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Der Ruf der Dschungel

An der kleinen Boma aus Dorngestrüpp, das seine Leute einigermaßen vor den Angriffen der großen Fleischfresser schützte, lag der Affenmensch während einer der nächsten Nächte unter dem Eindruck dieser unklaren aber allgewaltigen Triebe wach. Neben dem Feuer, welches gelbe Augen draußen in der Dunkelheit vor dem Lager nötig machten, hielt schläfrig ein einzelner Krieger Wache. Das Heulen und Fauchen der großen Katzen vermengte sich mit den Myriaden anderer Geräusche von den kleineren Bewohnern der Dschungel, um die wilde Flamme in der Brust dieses grimmen englischen Lords noch zu entfachen. Eine Stunde lang wälzte er sich ruhelos auf seinem Graslager umher, dann erhob er sich geräuschlos wie ein Gespenst und, als der Waziri den Rücken drehte, sprang er vor den glitzernden Augen über die Hecke der Boma, schwang sich in einen großen Baum und war verschwunden.

Eine Zeitlang jagte er nur so durch die mittlere Terrasse der Zweige dahin, um seine animalische Stimmung auszutoben, wobei er sich über gefahrvoll weite Lücken zwischen den Dschungelriesen hinüberschwang; dann kletterte er höher in die federnden schwächeren Zweige der oberen Terrasse, wo der Mond voll auf ihn schien, wo ein leichter Windhauch wehte und griffbereiter Tod in jedem gebrechlichen Zweige lauerte. Hier machte er halt und erhob sein Antlitz zu Goro, dem Mond. Mit erhobenem Arm stand er, der Schrei des Affenbullen zitterte schon auf seinen Lippen, aber er blieb ruhig, um seine treuen Waziri nicht zu wecken, welchen der grauenvolle Kampfruf ihres Gebieters nur zu bekannt war.

Von hier ab ging er langsamer und mit größerer Vorsicht und Verstohlenheit weiter, denn jetzt suchte der Affentarzan Beute. Herunter auf den Boden in den rabenschwarzen Schatten der engstehenden Baumstämme und des überhängenden Grüns der Dschungel stieg er. Von Zeit zu Zeit bückte er sich und näherte seine Nase dem Boden. Er suchte und fand eine breite Wildspur und endlich belohnte die Witterung einer frischen Spur von Bara, dem Hirsch, seine Nüstern. Tarzan lief das Wasser im Munde zusammen und ein leises Knurren entwich seinen Lippen. Die letzte Spur von erkünsteltem Standesbewußtsein war abgestreift – er war wieder ganz der Urwaldjäger – der Urmensch – der reinste Vertreter der menschlichen Rasse. Sein Wahrnehmungsvermögen, mit dem er der trügerischen Spur unter Wind folgte, übertraf das eines gewöhnlichen Menschen in einem uns unbegreiflichen Maße. Durch alle Gegenströmungen des schweren Geruchs der Fleischfresser hindurch verfolgte er die Spur von Bara; der süßliche, ekle Geruch von Horta, dem Eber, konnte die Witterung seiner Beute nicht übertäuben – den durchdringenden, weichen Bisamduft vom Huf des Hirsches.

Da! jetzt zeigte schon der körperliche Geruch des Hirsches Tarzan die Nähe seiner Beute an. Also wieder hinauf in die Bäume – auf die untere Terrasse, von wo er den Boden übersah und mit Ohr und Nase die ersten Anzeichen der greifbaren Nähe seiner Beute wahrnehmen konnte. Der Affenmensch brauchte nicht mehr weit zu streifen; da stand Bara wachsam an der Ecke der in Mondschein gebadeten Lichtung. Geräuschlos kroch Tarzan durch die Zweige, bis er gerade über dem Hirsch war. In der Rechten hielt er das lange Jagdmesser seines Vaters, im Herzen kochte die Blutlust des Raubtiers. Nur einen Augenblick schwebte er über dem ahnungslosen Tier, dann stürzte er sich auf den schlanken Rücken. Die Wucht seines Körpers brachte den Hirsch auf seine Knie, und ehe er sich wieder erheben konnte, fand das Messer den Weg zum Herzen. Als sich Tarzan auf dem Rücken seines Opfers aufrichtete, um dem Mond seinen schauerlichen Siegesruf entgegenzusenden, trug der Wind seinen Nüstern etwas zu, das ihn stumm und starr wie eine Bildsäule machte. Seine wilden Augen funkelten nach der Richtung, aus welcher ihm der Wind die Warnung zugetragen hatte, und eben jetzt teilten sich die Gräser am Rande der Lichtung: Numa, der Löwe, schritt majestätisch heraus in das Gesichtsfeld. Mitten auf der Lichtung hielt er, heftete seine gelbgrünen Augen auf Tarzan und blickte neidisch auf seinen Jagderfolg, denn Numa hatte diese Nacht nur Mißerfolge gehabt.

Von den Lippen des Affenmenschen kam ein rollendes Warnungsknurren. Numa antwortete ohne vorzurücken; langsam mit seinem Schweif hin und her peitschend blieb er stehen. Tarzan hockte sich auf seine Beute nieder und schnitt ein ordentliches Stück aus der Keule. Während der Affenmensch zwischen einzelnen Bissen sein warnendes Knurren ausstieß, beäugte ihn Numa mit zunehmender Verachtung und Wut. Da gerade dieser Löwe noch nie bisher mit dem Affentarzan in Berührung gekommen war, kam er sich gänzlich angeführt vor. Dies Ding da war doch nach Aussehen und Witterung ein Menschlein, und Numa hatte Menschenfleisch gekostet und festgestellt, daß es zwar nicht am besten schmeckte, aber dafür sicher am leichtesten zu haben war. Allerdings lag in dem tierischen Knurren des merkwürdigen Geschöpfes etwas, das ihn an irgendwelchen gefährlichen Gegner erinnerte. Er wartete daher noch ab, während ihn der Hunger und der Duft von Baras warmem Fleisch fast toll machten.

Tarzan erriet, was in dem kleinen Gehirn des Raubtieres vor sich ging und war ständig auf der Hut. Es war sein Glück, daß er das tat, denn Numa konnte es endlich nicht mehr aushalten. Als der Schweif senkrecht in die Höhe schoß, wußte der vorsichtige Affenmensch nur zu gut, was das Zeichen bedeutete. Er packte den Rest der Hirschkeule mit den Zähnen und sprang gerade auf den nächsten Baum, als sich Numa mit schnellzugsähnlicher Gewalt und sausendem Schwung auf ihn stürzte.

Tarzans Rückzug war kein Zeichen von Furcht. Das Leben in der Dschungel hat andere Gesichtspunkte wie wir, und andere Regeln gelten dort. Hätte Tarzan Hunger gehabt, er hätte zweifellos seine Stellung behauptet und wäre Numas Angriff begegnet. Er hatte das schon bei mehr als einer Gelegenheit getan, genau so wie er früher selbst auf Löwen losgegangen war. Aber heute nacht war er keineswegs sehr hungrig und die mitgenommene Keule hatte mehr Fleisch, als er essen konnte. Aber er sah doch nicht gleichgültig von oben zu, wie Numa sich das Fleisch von Tarzans Beute riß. Die Anmaßung dieses fremden Numa verlangte Strafe. Und Tarzan ging denn auch gleich daran, der großen Katze das Dasein zu verleiden.

Zahlreiche Bäume in der Nähe trugen große, harte Früchte und auf einen solchen schwang sich der Affenmensch mit der Gewandtheit eines Eichhörnchens. Und nun begann eine Beschießung, auf welche Numa mit markerschütterndem Gebrüll antwortete. Eine nach der anderen, so schnell er sie pflücken und schleudern konnte, sausten die harten Früchte hinab auf den Löwen. Unter diesem Hagel von Wurfgeschossen war es der gelben Katze unmöglich, zu fressen – sie konnte nur immer brüllen, knurren und beiseitespringen, und manchmal wurde sie gänzlich von Baras, des Hirsches, Körper weggetrieben. Brüllend und wutschnaubend wich der Löwe. Aber plötzlich erstarb seine Stimme mitten auf der Lichtung. Tarzan sah, wie sich der Kopf senkte und die Ohren sich breit stellten, wie der Körper sich duckte und der lange Schweif zitterte, als das Tier vorsichtig auf der anderen Seite drüben durch die Bäume schlich.

Sofort war Tarzans Aufmerksamkeit geweckt. Er hob den Kopf und zog das leichte Dschungellüftchen ein. Was hatte wohl Numas Spannung erregt und ihn auf so sanften Pfoten vom Schauplatz seiner Empörung weggebracht? Gerade als der Löwe jenseits der Lichtung unter den Bäumen verschwand, bekam Tarzan durch den Wind die Erklärung seiner neuen Absichten. Die Witterung eines Menschen wehte deutlich in seine empfindlichen Nasenflügel.

Der Affenmensch packte den Rest seiner Hirschkeule in eine Baumgabel, wischte die fettigen Handflächen an den nackten Schenkeln ab und schwang sich zur Verfolgung Numas davon. Von der Lichtung aus führte eine breite, stark ausgetretene Elefantenfährte in den Wald. Parallel zu ihr schlich Numa und über ihm zog Tarzan wie ein Schattengespenst durch die Bäume. Die wilde Katze und der wilde Mann sahen fast gleichzeitig Numas Beute, obgleich beide, schon ehe sie ihnen zu Gesicht kam, wußten, daß es ein Neger war. Ihr empfindlicher Geruch hatte ihnen soviel gesagt, aber Tarzan wußte außerdem, daß es die Witterung eines Fremden war und zwar eines alten Mannes, denn sowohl Rasse wie Geschlecht und Alter haben ihre unterschiedliche Witterung.

Es war ein alter Mann, der sich allein seinen Weg durch die düstere Dschungel brach, ein verschrumpeltes, ausgetrocknetes, altes Männchen mit häßlichen Schmarren und Tätowierungen. Dazu trug er einen merkwürdigen Aufputz, ein Hyänenfell hing ihm um die Schultern und der getrocknete Kopf davon war über seinen grauen Schädel gestülpt. Tarzan erkannte ihn an seinen Abzeichen als Zauberer und wartete mit befriedigtem Vorgefühl auf Numas Angriff, denn der Affenmensch hatte für die Zauberer nicht viel übrig. Aber eben als Numa vorsprang, fiel dem Weißen plötzlich ein, daß der Löwe ihm vor einigen Minuten seine Beute gestohlen hatte und Rache ist süß. Erst als Numa kaum zwanzig Schritte hinter ihm krachend durch die Büsche auf den Wildpfad herausbrach, merkte der Neger, daß er in Gefahr war. Als er sich herumdrehte, konnte er gerade noch bemerken, daß ein mächtiger, schwarzmähniger Löwe auf ihn losschnellte, aber noch im Herumdrehen packte ihn Numa auch schon. Gleichzeitig fiel der Affenmensch von einem überhängenden Zweig genau auf des Löwen Rücken. Als sich der Löwe aufrichtete, stieß er ihm sein Messer hinter dem linken Schulterblatt in das braune Fell, wühlte die Finger der rechten Hand in die lange Mähne, grub die Zähne in Numas Nacken und schlang seine kräftigen Beine um des Tieres Rumpf. Unter Schmerz- und Wutgebrüll stieg Numa hoch und fiel nach hinten über auf den Affenmenschen. Aber das mächtige menschliche Wesen hielt fest und tauchte wiederholt blitzschnell das lange Messer in seine Flanke. Numa, der Löwe, überkollerte sich, kratzte, biß in die Luft und versuchte unter schrecklichem Geheul das Ding auf seinem Rücken zu fassen. Tarzan fühlte sich mehr als einmal beinahe von seinem Griff losgerissen. Aber so zerbeult und gequetscht er war, mit Numas Blut und dem Schmutz der Wildfährte beschmiert, nicht für einen Augenblick ließ die Wildheit seines tollkühnen Angriffs oder das grimme Haften am Rücken seines Gegners nach. Wenn er auch nur einen Augenblick den Griff gelockert hätte, wäre er in den Bereich jener reißenden, schlagenden Fänge gekommen und die wilde Laufbahn des in der Dschungel aufgewachsenen englischen Lords hätte für immer ihr Ende gefunden.

Der Zauberer lag noch an derselben Stelle, wo er unter dem Löwen niedergestürzt war. Zerfleischt und blutend, war er nicht mehr imstande, sich wegzuschleppen und mußte bei dem schrecklichen Kampfe der zwei Dschungelbeherrscher Augenzeuge sein. Mit glänzenden Augen starrend murmelte er wirre Anrufungen der Teufel seiner religiösen Bräuche zwischen runzeligen Lippen und zahnlosen Kiefern.

Eine Zeitlang war er nicht im Zweifel über den Ausgang – der fremde weiße Mann mußte sicher dem schrecklichen Simba erliegen – wer hörte je, daß ein einzelner Mann nur mit einem Messer ein so mächtiges Tier erlegt hätte! Aber bald riß der Schwarze die Augen auf und bekam Zweifel und Besorgnis. Was war das für ein wunderbares Geschöpf, das Simba bekämpfte und sich gegen die riesigen Muskeln des Tieres behauptete? Langsam dämmerte in den eingefallenen Augen, die so hell aus dem runzeligen, vernarbten Gesicht hervorleuchteten, die Erkenntnis. Die Hand der Erinnerung griff zurück in die Vergangenheit, bis sie ein mit den Jahren verblaßtes und vergilbtes Bild faßte: Ein geschmeidiger, weißhäutiger Jüngling schwang sich in Gesellschaft einer Horde von Riesenaffen durch die Bäume. In die alten Augen trat große Angst, die abergläubische Angst des Menschen, welcher an Gespenster, an Geister und Dämonen glaubt. Und als dann der Zauberer über den Ausgang des Zweikampfes nicht mehr zweifelhaft war, denn entgegen seiner vorherigen Überzeugung wußte er nun, daß der Dschungelgott Simba töten würde, da hatte der alte Neger noch mehr Angst um sein bevorstehendes Geschick aus der Hand des Siegers als vorher vor dem sicheren und schnellen Tod, welchen ihm der Löwe bereitet hätte. Er sah, wie matt der Löwe vom Blutverlust wurde, wie die mächtigen Glieder zitterten und wankten und er sah zuletzt das Tier niedersinken, um sich nicht mehr zu erheben. Und dann sah er, wie der Waldgott oder Teufel sich von dem besiegten Gegner erhob: er setzte einen Fuß auf den noch zuckenden Körper, hob das Antlitz zum Mond und stieß einen schauerlichen Schrei aus, daß dem Zauberer das klopfende Blut in den Pulsen gefror.


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