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28.

Am zweiten Tage nach der Beisetzung Gräfin Theas kam Grill zu Jonny ins Zimmer. Es war in der vierten Nachmittagsstunde.

»Fräulein Jonnychen, Sie sollen sofort zur Frau Gräfin kommen, sie hat eben herübergeschickt.«

Jonnys trauriges Gesichtchen wurde noch einen Schein blasser. Sie sah ängstlich zu Grill auf.

»Na, na – nur nicht ängstlich, Kindchen, es kann Ihnen doch nichts passieren, gehen Sie nur ganz ruhig,« tröstete die alte Frau, obwohl ihr auch nicht ganz behaglich zumute war.

Es war kein Geheimnis im Schlosse, daß Gräfin Susanne Jonny nicht wohlwollte. Die Domestiken hatten sich in den letzten Tagen eifrig darüber unterhalten, wie sich wohl nun Jonnys Stellung im Hause gestalten würde, und ob Gräfin Thea das junge Mädchen in ihrem Testamente bedacht hätte oder nicht. Grill und die Zofe Gräfin Susannes wußten, daß kein Testament vorhanden sein sollte. Aber Grill allein wußte außerdem, daß ihre hochselige Gräfin sicher in irgend einer Weise für Jonny gesorgt hatte – ja, Grill wußte noch mehr – sie hatte manchen heißen Blick in Graf Lothars Augen aufflammen sehen, wenn er das junge Mädchen anblickte. Das behielt sie aber für sich.

Trotzdem war sie nicht wenig um Jonny besorgt, denn Graf Lothar war weit fort und Gräfin Susanne sah in den letzten Tagen so sonderbar unheilverkündend aus, daß die treue alte Seele recht unruhig war. Das junge Mädchen hatte sich erhoben und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Sie wusch sie schnell mit kaltem Wasser und verließ dann stumm mit einem zaghaften Blicke auf Grill das Zimmer. Als sie bei Gräfin Susanne eintrat, maß diese das junge Mädchen mit kalten Blicken.

»Nehmen Sie Platz, ich habe mit Ihnen zu reden,« sagte sie förmlich.

Jonny setzte sich gehorsam, aber wohl war ihr nicht unter den kalten Blicken ihrer Feindin.

»Haben Sie schon über Ihre Zukunft nachgedacht, Fräulein Warrens?« fragte Gräfin Susanne, sich in ihren Sessel zurücklehnend.

»Nein, Frau Gräfin!« antwortete Jonny leise.

Diese nickte. »Das dachte ich mir, deshalb habe ich es für Sie getan.«

»Sehr gütig, Frau Gräfin.«

Susanne spielte scheinbar gleichgültig mit den Quasten an der Lehne ihres Sessels. Sie war jedoch durchaus nicht so ruhig, als sie scheinen wollte.

»Meine Schwiegermutter hat keinerlei testamentarische Bestimmungen hinterlassen, soviel ich bis jetzt feststellen konnte. So ist auch für Ihre Zukunft in keiner Weise gesorgt worden. Meine Schwiegermutter nahm wohl als selbstverständlich an, daß wir etwas für Sie tun würden. Ich bin auch bereit, Ihnen eine Rente auszusetzen, die Sie befähigt, ein sorgenloses Leben zu führen. Und für den Fall, daß Sie sich verheiraten, bin ich erbötig Ihnen außerdem eine Summe von zwanzigtausend Mark für Ihre Aussteuer zu überweisen, die Ihnen am Tage Ihrer offiziellen Verlobung ausgezahlt werden wird. Dafür verpflichten Sie sich, spätestens heute in acht Tagen Wildenfels zu verlassen. Ich stehe bereits in Unterhandlung mit einer Dame, die alleinstehenden, jungen Mädchen aus gutbürgerlichen Kreisen in ihrem Hause freundliche Aufnahme gewährt gegen Zahlung einer angemessenen Pension. Sie werden dort mit mehreren jungen Damen zusammen sein und sich jedenfalls schnell behaglich fühlen. Ich hoffe, Sie sind mit alledem einverstanden. Oder haben Sie sonst noch Wünsche? Ich bin bereit, dieselben zu hören und werde Ihnen, soviel ich kann, entgegenkommen.«

Jonny hatte wie gelähmt diesen Worten gelauscht. Von allem, was sie hörte, blieb nur das eine in ihrem Herzen haften, daß sie fort sollte von Wildenfels, hinaus in die fremde Welt, losgelöst von allem, was ihr auf Erden noch lieb und teuer war. Ihr Gesicht war totenbleich und ihre Augen blickten in hilflosem Entsetzen in Gräfin Susannes Gesicht.

»Ich soll fort – von Wildenfels – für immer?« stieß sie tonlos hervor. Gräfin Susanne blickte ungerührt in das schöne, angstvolle Gesicht mit dem qualvollen Ausdruck in den Augen.

»Allerdings. Ich habe Gründe, darauf zu bestehen.«

Jonny hob bittend die Hände.

»Bitte – schicken Sie mich nicht fort, Frau Gräfin – ich weiß nicht – wie ich diese Trennung ertragen soll. Ich will gewiß mit der bescheidensten Stellung zufrieden sein, die Sie mir anweisen werden – nur lassen Sie mich hier bleiben – ich fürchte mich vor der Welt da draußen, die mir so fremd ist.«

Susannes Gesicht bekam einen höhnischen Ausdruck.

»So sagen Sie jetzt. Bescheidenheit ist eine Tugend, die Ihnen fremd ist. Auch als Untergebene könnte ich Sie nicht gebrauchen. Dazu sind Sie mir zu ungehorsam gewesen. Gegen meinen Wunsch und Befehl haben Sie sich fortdauernd Vertraulichkeiten gegen meinen Sohn erlaubt, die einen jungen Mann wohl amüsieren, mir aber schamlos erscheinen. Schon aus diesem Grunde ist Ihr Aufenthalt in Wildenfels ganz und gar unmöglich geworden. Außerdem habe ich noch andere Gründe, auf Ihre Entfernung zu dringen. Mein Sohn verlobt sich in allernächster Zeit mit Komtesse Liebenau und Sie begreifen, daß für Sie hier kein Platz ist neben der zukünftigen Frau meines Sohnes.«

Jonny erhob sich langsam von ihrem Platze. Ihr war zumute, als drehe sich plötzlich das Zimmer mit ihr, als weiche der Boden unter ihren Füßen und sie versänke in ein bodenloses Nichts. Sie streckte die Hände aus wie ein Kind im Dunkeln, wenn es sich fürchtet. Waren schon Susannes harte Worte über ihr Benehmen Lothar gegenüber wie Keulenschläge auf ihr schuldloses Haupt gefallen, so traf sie die Nachricht von Lothars bevorstehender Verlobung mit vernichtender Schärfe bis ins tiefste Herz. Ein ungeheurer Schmerz preßte ihre Brust zusammen. Mit einem Male wurde es klar in ihrem Innern, wie ein Schleier zerriß es vor ihren entsetzten Augen – sie liebte Lothar – nicht wie seine Schwester, sondern wie das Weib den Mann liebt. Wunschlos zwar war diese Liebe, aber doch von so schmerzhafter Innigkeit, daß der Gedanke an seine bevorstehende Verlobung ihr unerträglich schien.

Und diese Erkenntnis ihrer selbst änderte mit einem Schlage das, was ihr wünschenswert erschien. Jetzt verlangte sie plötzlich mit leidenschaftlicher Heftigkeit, von Wildenfels fortzugehen, so weit sie ihre Füße trugen. Jetzt konnte sie nicht mehr bleiben – um keinen Preis. Lothar hier in Wildenfels an der Seite einer jungen Frau einziehen sehen – nein – das ging über ihre Kraft – das vermochte sie nicht. Es war gut so, daß Gräfin Susanne sie fortschickte, sie mußte ihr noch dankbar sein, daß sie so umsichtig für sie sorgen wollte.

Sie fiel wieder in ihren Sessel zurück und saß noch eine ganze Weile wie erstarrt.

Gräfin Susanne hatte sie scharf beobachtet. Aus ihrem Benehmen schien ihr klar hervorzugehen, daß sie gehofft hatte, Lothar in ihre Netze zu ziehen. Nun sie ihren Plan vereitelt sah, verlor sie die Fassung. Diese Gewißheit verhärtete die Gräfin noch mehr. Sie richtete sich steif empor.

»Also nicht wahr, Sie sehen ein, daß Ihres Bleibens hier nicht länger ist?«

Jonny sah mit todtraurigen Augen zu ihr hinüber. Ihre Hände krampften sich zusammen.

»Ja – ich will fort von Wildenfels – so schnell als möglich – heute noch – oder morgen,« stieß sie hervor.

Susannes Augen leuchteten auf im Triumph.

»Nun – Sie können sich ruhig Zeit lassen, Ihre Sachen zu packen. Mein Sohn kommt erst in einigen Wochen zurück. Ich werde auch erst noch an Frau Doktor Brinkmann – die Dame, bei der Sie Aufenthalt nehmen sollen – schreiben, daß diese Sie hier abholt. Bis zu ihrer Ankunft können Sie sich dann bereit halten. Und noch etwas – mein Sohn hat jetzt keine Zeit, mit Ihnen zu korrespondieren – deshalb hat er auch Ihren Brief noch nicht beantwortet. Wenn Sie in Zukunft irgend ein Anliegen oder einen Wunsch haben, so wenden Sie sich an mich. Ich bin immer bereit, Ihnen entgegenzukommen, wenn Sie sich meinen Anordnungen fügen.«

Jonny erhob sich. Sie fühlte, daß es mit ihrer Fassung zu Ende war.

»Darf ich mich jetzt zurückziehen, Frau Gräfin?«

»Bitte – Sie können gehen.«

Das junge Mädchen ging langsam mit unsicheren Schritten hinaus. Mühsam schleppte sie sich bis in ihr Zimmer.

Dort angekommen, brach sie lautlos und kraftlos zusammen. Mit starren Augen, ohne Bewußtsein ihrer selbst, lag sie da wie von einem vernichtenden Schlag zu Boden geworfen.

So fand Grill sie nach einer Weile, als sie nach ihr sehen wollte.

Schweigend hob sie die Aermste auf und bettete sie, ihr Stirn und Schläfen mit Kölnischem Wasser einreibend. Mit so zarter Liebe und Sorgfalt mühte sie sich um das junge Geschöpf, daß Jonny endlich in erlösende Tränen ausbrach.

»Was ist Ihnen denn nur geschehen, Fräulein Jonnychen? Wollen Sie sich nicht aussprechen? Sie wissen doch, wie treu ich Ihnen ergeben bin. O du lieber Gott, wenn meine hochselige Frau Gräfin Sie jetzt sehen könnte – sie fänd' ja keine Ruhe im Grabe. War denn Gräfin Susanne sehr schlimm zu Ihnen? Was hat sie Ihnen nur zuleide getan?«

Jonny barg ihr Gesicht an der Schulter der treuen Dienerin.

»Grill – ich muß fort von Wildenfels.«

Grill erschrak heftig.

»Ach nein – ach nein! I – du mein lieber Gott, das ist ja doch wohl nicht möglich. Das darf ja nicht sein. Meine hochselige Frau Gräfin dreht sich da wohl in ihrem Grabe herum. Und unser junger gnädiger Herr Graf – i bewahre, Kindchen, der läßt das im Leben nicht zu – da seien Sie nur ganz ruhig. Nein, nein – das läßt er nicht zu, so wahr ich vor Ihnen stehe – das tut er nicht.«

Jonny schüttelte traurig den Kopf. Sie faßte sich gewaltsam. So durfte sie sich nicht weiter gehen lassen, sonst verriet sie das ganze Elend ihres Herzens.

»Gute Grill – wenn Graf Lothar nach Hause kommt, bin ich schon längst fort – in wenig Tagen verlasse ich Wildenfels.«

Grill schlug die Hände zusammen. »Aber mein guter Gott, das geht doch nicht! Was soll denn bloß aus Ihnen werden?«

»Sorg dich nur nicht,« sagte Jonny bitter lächelnd. »Gräfin Susanne sorgt in großmütigster Weise für mich. Sie hat bereits ein Unterkommen für mich ausfindig gemacht. Ich komme in das Haus einer Frau Doktor Brinkmann, wo noch andere junge Mädchen ein Heim gefunden haben. Vor Not werde ich geschützt sein, sei also ganz ruhig.«

Grill sah bedrückt in das süße, blasse Gesichtchen.

»Da soll ich nun ruhig sein, wenn ich Sie so elend und verzweifelt vor mir sehe! Ich weiß ja doch, Ihr Herz geht in Stücken, wenn Sie von Wildenfels fort müssen. Ich kenne Sie doch, seit Sie so groß waren. Als ich Sie damals unserer hochseligen Frau Gräfin hierher brachte – so ein niedliches Dingelchen waren Sie damals. Und wie lieb haben wir Sie alle gehabt – bis auf Gräfin Susanne – die mochte Sie freilich von Anfang an nicht leiden. Aber meiner hochseligen Gräfin sind Sie doch immer fester ans Herz gewachsen. Ich verstehe auch gar nicht, daß sie nicht in einem Testamente dafür gesorgt hat, daß man Ihnen hier nichts anhaben kann. Freilich – das hat sie sich nicht träumen lassen, daß man Sie fortschickt. Nein – nein – nein – das will mir nicht in den Kopf. Daß auch Graf Lothar gerade jetzt nicht hier sein kann! Der ließe es ja nicht zu, daß man Sie fortschickt. Nein – mit seinem Willen geschieht das so wenig, als mit dem meiner hochseligen Frau Gräfin – daran glaube ich wie an das Evangelium.«

Jonny richtete sich auf aus ihrer Versunkenheit. Sie wußte, daß Grill recht hatte, wußte, daß Lothar ihre Entfernung nicht wünschte, wenn er ihr auch aus irgend einem Grunde ihren Brief nicht beantwortet. Vielleicht tat er es nicht mit Rücksicht auf seine künftige Braut – ihretwegen wollte er vielleicht nicht mehr mit ihr korrespondieren. Aber welchen Grund er auch immer hatte, und ob er ihr Bleiben wünschte oder nicht – sie mußte gehen, nachdem sie erkannt hatte, daß sie ihn liebte. Sie konnte ihn nicht mehr wiedersehen – die Scham würde sie töten.

Sie zwang sich zur Ruhe und Ergebung und verschloß ihren Schmerz tief in ihrem Herzen.

»Laß gut sein, gute Grill – laß gut sein – es ist wohl besser so, daß ich gehe. Graf Lothar wird sich bald mit Komtesse Liebenau verloben und wenn diese junge Frau hier einzieht, dann – dann ist wohl ohnedies kein Platz hier für mich.«

Grill blickte sie entgeistert an. »Mit der Liebenauschen Komtesse? Unser junger Herr Graf? Ach nein – ach nein – Fräulein Jonnychen– das stimmt ja im Leben nicht zusammen.«

Jonny preßte die Hände aufs Herz. »Das können wir wohl nicht verstehen, Grill – sie ist eine sehr vornehme Dame.«

Grill blickte Jonny mit forschender Sorge an. Jetzt verstand sie erst ganz das grenzenlose Elend des jungen Mädchens. Sie hatte kluge, offene Augen, die alte Grill, und hatte sich längst über Graf Lothar und Jonny ihre eigenen Gedanken gemacht. Sie wußte auch, daß Gräfin Thea so recht zufrieden gelächelt hatte, wenn den beiden jungen Leuten die helle Liebe nur so aus den Augen leuchtete. Das war so ganz nach ihrem Herzen gewesen. Und nach Grills Herzen war es auch gewesen, sie hatte ihr altes Herz an das schöne junge Mädchen gehängt. Und nun sollte das plötzlich alles ganz anders kommen? Graf Lothar sollte die Liebenausche Komtesse heiraten, das lange spillerige Ding mit den kalten Augen und dem hochmütigen Gesichte? Das war ganz gewiß nur ein Werk der Gräfin Susanne. Wer weiß, wie die das zustande gebracht hatte. Der war ja das arme Fräulein Jonny ein Dorn im Auge und natürlich auch nicht vornehm genug. Ja, ja – und weil sie so lieb und schön war – viel lieber und schöner als die Liebenauer Komtesse, deshalb mußte sie fort, Graf Lothar aus den Augen. Und er wußte natürlich gar nichts davon, sonst wäre er wohl gar eilends mit seinem gebrochenen Beine nach Hause gereist, um das zu verhindern.

»So soll es nun wirklich und wahrhaftig wahr sein, daß Sie fortgehen, Kindchen?«

»Ja, Grill, in wenigen Tagen holt mich Frau Doktor Brinkmann ab. Und ich will nun nicht mehr jammern und klagen, es hilft ja doch nichts. Großmama hat mir so oft gesagt: ›Was Gott schickt, muß man mit tapferem Herzen tragen.‹«

Dabei fielen ihr aber wieder schwere Tränen über die Wangen, und die verzweifelten, trostlosen Augen straften den tapfern Mund Lügen.

Grill wollte vor Jammer das Herz brechen. Aber sie bezwang sich, um Jonnys Kummer nicht zu erhöhen.

»Wo sollen Sie denn nun hingebracht werden, mein Kindchen?«

»Ich weiß nicht mehr, als den Namen der Dame, in deren Hause ich Aufnahme finden soll. Aber weißt du, Grill – ich werde nicht länger bei ihr bleiben, bis ich mir auf irgend eine Weise selbst mein Brot verdienen kann. Von Großmama habe ich gern und freudig alles genommen weil sie es mir mit liebendem Herzen gab. Da hat es mich nicht gedemütigt. Aber von Gräfin Susanne mag ich nicht mehr annehmen, als ich unbedingt muß. Ich habe ja mancherlei gelernt. Meinst du nicht, daß ich eine Stelle als Gesellschafterin oder Erzieherin annehmen könnte?«

»Das wohl, Kindchen. Aber das ist alles für Sie nicht so leicht.«

»Es wird schon gehen, Grill – von Gräfin Susanne nehme ich kein Almosen. Nur für einige Monate Unterkunft bei dieser Frau Doktor Brinkmann will ich annehmen – das muß ich, um erst einmal ruhig zu werden und mich vorzubereiten.«

»Ach, liebes, gutes Kind – was soll das werden! Sie so allein und hilflos in der Welt – das kann ich mir gar nicht ausdenken.«

»Es müssen so viele arme Mädchen ihr Brot verdienen. Ich habe ja auch noch einige tausend Mark von meinem Mütterchen, Grill. Du weißt, Großmama hat mir doch einige Wertpapiere dafür gekauft und die Zinsen habe ich all die Jahre gespart und in ein Kassenbuch eingezahlt. So ganz hilflos bin ich also nicht. Ich werde das später alles Gräfin Susanne schreiben, sprechen mag ich nicht noch einmal darüber mit ihr.«

Grill streichelte ihr die Wangen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Kindchen – mir dreht es das Herz im Leibe herum. Ach, du lieber Gott – wäre doch meine hochselige Frau Gräfin nur noch ein Weilchen am Leben geblieben – dann wäre alles ganz, ganz anders gekommen, das weiß ich gewiß.«

Jonny barg schluchzend ihr Gesicht an Grills Schultern.

»Nie finde ich wieder einen Menschen, der mich so liebt, wie sie. Ach, Grill – meine teure, gütige, liebe Großmama. Warum mußte sie von mir gehen? Hätte sie mich doch mitgenommen!«

Grill streichelte wortlos ihr Haar. Dann seufzte sie tief auf.

»Ja, ja, Kindchen, man soll nicht glauben, was so ein großes, gütiges Herz für eine grausame Lücke hinterläßt. Ich fühle es ja an mir. Wenn ich auch schließlich bis an mein Ende in Wildenfels das Gnadenbrot esse – mein Leben hat doch keinen Wert mehr. Und wenn auch Sie nun noch fortgehen – dann ist es schon besser, ich lege mich auch bald für immer zur Ruhe.«

Grill ließ es sich nicht nehmen, Jonnys Sachen packen zu helfen. Alles brachte sie herbeigeschleppt, worauf das junge Mädchen nur irgend ein Eigentumsrecht hatte. Es kam viel zusammen und Grill litt nicht, daß Jonny etwas zurückließ.

»Wer weiß, wozu Sie das nochmal brauchen können,« war ihre stehende Redensart.

Mit Garderobe und Wäsche war Jonny reichlich versehen, ebenso mit all den niedlichen Kleinigkeiten, welche die Ausstattung einer Dame bedingen. Auch allerlei hübsche, zum Teil recht wertvolle Schmucksachen lagen in einer Schatulle. Jonny blickte mit trüben Augen auf all die Zeichen zärtlicher Liebe. Und da fiel ihr Auge plötzlich auf den silbernen Gürtel, den ihr Lothar zu Weihnachten geschenkt hatte. Ein Zittern lief über sie hin. Sie dachte jener köstlichen Stunden, die sie mit ihm verlebt hatte in den Weihnachtstagen. Jeder Blick und jedes Wort kam ihr wieder ins Gedächtnis zurück und sie prüfte sich ängstlich, ob sie nicht damals ihm unbewußt ihre Liebe verraten hatte. Ach, sie wußte es nicht, wußte nur, daß sie damals glücklich, unsagbar glücklich gewesen war, wenn er mit drängendem Ungestüm irgend etwas von ihr gefordert hatte. Von diesen Erinnerungen mußte sie nun zehren – ein ganzes Leben lang. Ihr Glück lag in der Vergangenheit – was vor ihr lag, war trüber, sonnenloser Weg.

An wenigen Tagen war sie zum Weibe gereift. Das große Leid des Lebens hatte sie gezeichnet. Ihr blasses Gesicht und die müden Augen, in denen die Sonnenlichter erloschen waren, zeugten von den seelischen Kämpfen, die sie zu bestehen hatte.

Gräfin Susanne bekümmerte sich anscheinend wenig um Jonny. Sie teilte ihr nur mit, daß am Sonnabend Frau Doktor Brinkmann eintreffen und sie abholen werde.

Jonny war bereit. Sie hatte Abschied genommen von allen Plätzen, die ihr lieb und teuer waren. Und als man ihr meldete, daß alles zur Abreise bereit sei, da umfaßte sie noch einmal mit einem krampfhaften trocknen Aufschluchzen die weinende Grill und küßte sie auf die faltige Wange.

Halberstickt rangen sich noch ein paar Worte über ihre Lippen, daß sie Grill schreiben und über ihr Ergehen berichten wolle. Dann eilte sie hinaus.

Es war alles wund und weh in ihr. Sie fühlte sich matt und elend, wie nach einer langen Krankheit nach all den Kämpfen, die sie ausgefochten hatte.

Als sie über den langen Korridor eilte, dachte sie unwillkürlich: »Was würde Lothar jetzt tun, wenn er hier wäre?« Ihr Fuß stockte, ein Schwindel befiel sie und ihr Herz klopfte in wilden Schlägen, als sie sich ausmalte, er könne jetzt hier die Treppe heraufkommen, sie in seine Arme nehmen wie einst, sie ungestüm schütteln und sie so herrisch und zwingend ansehen wie damals, als sie ihn »Herr Graf« anredete.

»Hasenfuß – willst du wohl hier bleiben und dich nicht in die Flucht jagen lassen! In Wildenfels bin ich Herr.«

Es war ihr, als höre sie ihn ganz deutlich diese Worte sprechen. Zerstört blickte sie um sich. Nein, sie war allein – ein Traum nur hatte sie geäfft.

Sie raffte sich auf. Eben trat Gräfin Susanne mit Frau Doktor Brinkmann aus ihrem Zimmer. Es war eine etwa fünfzigjährige Dame in einem mehr praktischen, als eleganten Reisekleide, mit frischen und kleinen, gutmütigen Augen. Sie war anscheinend sehr redselig, sprach fast unausgesetzt und versicherte, Jonny sollte es wie ein Töchterchen bei ihr haben. Ihre Schützlinge seien alle reizende junge Damen, die sich schon auf die neue Hausgenossin freuten. Sie gab sich sehr mütterlich und legte Gräfin Susanne gegenüber eine große Hochachtung an den Tag. Hatte sie doch für ein halbes Jahr einen sehr noblen Pensionspreis im voraus erhalten, dazu mehr als das Doppelte der Reisekosten. Sie versicherte ihr, daß sie all ihren Befehlen auf das gewissenhafteste nachkommen würde, worauf ihr Gräfin Susanne unbemerkt ein Zeichen machte. Da sprach sie schnell von etwas anderem.

Gräfin Susanne hatte ihr nämlich aufgetragen, daß sie alle Briefe, die Jonny schreiben würde, in ein anderes Kuvert stecken und an ihre Adresse einsenden solle. Sie hatte der redseligen Frau Doktor einen plausiblen Grund dafür angeben. Die Gräfin bezahlte die Pension für das junge Mädchen, also richtete sich die praktische Frau Doktor auch nach den Befehlen ihrer Auftraggeberin.

Jonnys Abschied von Gräfin Susanne war kurz und formell.

»Ich hoffe, Sie richten sich nach meinen Wünschen, Fräulein Warrens. Vor allen Dingen vergessen Sie nicht, daß Sie sich mit etwaigen Anliegen an mich zu wenden haben. Mein Sohn darf nicht damit belästigt werden,« sagte die Gräfin.

Jonny wandte ihr das blasse, stille Antlitz zu. Ihre traurigen Augen hefteten sich auf das kalte, stolze Gesicht.

»Es hätte Ihrer Worte nicht bedurft, Frau Gräfin – Graf Lothar wird von mir nicht belästigt werden.«

Noch ein kühler Gruß hüben und drüben und Gräfin Susanne zog sich in ihre Gemächer zurück.

Frau Doktor Brinkmann redete in einem fort auf Jonny ein, als sie an ihrer Seite die Treppe hinab und durch die große Halle ging. Unten standen der Hausmeister und einige Diener. Jonny grüßte sie freundlich und der Hausmeister half ihr selbst in den Wagen.

»Behüt' Gott, gnädiges Fräulein,« sagte er leise mit betrübtem Gesicht. Jonny reichte ihm die Hand.

»Leben Sie wohl, Schiffler.«

Die Leute hatten Jonny alle sehr gern gehabt.

Oben am Fenster stand Grill mit verweinten Augen. Jonny winkte mit herzzerreißendem Lächeln hinauf zu ihr.

Die Pferde zogen an und der Wagen rollte davon. Sie sah zurück, so lange sie konnte. Grill winkte mit einem Tuche, bis der Wagen um die Ecke bog.

Starr und tränenlos lag Jonny in der Ecke des Wagens. Frau Doktor Brinkmann konnte sich nicht genug tun über das vornehme Schloß, über die schöne, stolze Frau Gräfin, die es doch sicher sehr gut mit Jonny meine, und über ihre Noblesse.

Jonny vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie wußte noch nicht einmal, wohin die Reise gehen würde und wußte von ihrer Reisegefährtin nicht mehr als den Namen und daß sie noch andere junge Damen bei sich aufgenommen hatte.

Es war ihr auch jetzt alles andere so sehr gleichgültig. Ihr Schmerz machte sie teilnahmslos gegen alles und sie hatte nur den einen Wunsch, daß Frau Doktor Brinkmann endlich aufhören möchte zu reden, weil ihre Worte wie kleine Hämmerchen auf ihren schmerzenden Kopf eindrangen. Als sie am Bahnhofe ankamen, war sie halb ohnmächtig und schleppte sich mühsam zu dem wartenden Zuge.

Frau Doktor hatte die Hilfe des Dieners abgelehnt und selbst die Fahrkarten gelöst. Erst als sich der Zug schon in Bewegung gesetzt hatte, hörte Jonny wie im Traum das erste Mal das Ziel ihrer Reise vom Schaffner aussprechen. Wie ein toter Schall schlug es an ihr Ohr. Jena!

Schattenhaft durchflog es ihre Gedanken, daß Jena in Thüringen lag. Aber es interessierte sie gar nicht. Es war ja so gleichgültig, wo sie in Zukunft ihr Leben verbringen würde.

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