der Zukunft strich wieder durch die Gassen. Schlüssel zur Freiheit, dachte Esch. Der Dom stand grau in der späten Dämmerung, eisengrau ragten die Türme, umweht vom Hauche des Neuen und Ungewohnten. Esch rechnete die Stunden bis zur Nacht. Wichtiger als die Alhambra wäre die Anwerbung der Mädchen für Südamerika. Fünf volle Stunden, dann wird man das Haustor aufsperren. Esch sah den Alkoven vor sich, sah sie im Bette dort liegen: daß er zu ihr gleiten würde, daß sie unter der Berührung seiner Haut und seiner Erregung aufzucken wird, das ließ seinen Atem eng und trocken werden. Denn noch vorige Woche und all die Wochen vorher hatte sie ihn in dumpfer Bewegungslosigkeit empfangen, und war auch dieses kurze starre Aufzucken etwas sehr Geringfügiges, – es war die Masse des Gewohnten nun doch an einer Stelle aufgehoben, an einer zwar winzigen, dennoch jungfräulichen Stelle, und das war wie ein Signal der Zukunft und der Hoffnung. Und Esch erschien es unanständig, heute, an Mutter Hentjens Geburtstag, Hurenlokale zu betreten; er begab sich in die Alhambra.

Als er nachher zur Wirtschaft kam, bemerkte er schon von weitem den gelben Schein, der auf dem holprigen Pflaster lag. Die Butzenscheibenflügel waren geöffnet, und drinnen sah man das Geburtstagskind sitzen, steif und im Seidenkleid, umringt von den lärmenden Gästen; eine Bowle stand auf dem Tisch. Esch blieb im Dunkeln, es widerte ihn an, hineinzugehen. Er machte kehrt, nicht um die Lokale aufzusuchen und pflichtgemäße Anwerbearbeit zu leisten, sondern er lief wütend durch die Straßen. Auf der Rheinbrücke lehnte er sich an das eiserne Geländer, schaute auf das schwarze Wasser, schaute zu den Schuppen hinüber. Seine Knie waren schwach geworden, so sehr hatte ihn die Gier gepackt, das starre Miedergehäuse zu sprengen, in dem die Frau steckte; die Fischbeinstäbe sollten knacken in dem wilden Kampf, der sich dabei entspinnen müßte. Mit ausgeleertem Gesicht schlackste er in die Stadt zurück; seine Hand ließ er an den Stäben des Brückengitters entlangstreifen.

Das Haus war dunkel. Mutter Hentjen, einen Leuchter in der Hand, erwartete ihn oben an der Treppe. Er blies den Lichtstumpen einfach aus und umfaßte sie. Doch sie hatte das Mieder bereits abgelegt und sie wehrte sich auch nicht, vielmehr gab sie ihm einen zärtlichen Kuß. Und obgleich ihn diese Begrüßung höchlich überraschte und obgleich es vielleicht nicht minder neu war als jenes Aufzucken, das er ungeduldig erwartete, so wurde trotzdem in diesem Kusse klar, schreckhaft und unwiderleglich, daß es zu ihren alten Gewohnheiten gehörte, an die Feier des Geburtstags eine zärtliche Liebesfeier anzuschließen; und wie der ersehnte Augenblick nun eintrat, wie das beglückende Zucken durch ihren Körper ging, wurde es für Esch zu einem wütenden Schmerz, daß die Haut des Herrn Hentjen und dessen Körper, den er sich in dieser Lage lieber gar nicht vorstellen wollte, sie in gleicher Weise aufzucken gemacht hatte: das Gespenst, das er eben gebannt wähnte, war wieder auferstanden, höhnischer, unbesiegbarer denn je, und es zu besiegen, der Frau aber zu beweisen, daß bloß er vorhanden war, warf er sich über sie und schlug sein Pferdegebiß in ihre fleischige Achsel. Es mußte sie schmerzen, indes sie duldete schweigend, allerdings mit einem Gesicht, als bisse sie selber in eine Zitrone, und da er nun ermattet von ihr abließ, da legte sie ihren schweren ungelenken Arm wie in Dankbarkeit, doch auch wie einen Schraubstock, so fest um ihn, daß er kaum Atem fand und zornig sich frei zu machen suchte. Sie aber ließ nicht locker und sprach – es war das erstemal, daß sie in diesem Alkoven zu ihm sprach – mit ihrer gewohnten geschäftlichen Stimme, in der er, wäre er feinfühliger gewesen, doch etwas wie Angst gehört hätte: »Warum bist du so spät gekommen? … weil ich wieder um ein Jahr älter geworden bin?« Esch war von ihrem ungewohnten Sprechen so betroffen, daß er den Sinn der Worte nicht erfaßte, ja, nicht einmal zu erfassen versuchte: denn der überraschende Klang ihrer Stimme war ihm wie ein Abschluß, war wie eine Erleuchtung nach einer langen und schmerzlichen Gedankenreihe, Zeichen, daß alles anders werden könne. Er sagte: »Ich habe es satt, ich mache Schluß.« Frau Hentjen stockte das Blut in den Adern; sie vermochte kaum den pressenden Arm von seinen Schultern zu lösen, eiskalt und schwer war es in ihr geworden, und kraftlos sank der Arm herab. Sie begriff nur noch, daß sie ihre Bestürzung einem Manne nicht zeigen durfte, daß sie ihm den Laufpaß zu geben hatte, ehe er von selber davonlief, und mit großer Anstrengung brachte sie ein leises »Bitte, meinetwegen« hervor. Esch überhörte es und setzte fort: »Nächste Woche fahre ich ins Badische.« Warum mußte er ihr dies noch mitteilen? sie fühlte sich irgendwie geschmeichelt, weil ihn die Absicht, Schluß zu machen, offenbar so sehr erschütterte, daß es ihn in die Welt hinaustrieb. Allein, wenn er Schluß machen wollte, so stimmte es doch nicht, daß er jetzt wieder seinen Mund gegen ihre Achsel preßte. Oder wollte er bloß seiner Lust bis zum letzten Augenblick frönen? den Männern ist alles zuzutrauen! Nichtsdestoweniger faßte sie wieder Hoffnung, und obwohl ihr das Sprechen noch schwer fiel, fragte sie: »Warum? ist dort auch so'n Mädel wie in Ober-Wesel?« Esch lachte: »Ja, so 'ne Art Mädchen ist das schon.« Frau Hentjen war empört, daß er sich auch noch über sie lustig machte: »Es ist keine Kunst, eine schwache Frau zu verhöhnen.« Esch bezog es noch immer auf die Frau in Badenweiler und er mußte noch mehr lachen: »Na, gar so arg schwach ist die dort nicht.« Ihr Mißtrauen bekam neue Nahrung: »Wer ist's?« – »Geheimnis.« Sie schwieg beleidigt und duldete seine neue Zärtlichkeit. Mittendrin: »Wozu brauchst du eine andere?« Er konnte nicht umhin, sich einzugestehen, daß ihm diese Frau mit ihrer sachlichen, ja büromäßigen und doch so sonderbar widerstrebenden und keuschen Hingabe mehr Lust und Begehren schenkte als jede andere und daß er wirklich keine andere brauchte. Sie wiederholte: »Wozu brauchst du eine andere? mußt es bloß sagen, wenn ich dir nicht jung genug bin.« Er antwortete nichts, denn plötzlich erregte und beglückte es ihn, daß sie nunmehr zu reden begann, sie, die bisher nur stumm und mit rollendem Kopfe in seinen Armen gelegen hatte, so unveränderlich stumm, daß ihm diese Stummheit stets wie eine Erbschaft aus Herrn Hentjens Zeit gewesen war. Sie spürte seine Beseligung, und stolz fuhr sie fort: »Brauchst keine Junge, ich nehme es mit jedem Mädel auf …« Das ist ja Unsinn, dachte Esch schmerzlich, oder sie lügt. Und schmerzhaft kam ihm Harry in den Sinn; er sprach es aus: »Man liebt nur einmal«, und da Frau Hentjen einfach »Ja« sagte, als ob sie damit andeuten wollte, daß er es war, den sie liebte, da war es klar, wie sie log: gab vor, sich vor Männern zu ekeln, und saß trinkend mit ihnen am Tisch und ließ sich feiern, gab jetzt vor, ihn allein zu lieben und war doch voller Sachlichkeit. Aber vielleicht war alles nicht wahr; sie hatte ja keine Kinder. Wieder stieß sein Wunsch nach Eindeutigkeit und Absolutheit an eine unübersteigbare Mauer. Wenn nur all dies schon vorbei und erledigt wäre! Die Reise nach Badenweiler erschien ihm in diesem Augenblick wie ein notwendiger Auftakt, wie eine unumgängliche Vorübung zur Amerikafahrt. Offenbar spürte sie diese Reisegedanken, denn sie fragte: »Wie sieht sie aus?« –? – »Nun, das badische Mädchen?« Ja, wie sah Bertrand aus? und schärfer als je erkannte er, daß er Bertrand nur im Bilde Hentjens sich vorzustellen vermochte. Er erwiderte barsch: »Das Bild muß weg.« Sie verstand nicht: »Welches Bild?« – »Das da drunten …«, er scheute sich, den Namen zu nennen, »das über dem Eiffelturm.« Sie begriff ein wenig, doch sie lehnte sich auf, weil er sich in ihre Dinge einmischen wollte: »Das hat noch niemand gestört.« – »Eben deshalb«, beharrte er, und während es ihm völlig klar wurde, daß es auch seine Affäre mit Hentjen war, die er mit Bertrand abrechnen mußte, setzte er seinen Gedanken fort: »und überhaupt: Schluß muß gemacht werden.« – »Nun ja …«, erwiderte sie zögernd, und vor Rebellion begriffstutzig, setzte sie hinzu: »Schluß mit was?« – »Wir fahren nach Amerika.« – »Ja«, sagte sie, »ich weiß.«

Esch hatte sich erhoben. Er wäre gerne auf und ab gegangen, wie er dies zu tun pflegte, wenn ihn etwas beschäftigte, aber im Alkoven war kein Platz und draußen lagen die Nüsse. So saß er am Rande des Bettes. Und obgleich er bloß die Rede Harrys wiederholen wollte, veränderte sich die Rede in seinem Munde:

»Liebe ist nur in der Fremde möglich. Wenn man lieben will, muß man ein neues Leben beginnen und alles Alte vernichten. Erst in einem neuen, ganz fremden Leben, in dem alles Vergangene so tot ist, daß man es nicht einmal mehr zu vergessen braucht, können zwei Menschen so eins werden, daß es keine vergangene und überhaupt keine Zeit mehr für sie gibt.«

»Ich habe keine Vergangenheit«, sagte Mutter Hentjen beleidigt.

»Dann erst«, Esch machte seine böse Grimasse, die Frau Hentjen in der Dunkelheit glücklicherweise nicht sah, »dann erst braucht nichts mehr abgeleugnet zu werden, dann erst ist Wahrheit und die Wahrheit ist ohne Zeit.«

»Ich habe nie etwas abgeleugnet«, verwahrte sich Mutter Hentjen.

Esch ließ sich nicht beirren: »Die Wahrheit hat mit der Welt nichts mehr zu tun, nichts mit Mannheim …«; er schrie fast, »nichts mit dieser alten Welt hat sie zu tun.«

Mutter Hentjen seufzte. Esch schaute scharf nach ihr hin: »Da gibt's nichts zu seufzen, man muß sich von der alten Welt lösen, um selber erlöst zu werden …«

Mutter Hentjen seufzte sorgenvoll: »Was soll mit der Wirtschaft werden? werden wir sie verkaufen?«

Esch sagte mit Überzeugung: »Man muß Opfer bringen … sicherlich sogar, denn ohne Opfer keine Erlösung.«

»Wenn wir wegreisen, werden wir heiraten müssen«, und wieder etwas angstvoll,»... ich bin zu alt für dich, um zu heiraten?«

Esch, auf der Bettkante sitzend, betrachtete sie im Lichte der flackernden Kerze. Sein Finger zeichnete eine 37 auf das Deckbett. Er hätte ihr eine Torte mit siebenunddreißig Kerzen verehren können; aber besser so, sie verheimlichte ja ihr Alter und hätte sich bloß geärgert. Er betrachtete ihre schweren unbewegten Züge, und plötzlich hätte er sie gerne noch viel älter gesehen. Es schien ihm sicherer, wußte er auch nicht, warum. Würde sie Knall und Fall jung werden, im Flitterkleid der Jugend daliegen, Essig wär's mit dem Opfer. Und das Opfer mußte sein, mußte mit der Hingabe an die Alternde immer größer wachsen, damit Ordnung in die Welt komme und Ilona vor den Messern geschützt werde, damit der Stand der Unschuld allem Lebendigen wieder geschenkt werde, damit keine Seele mehr im Kerker zu schmachten hätte. Nun, man konnte sich darauf verlassen, Mutter Hentjen würde schon alt und häßlich werden. Wie ein ebener unendlicher glatter Korridor erschien ihm die Welt und er sagte sinnend: »Das Lokal sollte man mit braunem Linoleum bespannen, das wäre schön.«

Mutter Hentjen schöpfte Hoffnung: »Ja, und auch malen lassen; das ganze Haus ist schon in einem üblen Zustand … all die Jahre wurde nichts getan, … aber wenn du nach Amerika willst …?«

Esch wiederholte: »All die Jahre …«

Mutter Hentjen fühlte sich zu einer Entschuldigung verpflichtet: »Man muß sparen und da verschiebt man's eben von einem Jahr aufs andre, … und so vergeht die Zeit …« und dann setzte sie hinzu: »... und man wird alt.«

Esch ärgerte sich: »Wenn man keine Kinder hat, ist Sparen lächerlich … für mich hat auch niemand gespart.«

Aber Mutter Hentjen hörte nicht hin. Sie hätte bloß gern gewußt, ob es sich noch verlohnte, die Wirtsstube ausmalen zu lassen; sie fragte: »Wirst du mich nach Amerika mitnehmen? … oder eine Junge?«

Esch sagte grob: »Was soll's mit dem ewigen jung oder alt! … da gibt es dann kein jung und kein alt mehr, … überhaupt keine Zeit gibt's dann mehr …«

Esch stockte. Wer alt ist, kriegt keine Kinder. Das gehörte vielleicht zum Opfer. Aber im Stande der Unschuld bekommt niemand Kinder. Jungfrauen haben keine Kinder. Und während er ins Bett zurückglitt, ergänzte er: »Dann wird alles fest und sicher sein. Und was hinter einem ist, kann einem nichts mehr anhaben.«

Er klopfte die Decke zurecht und sorgsam zog er sie auch über Mutter Hentjens Schulter. Hierauf griff er nach dem messingnen Löschhütchen, das an dem Leuchter hing und das auch Herr Hentjen bei ähnlichen Gelegenheiten benützt hatte, und stülpte es über die flackernde Kerze.

Auf dem Weg ins Badische liegt Mannheim. Und Esch erinnerte sich, daß es Freundespflichten gab. Etwas hatte ihn ja schon längst bedrückt, und das wußte er jetzt: in einem so stark abflauenden Geschäft darf man die Einlage seiner Freunde nicht belassen. Daß sie bisher mehr als 50% Verdienst buchen konnten, war ja gut und schön, jetzt aber hieß es, den Verdienst in Sicherheit bringen. Raus aus dem Geschäft. Seine eigenen M. 300.– gehörten auf ein anderes Blatt. Falls die verlorengingen, wäre es eigentlich bloß gerecht. Denn 50% verdienen und dazu noch zwei Monate leben, und nicht schlecht leben, – wo blieb da das Opfer, mit dem man Ilona erlösen wollte? und die Flucht in die amerikanische Freiheit mit Sündengeld finanzieren, das war auch so eine falsche Rechnung! höchste Zeit also, daß die Ringkämpferei mitsamt dem Gelde flöten ging. Mutter Hentjen mußte wohl mit ihrer Prophezeiung recht behalten, daß er und dieses ganze Weibertheater ein Ende in Schimpf und Schanden nehmen würden.

Doch jetzt ging's um das Geld für Lohberg und Erna. Die Sache mit Gernerth zu besprechen war nicht einfach: abends klagte der Herr Direktor über den leeren Saal und tagsüber war er noch weniger erreichbar; in der Alhambra war er niemals, in seine Wohnung schien er überhaupt nicht zu kommen, und bei Oppenheimer gab's zwei dreckige leere Zimmer und keinen Menschen darin. Fragte man ihn aber, wo er seine Mahlzeiten einnehme, so antwortete er: »Ach, ich begnüge mich mit einem Butterbrot, ein Familienvater hat nicht zu prassen«, was natürlich nicht ganz stimmte, denn damals wie die englische Reisegesellschaft vom Dom zum Hotel hinüberging, wer trat da aus dem Marmorvestibül des Domhotels? Herr Gernerth in höchsteigener Person, satt und mit einer dicken Zigarre im Gesicht. »Prestigebesuche, lieber Freund«, hatte er gesagt und war auch schon davon, als ob man es ihm nicht gegönnt haben würde, im Domhotel zu wohnen, sogar mit der ganzen Familie. Heute allerdings war's anders: man wird den Herrn Direktor nicht entwischen lassen!

Und am Abend öffnete Esch die Türe zur Direktionskanzlei, sperrte sie grinsend hinter sich ab, steckte den Schlüssel in die Hosentasche, und grinsend präsentierte er dem gefangenen Gernerth eine saubere »Gewinstabrechnung für die Einlage des Herrn Fritz Lohberg und des Fräulein Erna Korn«, dartuend, daß die beiden Genannten zu ihrer Kapitalseinlage per M.2000.-, einen Gewinn per M. 1123.-, Summe M.3123.-, zu bekommen hätten, und darunter stand »in Vollmachtsnamen quittiert, August Esch m. p.« Außerdem wolle er auch sein eigenes Geld. Gernerth schrie Zeter und Mordio. Erstens habe Esch keine legalisierte Vollmacht und zweitens seien die Kämpfe noch nicht abgeschlossen und von einem nicht abgeschlossenen Geschäft pflegt man keine Auszahlungen zu leisten. Sie stritten eine Weile hin und her, und unter vielem Gejammer bequemte sich Gernerth endlich, die Hälfte der geforderten Summe für Lohberg und Erna an Esch auszubezahlen, während die zweite Hälfte im Unternehmen stehen bleiben und an etwaigen weiteren Verdiensten noch nutznießen sollte. Für sich selbst jedoch konnte Esch außer einem Reisebetrag von fünfzig Mark nichts herausschlagen. Vielleicht war er zu nachgiebig gewesen. Immerhin, es genügte für die Reise.

Frau Hentjen war im Braunseidenen zum Bahnhof gekommen und sie lugte vorsichtig umher, ob kein Bekannter da sei, der sie etwa ins Gerede bringen würde. Denn trotz der frühen Stunde wimmelte es von Menschen. Am andern Bahnsteig wurde nach der Gegenrichtung ein Zug abgefertigt, in dem einige Waggons für Auswanderer eingeschoben waren, Tschechen oder Ungarn, und einige Heilsarmeeleute machten sich bei ihnen zu schaffen. Daß Mutter Hentjen ihn herbegleitet hatte, war in Ordnung; es war höchste Zeit, daß sie mit ihren albernen Heimlichkeiten aufhörte. Aber vor den Auswanderern und Heilsarmeesoldaten hatte Esch doch ein schlechtes Gewissen. »Blöde Vereinsmeierei«, schimpfte er. Weiß Gott, weshalb er sich so ärgerte. Wahrscheinlich war er jetzt auch schon mit der dummen Geheimniskrämerei angesteckt. Als eines der Heilsarmeemädchen vorbeikam, schaute er weg. Frau Hentjen bemerkte es: »Schämst dich wohl, daß ich hier bin? Fährt sie vielleicht gar mit, deine Dame?« Esch, ziemlich grob, verbat sich diese Narrheiten. Doch das hatte noch gefehlt: »Also, das hat man davon, daß man sich für einen Mann kompromittiert … wer mit Hunden schlafen geht, steht mit Flöhen auf.« Esch verstand wieder einmal nicht, was ihn an diese Frau fesselte. Wie sie hier im Tageslicht vor ihm stand, versanken die Bilder ihrer Geschlechtsbereitschaft und des dunklen Alkovens, diese Bilder, die ihn verfolgten, sobald er von ihr ferne war, sie versanken ins Nichts, als wären sie niemals gewesen. Mit dem gleichen Zug waren Mutter Hentjen und er damals nach Bacharach gefahren; damals hatte es begonnen – vielleicht wird es heute enden. Sie fühlte wohl seine Unbeteiligtheit, denn sie sagte plötzlich: »Wenn du mir untreu bist, wirst du schon sehen …« Geschmeichelt wollte er mehr davon hören; zugleich reizte es ihn, ihr weh zu tun: »Schön, heute noch rück' ich dir aus … was werde ich sehen?« Sie war erstarrt, gab keine Antwort. Da tat sie ihm leid und er nahm ihre Hand, die schwer und ungelenk in der seinen liegen blieb. »Na, na, was wird also geschehen?« Sie sagte mit leerem Blick: »Ich bringe dich um.« Es war wie ein Versprechen und eine erlösende Hoffnung; trotzdem zwang er sich zu lachen. Sie aber ließ sich von ihren Gedanken nicht abbringen. »Was bliebe mir sonst übrig?« Nach einer Pause: »Fährst vielleicht gar nach Ober-Wesel? … zu der Person?« Esch wurde ungeduldig: »Blödsinn, ich habe dir hundertmal gesagt, daß ich meine Mannheimer Geschäfte mit Lohberg liquidieren muß … wir wollen doch nach Amerika.« Frau Hentjen war nicht überzeugt: »Sei aufrichtig.« Esch wartete ungeduldig auf das Abfahrtszeichen; keinesfalls durfte er verraten, daß er zu Bertrand fahre: »Habe ich dich nicht eingeladen mitzukommen?« – »Das war ja nicht ernst gemeint.« Jetzt, knapp vor dem Abfahrtszeichen, schien es ihm, als wäre sein Angebot durchaus ernst gewesen, und wie er sie an ihrem dicken Oberarm hielt, hatte er Lust, sie zu küssen; sie stieß ihn zurück: »Hör mal, hier vor allen Leuten!« Aber da mußte er einsteigen.

Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, direkt nach Badenweiler zu reisen, und erst angesichts der Stationstafel von St. Goar entschloß er sich endgültig, noch heute in Mannheim Station zu machen. Ja, und von Mannheim aus würde er ihr sogar schreiben; das wird sie beruhigen, – und Esch lächelte zärtlich, als er daran dachte, daß sie ihn töten wollte; eigentlich könnte man es darauf ankommen lassen. Allerdings, der Besuch in Badenweiler war wie eine Gefahr, etwas, wobei es ums Ganze ging, und es war ein Gebot der Anständigkeit, die fremden Gelder vorher abzuliefern. Der Satz »Man spielt nicht mit Menschenleben« fiel ihm ein und verflocht sich in den Rhythmus der rollenden Räder. Er sah Mutter Hentjen einen zärtlichen Revolver heben und dann hörte er wieder Harry sagen: »Du wirst ihm nichts tun.« Nun reihten sich auch Lohberg und Ilona und Fräulein Erna und Balthasar Korn vor ihm auf und er wunderte sich, daß er sie so lange nicht gesehen hatte; vielleicht waren sie in der Zwischenzeit gar nicht am Leben gewesen. Sie heben die Arme im rhythmischen Takt zu seiner Begrüßung, und es war, als bewegte sie ein unsichtbarer und vornehmer Puppenspieler an Drähten, die plötzlich nun da sind. Ein Coupé dritter Klasse ist wie eine Kerkerzelle und auf der Bühne links oben, dort wo der Mensch sonst eine Zahnlücke besitzt, hatte sich eine graue Kulisse vorgeschoben, eine Kulisse aus Pappe, hinter der nichts steckt als die grauen verstaubten Bühnenmauern. Aber auf der Kulisse war das Wort »Gefängnis« zu lesen und obwohl man wußte, daß nichts dahinter ist, wußte man doch, daß in dem Kerker einer steckt, den es gar nicht gibt und der dennoch die Hauptperson ist. Aber die Bühne, in die die Gefängniskulisse wie ein Zahn hineinragt, ist im Hintergrund von einem großen Prospekt abgeschlossen, auf dem ein herrlicher Park gemalt ist. Rehe äsen unter mächtigen Bäumen und ein Mädchen, dessen Kleid von Pailletten flimmert, pflückt Blumen. Der Gärtner im breitrandigen Strohhut, die blinkende Schere in den Händen und begleitet von einem Hündchen, steht neben dem dunklen Teich, dessen Fontäne einen weißen Strahl gleich einer glitzernden Peitsche in die Lüfte sendet und Kühlung gibt. Ganz ferne erblickt man die Lichter und die Verzierungen des prächtigen Schlosses, von dessen Zinnen die Fahne schwarz-weiß-rot weht. Und dies machte einen wieder unsicher.

 

Jetzt da er sich Mannheim näherte, kam ihm in den Sinn, daß Erna sicherlich mit dem keuschen Josef schlafe. Eigentlich war es keine Frage, es war so selbstverständlich, daß man darüber gar nicht nachzudenken brauchte, so selbstverständlich wie die Nase, die einer im Gesicht trägt, oder die Füße, mit denen er geht. Nichts und niemand hätte Esch von solcher Meinung abbringen können; was denn anderes sollten die beiden miteinander treiben? Trotzdem irrte er sich. Denn wenn die Inhalte des Lebens auch karg sind und gewiß nicht viel vonnöten ist, zwei Personen verschiedenen Geschlechts zum Einverständnis zu bringen, es ist manches doch minder selbstverständlich, als man meinen mochte. Wer gleich Esch noch im täglich-irdischen Leben steht, oder nur um ein sehr Geringes sich darüber hinausgehoben hat, vergißt leicht, daß es ein Reich der Erlösung gibt, dessen Bestand allerlei Irdisches ins Unsichere zieht, ja, daß es mit einem Male fragwürdig werden kann, ob man mit den Füßen geht, geschweige also, ob zwei Menschen miteinander schlafen. Hier allerdings war es so, daß Lohberg teils durch seine Schüchternheit zurückgehalten wurde, die Grenze edler und inniger Freundschaft zu überschreiten, teils aber auch durch sein stets waches Mißtrauen gegen das weibliche Geschlecht, insbesondere seitdem er nach einer häßlichen Erfahrung das Gift häßlicher Krankheiten zu scheuen gelernt hatte, und gar wenn er bedachte, daß Erna allen Anfechtungen eines Wüstlings Tür an Tür ausgesetzt gewesen war! Ja, so war Lohberg. Er ging mit Fräulein Erna Korn bloß spazieren, trank Kaffee mit ihr und betrachtete es als eine Zeit der Läuterung und der Buße, die erst ihr Ende finden sollte, wenn ihm ein Zeichen von oben, sozusagen das Zeichen der wahren erlösenden Gnade gegeben werden würde.

Esch kannte zwar die Tugend des Idioten, unvorstellbar hingegen war ihm das Ausmaß dieser Tugend, und noch viel weniger ahnte er, daß er selber nicht aufgehört hatte, Fräulein Erna zu beunruhigen, daß er, wenn nicht in ihrem Herzen, so doch im Blute ihr lag, und daß sie wohl aus diesem Grunde sich nicht beeilte, Lohberg das Zeichen der erlösenden Gnade zu geben, es vielleicht sogar absichtlich hinzögerte, weil sie in diesem Zögern eine richtige Vorbereitung für den Ehestand sah. Ja, dies alles konnte Esch nicht ahnen, am allerwenigsten aber, daß die beiden sich gerne damit beschäftigten, abstoßende Züge in seinem Charakterbild zu entdecken, und ihrer schwärmerischen Veranlagung gemäß sogar glaubten, in solch gemeinsamem Interesse eine gute Basis für einen Lebensbund zu besitzen.

All dieser Verhältnisse unkundig, hatte Esch auf einen freudig-feierlichen Empfang gerechnet. Statt dessen aber erschrak Fräulein Erna, als er im Türrahmen auftauchte. Ach, sagte sie rasch gefaßt, das wäre schön, daß sich der Herr Esch auch wieder einmal sehen ließe, ach, das wäre geradezu schön vom Herrn Esch, daß er freundlichst geruhe, sich gütigst wieder zu erinnern, nicht einmal der Mühe wert sei es ihm gewesen, eine Karte zu schreiben. Und dann sagte sie: »Ja, wes Brot ich eß', des Lied ich sing'«, und allerlei Spitzes, so daß es Esch nicht einmal gelang, den Vorraum zu betreten. Korn jedoch, der die Stimmen gehört hatte, kam nun in Hemdärmeln aus der Wohnstube, und da er von rauherer Gemütsart als seine Schwester war und während der zwei Monate niemals an Esch gedacht hatte, ihm daher auch sein Schweigen durchaus nicht übel nahm, vielmehr sich baß gewundert hätte, soferne es Esch beigefallen wäre, ihm zu schreiben, Korn also war vollkommen erfreut, denn nicht nur, daß er allem, was er je gekannt hatte, anhänglich gesinnt blieb, er sah in dem wiedergekehrten Esch alsogleich eine Quelle der Anregung und überdies eine begrüßenswerte Einnahme aus dem leerstehenden Kabinett. Und er brauchte Geld für Ilona. Folglich schüttelte er dem Gast unter herzlichen Ausrufen die Hand und lud ihn ein, nur gleich wieder in sein Zimmer hineinzuspazieren, das nur auf ihn gewartet hätte. Solche Herzlichkeit tut einem Menschen, der mißmutig gewesen ist, gut, und Esch schickte sich an, seine Habseligkeiten in sein Zimmer zu tragen, das bloß auf ihn gewartet hatte, als Fräulein Erna ihn zurückhielt und halb zum Bruder gewendet sagte: sie wisse nicht ob dies angehen werde. Na, da brauste Korn aber auf: »Warum soll's jetzt wieder nicht gehen! wenn ich sag', es geht, so geht's.« Zweifelsohne hätte Esch als taktvoller Mann sich nun mit Worten des Bedauerns empfehlen müssen, doch selbst wenn er taktvoll gewesen wäre, was er ja keineswegs war, so gehörte er viel zu sehr zur Familie, um nicht die Fragen des Taktes hinter denen der Neugierde zurückzustellen; was war hier vorgefallen? und erstaunt blieb er einfach stehen. Fräulein Erna indes, die auch nicht gewohnt war, sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen, befriedigte diese Neugier sehr rasch, denn sie zischte den Bruder an, daß er sie, die vor einer ehrsamen Heirat stünde, nicht zwingen könne, mit einem fremden Manne unter demselben Dach zu schlafen; sie müsse sich in diesem Hause ohnehin genug Schande gefallen lassen, und wenn ihr Künftiger nicht so ein hochherziger Mensch wäre, so dürfte sie ihm nachlaufen. Darauf sagte Korn in seiner heimatlichen Mundart: »Papperlapap, halt' die Goschen. Der Esch bleibt da.« Esch aber vergaß über die Andeutungen des Fräulein Erna alles übrige und er rief: »So eine Überraschung, herzlichen Glückwunsch, Fräulein Erna, wer ist denn der Glückliche?« Da konnte Fräulein Erna natürlich nicht anders, als die Glückwünsche annehmen und sagen, daß sie mit Herrn Lohberg fast einig geworden sei. Sie hängte sich in Esch ein, führte ihn in die Wohnstube. Ja, und übrigens werde ihr Bräutigam auch gleich hier sein. Und wie sie nun von Lohberg sprachen, hatte Korn die großartige Idee, Esch in eine dunkle Ecke zu stellen, damit der ahnungslose Herr Bräutigam entsetzt auffahre, wenn Esch sich plötzlich ins Gespräch mischen würde wie ein Geist.

Als die Klingel im Vorraum ertönte und Erna öffnen ging, begab sich Esch gefügig in den dunklen Winkel. Korn, der beim Tische geblieben war, machte ihm herrische Zeichen, sich noch mehr in die Ecke zu drücken. Denn Korn war ein Mensch, der auf technische Vollkommenheit Wert legte und zornig wurde, wenn es an der Ausführung haperte. Aber nicht aus Furcht vor Korns Wut verharrte Esch so still in seinem Winkel, oh nein, er war durchaus nicht einer, den man ohne weiteres in einen Winkel scheuchen konnte, und es war durchaus kein Platz der Strafe und der Demütigung, auf dem er sich befand; geradezu freiwillig schob er sich noch enger an die Wand, und es war ihm auch gleichgültig, ob er die Malerei mit seinem Ärmel abstreifte, denn in dieser beschatteten Ecke erwachte höchst unvermittelt und sonderbar der Wunsch in ihm, daß die Distanz zu denen am Tische dort immer mehr sich vergrößern möge. Die wenigen Minuten, die bis zum Eintritt Lohbergs vergingen, reichten nicht aus, daß er sich's klar machte, doch es kam ihm vor, als gleite er wieder in jene merkwürdige Einsamkeit, die irgendwie mit Mannheim zusammenhing und die es verbot, sich mit den andern hier gemein zu machen, fordernde Einsamkeit, welche ihm aber jetzt so wohlgefällig war, daß sie ihm nicht einsam genug sein konnte, und wenn er sich bloß immer weiter und weiter in seinen Winkel zurückgezogen hätte, so wäre er ein erlöster und erhabener Eremit geworden, abgeschlossen gegen die Welt in seiner Zelle, Geist er über dem Tische der Fleischgebundenen. Freilich konnte dies nicht lange dauern, denn solche Erwägungen werden nur dann angestellt, wenn die Zeit nicht ausreicht, um sie zu Ende zu denken oder gar sie zu verwirklichen, und auch Esch hatte diese Gedanken bereits wieder vergessen, als Lohberg programmgemäß hereinkam und derart überrascht war, daß er sich über des Gastes Anwesenheit sogar freute. Gewiß gehörte Esch nicht ganz zu ihnen, so wenig Ilona zu ihnen gehörte, aber als sie jetzt um den Tisch herumsaßen, waren sie wie eine Familie und fragten einander nach vielen Dingen. Und da diese Fragen bald bei den Angelegenheiten des Wohlstandes angelangt waren, zog Esch stolz Brieftasche und Börse heraus und zählte 1561 Mark und 50 Pfennige auf den Tisch. Fräulein Erna griff freudig danach, denn sie hielt es für ihre Einlage samt Gewinn; doch wie Esch sie aufklärte, daß sie zwar so viel zu bekommen hätte, daß sie aber diese Summe vorderhand mit Lohberg zu teilen habe, weil die andere Hälfte stehen geblieben sei, da schrie sie auf, daß sie ja nun einen Schaden statt eines Nutzens habe. Und auch als er es ihr erklären wollte, nahm sie nicht Vernunft an, zeterte, sie werde sich nichts einreden lassen, sondern sie könne sehr gut rechnen: bitte – sie holte einen Zettel und einen Bleistift –, zwei-hundert-neun-zehn Mark und fünfundzwanzig Pfennige habe sie draufgezahlt, da stehe es schwarz auf weiß, und keifend hielt sie den Zettel unter Eschs betrübte Nase. Lohberg tat den Mund nicht auf; dabei mußte er als Geschäftsmann die Rechnung sehr gut verstanden haben. Will sich's mit dem Fräulein Braut eben nicht verderben, der feige Idiot. Esch sagte grob: »Unsereins hat auch seine Anständigkeit, – wahrscheinlich mehr als mancher, der hier schweigt.« Und er griff nach Ernas Arm, aber nicht etwa aus Liebe, sondern zornig und höchst unsanft legte er ihren Arm mitsamt dem Zettel auf den Tisch zurück. Vielleicht hatte sie's im Grunde doch verstanden, oder war es der feste Zugriff Eschs gewesen, kurzum, Fräulein Erna verstummte. Korn, der bisher unbeteiligt geblieben war, äußerte bloß, daß der Teltscher, der Jud', eben ein Gauner sei. Nun, dann möge er eben die Anzeige machen, erwiderte Esch, jeder Gauner gehöre angezeigt, anstatt daß man Unschuldige einsperren läßt. Und da Lohbergs feige unanständige Haltung Strafe erheischte, demütigte er ihn mit den Worten: »Unschuldige vergißt man! Hat zum Beispiel Herr Lohberg den armen Martin schon besucht?« Erna, die noch geduckt und angefüllt mit einer guten Erbitterung dasaß, replizierte, sie kenne andere Leute, die ihre Freunde vergäßen, ja, sie sogar schädigten, und daß es wohl Aufgabe des Herrn Esch gewesen wäre, sich um Herrn Geyring zu kümmern. »Dazu bin ich ja hergekommen«, sagte Esch. »Aha«, sagte Fräulein Erna, »denn sonst hätten wir überhaupt nichts mehr von Herrn Esch gesehen«, und zögernd und beinahe schüchtern, gewissermaßen aus der Verpflichtung, einen mutigen Kampf nicht aufzugeben, setzte sie hinzu: »und von unserem Gelde auch nichts.« Korn aber, der langsam dachte, sagte: »Den Juden lassen S' einsperren.«

Das war nun allerdings eine merkwürdige Lösung, und obzwar Esch sie eben selber vorgeschlagen hatte, es gelüstete ihn zu erwidern, daß dies nur eine schäbige Teillösung wäre, angesichts einer besseren, radikaleren, sozusagen geistigen Lösung, deren Nähe er bereits fühlte. Was sollte es fruchten, Teltscher auf ein paar Monate einzusperren, wenn Ilona trotzdem wieder den Messern ausgesetzt würde. Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie, die eigentlich hierher gehörte, nicht da war, beinahe als sollte es vermieden werden, daß er ihr vor die Augen träte, ehe er sich seiner Aufgabe entledigt hätte. Allerdings, Aufgabe hin, Aufgabe her, – man denkt an das große Opfer, das bevorsteht, und gleichzeitig verspricht man, die Gewinne nachzutragen! Soll wirklich Ordnung werden, so müßte die Ringerei eben flöten gehen. Und weil er solcherart der keifenden Erna zumutete, ihr Geld nun doch noch für ihn dranzusetzen, ergab sich ein Schuldgefühl, das im Grunde nicht einmal unangenehm war; aber weil es die anderen nichts anging, begann er zu schreien: das sei also der Dank, und überhaupt tue es ihm leid, mit dem Gelde hergekommen zu sein, da er nun so empfangen werde, und im übrigen werde er wegen des Restes an Gernerth schreiben. Das könne er halten, wie er wolle, sagte Fräulein Erna mit spitzer Stimme. Dann möge sie gefälligst selber schreiben, denn er habe ausdrücklich jede Verantwortung abgelehnt. Das werde sie nicht tun. Schön, dann werde er es tun, denn er sei ein anständiger Mensch. »Ach?!« meinte Fräulein Erna. Und da verlangte Esch Tinte und Papier und zog sich auf sein Zimmer zurück, ohne die Anwesenden weiter zu beachten.

In seinem Zimmer lief er mit langen Schritten auf und nieder, wie er es in der Erregung zu tun pflegte. Dann pfiff er sich eins, damit die drinnen nicht glauben sollten, er ärgere sich, und vielleicht pfiff er auch, weil er sich einsam fühlte. Bald hörte er Erna und Lohberg im Vorraum. Sie waren leise; offenbar fürchtete sich Lohberg, feige wie er war, noch immer vor seinem Zorn, ließ die weißen Augen hin- und herrollen vor Hilflosigkeit. Wie so oft verband sich Lohbergs Bild mit dem Mutter Hentjens. Jetzt war auch sie hilflos, mußte alles geschehen lassen, die Arme. Er horchte, ob Lohberg und Erna auf ihn schimpften. Nette Lage, in die Mutter Hentjen mit ihrer blöden Eifersucht ihn da gebracht hatte; nötig war's nicht gewesen, er könnte schon längst in Badenweiler sein. Im Vorraum war es still, Lohberg war gegangen; und Esch setzte sich hin, schrieb mit seiner reinlichen Buchhalterschrift: »Herrn Alfred Gernerth, Theaterdirektor, dzt. Köln, Alhambratheater. Ich ersuche um Überweisung meines Guthabens per M. 780.75 unter gleichzeitiger Legung einer definitiven Abrechnung. Hochachtungsvoll.« Mit dem Zettel in der einen Hand, Tintenfaß und Feder in der anderen, ging er schnurstracks in Ernas Stube hinüber.

Erna, in Filzpantoffeln herumschlapfend, schlug eben ihr Bett auf, und Esch staunte, daß sie ihre Schuhe so rasch hatte wechseln können. Sie war schon daran, sich über sein Eindringen zu empören, als sie seine Ausrüstung bemerkte: »Was wollen Sie mit dem Wisch?« Er kommandierte: »Unterschreiben.« – »Ihnen unterschreib' ich nichts mehr …« Mittlerweile aber hatte sie den Brief doch angesehen und ging damit zum Tische: »Meinetwegen«; nützen werde es zwar nichts, das Geld sei hin, durchgebracht, verludert, man müsse sich damit abfinden, einen Herrn Esch freilich, den lasse das kalt. Unter ihrem Keifen stieg wieder das kuriose Schuldgefühl gegen sie auf; ach was, er wird ihr schon zu ihrem Gelde verhelfen, und er nahm ihre Hand, um ihr zu zeigen, wo sie zu unterschreiben hatte. Als sie ihm die Hand entziehen wollte, ärgerte er sich aufs neue; er umschloß die Hand fester, geradezu unsanft ging er mit ihr um, und da geschah es zum zweitenmal, daß Fräulein Erna stumm und wehrlos wurde. Erst merkte er es nicht, führte bloß ihre Hand zur Unterschrift, jedoch da traf ihn von unten herauf ihr schräger Eidechsenblick wie eine Aufforderung. Und als er sie umfaßte, schmiegte sie die Wange an seine Brust. Daß sie's tat, machte ihm kein Kopfzerbrechen, so wenig er danach fragte, ob es bloß Nachklang ihrer alten Verliebtheit war, oder ob sie sich etwa für Lohbergs Unmännlichkeit rächen wollte, oder – und das wäre für Esch das Nächstliegende gewesen – ob sie es einfach geschehen ließ, weil er just da war, weil es so hatte kommen müssen, weil man sich wegen des Heiratens nicht mehr zu streiten brauchte. Die Dinge hatten sich eben geklärt: für Erna gab's einen Freier, und er selbst, er wird mit Mutter Hentjen nach Amerika verschwinden; sogar die Wut gegen Lohberg legte sich, fast spürte er ein wenig Zärtlichkeit für den Idioten, der in so vielem Mutter Hentjen ähnelte, und da Fräulein Erna im vertrauten Verkehr sicherlich manches von ihrem Bräutigam übernommen haben dürfte, so war es, wenn auch in weiterer Ferne, als umarmte man in Erna ein Stück von Mutter Hentjen, und es war keine Untreue. Indes die Erinnerung an die alten Kämpfe war noch nicht völlig verflogen, noch zauderten sie beide, es war wie ein Augenblick feindseliger Keuschheit, und beinahe wäre Esch wieder unverrichteter Dinge in seine Stube zurückgekehrt wie einst. Da sagte sie plötzlich: »Pst, still« und entzog sich ihm: draußen hatte die Flurtüre geknarrt, und Esch begriff, daß Ilona gekommen war. Sie standen regungslos. Wie aber die Schritte draußen verklungen waren und die Tür zur Wohnstube hinter der Korns Zimmer lag, ins Schloß fiel, fielen auch sie sich in die Arme.

Als er später in sein Bett kroch, mußte er an Mutter Hentjen denken und daß er in Mannheim bloß Station gemacht hatte, um ihr eifersüchtiges Mißtrauen zu beschwichtigen. So, das hatte sie jetzt von ihrer blöden Eifersucht. Natürlich war seine Drohung, ihr noch am heutigen Tage untreu zu werden, bloß Spaß gewesen. Und jetzt ist es richtig eingetroffen und es war nicht seine Schuld. Dabei war es eigentlich nicht einmal eine richtige Untreue; einer solchen Frau kann man eben nicht so leicht untreu werden. Trotzdem blieb's eine Schweinerei. Und warum? weil man seine Rechnungen ohne Verzug ins Reine zu bringen hat, weil man anständigerweise bereits in Badenweiler sein müßte, statt auf eine so blöde Eifersucht Rücksicht zu nehmen. Das hatte man jetzt davon. Schöne Bescherung, aber man kann's nicht ändern. Esch drehte sich zur Wand.

 

Die Augen öffnend, erkannte er sein altes Zimmer; helle Vormittagssonne schaute durch die Gardinen, und es durchfuhr ihn wie ein Lanzenstich: mußte er nicht in sein Speditionsmagazin? dann erinnerte er sich, daß er mit der Mittelrheinischen nichts mehr zu tun hatte, und es war wie Ferien und Freiheit. Niemand konnte ihn mehr zum Gerichte wecken. Er blieb im Bett liegen, obwohl es ihm keinen Spaß mehr machte, aber er konnte liegenbleiben, so lange es ihm behagte. Auch war es sehr wahrscheinlich, daß Mutter Hentjen ihn nun umbringen würde, denn sie wird ja doch nie begreifen, daß er ihr treu geblieben war; sie wird ihn umbringen wollen, und dies war gleichfalls voll guter und freier Zuversicht. Wer vor dem Tode steht, ist frei und wer zur Freiheit erlöst ist, hat den Tod auf sich genommen. Er sah die Zinnen eines Schlosses vor sich, auf denen still die schwarze Fahne wehte, doch es mochte auch der Eiffelturm sein, denn wer vermag die Zukunft von der Vergangenheit zu unterscheiden! In dem Park ist ein Grab, ein Mädchengrab, Grab eines erdolchten Mädchens. Ja, vor dem Tode ist dem Menschen alles erlaubt, alles wird frei, sozusagen gratis und sonderbar unverbindlich. Erlaubt war es, auf der Straße an jede Frau heranzutreten und sie einzuladen, mit einem zu schlafen, und es würde von der gleichen angenehmen Unverbindlichkeit sein wie mit Erna, die er heute oder morgen verlassen wird, um ins Dunkle zu reisen. Er hörte sie draußen herumschaffen, die kleine knochige Ziege, und er wartete, daß sie wie ehedem käme, denn man muß es ausnützen, solange man die Sonne noch sieht. Daß die Erlaubnis zur Untreue erst durch eine Untreue erkauft werden muß, und daß man trotzdem dafür umgebracht zu werden wünscht, wahrlich, Mutter Hentjen war nicht der Mensch, dies zu begreifen; was wußte sie von derart komplizierten Buchungen, – wie hätte sie auch diese Buchungsfehler durchschauen können, die so tückisch in die Welt geraten sind, daß nur einer, der genau zu rechnen versteht, den Erlösertod sterben darf. Konnte doch das kleinste Versehen das Gebäude der Freiheit wanken machen. Jetzt hörte er Fräulein Ernas Stimme aus der Küche: »Ist's gestattet, dem gnädigen Herrn den Kaffee zu bringen?« – »Nein«, rief Esch, »ich bin gleich da«, sprang aus dem Bett, war im Hui angekleidet, hatte seinen Kaffee getrunken und war auch schon an der Trambahnhaltestelle, selber überrascht von der Eile, mit der alles vor sich gegangen war. Erst als der Wagen, der zur Strafanstalt hinausfuhr, auf sich warten ließ, überlegte er, ob bloß der Gedanke an den Gefängnisbesuch ihn so rasch aus dem Bett gejagt hatte oder ob vielleicht Ernas Stimme Schuld daran trug: schön war die Stimme ja nicht, gar wenn sie so zeterte wie gestern abend. Freilich, mit Keifen hat noch keine den Esch auf Trab gebracht. An der Stimme lag's also nicht, sonst hätte sie ihn ja schon längst aus der Wohnung getrieben, z.B. damals, wie sie ihn in die Küche hinausrief, damit er sich die schlafende Ilona ansähe. Übrigens Ilona, die brauchte er überhaupt nicht mehr zu sehen, weder hier noch anderswo. Und am besten war es wohl, sich diese Dinge vom Leib zu halten, nichts davon zu wissen, daß es wahrscheinlich bloß Flucht vor Erna und ihren bösen Lüsten gewesen war, Flucht vor dieser unverbindlichen Lust, in der sich fürderhin alles abspielen soll, die aber das Tageslicht scheut, denn die Nacht allein ist die Zeit der Freiheit.

Im Gefängnis erfuhr er, daß bloß dreimal wöchentlich Besuchstag sei; er müsse morgen neuerlich vorsprechen. Esch überlegte. Was tun? unverzüglich nach Badenweiler weiterreisen? Er begann zu fluchen, weil er in der Freiheit seines Handelns gestört war. Schließlich aber sagte er: »Na schön, Galgenfrist«, und das Wort Galgenfrist wollte ihn nicht verlassen, wohnte in seinem Ohr und gab ihm sogar eine wohltuende stolze Kameradschaftlichkeit mit einem so mächtigen Manne, wie es der Präsident Bertrand war, denn die Galgenfrist war nun sowohl diesem als ihm selber geschenkt. Nein, er konnte nicht wegfahren, in die Dunkelheit fahren, ohne Martin vorher gesehen zu haben, und es wäre auch lächerlich, ja geradezu unwürdig wäre es gewesen, hätte dieser Mannheimer Aufenthalt bloß der Nacht mit Erna gegolten. Wenn man eine große Reise tut, läßt man nichts ungeordnet zurück, vielmehr hieß es noch, Gruß zu wechseln und Abschied zu nehmen. So fuhr er denn vor allem zum Hafen, um seine Bekannten in den Magazinen und in der Kantine aufzusuchen. Er fühlte sich beinahe wie ein Verwandter, der aus amerikanischer Ferne zu seinen Lieben heimkehrt und dem nun ein wenig bangt, daß man ihn, dem der Bart gewachsen ist, nicht mehr erkenne. Zum Beispiel wäre es immerhin möglich, daß die Wache am Eingang ihn gar nicht passieren lassen würde. Aber die Dinge entwickelten sich mit großer Freundlichkeit, nicht zuletzt, weil alle, denen er begegnete, wohl fühlen mochten, daß man ihm nichts mehr anhaben konnte; es begrüßten ihn die Zollwächter sofort mit schwebender Herzlichkeit und es entwickelte sich mit ihnen ein leichtes Gespräch. Ja, sagten sie lachend, soferne er nicht mehr bei der Reederei sei, dann hätte er auch hier nichts mehr zu schaffen, und Esch sagte, er werde ihnen schon zeigen, daß er hier etwas zu schaffen habe, und sie machten auch nicht den leisesten Versuch, ihn zurückzuhalten, als er hineinging. Niemand hinderte ihn, all die Schuppen und Krane, Magazine und Eisenbahnwagen nach Lust und Laune zu betrachten, und wenn er in die Magazine hineinrief, kamen die Platzmeister und Lagerhalter heraus und standen vor ihm wie Brüder. Trotzdem reute es ihn nicht, all dies zu verlassen, er prägte sich bloß alles recht deutlich ein und berührte auch manchmal einen Eisenbahnwagen oder eine Verladerampe, so daß das Gefühl des trockenen Holzes sich an seiner harten Handfläche festsetzte. Nur in der Kantine gab es eine Enttäuschung; sein Blick suchte Korn, und Korn fehlte; Korn war dumm und fürchtete sich, und Esch mußte lachen, denn er nahm ihm Ilona ja nicht mehr übel, Ilona wird ja entrückt sein, verschwunden auf unzugänglichem Schloß. So trank er bloß einen Schnaps mit den Polizisten und dann ging er den gewohnten Weg, der kaum mehr gewohnt, dennoch vertrauter als je vor ihm sich breitete, bis zu einer Straßenecke, an der das Zigarrengeschäft lag, erwartungsvoll ihm entgegenblickte, als hätte Lohberg schon mit großer Sehnsucht seiner geharrt, um mit ihm zu plaudern.

Da saß nun auch wirklich Lohberg hinter seiner Registrierkasse und hielt den großen Zigarrenabschneider in der Hand, und als Esch eintrat, legte er freundlich das Instrument weg, weil er Esch für vieles Abbitte zu leisten hatte, was jedoch keiner von ihnen aussprach, denn Esch war bereit zu verzeihen und wollte nicht, daß Lohberg weine. Vielleicht ging es gegen die Verabredung, daß Lohberg von Erna zu reden anhub, aber dies war so geringfügig, daß Esch kaum darauf achthatte. Wer könnte ihn früher wecken, als es ihm selber behagte; er war frei! »Sie ist ein prächtiger Kamerad«, sagte Lohberg, »und wir haben vielerlei gemeinsame Interessen.« Und da Esch frei war, zu sagen, was ihm behagte, so sagte er: »Ja, sie wird Sie nicht umbringen«; dabei betrachtete er Lohbergs kümmerliche Gestalt, die von Mutter Hentjen mit einem Daumen zerdrückt werden könnte, und Erna tat ihm leid, weil sie nicht einmal dazu imstande war. Lohberg aber lächelte furchtsam, er fürchtete sich ein wenig vor den fünebren Scherzen und wurde unter den Augen seines grimmigen Gastes immer spärlicher und kleiner. Nein, das war kein Gegner, mit dem ein Esch sich messen wollte; stark sind erst die Toten, mochten sie auch im Leben wie kümmerliche Schneidergesellen ausgesehen haben. Esch ging im Laden umher wie ein Geist, schnupperte in die Luft, er öffnete diese Lade und jene, und strich auch mit der flachen Hand über den glatten Verkaufstisch. Er sagte: »Wenn Sie tot sind, sind Sie stärker als ich, … aber Sie kann man ja gar nicht umbringen«, fügte er verächtlich hinzu, denn es fiel ihm ein, daß selbst ein toter Lohberg nicht in Betracht käme; den kannte er zu gut, der blieb ein Idiot, und bloß jene, die man niemals gekannt hat, jene, die niemals gelebt haben, die waren die Übermächtigen. Lohberg aber, mißtrauisch gegen die Frauen, sagte: »Was meinen Sie damit? meinen Sie die Witwenversorgung? ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen.« Das wäre allerdings ein Grund, einem Manne Gift einzugeben, sagte Esch und mußte so laut lachen, daß ihn das Lachen irgendwie lähmend in der Kehle schmerzte. Ja, Mutter Hentjen, das war eine Frau! Die arbeitete nicht mit Gift, die würde einen Lohberg einfach aufnadeln wie einen Käfer. Vor der mußte man Respekt und Hochachtung haben, und daß er sie je mit Lohberg hatte vergleichen können, dies wunderte Esch. Und er war ein wenig gerührt, weil sie sich dabei als schwache Frau hinstellte und vermutlich sogar recht hatte. Lohberg bekam eine Gänsehaut, rollte seine weißen Augen: »Gift«, sagte er, als hörte er dieses Wort, das er doch schon genügend oft angewandt hatte, zum ersten Male oder zumindest in einer endgültigen Fassung. Eschs Lachen wurde geruhsam und ein bißchen verächtlich: »Sie wird Sie schon nicht vergiften; dazu ist Erna wohl nicht imstande.« – »Nein«, sagte Lohberg, »sie hat ein goldenes Herz; sie ist nicht einmal imstande, einer Fliege ein Haar zu krümmen …« – »Einen Käfer aufspießen«, sagte Esch. »Ach, sicher nicht«, sagte Lohberg. »Aber sowie Sie ihr untreu werden, bringt sie Sie trotzdem um«, drohte Esch. »Ich werde meiner Gattin niemals untreu werden«, erklärte der Idiot. Esch jedoch wußte nun plötzlich, und es war eine angenehme und klare Erkenntnis, warum er Lohberg mit Mutter Hentjen hatte vergleichen können: Lohberg war eigentlich nur ein Frauenzimmer, so eine Art Transvestit war er, und deshalb verschlug es nichts, wenn er mit Erna schlief; auch Ilona hatte ja in Ernas Bett gelegen. Esch stand auf, stand robust und fest auf seinen Beinen und streckte die Arme aus wie einer, der vom Schlafe aufwacht, oder wie ein Gekreuzigter. Er fühlte sich stark, fest und wohlbestellt, ein Kerl, den umzubringen sich schon verlohnte. »Entweder er oder ich«, sagte er und er fühlte, daß ihm die Welt gehörte. »Entweder er oder ich«, wiederholte er, indem er mit langen Schritten das Lokal durchmaß. »Was meinen Sie?« fragte Lohberg. »Nicht Sie«, antwortete Esch und zeigte ihm sein Pferdegebiß: »Sie, Sie bekommen die Erna«, denn so war es gerecht: der hier hatte einen schönen glatten Laden samt Lebensversicherung, bekam die kleine Erna und durfte ohne Qual und ohne Kopfzerbrechen leben; er hingegen war erwacht und hatte die Aufgabe auf sich genommen. Und da Lohberg fortfuhr, Erna mit warmen Worten zu preisen, sagte Esch, was jener hören wollte und als Zeichen von oben eigentlich längst erwartet hatte: »Ach, Sie mit Ihrem Heilsarmeegequassel …, wenn Sie noch lange fackeln, wird Ihnen das Mädchen ausrücken. Es wär' schon an der Zeit, daß Sie zugreifen. Sie Limonadebruder.« – »Ja«, sagte Lohberg, »ja, ich glaube, die Zeit der Läuterung ist nun erfüllt.« Hell und freundlich präsentierte sich der Laden im Lichte eines etwas trüben Sommertages; seine gelben Eichenmöbel machten einen soliden und gefestigten Eindruck, und neben der Registrierkasse lag ein Buch mit säuberlich addierten Kolonnen. Esch setzte sich an Lohbergs Pult und schrieb an Mutter Hentjen, daß er wohlbehalten angelangt und im Begriffe sei, seine Geschäfte zu erledigen.

 

Daß er diese zweite Nacht wieder mit Erna verbrachte, sah er als eine Formalität an, die zu erfüllen ein freier Mensch berechtigt war. Sie hatten in Freundschaft über die Ehe mit Lohberg gesprochen und taten sich das Liebe fast mit Zartheit und Wehmut und als ob sie nie miteinander gekämpft hätten. Und nach dieser langen und wachen Nacht erhob er sich mit dem guten Gefühl, daß er Erna und Lohberg zu ihrem Glücke verholfen habe. Denn der Mensch trägt vielerlei Möglichkeiten in sich, und je nach der logischen Kette, die er um die Dinge wirft, kann er sich beweisen, daß sie gut oder schlecht sind.

Gleich nach Tische machte er sich auf den Weg zur Strafanstalt. Bei Lohberg kaufte er Zigaretten, die er Martin zustecken wollte; etwas anderes fiel ihm nicht ein. Es war drückend heiß geworden und Esch mußte des Nachmittags in Goarshausen gedenken, an dem er Martin der Hitze wegen bemitleidet hatte. In der Anstalt wurde er ins Sprechzimmer gewiesen, dessen vergitterte Fenster auf den kahlen Hof hinausgingen. Die gelbgetünchten Gebäude warfen scharfkantige Schatten in den leeren Hof. In der Mitte des Platzes mochte wohl das Blutgerüst errichtet werden, auf dem der Delinquent zu knien hat, die Schärfe des Beils, mit dem der Kopf ihm abgehauen wird, im Nacken zu erwarten. Als Esch dies festgestellt hatte, wollte er den Hof nicht mehr sehen und wandte sich vom Fenster weg. Er betrachtete das Zimmer. In der Mitte stand ein gelbgestrichener Tisch, dessen Tintenspuren erkennen ließen, daß er aus irgendeiner Kanzlei hierhergeschafft worden war, auch einige Stühle waren vorhanden. Das Zimmer glühte trotz des Schattens, denn die Vormittagssonne hatte hereingebrannt und die Fenster waren geschlossen. Esch wurde schläfrig; er war allein und er setzte sich; man ließ ihn warten.

Dann hörte er Schritte auf dem gepflasterten Gang und das Klappern von Martins Krücken. Esch erhob sich, als sollte ein Vorgesetzter kommen. Martin jedoch trat in dieses Zimmer nicht anders als in Mutter Hentjens Wirtschaft. Wenn ein Musikautomat vorhanden gewesen wäre, er wäre wohl hingehumpelt und hätte hineingegriffen. Er sah sich in dem Raume um und schien befriedigt, daß Esch allein war, ging auf ihn zu und gab ihm die Hand: »'n Tag, Esch, schön von dir, daß du mich besuchst.« Er lehnte die Krücken an den Tisch, wie er es bei Mutter Hentjen immer getan hatte, und ließ sich nieder. »Na, setz' dich doch auch, Esch.« Der Aufseher, der ihn hergebracht hatte, erinnerte mit seiner Uniform an Korn; er war vorschriftsmäßig bei der Türe stehen geblieben. »Wollen Sie nicht auch Platz nehmen, Herr Oberaufseher? Es kommt ja niemand und ausreißen werde ich Ihnen bestimmt nicht.« Der Mann brummte etwas von Dienstreglement, aber er kam zum Tische hin und legte seinen großen Schlüsselbund darauf. »So«, sagte Martin, »jetzt ist's behaglich«, und dann schwiegen die drei Männer, saßen um den Tisch herum und betrachteten die Kerben im Holze. Martin war noch etwas vergilbter als sonst; Esch wagte nicht zu fragen, wie es ihm gehe. Martin mußte über das betretene Schweigen lächeln und sagte: »Also erzähl' einmal, August, was gibt es Neues in Köln? wie geht es Mutter Hentjen und den anderen?«

Esch fühlte sich trotz seiner erhitzten Wangen erröten, denn es war ihm nun plötzlich, als hätte er die Haft des Gefangenen benützt, ihm die Freunde zu stehlen. Und er wußte auch nicht, ob er dieselben vor dem Wärter preisgeben dürfe. Schließlich liebt es nicht ein jeder, im Sprechzimmer einer Strafanstalt mit einem Verbrecher in Verbindung gebracht zu werden. Er sagte: »Es geht ihnen allen gut.«

Martin mochte wohl die Bedenken verstanden haben, denn er drängte nicht auf ausführlichere Antwort, sondern fragte: »Und du selber?«

»Ich fahre nach Badenweiler.«

»Zur Kur?«

Esch fand, daß Martin keinen Anlaß habe, ihn zu verhöhnen. Er sagte trocken: »Zum Bertrand.«

»Alle Wetter, das ist ein Avancement! Ein feiner Mann, der Bertrand.«

Esch war sich nicht klar, ob Martin noch immer spaßte oder es sonstwie ironisch meinte. Ein feiner warmer Bruder war Bertrand, das war richtig. Aber so etwas durfte er vor dem Wärter nicht äußern. Er brummte: »Na, wenn er so fein wäre, säßest du nicht hier.«

»?«

»Du bist doch unschuldig.«

»Ich? ich habe es ja schwarz auf weiß, gerichtsordnungsmäßig geradezu, daß ich meine Unschuld mehrere Male verloren habe.«

»So laß endlich diese dummen Späße. Wenn der Bertrand so ein feiner Mann ist, so muß man's ihm sagen, was damals los war. Da wird er schon dafür sorgen, daß du rauskommst.«

»Damit willst du ihn behelligen? Deswegen fährst du nach Badenweiler?« Martin lachte und streckte ihm die Hand über den Tisch hin: »Aber, August, was fällt dir ein! ein Glück, daß der Mann nicht da sein wird …«

Esch sagte rasch: »Wo ist er?«

»Ach, der ist ja immer auf Reisen, in Amerika oder sonstwo.«

Esch stutzte: also der Bertrand war in Amerika! war ihm zuvorgekommen, war früher drüben in der leuchtenden Freiheit. Und obwohl er es doch stets geahnt hatte, daß die Größe und die Freiheit des fernen Landes in einem sehr bedeutsamen wenn auch nicht völlig erfaßbaren Zusammenhang mit der Größe und der Freiheit des unerreichbaren Mannes stehen müßten, schien es nun Esch, als ob durch eine Amerikareise des Präsidenten seine eigenen Auswanderungspläne für immer vernichtet wären. Und weil dies so war und weil alles so ferne und unerreichbar war, geriet er in Wut gegen Martin: »Ein Präsident kann leicht nach Amerika … aber Italien wird's auch tun.«

Martin sagte verträglich: »Meinetwegen Italien.«

Esch überlegte, ob er sich im Zentralbüro der Mittelrheinischen nach dem Aufenthaltsort Bertrands erkundigen müsse. Aber plötzlich erachtete er es für überflüssig und er sagte: »Er ist in Badenweiler.«

Martin lachte: »Na, du sollst recht haben; vorlassen würden sie dich sowieso nicht … steckt doch irgendein Mädel hinter der Reise, was?«

»Ich werde schon Mittel und Wege finden, daß er mich vorläßt«, sagte Esch drohend.

Martin witterte etwas: »Mach keine Dummheiten, August, belästige den Mann nicht; er ist ein anständiger Mensch, vor dem man Respekt haben muß.«

Offenbar hat er keine Ahnung, was sich hinter dem Bertrand alles verbirgt, dachte Esch, aber er durfte nichts sagen, also sagte er bloß: »Anständig sind sie alle; sogar der Nentwig«, und nach kurzem Überlegen, »die Toten waren auch anständig, freilich, wie es um diese Anständigkeit bestellt ist, das sieht man erst an der Erbschaft, die sie einem hinterlassen haben.«

»Was heißt das?«

Esch zuckte die Achsel: »Nichts, ich meinte bloß so, … ja, daß es schließlich doch gleichgültig ist, ob einer anständig ist oder nicht; er ist es immer nur auf der einen Seite; auf ihn kommt es auch gar nicht an, sondern bloß auf das, was er getan hat.« Und wütend setzte er hinzu: »Sonst kennt man sich überhaupt nicht mehr aus.«

Martin schüttelte belustigt und doch besorgt den Kopf: »Du, August, du hast hier in Mannheim einen Freund, der immer vom Gift gefaselt hat. Mir kommt vor, der hat dich vergiftet …«

Esch aber fuhr unbeirrt fort: »Man weiß ohnehin nicht mehr, was schwarz und was weiß ist. Alles geht durcheinander. Du weißt nicht einmal, was gewesen ist und was noch besteht …«

Martin lachte wieder: »Noch viel weniger weiß ich, was sein wird.«

»Sei doch endlich ernsthaft. Für die Zukunft opferst du dich auf; das hast du selber gesagt … das ist das Einzige, was bleibt: für die Zukunft sich aufopfern und Sühne für das, was geschehen ist; ein anständiger Mensch opfert sich, sonst gibt es keine Ordnung.«

Der Gefängniswärter hörte mißtrauisch zu: »Sie dürfen hier keine revolutionären Reden führen.«

Martin sagte: »Das ist kein Revolutionär, Herr Aufseher. Eher sind Sie einer.«

Esch war verblüfft, daß seine Meinung so aufgefaßt werden konnte. Also jetzt war auch er schon ein Sozialdemokrat! Auch recht! und trotzig fügte er hinzu: »Meinetwegen mag's revolutionär sein. Übrigens hast du selber immer gepredigt, daß es gleichgültig ist, ob ein Kapitalist anständig ist oder nicht, weil er als Kapitalist und nicht als Mensch bekämpft werden muß.«

Martin sagte: »Sehen Sie, Herr Oberaufseher, soll man Besuche empfangen? dieser Mann wird mir mit seinen Reden noch die ganze Seele vergiften. Wo ich doch eben erst geläutert worden bin.« Und zu Esch gewendet: »Du bist der alte Wirrkopf geblieben, lieber August.«

Der Wärter sagte: »Dienst ist Dienst«, und da ihm ohnedies schon zu heiß war, sah er auf die Uhr und erklärte, daß die Besuchszeit abgelaufen sei. Martin nahm die Krücken: »Also schön, führen wir mich wieder ab.«

Er gab Esch die Hand.

»Und laß es dir gesagt sein, August, mach keine Dummheiten. Und schönen Dank für alles.«

Esch war auf solch jähen Aufbruch nicht vorbereitet. Er behielt Martins Hand in der seinen und überlegte, ob er dem feindlichen Wärter gleichfalls die Hand geben dürfe. Aber er reichte sie ihm, weil sie doch gemeinsam an einem Tische gesessen hatten, und Martin nickte befriedigt dazu. Dann ging Martin, und Esch wunderte sich von neuem, daß es nicht anders war, als ob Martin das Lokal Mutter Hentjens verließe, und dabei ging's in die Kerkerzelle! Es schien wirklich alles gleichgültig zu sein, was auf der Welt geschah. Und trotzdem war nichts gleichgültig: man mußte es bloß erzwingen.

Vor dem Gefängnistor atmete Esch auf; er klopfte sich ab, wie um sich seiner eigenen Anwesenheit zu vergewissern, geriet an die für Martin bestimmten Zigaretten in seiner Tasche, und wieder stieg dieser vermaledeite unerklärliche Zorn in ihm hoch, und wieder war sein Mund voller Schimpfworte. Sogar Martin nannte er einen lächerlichen Volksredner, einen Demagogen, wie man so sagt, obwohl er ihm im Grunde nichts vorwerfen konnte, höchstens, daß er sich aufspielte, als sei er die Hauptperson, während es sich hier wahrlich um Wichtigeres drehte. Aber so sind eben die Demagogen.

Esch fuhr in die Stadt zurück, ärgerte sich, weil der Straßenbahnschaffner uniformiert war, und holte seine Sachen von Fräulein Erna. Sie empfing ihn mit Zeichen großer Zuneigung. Und in seinem Zorn gegen die Unentwirrbarkeit der Welt ließ er es sich aus Verachtung gefallen. Daraufhin nahm er kurz Abschied und eilte zum Bahnhof, um den Abendzug nach Müllheim zu erreichen.

 

Wenn Wünsche und Ziele sich verdichten, wenn der Traum vorstößt zu den großen Wendungen und Erschütterungen des Lebens, dann verengt sich der Weg zu dunkleren Schächten und der Vortraum des Todes senkt sich auf den, der bisher im Traume gewandelt hat: was gewesen ist, Wünsche und Ziele, sie gleiten nochmals vorüber wie vor den Augen des Sterbenden, und beinahe kann man es Zufall nennen, wenn es nicht zum Tode führt.

 

Der Mann, der in weiter Ferne nach seiner Frau sich sehnt oder auch nur nach der Heimat seiner Kindheit, steht am Beginn des Schlafwandelns.

Manches hat sich vielleicht schon vorbereitet und er hat es bloß nicht beachtet. So z.B., wenn es ihm auf dem Weg zum Bahnhof auffällt, daß die Häuser aus geschichteten Ziegeln, die Türen aus zersägten Brettern, die Fenster aus viereckigen Glastafeln bestehen. Oder wenn er sich der Redakteure und der Demagogen erinnert, die so tun, als wüßten sie, wo rechts und wo links ist, während doch bloß die Frauen dies wissen, und auch von denen keineswegs alle. Aber man kann nicht immerzu an solche Dinge denken, und ruhigen Gemütes trinkt er am Bahnhof ein Glas Bier.

Wie er aber den Zug nach Müllheim heranbrausen sieht, diesen so sicher auf das Ziel losschießenden großen und langen Wurm, da packt es ihn plötzlich, packt ihn plötzlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit der Lokomotive, die vielleicht den Weg verfehlen könnte, packt ihn die Furcht, daß er, der bekanntlich sehr wichtigen irdischen Pflichten nachzukommen hat, diesen Pflichten entzogen und am Ende gar nach Amerika entführt werden würde.

In seinen Zweifeln hätte er sich am liebsten nach Art ungeübter Reisender an den uniformierten Verkehrsbeamten herangemacht, aber der Bahnsteig ist so ausgedehnt, ist so unermeßlich lang und kahl, daß man ihn kaum durcheilen kann und sich glücklich preisen muß, falls man den Zug, fahre er wohin immer, zwar atemlos, trotzdem noch glücklich erreicht. Natürlich bemüht man sich dann, an den Waggons die Tafeln zu entziffern, die das Fahrtziel bekanntgeben, indes man begreift bald, daß es ein nutzloses Beginnen ist, denn was die Tafeln zeigen, sind ja bloß Worte. Und der Reisende bleibt ein wenig unschlüssig vor dem Waggon stehen.

Unschlüssigkeit und Atemlosigkeit genügen sicherlich, einen Menschen von zorniger Gemütsart zum Fluchen zu bringen, noch dazu, wenn er, gehetzt vom Abfahrtssignal, in Windeseile die unbequemen Stufen des Wagens hinaufklimmen muß und sich das Schienbein an das Trittbrett anschlägt. Er flucht, flucht auf die Stufen und auf ihre dämliche Konstruktion, flucht auf das Schicksal. Indes hinter solcher Ungehobeltheit steckt eine richtigere, ja aufreizendere Erkenntnis, und wäre der Mensch helldenkend, er könnte es wohl aussprechen: bloßes Menschenwerk ist dies alles, ach, diese Stufen, angepaßt der Beugung und Streckung des menschlichen Knies, dieser unermeßlich lange Bahnsteig, diese Tafeln mit Worten darauf und die Pfiffe der Lokomotiven und die stählern glitzernden Gleise, Fülle von Menschenwerken, sie alle Kinder der Unfruchtbarkeit.

Undeutlich weiß der Reisende, daß er durch solche Betrachtungen sich über den Alltag erhebt, und er möchte es sich gern für sein ganzes Leben einprägen. Denn verdienen derartige Betrachtungen auch allgemein menschliche genannt zu werden, so sind ihnen die Reisenden, insbesonders jene von zorniger Gemütsart, eher geöffnet als die Stubenhocker, die nichts denken, selbst wenn sie noch so oft am Tage die Haustreppe hinauf- und hinuntersteigen. Der Stubenhocker merkt nicht, daß er von Menschenwerk umgeben ist und daß seine Gedanken gleichfalls bloßes Menschenwerk sind. Er sendet die Gedanken aus, so wie man sichere und geschäftstüchtige Reisende aussendet, damit sie die ganze Welt bereisen, und er meint, auf diese Weise die Welt in seine Stube und in sein eigenes Geschäft zu zwingen.

Der Mann jedoch, der statt seiner Gedanken sich selber ausschickt, hat solch voreilige Sicherheit verloren; sein Zorn wendet sich gegen alles, was Menschenwerk ist, gegen die Ingenieure, die die Stufen so und nicht anders konstruieren, gegen die Demagogen, die von der Gerechtigkeit, Ordnung und Freiheit faseln, als könnten sie die Welt nach ihrem Kopfe einrichten, gegen die Besserwisser wendet sich der Zorn des Mannes, in dem das Wissen der Unwissenheit aufgedämmert ist.

Eine schmerzliche Freiheit meldet sich, daß es auch anders sein könnte. Unvermerkt sind die Worte, mit denen die Dinge belegt werden, ins Unsichere geglitten; es ist, als seien die Worte verwaist. Unsicher geht der Reisende durch den langen Korridor des Wagens, ein wenig verwundert, daß es Glasfenster gibt wie in den Häusern, und er berührt die kühle Fläche mit seiner Hand. So gerät der Mensch, der eine Reise tut, leicht in einen Zustand unverbindlicher Verantwortungslosigkeit. Nun, da der Zug in voller Fahrt dahinbraust, scheinbar aufs Ziel losschießend, scheinbar in die Verantwortungslosigkeit strebend, und sein Hinstürmen höchstens mittels der Notbremse zum Halten zu bringen ist, nun da der Reisende mit sehr großer Eile unter seinen Füßen weggetragen wird, da versucht er, der auch in der schmerzlichen Freiheit der Tageshelle sein Gewissen nicht verloren hat, in entgegengesetzter Richtung zu gehen. Doch er kommt zu keinem Ende, denn hier ist alles Zukunft.

Eiserne Räder trennen ihn von der guten festen Erde, und der Reisende in dem Korridor denkt an Schiffe mit langen Gängen, wo Koje an Koje sich reiht, schwimmend auf dem Wasserberg hoch über dem Meeresgrund, der Erde ist. Süße, nie erfüllte Hoffnung! was nützt es, sich im Bauche des Schiffes zu verkriechen, wenn bloß der Mord die Freiheit bringen kann, – ach, nie wird das Schiff bei dem Schlosse anlegen, auf dem die Geliebte wohnt. Der Reisende in dem Korridor gibt seine Wanderung auf, und während er so tut, als betrachte er die Landschaft und die fernen Burgen, drückt er die Nase platt an die Scheibe des Fensters, wie er es als Kind getan hat.

Freiheit und Mord, so nahe verwandt wie Zeugung und Tod! Und wer in die Freiheit geworfen ist, der ist verwaist wie der Mörder, der auf seinem Gang zum Schafott nach der Mutter schreit. In dem dahinbrausenden Zug ist alles Zukunft, weil jeder Augenblick einem andern Orte schon angehört, und die Menschen im Waggon sind zufrieden, als wüßten sie, daß sie der Sühne entrückt werden. Jene, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben sind, sie haben noch getrachtet, mit Rufen und Tücherschwenken an das Gewissen der Enteilenden zu rühren und sie zur Pflicht zurückzubringen, aber die Reisenden geben die Verantwortungslosigkeit nicht mehr auf, verschließen die Fenster unter dem Vorwand, daß sie infolge der Zugluft ein steifes Genick befürchten, und packen ihre Eßvorräte aus, die sie nun mit niemandem mehr zu teilen brauchen.

Mancher von ihnen hat die Fahrkarte an den Hut gesteckt, auf daß seine Unschuld schon von weitem erkennbar sei, die meisten allerdings suchen mit hastiger Angst nach der Fahrkarte, wenn der Ruf des Gewissens ertönt und der uniformierte Beamte erscheint. Wer an Mord denkt, ist bald ertappt, und es nützt ihm nichts, daß er wie ein Kind kunterbunt vielerlei Speisen und Leckereien zu sich nimmt; es bleibt Henkersmahlzeit.

Sie sitzen auf Bänken, die von den Konstrukteuren in schamloser und vielleicht voreiliger Weise der zwiefach gebrochenen Form des sitzenden Körpers angepaßt worden sind, sitzen zu acht geordnet und aneinandergepreßt in ihrem bretternen Käfig, sie wackeln mit den Köpfen und hören das Knarren des Holzes und das leichte Kreischen des Gestänges über den rollenden stoßenden Rädern. Wer in der Fahrtrichtung sitzt, verachtet die anderen, die in die Vergangenheit schauen; sie fürchten die Zugluft, und wenn die Türe aufgerissen wird, so fürchten sie einen, der kommen könnte, ihnen den Kopf in den Nacken zu drehen. Denn wem dies geschieht, der weiß nichts mehr von der Gerechtigkeit zwischen Schuld und Sühne; er zweifelt, daß zwei und zwei vier, zweifelt, daß er seiner Mutter Kind ist und nicht etwa eine Mißgeburt. So sind auch ihre Fußspitzen sorgsam nach vorne gerichtet und deuten auf die zu verfolgenden Geschäfte. Denn in den Geschäften, die sie betreiben, liegt ihre Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft ohne Kraft, doch voller Unsicherheit und voll des bösen Willens.

Bloß die Mutter kann das Kind beruhigen, daß es keine Mißgeburt ist. Die Reisenden hingegen und die Waisenkinder, sie alle, die die Brücken hinter sich verbrennen, wissen nicht mehr, wie es um sie steht. In die Freiheit geworfen, müssen sie Ordnung und Gerechtigkeit neu errichten; sie wollen sich von den Ingenieuren und Demagogen nichts mehr vorflunkern lassen, sie hassen das Menschenwerk in den staatlichen und technischen Einrichtungen, allein sie wagen nicht, sich gegen das jahrtausendealte Mißverständnis aufzulehnen und die schreckliche Revolution der Erkenntnis heraufzubeschwören, in der zwei und zwei nicht mehr zu summieren sein wird. Denn niemand ist da, sie der verlorenen und wiedergefundenen Unschuld zu versichern, niemand, in dessen Schoß sie ihr Haupt legen können, fliehend ins Vergessen aus der Freiheit des Tages.

Zorn schärft die Sinne. Die Reisenden haben ihr Gepäck mit großer Sorgfalt in den Netzen geordnet, sie führen zornige und kritische Gespräche über die politischen Einrichtungen des Reiches, über die öffentliche Ordnung und über das Rechtswesen, sie bekritteln die Dinge und Einrichtungen in scharfer Form, wenngleich mit Worten, an deren Gemäßheit sie nicht mehr recht glauben können. Und in dem schlechten Gewissen ihrer Freiheit fürchten sie den schrecklichen Krach des Eisenbahnunglücks, bei dem ihnen das eiserne Gestänge spießend durch den Leib fährt. Dergleichen hat man schon oft in der Zeitung gelesen.

Doch sie sind wie Menschen, die man allzufrüh aus dem Schlaf und zur Freiheit geweckt hat, auf daß sie rechtzeitig den Zug erreichen. So werden ihre Worte immer unsicherer und schläfriger, und bald verebbt das Gespräch in undeutlichem Murmeln. Der eine oder der andere sagt wohl noch, daß er nun lieber die Augen schlösse, als daß er das rasend vorbeieilende Leben betrachte, aber die Mitreisenden, zurückflüchtend in den Traum, hören ihm nicht mehr zu. Sie schlafen ein mit geballten Fäusten und den Mantel vors Gesicht gezogen, und ihre Träume sind voller Wut gegen die Ingenieure und Demagogen, die mit dem Wissen der Verruchten die Dinge bei den Namen nennen, die falsch sind, so schamlos in ihrer Falschheit, daß der zornige Traum den Dingen neue und sehr unsichere Namen geben muß, voll Sehnsucht aber, daß die Mutter die richtigen nenne und die Welt sicher werde wie eine feste Heimat.

Übernahe und überferne, wie einem Kinde, sind die Dinge, und der Reisende, der den Zug bestiegen hat und in weiter Ferne nach seiner Frau sich sehnt oder auch nur nach seiner Heimat, ist wie einer, dem das Augenlicht zu versagen beginnt und den eine leise Angst überkommt, er könnte erblinden. Es ist vieles undeutlich um ihn geworden, wenigstens meint er, daß es so sei, sobald er sein Gesicht mit dem Mantel bedeckt hat, und dennoch beginnt ein Wissen in ihm aufzukeimen, das er vielleicht schon besaß, aber nicht beachtet hat. Er steht am Beginn des Schlafwandelns. Noch folgt er der Straße, welche von den Ingenieuren bereitet worden ist, aber er geht nur mehr am Rand, so daß man fürchten muß, er werde hinabstürzen. Die Stimme des Demagogen hört er noch, aber sie ist ihm nicht mehr Sprechen. Er streckt die Arme seitwärts und nach vorne gleich dem traurigen Seiltänzer, der hoch über der guten Erde von besserem Halt weiß. Erstarrt und bezwungen schwebt die gefangene Seele, und der Schlafende gleitet nach aufwärts, wo die Fittiche der Liebenden seinen Atem berühren wie die Flaumfeder, die man dem Toten auf die Lippen legt, und er wünscht, daß man ihn, als wäre er ein Kind, nach seinem Namen frage, damit er in den Armen der Frau, eratmend die Heimat, traumlos versinke. Noch ist er nicht sehr überhöht, doch schon steht er auf einer kleinen erstmaligen Staffel der Sehnsucht, denn er weiß es nicht mehr, wie er heißt.

 

Daß Einer komme, der den Opfertod auf sich nimmt und die Welt zum Stande neuer Unschuld erlöst: aufsteigt solch ewiger Wunsch des Menschen bis zum Morde, auf steigt solch ewiger Traum bis zur Hellsichtigkeit. Zwischen geträumtem Wunsch und ahnendem Traum schwebt alles Wissen, schwebt das Wissen vom Opfer und vom Reich der Erlösung.

 

Er hatte in Müllheim übernachtet. Im kühlen Morgendunst des Sommers lagen die grünen Berge des Schwarzwalds, da er den kleinen Zug bestieg, der ihn nach Badenweiler bringen sollte. Die Welt sah klar und nahe aus wie ein gefährliches Spielzeug. Die Lokomotive war so kurzatmig, daß man ihr gerne einige Haften am Halse geöffnet hätte; doch ob sie den Zug eigentlich rasch oder langsam zog, das wußte man nicht. Demungeachtet durfte man sich ihr mit Sorglosigkeit anvertrauen. Als sie hielt, grüßten Bäume freundlicher denn je, und umspielt von würzigen und leichten Lüften erhob sich neben dem Bahnhofsgebäude ein Kiosk mit einer Auslage voll schöner Ansichtskarten. Die hätten sich alle in Mutter Hentjens Sammlung gut gemacht, und Esch wählte eine, auf welcher der Schloßberg lieblich zu sehen war, steckte sie in die Tasche und suchte eine schattige Bank, mit Muße dort zu schreiben. Aber er schrieb nicht. Er blieb ruhig sitzen, wie einer, der nun nichts mehr zu versäumen hat, und friedlich ruhten seine Hände auf den Knien. So saß er lange, schaute durch geschlossene Lider das Grün der Bäume, saß so lange, daß voll Verwunderung er nicht mehr wußte, wie er hierher geraten war, als er dann durch die sorglosen Straßen ging, in denen die Menschen atmeten. Vor einem Hause stand ein drohendes Automobil und Esch betrachtete es eindringlich, ob es zum Übernachten geeignet sei. Gelassen betrachtete er auch noch andere Dinge, denn in ihm war die Sicherheit und die Gelöstheit des Reiters, der sein Ziel erreicht hat und der, im Sattel sich wendend, die anderen in weiter Ferne zurückbleiben sieht; alle Anspannung fällt da von ihm und bequem, fast zögernd legt er die letzte Strecke zurück, ja er ist voll Verlangen, daß noch ein besonders hohes und schwieriges Hindernis sich ihm entgegenstelle, ehe das Ziel erreicht wird und er nach dem sicheren Siege greift. Darum war es fast schmerzlich, so hold der Tag auch war, abhold jedem Schmerze, daß er mit solcher Sicherheit dem Hause Bertrands zustrebte: ohne Aufenthalt und ohne zu fragen, wußte er, wohin er sich zu wenden hatte. Er stieg die sanft gewundene Parkstraße hinan; der Atem des Waldes traf ihn, berührte seine Stirne, berührte die Haut im Kragen und in den Ärmeln, und den Hauch zu empfangen, nahm er den Hut in die Hand und öffnete die Knöpfe der Weste. Nun trat er in ein Parktor, kaum sich verwundernd, daß das Anwesen bei weitem nicht jenen großartigen Charakter besaß, mit dem es durch seine Traumbilder schwebte. Und wenn auch an keinem der Fenster dort droben Ilona im Flimmerkleide zu sehen war, der schönen Landschaft schönstes Widerspiel, sie selber schon am Ziele und lässig dort lehnend, ach, wenn man es auch sehr vermißte, unberührt blieb das Traumschloß, unberührt das Bild des Traumes, und es war, als ob das, was er leibhaftig vor sich sah, bloß eine sinnbildliche Stellvertretung wäre, errichtet für den augenblicklichen und praktischen Gebrauch, Traum im Traume. Oberhalb der sanft geböschten tief grünen Wiese, die im Morgenschatten lag, war das villenartige Gebäude in einem gemäßigten und soliden Stile ausgeführt, und als sollte die spielerische und gleitende Kühle dieses Morgens, als sollte das Sinnbild nochmals versinnbildlicht werden, gab es auf dem Böschungsabsatz einen fast lautlosen Springbrunnen und der war wie ein spiegelnder Trunk, den man bloß um der Klarheit des Wassers willen genießt. Aus dem Portierhause, das von Geißblatt umrankt hinter dem Tore lag, trat ein Mann in grauem Anzug, der nach dem Begehr fragte. Die silbernen Knöpfe an seinem Rock waren nicht das Zeichen einer Uniform oder Livree, sondern sie blitzten und spiegelten sanft und kühl, als seien sie bloß für diesen schimmernden Morgen angenäht worden. Hatte es gestern noch einen Augenblick sinkenden Selbstvertrauens gegeben, zweifelnd, ob der Herr Präsident überhaupt anzutreffen sein würde, es war nun jeder Zweifel verflogen, und beinahe hätte Esch behauptet, zu denen zu gehören, die ungefragt hier ein- und ausgehen dürfen. Also wunderte er sich nicht über den Pförtner, der es verabsäumte, Namen und Begehr in einen Durchschreibblock einzutragen, dachte auch nicht daran, daß es vielleicht geziemender gewesen wäre, beim Eingang zu warten, sondern dem Manne sich anschließend, ging er an seiner Seite, und der ließ es schweigend geschehen. Sie traten in einen dämmerigen und kühlen Vorraum, und während der Mann in einer der vielen weißlackierten Türen verschwand, die sanft sich öffnete und sanft hinter ihm sich schloß, spürte Esch den weichen schwebenden Teppich unter seinen Sohlen, harrte des Boten, der zurückkam und ihn durch einige Gelasse führte bis zu einer andern Pforte, bei der er mit einer Verbeugung den Gast entließ. Und obwohl dieser nun ohne weiteres des Führers enträt, denkt er, daß es richtiger und sogar wünschenswerter wäre, wenn die Flucht der Gemächer sich noch weithin, vielleicht ins Ewige erstrecken würde, in eine unerreichbare Ewigkeit, vorgelagert dem innersten Heiligtum, sozusagen dem Thronsaal vorgelagert, und fast glaubt der Gast, er hätte die unendliche Reihe unendlicher Räume auf eine wundersame und unanständige und unmerkliche Art dennoch durcheilt, da er bereits vor jenem stand, der die Hand ihm reichte. Und obwohl Esch wußte, daß es Bertrand war, und es keinen Zweifel mehr gab, weder hier noch sonstwo, da wollte ihn bedünken, es sei dieser bloß das Sinnbild eines andern, Spiegelbild eines eigentlicheren und vielleicht größeren, der im Verborgenen blieb, so einfach und glatt, so wahrhaft gleitend ging dies alles vonstatten. Nun sah er ihn auch, der bartlos wie ein Schauspieler und doch kein Schauspieler war; sein Gesicht war jugendlich und sein lockiges Haar war weiß. In dem Räume gab es viele Bücher, und Esch saß neben dem Schreibtisch, als wäre er bei einem Arzte. Er hörte ihn sprechen, und die Stimme war teilnehmend wie die eines Arztes. »Was führt Sie zu mir?«

Und der Träumende hörte seine eigene leise Stimme: »Ich werde Sie der Polizei angeben.«

»Oh, schade«, war die so leise Antwort, daß auch Esch die Stimme nicht zu heben wagte. Fast für sich selbst wiederholte er: »Der Polizei angeben.«

»Hassen Sie mich denn?«

»Ja«, log Esch und schämte sich der Lüge.

»Das ist doch nicht wahr, mein Freund, Sie haben mich doch gern.«

»Ein Unschuldiger sitzt an Ihrer Stelle im Gefängnis.«

Esch fühlte, wie der andere lächelte, und er sah Martin vor sich, wie er sprach und dabei lächelte. Und dieses Lächeln war auch in Bertrands Stimme: »Aber Kind, da hätten Sie mich doch schon längst anzeigen müssen.«

Man durfte ihm nichts tun; Esch sagte trotzig: »Ich meuchle nicht.«

Nun lachte Bertrand gar, ein leichtes unhörbares Lachen, und weil der Morgen so anmutig war, ja weil der Morgen so anmutig sich anließ, war Esch außerstande, sich zu ärgern, wie man sich eben ärgert, wenn man ausgelacht wird, sondern er vergaß, daß er doch gerade von Mord gesprochen hatte, und wäre es dem Anstand gemäß gewesen, er hätte gerne in das leichte Lachen Bertrands mit eingestimmt. Und zur Ernsthaftigkeit sich zwingend, und obschon die beiden Gedanken nicht recht zueinanderpaßten oder bloß in einem andern und schwerer verständlichen Zusammenhang sich befanden, setzte er fort: »Nein, ich begehe keinen Meuchelmord; Sie müssen Martin befreien.«

Bertrand jedoch, der offenbar alles verstand, schien auch dieses zu verstehen; seine nun ernstere Stimme war zwar noch immer voll beruhigender und leichter Fröhlichkeit: »Aber Esch, wie kann man bloß so feig sein? braucht man denn einen Vorwand für einen Mord?«

Nun war das Wort wieder hier, wenn auch nur herbeigeflattert wie ein stiller, dunkler Schmetterling. Und Esch dachte, es müßte Bertrand eigentlich nicht sterben, wo Hentjen ohnehin schon tot war. Aber dann ergab es sich wie eine klare und sanfte Erleuchtung, daß ein Mensch zweimal sterben könne. Und Esch sagte und wunderte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war: »Es steht Ihnen ja frei zu fliehen«, und lockend schlug er vor: »nach Amerika.«

Es war, als ob Bertrand nicht zu ihm spräche: »Du weißt es, mein Lieber, daß ich nicht fliehe. Zu lange schon habe ich diesen Augenblick erwartet.«

Da war Esch nun voll Liebe für jenen, der so viel höher stand als er und doch mit ihm, der bloß ein junger Angestellter seines Unternehmens und überdies ein Waisenkind war, vom Sterben sprach wie mit einem Freunde. Esch freute sich, die Magazinsbücher gut geführt und anständige Arbeit treu geleistet zu haben. Und er wagte nicht zu bejahen, daß er wisse, wie es um Bertrand bestellt war, wagte auch nicht zu bitten, daß Bertrand ihn umbringe, sondern er nickte bloß verständig mit dem Kopfe. Bertrand sagte: »Keiner steht so hoch, daß er den andern richten darf, und so verworfen ist keiner, daß seine ewige Seele nicht Ehrfurcht gebietet.«

Da wußte Esch nun plötzlich Bescheid wie noch nie, wußte auch, daß er sich und die Welt betrogen hatte, denn es war, als ob das Wissen, das Bertrand von ihm besaß, nun zu ihm zurückflute: niemals hatte er daran geglaubt, daß dieser Mann Martin befreien würde. Bertrand aber, der Erkennende und Erkannte, sagte mit einer leicht wegwerfenden Handbewegung: »Und wenn ich Ihre furchtsame Hoffnung und die unerfüllbare Bedingung erfüllte, Esch, müßten wir uns dann nicht beide schämen: Sie, weil Sie nur ein kleiner banaler Erpresser gewesen wären, ich, weil ich mich einem solchen Erpresser ausgeliefert hätte.«

Und obwohl Esch, dem überwach Träumenden, nichts entging, weder die etwas verächtliche Geste der Hand, noch der ironische Zug, der in dem Lächeln um Bertrands Mund nun zu sehen war, so ließ ihn doch die Hoffnung nicht los, Bertrand werde trotz allem die Bedingung erfüllen oder wenigstens fliehen: Esch hoffte es, denn jäh war die Befürchtung aufgestiegen, daß in dem zweiten Tod des Herrn Hentjen auch die Sehnsucht nach Mutter Hentjen sterben könne. Aber dies war seine Privatangelegenheit, und das Geschick Bertrands davon abhängig zu machen, erschien ihm nicht weniger unwürdig, als wenn er von ihm Geld erpreßt hätte, und es vertrug sich auch nicht mit der Reinheit des Morgens. Darum sagt er: »Es ist kein anderer Ausweg, – ich muß Sie anzeigen.«

Und Bertrand antwortete: »Jeder muß seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich. Sonst wird er der Freiheit nicht teilhaftig.«

Esch verstand ihn nicht völlig, und um sich zu vergewissern, sagte er: »Ich muß Sie anzeigen. Es wird sonst immer ärger.«

»Ja, Lieber, es wird sonst immer ärger, und wir wollen es zu verhüten trachten. Ich habe ja von uns beiden den leichteren Teil; ich brauche bloß wegzugehen. Der Fremde leidet nie, er ist losgelöst, – es leidet bloß der, der verstrickt bleibt.«

Esch glaubte wieder den ironischen Zug um Bertrands Mund zu sehen: in solch kalte Fremdheit also Verderbens voll verstrickt, mußte Harry Köhler leidvoll zugrunde gehen, und dennoch konnte Esch dem Unheilbringenden nicht böse sein. Am liebsten hätte er selber es mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und beinahe war es wie eine Ergänzung zu Bertrands Worten, da er sagte: »Wenn nicht Sühne wäre, gäbe es kein Gestern, kein Heute und kein Morgen.«

»Oh, Esch, du machst mir das Herz schwer. Du hoffst zu viel. Niemals noch ist die Zeit nach dem Tode gerechnet worden: immer stand die Geburt an ihrem Beginn.«

Auch Esch hatte ein schweres Herz. Er wartete, daß jener den Befehl erteilen werde, die schwarze Fahne auf der Zinne zu hissen, und er dachte: er muß Platz machen für den, nach dem die Zeit gezählt werden wird. Aber Bertrand schien trotzdem darüber nicht traurig zu sein, denn er sagte leichthin, gleichsam als Nebenbemerkung: »Viele müssen sterben, viele müssen geopfert werden, damit Platz für den erkennenden liebenden Erlöser geschaffen werde. Und erst sein Opfertod erlöst die Welt zum Stand der neuen Unschuld. Vorher aber muß der Antichrist kommen, – der Wahnsinnige, der Traumlose. Erst muß die Welt luftleer werden, ausgeleert wie unter einem Vakuumrezipienten, … das Nichts.«

Das war einleuchtend wie alles, was Bertrand sagte, so einleuchtend und vertraut, daß das Wagnis, seine ironische Miene nachzuahmen, fast zur Verpflichtung, fast zum Einverständnis werden wollte: »Ja, es muß Ordnung gemacht werden, damit man von vorne anfangen kann.«

Allein, da er es aussprach, schämte er sich schon, schämte sich der sarkastischen Miene und des Tonfalls; er fürchtete, daß Bertrand ihn neuerdings auslachen werde, denn er fühlte sich nackt vor ihm stehen, und er war dankbar, weil jener ihn bloß leise zurechtwies: »Mord und Gegenmord ist diese Ordnung, Esch, – die Ordnung der Maschine.«

Esch dachte: behielte er mich hier, so wäre Ordnung; man würde alles vergessen und hell würden die Tage in Ruhe und Klarheit dahinfließen; doch er verstößt mich. Und er mußte ja gehen, wenn Ilona hier sein würde. Darum sagte er: »Martin hat sich geopfert und keinen hat er erlöst.« Bertrands Hand machte eine kleine, etwas verächtliche, hoffnungslose Bewegung.

»Keiner sieht den andern im Dunkeln, Esch, und die fließende Helligkeit ist nur ein Traum. Du weißt, daß ich dich nicht bei mir behalten kann, so sehr du die Einsamkeit fürchtest. Wir sind ein verlorenes Geschlecht, auch ich kann bloß meinen Geschäften nachgehen.«

Es verstand sich, daß Esch darüber sehr vergrämt war und er sagte: »Ans Kreuz geschlagen.«

Nun lächelte Bertrand wieder, und weil er sich von ihm verstoßen fühlte, hätte Esch ihm fast den Tod gewünscht, wenn dies Lächeln nicht so freundlich gewesen wäre, freundlich und lautlos wie die Rede, die alles erriet: »Ja, Esch, – ans Kreuz geschlagen. Und in letzter Einsamkeit von der Lanze durchbohrt und mit Essig gelabt. Und dann erst mag jene Finsternis hereinbrechen, in welche die Welt zerfallen muß, damit es wieder licht und unschuldig werde, jene Finsternis, in der keines Menschen Weg den Weg des andern findet, – und gehen wir auch nebeneinander, wir hören uns nicht und vergessen einander, so wie auch du, mein lieber letzter Freund, vergessen wirst, was ich dir sagte, vergessen wie einen Traum.«

Er drückte auf einen Taster und gab Befehle. Dann gingen sie in den schönen Garten, der hinter dem Hause sich weithin ins Unermeßliche erstreckte, und Bertrand zeigte ihm die Blumen und seine Pferde. Zwischen den Blumen flatterten lautlos dunkle Schmetterlinge und die Pferde wieherten nicht. Bertrand hatte einen leichten Schritt, da er durch sein Besitztum ging, und doch war es Esch oft, als müßte der Leichte auf Krücken gehen, denn eine Sonnenfinsternis stand am Himmel. Dann saßen sie zusammen bei Tische; Silber und Wein und Früchte schmückten die Tafel, und sie waren wie zwei Freunde, die alles voneinander wissen. Als sie das Mahl eingenommen hatten, wußte Esch, daß die Zeit zum Abschied nahe war, denn der Abend konnte unverhofft anbrechen. Bertrand begleitete ihn bis zu den Stufen, die zum Garten führten, und dort wartete bereits das große rote Automobil mit den roten glatten Lederkissen, die von der Mittagssonne noch heiß waren. Und da ihre Finger zum Abschied sich nun berührten, spürte Esch das starke Verlangen, sich über Bertrands Hand zu beugen und sie zu küssen. Aber der Führer des Automobils ließ die Hupe heftig erschallen, so daß der Gast eilends das Gefährt besteigen mußte. Kaum war es in Bewegung, als sich ein so heftiger, wenn auch lauer Wind erhob, daß Haus und Garten wie weggeweht waren, und dieser Wind legte sich erst in Müllheim, wo ein erleuchteter Zug schnaubend des Reisenden harrte. Es war die erste Fahrt Eschs in einem Automobil und sie war sehr schön.

 

Groß ist die Angst dessen, der erwacht. Er kehrt mit geringerer Berechtigung zurück und er fürchtet die Stärke seines Traumes, der vielleicht nicht zur Tat, wohl aber zu neuem Wissen geworden ist. Ein Ausgestoßener des Traumes, wandelt er im Traume. Und es nützt ihm nicht einmal, daß er eine Ansichtskarte in der Tasche trägt, die er betrachten kann; vor dem Gericht bleibt er ein falscher Zeuge.

 

Oft hat der Mensch nicht acht darauf, daß seine Sehnsucht im Laufe weniger Stunden ihr Antlitz geändert hat. Vielleicht sind es bloß gewisse feine Unterscheidungen, bloße Beleuchtungsnuancen, die der Durchschnittsreisende achtlos übersieht, indes die Sehnsucht nach der Heimat sich ihm unversehens in die Sehnsucht nach dem gelobten Lande verwandelt hat, und wenn auch sein Herz von dunkler Bangigkeit voll ist, bangend um die Nacht ruhender wartender Heimat, so sind seine Augen doch schon erfüllt von einer noch unsichtbaren Helligkeit, die von irgendwoher gekommen ist, unsichtbar noch, obgleich man ahnt, daß es die Helligkeit jenseits der Ozeane ist, wo die dunklen Nebel sich lichten: heben sich aber die Nebel, so werden die gebreiteten hellen Reihen der Felder dort sichtbar und die sanftgeböschten grünen Wiesen, ein Land, in das ein so ewiger Morgen eingebettet ist, daß der Bangende der Frauen zu vergessen beginnt. Das Land ist menschenleer und die wenigen Kolonisten sind Fremdlinge. Sie halten keinerlei Gemeinschaft untereinander, einsam ein jeder leben sie auf ihren Schlössern. Sie gehen ihrem Geschäfte nach und beackern die Felder, säen und jäten. Der Arm der Gerechtigkeit vermag ihnen nichts anzuhaben, denn sie brauchen weder Recht noch Gesetz. Mit ihren Automobilen fahren sie über die Steppe und über das jungfräuliche Land, das von Straßen noch nie durchzogen worden ist, und ihre einzige Führerin ist ihre unerfüllbare Sehnsucht. Auch wenn sich die Kolonisten ansässig gemacht haben, fühlen sie sich als Fremde; ihre Sehnsucht ist Fernweh, gilt einer Ferne von immer größerer, niemals erreichbarer Helligkeit. Und das ist eigentlich verwunderlich, denn es sind ja westliche Menschen, d. h. solche, deren Blick gegen den Abend gewendet ist, als ob dort nicht die Nacht stünde, sondern die Pforte des Lichtes. Ob sie diese Helligkeit so sehr suchen, weil sie scharf und bestimmt denken, oder nur weil sie sich im Dunklen fürchten, bleibe unentschieden. Man weiß bloß, daß sie sich immer dort ansiedeln, wo wenig Wald steht, oder daß sie ihn ausroden für einen lichten Park; denn lieben sie auch die Kühle des Dickichts, sie sagen dennoch, daß sie die Kinder vor seiner unheimlichen Finsternis bewahren müßten. Dies mag nun richtig sein oder nicht, es zeigt immerhin, daß die Kolonisten nicht von jener bärbeißigen Art sind, mit der man Kolonisten oder Pioniere sich ausgestattet denkt, vielmehr daß ihre Art an das Gehaben von Frauen erinnert, und ihre Sehnsucht an die Sehnsucht der Frauen, Sehnsucht, die scheinbar dem geliebten Manne, in Wahrheit aber dem gelobten Lande gilt, in das er sie aus ihrer Dunkelheit geleiten soll. Doch muß man mit solchen Äußerungen vorsichtig sein; rasch nämlich sind die Kolonisten gekränkt und sie ziehen sich dann noch verschlossener in ihre Einsamkeit zurück. In den Steppen aber, in dem hügelreichen Grasland, das von kühlenden Flüssen geädert ist, und das sie bevorzugen, sind sie heiter, obwohl sie zu schamhaft sind, um zu singen. Dieses ist das dem Schmerze abgekehrte Leben der Kolonisten und sie suchen es jenseits des Ozeans. Sie sterben leicht und jugendlich, auch wenn ihr Haar schon ergraut ist, denn ihre Sehnsucht ist ein immerwährendes Abschiednehmen. Sie sind hochmütig wie Moses, da er das gelobte Land schaute, er allein in der göttlichen Sehnsucht und er allein ausgeschlossen. Und oftmals wird man an ihnen die gleiche ein wenig hoffnungslose und etwas verächtliche Bewegung der Hand bemerken wie an Moses auf dem Berge. Denn unwiederbringlich liegt die Heimat des Volkes hinter ihnen, uneinbringlich die Ferne vor ihnen, und der Mensch, dessen Sehnsucht sich gewandelt hat, ohne daß er davon wußte, fühlt sich manchmal wie einer, der seine Schmerzen bloß betäubt hat und doch niemals ihrer völlig vergessen kann. Vergebliches Hoffen. Denn wer vermag das Vordringen im beseligten Gefilde vom Verirren des Verwaisten zu unterscheiden. Mag auch der Schmerz um das Unwiederbringliche immer geringer werden, je weiter einer ins gelobte Land vordringt, mag auch manches sich in der zunehmenden Helligkeit auflösen und in ihr verfallen, es wird wohl auch der Schmerz immer gelöster, immer heller, vielleicht sogar unsichtbarer, aber er verschwindet so wenig wie die Sehnsucht des Mannes, in dessen Schlafwandeln die Welt vergeht, zerfallend in dem Erinnern an die Nacht seines Weibes, sehnsüchtig und mütterlich, und schließlich nur mehr ein schmerzlicher Hauch des Einstigen. Vergebliches Hoffen, oftmals grundloser Hochmut. Verlorenes Geschlecht. So haben viele der Kolonisten, selbst wenn sie heiter und gelassen scheinen, ein schlechtes Gewissen und sie sind zur Sühne bereiter als manche andere Menschen, die doch sündiger sind als sie. Ja, es ist nicht unglaubhaft, daß es sogar solche gibt, welche die Klarheit und Ruhe, in die sie sich begeben haben, nicht mehr ertragen, und ob man gleich meinen könnte, es sei ihr unstillbares Fernweh so groß geworden, daß es notwendig wieder zum Gegenteil und vielleicht zum Ursprung zurückschlagen mußte, so ist es eben darum nicht weniger glaubhaft, daß man Kolonisten gesehen haben soll, die mit den Händen vor dem Gesicht geschluchzt haben, als ob sie an Heimweh litten.

So versank Esch, je mehr er sich im grauenden nebeligen Morgen der Stadt Mannheim näherte, in immer schmerzlichere Bangigkeit und fast wußte er nicht, ob ihn der Zug nicht geradewegs in die Wirtschaft nach Köln trüge, oder ob nicht Mutter Hentjen, ein Kind von ihm zu empfangen, seiner in Mannheim harren würde. Er war enttäuscht, da er bloß den Brief vorfand, auf den er ohnehin gerechnet hatte, und am liebsten hätte er ihn gar nicht gelesen. Noch dazu wo man's dem Saubrief anmerkte, daß er unter dem Bilde des Herrn Hentjen geschrieben worden war. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch aus Bangigkeit zitterte Eschs Hand, als er trotzdem nach dem Briefe griff.

 

Er hatte Erna kaum beachtet, hatte auch ihre gekränkte Miene übersehen und war sofort in die Stadt gegangen, denn er wußte, daß er beim Polizeipräsidium irgendeine Anzeige zu erstatten habe. Sonderbarerweise aber war er zuerst zu Lohberg geraten, hatte ihn begrüßt, und jetzt überlegte er, ob er wiederum zum Hafen sollte. Indes auch dazu hatte er keine Lust und am liebsten wäre er ins Gefängnis hinausgefahren, obwohl ihm doch bekannt war, daß man erst nachmittags vorgelassen wurde. Von fernher meldete sich Einsamkeit, und schließlich stand er vor dem Schillerdenkmal und wäre zufrieden gewesen, wenn er daneben den Eiffelturm und die Freiheitsstatue gefunden hätte. Vielleicht war es bloß der Unterschied der Dimension; das Denkmal in Lebensgröße sagte ihm nichts, und nun war er nicht einmal mehr imstande, sich das Lokal Mutter Hentjens vorzustellen. So vertrödelte er den Morgen und kämpfte mit seinem Gedächtnis; ja er wollte eine Anzeige bei der Polizei anbringen, jedoch er vermochte nicht, den Inhalt dieser Anzeige zu formulieren. Mit einem Gefühl großer Erleichterung gab er den Plan endlich auf, als er zu der Einsicht kam, daß die Mannheimer Polizei, die Martin eingekerkert hatte, nicht würdig sei, die Anzeige zu empfangen, während er den Kölnern sowieso den Ersatzmann für Nentwig noch immer schuldig war. Er ärgerte sich: das hätte er sich auch schon früher einfallen lassen können, aber jetzt war es in Ordnung, und in Gesellschaft Lohbergs speiste er mit gutem Appetit zu Mittag.

Dann fuhr er zur Strafanstalt. Wieder war der Tag glühend heiß, wieder saß man in dem Sprechzimmer, – hatte man's je verlassen gehabt? alles war gleichgeblieben und nichts lag dazwischen: wieder trat Martin mit dem Gefängniswärter herein, wieder verspürte Esch die quälende Leere in seinem Kopf, wieder wurde es unerklärlich, warum er in diesem Amtsraume saß, unerklärlich, obwohl es doch zu einem bestimmten und lange vorbedachten Zwecke geschah. Zum Glück fühlte er in der Tasche die Zigaretten, die er Martin diesmal ganz gewiß zustecken würde, so daß der Besuch wenigstens die alte Schuld aufholte. Aber das war ein Vorwand, ja ein Vorwand, dachte Esch und dann: was man nicht im Kopfe hat, hat man in den Füßen. Alles war ärgerlich, und als sie wieder zu dritt um den Tisch herum saßen, war es die ironische Freundlichkeit Martins, die ihn heute besonders ärgerte, – sie mahnte ihn an etwas, das er nicht wahr haben wollte.

»Also von der Kur zurück, August? Siehst auch prächtig aus. Hast alle deine Bekannten getroffen?«

Esch log nicht, als er sagte: »Ich habe niemanden getroffen.«

»Oho, warst du also gar nicht in Badenweiler?«

Esch konnte nicht antworten.

»Esch, hast du Dummheiten gemacht?«

Esch schwieg noch immer und Martin wurde ernst: »Wenn du irgend etwas angestellt hast, sind wir miteinander fertig.«

Esch sagte: »Es ist alles fremdartig. Was sollte ich anstellen?«

Darauf Martin: »Hast du ein gutes Gewissen? etwas ist nicht in Ordnung!«

»Ich habe ein gutes Gewissen.«

Martin sah ihn noch immer prüfend an und Esch mußte sich an den Tag erinnern, da ihm Martin auf der Straße gefolgt war, als wollte er ihn von rückwärts mit der Krücke stoßen. Doch Martin war schon wieder freundlich und fragte: »Und was machst du dann noch immer in Mannheim?«

»Lohberg soll die Erna heiraten.«

»So, der Lohberg … ich weiß schon, der Zigarrenhändler. Und deshalb bleibst du hier?« Martins Blick wurde neuerdings mißtrauisch.

»Ich reise ja ohnedies heute … spätestens morgen.« »Und was geschieht dann mit dir?«

Esch wünschte sich möglichst weit fort. Er sagte: »Ich will nach Amerika.«

Martin lächelte mit seinem alten Kindergesicht: »Ja, ja, das willst du schon lange … oder hast du jetzt einen besonderen Grund, der dich wegtreibt?«

Nein, er glaube bloß, jetzt gute Aussichten drüben zu haben.

»Na Esch, ich hoffe ja, daß ich dich vorher noch sehe. Besser gute Aussichten drüben, als daß dich etwas von hier wegtreibt  … aber, wenn es anders sein sollte, siehst du mich nimmer, Esch!« Das klang fast drohend, und in den heißen ungelüfteten Raum senkte sich wieder das Schweigen über die drei Männer an dem tintenbespritzten Tisch. Esch stand auf und sagte, daß er eilen müsse, wenn er den Zug heute noch erreichen wolle, und da Martin ihn zum Abschied wiederum fragend und mißtrauisch anschaute, schob er ihm die Zigaretten in die Hand, während der uniformierte Wärter so tat, als sähe er es nicht, oder auch wirklich nichts gesehen hatte. Dann ließ Martin sich abführen.

Auf dem Heimweg zur Stadt klang Esch die Drohung Martins in den Ohren und vielleicht hatte sich die Drohung bereits verwirklicht, denn plötzlich konnte er sich Martin nicht mehr vorstellen, weder sein Hinken, noch sein Lächeln, noch daß der Krüppel je wieder in die Wirtsstube eintreten würde. Er war fremd geworden. Esch marschierte mit langen ungelenken Schritten, als müßte er die Entfernung zwischen sich und dem Gefängnis, als müßte er die Entfernung zwischen sich und allem, was hinter ihm lag, möglichst rasch vergrößern. Nein, der wird ihm nicht mehr nachlaufen, ihn von rückwärts mit der Krücke zu stoßen; weder kann einer dem andern nachlaufen, noch kann er ihn wegschicken, ein jeder dazu verdammt, seinen eigenen einsamen Weg zu gehen, entfremdet aller Gemeinschaft: es galt sich loszulösen aus der Verstrickung des Vergangenen, auf daß man nicht leide. Man mußte bloß rasch genug marschieren. Martins Drohung war merkwürdig wesenlos geworden, war wie ein bescheidener irdischer Abklatsch eines höheren Sachverhaltes, an dem man schon längst teilhatte. Und wenn man Martin zurückließ, wenn man ihn sozusagen opferte, so war auch dies wie eine irdische Wiederholung einer höheren Opferung, notwendig auch sie, um das Vergangene endgültig zu vernichten. Zwar waren die Straßen Mannheims noch wohlvertraut, aber es ging in die Fremde und in die Freiheit; man ging wie auf höherer Stufe, und wenn man morgen in Köln eintreffen wird, so wird man der Stadt und ihrem Bilde nicht mehr unterworfen sein, man wird sie fügsam und demütig finden, fügsam sich zu verändern. Esch machte eine wegwerfende Bewegung mit seinen schlenkernden Händen, und eine ironische Grimasse gelang ihm desgleichen.

Er war so sehr in Gedanken, daß er Korns Wohnungstür übersah; erst vor dem Dachbodeneingang merkte er, daß er ein Stockwerk wieder hinunterzusteigen hatte. Und er erschrak, als Fräulein Erna öffnete. Er hatte sie vergessen gehabt, und da schaute sie nun aus dem Türspalt, zeigte ihr gelbliches Lächeln und forderte ihr Teil. Es war der Teufel der Vergangenheit selber, der das Tor der Sehnsucht verstellte, Fratze des Irdischen, unbesiegbarer und höhnischer denn je, fordernd, daß man stets aufs neue hinabsteige in die Verstrickung des Gewesenen. Und da half kein gutes Gewissen, da half es nichts, daß es ihm jederzeit freistand nach Köln und nach Amerika weiterzureisen, einen Herzschlag lang war es, als hätte Martin ihn nun dennoch eingeholt, als wäre es Martins Rache, die ihn hinab und zu Fräulein Erna stieß. Fräulein Erna aber schien zu wissen, daß es kein Entrinnen für ihn gab, denn gleich Martin lächelte sie vielwissend und wie in geheimer Kenntnis einer noch dunklen irdischen Bindung, die unentrinnbar und drohend und doch von äußerster Wichtigkeit war. Er sah Fräulein Erna prüfend ins Antlitz, es war das eines welken Antichrist und gab keine Antwort. »Wann kommt Lohberg?« Esch fragte es unvermittelt und wie in vager Hoffnung, hier eine Lösung zu finden; und als Fräulein Erna listig bedeutete, daß sie den Bräutigam absichtlich nicht verständigt habe, war's wohl eine erregende Bevorzugung und war trotzdem empörend. Ohne ihr böses Gesicht zu beachten, lief er aus dem Haus, um Lohberg für den Abend einzuladen.

Und es war in der Tat beruhigend, den Idioten anzutreffen, so beruhigend, daß Esch ihn sogleich mit sich nahm und nicht nur allerlei Lebensmittel, sondern überdies noch zwei Blumensträuße einhandelte, von denen er einen Lohberg in die Hand steckte. Kein Wunder, daß bei ihrem Anblick Fräulein Erna die Hände zusammenschlug und »Das nenne ich zwei Kavaliere!« ausrief. Esch erwiderte stolz: »Ein Abschiedsfest«, und während sie den Tisch rüstete, saß er mit seinem Freunde Lohberg auf dem Kanapee und sang »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«, was ihm von sehen Fräulein Ernas mißbilligende und traurige Blicke eintrug. Ja, es war vielleicht wirklich ein Abschiedsfest, ein Fest der Loslösung aus dieser irdischen Gemeinschaft, und am liebsten hätte er Erna verboten, das Gedeck für Ilona aufzulegen. Denn auch Ilona sollte losgelöst und schon am Ziele sein. Und dieser Wunsch war so stark, daß Esch allen Ernstes hoffte, Ilona würde nun fernbleiben, für ewig fernbleiben. Und nebenbei freute er sich ein wenig auf Korns Enttäuschung.

Nun, Korn zeigte sich wirklich enttäuscht; allerdings äußerte sich seine Enttäuschung in unflätigem Geschimpfe über das ungarische Weibsbild, sowie in starker Ungeduld nach sofortiger Fütterung. Dabei bewegte er seine breite Masse mit seltsamer Hurtigkeit durch das Zimmer; er wandte sich zur Likörflasche, wandte sich zum Tisch, von dem er sich mit dickem Finger Wurstschnitten holte, und weil Erna ihm dies untersagte, wandte er sich gegen Lohberg und scheuchte ihn mit erhobenen Fäusten vom Kanapee, das er als angestammten Platz für sich beanspruchte. Der Lärm, den der Mann Korn hiebei verursachte, war außerordentlich groß, sein Leib und seine Stimme erfüllten den Raum immer mehr und mehr, erfüllten ihn bis zum Rande, ja all das Irdische und Fleischliche von Korns heißhungrigem Gehaben, es quoll über das Zimmer hinaus, drohte die ganze Welt übermächtig zu erfüllen, aufquoll das Vergangene und Unabänderliche, alles andere verdrängend, die Hoffnung erstickend; finster wird die erhöhte und lichtere Bühne, und vielleicht existierte sie überhaupt nicht. »Na, Lohberg, wo bleibt jetzt Ihr Reich der Erlösung?« schrie Esch, als könnte er damit sein Grausen übertäuben, schrie es aus Wut, weil weder Lohberg noch sonst jemand Antwort zu geben vermochte: warum mußte Ilona herabsteigen in die Berührung des Irdischen und Toten? Korn aber saß da mit breitem Hintern und kommandierte wild: »Essen auftragen!« – »Nein«, schrie Esch zurück, »erst bis Ilona hier ist!« Denn fürchtete er sich auch beinahe, Ilona wiederzusehen, es war jetzt alles in Frage gestellt, und plötzlich war Esch voller Ungeduld, daß Ilona käme, – gewissermaßen als Prüfstein der Wahrheit.

Ilona trat ein. Sie beachtete kaum die Anwesenden, folgte bloß dem Wink des schweigsam kauenden Korn, setzte sich zu ihm aufs Kanapee, und ebenso schweigsamem Befehl gehorchend, legte sie den weichen Arm lässig um seine Schulter. Doch im übrigen sah sie bloß die guten Dinge, die sie zu essen bekommen würde. Erna, die alles beobachtete, sagte: »Ich, wann ich du wär', Ilona, ich tät' schon die Hand wegnehmen vom Balthasar, beim Essen.« Freilich war's ins Leere geredet, denn Ilona begriff offenbar noch immer nichts von der deutschen Sprache, durfte wohl auch nie etwas davon begreifen, sowenig sie von den Opfern wissen durfte, die für sie gebracht worden waren. Keiner Sprache mächtig, war sie kaum Gast mehr zu nennen am Tische der Fleischgebundenen, eher ein Besuch im Gefängnis des Irdischen oder eine freiwillig Gefangene. Und Erna, die heute manches zu wissen schien, erwähnte nichts weiter von irdischen Dingen, und es war wie Zeugnis einer entrückteren Verständigung, daß sie den Blumenstrauß vom Tische nahm und ihn Ilona unter die Nase hielt: »Da riech' mal, Ilona«, sagte sie, und Ilona sagte: »Ja, danke schön«, und es klang wie aus einer Ferne, an die der kauende Korn niemals reichen wird, klang wie von höherer Stufe, bereit sie aufzunehmen, ließ man nur nicht nach im Opfer. Esch war leicht zumute. Jeder muß seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich, dann wird er der Freiheit teilhaftig. Und so schade es war, daß der Tugendbold die Erna bekommen sollte, und sowenig Ilona je ahnen würde, daß nun eines Kontos Abschlußstrich gezogen wurde, es war Abschluß und Wendung, war Zeugenschaft und neues Wissen, da Esch sich erhob, der Runde zutrank, und mit kurzer herzlicher Gratulation das Brautpaar hochleben ließ, so daß alle, mit Ausnahme Ilonas, für die es eigentlich geschehen war, sehr überrascht taten. Aber da es auch in ihrer aller Wünschen gelegen hatte, waren sie nun dankbar, und Lohberg schüttelte ihm mit feuchten Augen viele Male die Hände. Dann gab sich das Brautpaar über sein Geheiß den Verlobungskuß.

Nichtsdestoweniger erschien ihm das Geschehene noch nicht endgültig, und als es zum Aufbruch ging und Korn sich schon mit Ilona zurückgezogen hatte, und Fräulein Erna den Hut schon annadeln wollte, um gemeinsam mit Esch ihren neuen Verlobten nach Hause zu begleiten, da weigerte sich Esch: nein, er halte es nicht für anständig, daß er, ein Junggeselle, im Hause von Lohbergs Braut übernachte, er sei gerne bereit, für heute bei Herrn Lohberg Domizil zu nehmen oder mit ihm zu tauschen, im übrigen sollten sie es sich noch überlegen, denn als neues Brautpaar würden sie sich ja noch allerhand zu sagen haben: und damit schob er die beiden in Ernas Zimmer und begab sich in sein eigenes.

Solcherart endete der Tag seiner ersten Loslösung und die erste Nacht des ungewohnten, unangenehmen Verzichtes brach für ihn an.

 


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