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Kriegskinder

Unsere kleinste Verwundete

Märzoffensive 1918. Nach mörderischem Artillerieangriff in der Frühe des 21. brachen wir auf der Strecke St. Quentin – Ham – Noyon vor. So überraschend kam unser Vorstoß, daß sich mit knapper Mühe die Zivilbevölkerung, die sich direkt hinter der normalen Feuerlinie noch angesiedelt hielt, zu retten vermochte. Auf der Höhe des Weges Ham – Guiscourt bekamen wir plötzlich Langrohr. Am Kopf des schon halb zerschossenen Ortes bog die Straße fast rechtwinklig nach rechts ab. Und hier, am Schnittpunkt, hatten sich die Franzosen scharf eingeschossen. Jede dritte bis vierte Minute fiel ein präziser Schuß. Die Mannschaften wurden zahlenmäßig ausgeglichen auf einzelne Wagen und Geschütze verteilt. Ein Kamerad und ich durften zu unserem Halt die dünne Kette eines leichten Munitionswagens ergreifen. Und dann ging's los. Acht – zehn – ja zwölf Pferde vorgespannt, preschten die Geschütze und Wagen, auf die Sekunde nach dem vorhergehenden Einschlag, um die gefährliche Ecke.

In unserem Wagen befanden sich Blaukreuz-Gasgranaten. Ein zweifelhaftes Vergnügen für uns, wenn in diese Musterkollektion ein feindlicher Gruß fauchte. Zweifelhaft auch die dünne Wagenkette, die uns Halt geben sollte bei der tollen Hetzjagd um die Teufelsecke. Die Stelle der Straße, an der die Einschläge erfolgten, war ein einziges großes, breiiges Loch. In rasender Geschwindigkeit protzten wir darüber. Und weiter geht es in unverminderter Hetzjagd einen Hohlweg hinauf. Zur Rechten sanft ansteigend eine Gesteinswand mit dünner Erddecke. Am Rande der Straße Tote: Franzosen, Deutsche und Zivilisten. Männer, Frauen und Kinder. Da Reste von Hausgerät, eine Puppe. Zeichen kopfloser Flucht.

Mein Kamerad, ein etwa 40jähriger Landsturmmann, ist plötzlich von meiner Seite verschwunden. Ich sehe ihn am Straßenrande bei einer Frauenleiche knien. Fast instinktmäßig lasse auch ich los. Kaum gewinne ich Zeit, vor dem nächsten heranrasenden Munitionswagen zur Seite zu springen. Dann knie ich neben meinem Kameraden. Er hält ein etwa dreijähriges Mädchen, das die tote Mutter umklammert gehalten hatte, im Arm. Es lebt. Es wimmert leise. An einem Beinchen und aus der Brust Blutspuren. Das kleine Wesen ist, das stellten wir rasch fest, verwundet, aber noch zu retten, wenn es aus diesem Hexenkessel heraus und in ärztliche Hände kommt.

»Verflucht! So 'ne Gemeinheit!« knirscht mein Kamerad zwischen den Zähnen. Und plötzlich wütend zu mir: »Das sage ich dir, ich bringe das Wurm zurück in ein Lazarett oder sowas und wenn ich die Batterie verliere und unser Alter mich als Deserteur zusammenknallen läßt ...« – »Klar« antworte ich. »Wir müssen allerdings durch das verfluchte Loch da hinten nochmals zurück!« – und deute mit der Hand zur Wegbeuge, von der wir gekommen waren. Gerade paukt eine Granate hinein. Die Erde hebt sich und zischt wie eine Fontäne hoch.

Mein Kamerad, das Kind in den Armen, und ich springen zurück. Es glückt abermals. Wir erfragen ein Lazarett. Eine gute Stunde brauchen wir, bis wir einen Sanitätsunterstand finden. Der Sanitäter, ein braun verkrusteter Vierziger, staunt uns wie eine Fata morgana an. Dann nimmt er behutsam das immer noch wimmernde Würmchen und läßt es zunächst aus der Feldflasche Tee trinken. So zart geht er mit dem Kind um. Der ganze Unterstand, zuvor ein schreiender Hexensabbat menschlichen Elends, ist plötzlich still und um den kleinsten Verwundeten so besorgt, daß wir beruhigt abziehen.

Wieder nach vorn, die Batterie suchen. Ueber das Gesicht meines Kameraden rinnen Tränen ohnmächtiger Wut, seine blassen Lippen formen Flüche über Flüche. Wir erreichen unseren Truppenteil wieder, wir werden mächtig angeschnauzt. Wir achten es nicht, verteidigen uns nicht, vor unserem inneren Auge verblaßt das Bild des kleinen Franzosenkindes nicht. Wird es durchgekommen sein? Es muß heute, wenn es noch lebt, die Schule schon verlassen haben. Es hat die kleine Episode, die es aus der Umklammerung des Todes rettete, vergessen.

Fritz Müller, Frankfurt a. M.

Zinnsoldaten

Es war am Heiligen Abend des Jahres 1919. Eben war wieder einmal die größte Freude des Jahres in unsere Bubenherzen eingezogen. Soldaten, Soldaten und Kanonen, ja richtige Kanonen, aus denen man wirklich mit Erbsen schießen konnte, hatten wir drei Buben uns schon das ganze Jahr über gewünscht. Wir wollten doch Krieg machen gegen die Franzosen und die Engländer und all die Schufte. Denn das konnten nur Schufte sein, was man uns von denen alles in der Schule erzählt hatte! Ja, und wie hatten wir die Kriegsjahre hindurch mit den Soldaten immer gesungen ... »Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen« ... und »Der Kitchener, der Kitchener, das war ein großer Schuft!«

Ja, wenn uns nur das Christkind dieses Jahr Zinnsoldaten brachte und Kanonen, und auch ein paar Unterstände! Und richtig, es hatte uns Soldaten gebracht und Kanonen, sogar solche, bei denen vorne am Rohr das Feuer und der Pulverdampf draufgemalt waren. Jetzt konnten wir aber Krieg spielen, jetzt wollten wir die Franzosen alle totschießen. Zwar sagte der Vater, daß der Krieg mit den Franzosen ja jetzt aus sei, und daß die nun sogar unser Land besetzen wollten; jeden Tag könnten sie einziehen. Aber das machte nichts, wir waren doch echte Kriegskinder, wir hatten doch bis jetzt in unserer Kindheit nichts anderes gehört als Krieg!

Wie oft hatten wir im benachbarten Kirchlein »Sieg« geläutet. Wenn so ein großer Sieg bekannt geworden war, da warteten wir Buben schon unten auf der Straße am Pfarrhaus, bis oben das Fenster aufging, der Pfarrer rausschaute und rief: »Kinder, Sieg!« Da stürmten wir aber in die Kirche und warfen uns in die Glockenseile. Ja, wir wollten den Krieg weiterführen, und wenn die richtigen Franzosen kommen sollten, dann wollten wir ihnen mit unseren Kanonen einen leibhaftigen Schrecken einjagen!

Kaum war das Abendbrot hinuntergeschlungen, da machten wir uns auch schon daran und bauten unsere Geschütze und Regimenter auf dem großen runden Tische auf ... Und wir waren gerade mitten im schönsten Schlachtengetümmel, als plötzlich draußen die Flurglocke aufschrillte. Erstaunt, wer wohl am Heiligen Abend uns besuchen möchte, ging die Mutter hinaus, um nachzusehen. Plötzlich kam sie leichenblaß ins Zimmer zurück und brachte nur das eine Wort heraus: »Franzosen!« Ein Gefühl von Beklommenheit und Bestürzung legte sich mit einemmal auf unsere Ausgelassenheit. Jetzt waren wirklich Franzosen in unser Haus gedrungen!

Nun ging der Vater hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Neugierig drängten wir uns hinter ihm nach zur Stubentür, die wir einen Spalt aufhielten, so daß ein Lichtstrahl aus dem Zimmer hinaus auf den Flur fiel. Draußen sollten zwei Franzosen stehn, hatte die Mutter gesagt. Vor Schreck hatte sie ihnen wieder die Tür vor der Nase zugeschlagen. Nichts rührte sich in der Zwischenzeit; alles blieb still. Wir dachten schon, sie würden mit den Gewehrkolben die Tür einschlagen, weil die Mutter sie nicht gleich eingelassen hatte. So stellten wir uns nämlich die Franzosen vor.

Jetzt öffnete der Vater die Flurtür; der Lichtstrahl fiel auf zwei in lange Mäntel gehüllte, tornisterbepackte, französische Soldaten. Merkwürdig, ihre Gesichter sahen gar nicht grimmig aus; sie hatten noch nicht einmal einen schwarzen Spitzbart und keine haßerfüllten Augen! Nein, freundlich, sogar etwas ängstlich-erwartungsvoll war ihr Blick; wie zwei müde heimgekehrte Soldaten sahen sie aus. Jetzt fing der eine sogar an zu reden, noch ehe der Vater etwas sagen konnte. »O, nix Feind, viel Freund!« sagte er mit einer warmen Stimme.

Wie, das war ein Franzose? Also Freund, viel Freund wollte er sein? so ging es durch unsere Bubenherzen. Jetzt war der Bann gebrochen. »Quartier« wollten sie haben. Der Vater führte sie die Treppe hinauf in das Zimmer.

Auf dem Tisch standen unsere Kanonen, mit denen wir die Franzosen zusammenschießen wollten. Und jetzt war ein wirklicher Franzose gekommen, der gesagt hatte: »Freund, viel Freund!« Es dauerte nicht lange, da hörten wir auf der Treppe kräftige Tritte, und wir hörten unter der Stimme des Vaters Laute in gebrochenem deutsch. Was war das? Brachte der Vater etwa die beiden Soldaten mit in unser Wohnzimmer? Waren denn diese Franzosen keine Feinde? Es war für den Patriotismus unserer Bubenherzen etwas Unfaßbares, was jetzt geschah: die Zimmertür ging auf, und der Vater brachte in unsere Stube zwei Franzosen!

Auf dem Tisch standen unsere deutschen und französischen Regimenter und unsere Kanonen in Angriffsstellung. Von einem weißgedeckten Tischchen in der Ecke verbreitete der brennende Christbaum seinen weihnachtlichen Glanz. Entgeistert starrten wir den französischen Soldaten ins Gesicht. Tränen, wahrhaftig Tränen standen denen in den Augen! Zögernd kamen sie näher an den warmen Ofen, dort standen sie vor dankbarer Rührung und wehmütiger Erinnerung an die eigene Familie in der fernen Heimat. Wir standen regungslos und starrten ihnen in die Augen. Wir sahen die Tränen, wir sahen das Heimweh in den Augen dieser fremden Soldaten, die wie ein Bild des Friedens – ja wie ein Bild des Friedens trotz ihrer Soldatenuniform – dort am Ofen standen und in den Lichterglanz des Christbaums blickten.

Da ging in uns Bubenseelen eine ganz große Erkenntnis auf, die Erkenntnis von der Verrücktheit unserer seitherigen Erziehung! Was ist der Krieg? O, das größte Unglück! Und lautlos gingen wir dann hin an den Tisch und packten unsere Soldaten und Kanonen in die große Schachtel.

Georg Müller, Hochschulassistent, Darmstadt.

Das Polenkind

Vor mir steigt auf die Zeit Ende 1915. Es war strenger Winter. Wir lagen irgendwo in Polen, nahe der Front, an der jedoch jede Kampfhandlung fast vollständig ruhte. Gewissermaßen Winterquartier. In W., einem der typischen Panjedörfer Polens, in der Nähe von Smorgon, war unsere Unterkunft. Die Bevölkerung war in wenigen Hütten zusammengelegt, um für uns Platz zu gewinnen.

In den elenden Stuben zehn bis zwanzig Menschen jeden Alters und Geschlechtes zusammengepfercht, stumpf, teilnahmslos. Auf dem gestampften Lehmboden, auf Holzpritschen, oben auf dem gemauerten Kamin herumsitzend, und alles schemenhaft beleuchtet durch in die Wand gesteckte brennende Kienspäne. »Ach nein, das arme Kind,« rief plötzlich der Dores. Auf dem Boden lag auf Stroh ein ungefähr vier Jahre altes Mädchen und schlief. Eine Decke hatte es nicht aufliegen, barfuß mit ärmlichen Lumpen bekleidet.

Unsere Barbarenherzen wurden von Mitleid gerührt, um so mehr, als sich herausstellte, daß der arme Wurm elternlos war und von der Gnade oder Ungnade einer »Tante« abhing, die einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck machte. Eine kurze Beratung und Dores erklärte die arme Kleine als von uns »annektiert«, womit die Tante sofort einverstanden war.

Wir brachten das Kind in unser Quartier und wir bauten aus Zeltbahn und Stangen zunächst eine feine »Falle«. Diese mit weichen Federkissen als Unterbett gepolstert und als Decken das gleiche Material, welches wir natürlich requiriert hatten. Matthes, der zu Hause selbst fünf Kinder hatte, spielte die treusorgende Mutter und unterzog das kleine Polenkind einer gründlichen Reinigung; ebenso wurden die ärmlichen Kleidungsstücke einmal gewaschen. Wir bemerkten mit Genugtuung, daß die Kleine, die erst etwas ängstlich war, nach dieser notwendigen Prozedur Zutrauen gewann. Und als unser Schützling später behaglich in den weichen Kissen lag, umstanden wir andachtsvoll sein Lager, und als uns die dunklen Kinderaugen dankbar anschauten, da dachte jeder an seine Lieben daheim.

Die Langeweile war vorbei. Mit Eifer betätigten wir uns als deutsche Sprachlehrer, um unserem Adoptivkind wenigstens soviel beizubringen, damit wir uns notdürftig verständigen konnten. Natürlich kam nur unser liebes Kölsch Platt zur Anwendung. In wenigen Wochen schon konnten wir uns über alles leidlich verständigen. Es war rührend zu hören, wenn unser Liebling in seinen weichen Kehllauten unsere Namen rief. Da hieß es: »Schäng, Dores, Louis oder Tünn, gäff mir mol dat do«. Das Kind wuchs uns immer mehr ans Herz, und auch es hatte sich an uns vollständig gewöhnt. Kam die Tante schon mal nachsehen, so schmiegte die Kleine sich verängstigt an uns, als habe sie Angst, fortzumüssen.

Mehrere von uns konnten zum ersten Mal in Urlaub fahren. »Ein jeder hat für unser Kind etwas mitzubringen,« dekretierte Dores. Und so geschah es. Das war für uns und die Kleine ein Festtag, als wir es von Kopf bis Fuß neu eingekleidet hatten. Auch Pelzmütze und Muff fehlten nicht. Nur das Gehen in Schuhen machte ihm einige Beschwerden, weil es solche ja nie getragen hatte. »Das Kind muß sich vorkommen wie im Paradies,« sagte der Schäng. Ich glaube, er hatte Recht.

Was soll noch viel zu berichten sein. Alles nimmt ein Ende. Auch unser Idyll. Der Dreikönigstag 1916 brachte die Entscheidung. Abmarsch. Es ging nach der Hölle von Verdun. Schon in aller Frühe ging Packen und Schirren los. Unsere Kleine saß in der Stube auf der Fensterbank und war mit ihrem Spielzeug beschäftigt. Wir hatten vereinbart, nachdem wir die Tante unterrichtet hatten, heimlich zu verschwinden, um den Abschiedsschmerz der Kleinen nicht sehen zu müssen. Aber mit dem feinen Instinkt des Kindes hatten wir nicht gerechnet. Mit angstvollen Augen sah es unseren Vorbereitungen zu, wurde unruhig und stellte sich schließlich zu uns in die Stube. Es mochte ahnen, daß Außergewöhnliches vor sich ging und daß wir fortgehn könnten. Was mochte sich in dieser armen Kinderseele in diesem Augenblick abspielen?

An ein heimliches Verschwinden war also nicht mehr zu denken. Weshalb wir dem Kinde tröstend zusprachen und versicherten, bald wiederzukommen. Vergebens. Als wir im Begriff waren, das Haus zu verlassen, raffte die Kleine schnell noch einige Spielsachen zusammen, und diese in ihre Aermchen gepreßt, lief sie laut schreiend hinter uns her. Fiel hin auf dem Glatteis, raffte sich wieder auf, wieder laufend und laut rufend: »Dores, Schäng, Louis«. Es war herzzerreißend. Wir wagten nicht uns umzuschauen.

Die Tante kam, nahm die sich heftig Sträubende auf den Arm und ging zurück. Noch lange hörten wir die Schreie: Schäng ... Dores ... Und dem dicken Wachtmeister aus Gladbach rollten die Tränen herunter. Wir bissen die Zähne zusammen und dachten: Es ist Krieg. Unser Polenkind sahen wir niemals wieder.

Wilhelm Noven, kaufm. Angestellter, Köln.

Verbotene Freundschaft

Ich möchte Ihnen ein kleines Erlebnis aus meiner Jugendzeit während des Krieges erzählen, als ich in einem kleinen thüringischen Bauerndörfchen war. Ich war damals sieben bis acht Jahre alt, als ich von der Schule aus zur Erholung auf's Land kam, zu einer kleinen Bauernfamilie. Der Bauer selbst war im Felde, die junge Frau und die alten Eltern waren dem kleinen Gute anvertraut geblieben. Zur Hilfe der landwirtschaftlichen Arbeit hatten sie einen gefangenen Franzosen, so viel ich weiß, wurde er Marso (Marcel?) gerufen.

Er konnte kein einziges Wort deutsch sprechen. Eines Tages fuhren wir mit zwei Fuhrwerken, Marso und Großvater, in den Wald um Holz zu holen. Als wir an dem Lagerplatz angelangt waren, lud Marso seinen Wagen mit großer Geschnelligkeit voll. Großvater, dem es schwer fiel, die großen Holzstücke aufzuladen, hatte kaum seinen Wagen halb bedeckt. Als Marso fertig war, wandte er sich zu Großvater und schlug ihn mit der Hand auf die Schulter. Großvater ließ vor Schrecken das Holzscheit fallen. Marso aber lachte und fing mit großer Geschnelligkeit an, den anderen Wagen voll zu laden. Als Großvater ein anderes Holzscheit nehmen wollte, nahm es ihm Marso wieder aus der Hand und führte ihn auf die andere Seite und stellte ihn wider einen Baum, so daß er Marso zusehen konnte. Als nun der zweite Wagen voll geladen war, machten wir uns auf den Heimweg. Kaum waren wir einige Minuten gefahren, als es anfing zu regnen. Der Regen setzte nun so stark ein, daß wir bald durchnäßt waren. Marso sah, daß es mich vor dem Regen schauerte. Er zog seinen Rock aus und zog mir ihn an. Dann setzte er mich auf den vollgeladenen Wagen. Er aber ging hemdsärmlich neben dem Fuhrwerk her. Als wir zu Hause ankamen, hob er mich von dem Wagen und trug mich in die Küche. Dort setzte er mich auf einen Stuhl und trocknete mich ab. Dann erst zog er seinen alten Rock an und spannte die beiden Kühe aus.

Am andern Morgen erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, welcher auch Geld enthielt. Das Geld war für die Butter, die ich nach Hause geschickt hatte und ich sollte es der jungen Bauersfrau geben. Als ich ihr es geben wollte, stand grade Marso neben ihr. Sie aber nahm mir das Geld nicht ab, sondern sagte zu mir, ich sollte es, wenn ich nach Hause käme, in der Schule als Kriegsanleihe zeichnen. Marso sah mich mit tiefen Augen an, aber er verstand es nicht und er kaute an einem Strohhalm weiter. Ich aber betrachtete mir Marso und empfand, daß ihm etwas fehlte, auch war er den ganzen Morgen sehr bedrückt. Am Mittag kam mir der Gedanke, daß ich Marso eine kleine Freude tun müßte, da er mir doch gestern auch so gut war. Ich eilte zu dem Krämer und holte ihm fünf Zigaretten. Als ich nach Hause kam, stand er grade unter der Haustür. Ich gab ihm die Zigaretten. Diesen Moment, als ich ihm die Zigaretten gab, werde ich in meinem ganzen Leben nie vergessen, denn Marso standen die Tränen in den Augen.

Aber das Unglück wollte es, daß zu diesem Moment die junge Bauersfrau dazu kam, sie sah es und frug mich, warum ich Marso Zigaretten gekauft hätte? Worauf ich ihr das erzählte, daß er gestern so gut zu mir gewesen wäre und daß ich ihm dafür die Zigaretten gekauft hätte. Sie aber schimpfte mich und sagte, unsere deutschen Soldaten hätten im Felde auch nichts zu rauchen und es wäre angebrachter gewesen, die Zigaretten in einem Brief an meinen Vater zu schicken, der doch auch im Felde wäre. Sie gab mir das Geld für die Zigaretten wieder zurück. Marso, der dabei gestanden hatte, verstand wohl kein Wort, aber er mußte doch gefühlt haben, was die Bauersfrau zu mir gesprochen hatte. Von nun an verbot mir die Bauersfrau, daß ich weiterhin mich in seiner Nähe aufhalten dürfe.

Endlich rückte nun der Tag heran, da ich wieder Abschied nehmen mußte. Es war wieder ein Tag, an dem es regnete. Als ich meine Sachen packte, stand Marso in der Tür und schaute mir traurig zu; die Bäuerin ging gerade mit einer Futterschüssel hinaus, um die Hühner zu füttern. Diesen Moment paßte Marso ab, er griff in die Tasche und zog einen großen Butterstollen heraus und steckte ihn geschwind unter meine Sachen. Er wandte sich um und griff schnell in die Ecke, wo das Reisigholz lag, zog ein Feldpostpäckchen mit zehn Eiern hervor und steckte mir dasselbe auch noch dazu.

Dann begleitete er mich zur Bahn, denn er mußte mir den Koffer tragen. Der Bahnhof lag gerade am Ende der Straße. Als wir vor dem Bahnhof standen und mir Marso den Koffer geben wollte, fing er an zu weinen. Ich griff in die Tasche und wollte ihm mein Geld, das ich noch hatte, geben. Aber er wehrte ab. Schnell entschlossen ging ich in die Bahnhofswirtschaft und holte ihm eine große Schachtel Zigaretten und gab sie ihm. In diesem Moment fuhr der Zug auch schon in dem Bahnhof ein, ich drückte ihm schnell noch einmal die Hand, und eilte durch die Sperre und stieg in den Zug ein. Kaum hatte ich Platz genommen und sah zum Fenster hinaus, als sich der Zug in Bewegung setzte. Marso stand an der Sperre und winkte mir mit einem Taschentuch, bis wir uns nicht mehr sehen konnten. Aber oft gedenke ich heute noch dieser treuen Freundschaft.

Bis heute hatte ich dieses kleine Geheimnis noch keinem meiner Familienangehörigen erzählt. Denn meine Eltern hatten mich streng erzogen, und wenn ich damals dieses kleine Erlebnis erzählt hätte, so hätte ich sicher eine Tracht Prügel abbekommen. Denn meine Mutter frug mich, ob ich auch das Geld der jungen Bauersfrau gegeben hätte, welches ich damals mit einem lauten Ja beantwortet hatte.

Willy Knof, Kellner, Frankfurt a. M.

Auch ein guter Feind

Acht oder neun Jahre war ich alt, als mich meine Mutter mitnahm zum verbotenen Hamstern auf dem Lande. Ich freute mich immer auf diese Sonntage, die in kindlichem Spiel mit Hühnern und Kühen und Misthaufen allzuschnell vergingen. Zuweilen beschmutzte ich mich in den spinnverwebten Ställen und roch nach Jauche. Die Bauernfrauen lachten gutmütig, und meine Mutter putzte mich schimpfend sauber.

Wir mußten sehr vorsichtig sein beim Zurückbringen der Lebensmittel. In einem feldgrauen Säckchen aus Abfällen von Soldatenmänteln, welche meine Mutter manchmal nähte, stak eine blecherne Milchkanne. Diese Verhüllung erscheint mir heute lächerlich, unnötig; denn jedem, der sehen wollte, offenbarte sich sein Inhalt. Oft hatte sie noch dazu einen mit braunem Packpapier umwickelten Schuhkasten unter den Arm geklemmt, in welchem sorgfältig einzeln in alte Zeitungen mit Siegesnachrichten eingesargte Eier ihrer Verspeisung harrten.

Wenn ein Polizist aus der Kreisstadt auf dem Bahnhof stand, nahm mich meine Mutter fest bei der Hand und ging schnell mit mir zum Bahnhof des Nachbardorfs. Manchmal allerdings waren alle Bahnhöfe besetzt mit Polizisten und Landsturmleuten. Dann kam nur derjenige noch durch die Sperre, der gut lügen und schwindeln konnte.

Gewöhnlich aber stand der einheimische Ortspolizist am Bahnhof. Ich weiß nicht mehr, ob er groß oder klein, dick oder dünn war, auch seine Züge sind mir heute unbekannt. Nur zwei Dinge haben die Jahre überdauert: sein langer Säbel in der glänzenden schwarzen Scheide, den ich mehr als Eier, Butter und Milch begehrte, und den ich einmal zu tragen wünschte. Ich glaubte an diesen Säbel wie andere an einen Götzen. Aber meine Mutter zeigte gar kein Verständnis für meine Sehnsucht.

Und das andere, das unauslöschlich in mir schlummert ist die Tatsache, daß jener Ortspolizist mit dem schönen langen Säbel – nichts sah. Gegen seinen Befehl, die sonntäglichen Hamsterer aufzuschreiben und die Rucksäcke voll Kartoffeln und die Kartons voll Eier und die Kannen voll Milch zu beschlagnahmen – er sah Nichts. Er sah leer in die Ferne, aus welcher das schwache Licht des übervollen Bummelzuges herankriechen mußte oder sprach gelangweilt gleichgültig mit dem rotbemützten Stationsvorsteher.

Aber er sah sehr genau in die eingefallenen, knochigen Gesichter der Frauen, deren schmale Rücken sich krümmten unter der Last des mühsam Erbettelten; er sah die blassen Gesichter der Stadtkinder und die zitternden, adrigen Hände schüchterner Greise. Er sah sie, die seine »Feinde« sein mußten – weil ein Gesetz es wollte. Und er wurde ihr Freund, indem er sich verging gegen dieses Gesetz.

A. Kehr, Bankangestellter, Preungesheim.

Das Kind

Ich stand im Sommer 1917 als Vizefeldwebel der 12. Komp. Res. Inf. Regt. 28 bei Hulluch (Lens) an der Front. Schweigend strebten wir – graue Gestalten im grauen Reich – dem Dorf Provin zu, wo wir nun einige Tage essen, schlafen und uns erholen konnten, um dann wieder zur Front zurückzukehren, die hinter uns tobte und wetterleuchtete wie eine Hölle.

Und wieder trat ich in das kleine Häuschen, den letzten unsicheren Besitz der biederen Madame Vasseur, für eine kurze Spanne Zeit wieder aufgetan, etwas wie Heimat und Familie um mich zu spüren, wieder begierig auf das helle Lachen der kleinen Palmyre und mich schon freuend, mit dem munteren fünfjährigen René umherzutollen wie ein Kind. Aber an diesem Morgen grüßte Madame mit finsterer und gramvoller Stirn, und selbst auf dem rundlichen Mädchengesicht Palmyres lag ein tiefer Schatten. Ich dachte zuerst nichts anderes, als daß dem Vater der Familie, dem Musikus Emile Vasseur, der in besseren Tagen mit seiner Fiedel durch die Dörfer zog, jetzt aber irgendwo auf der »anderen Seite« im Feuer stand, etwas zugestoßen sei. Aber auf meine Frage erzählte Mutter Vasseur mir unter Tränen von dem Unglück des armen, kleinen René.

Er hatte, weiß Gott wo, die Sprengkapsel einer Handgranate gefunden und auf dem glänzenden Ding mit einem Stein herumgeklopft, bis sich die Ladung plötzlich entzündete und ihm das linke Händchen fast völlig wegriß. Ein Militärarzt verband die Wunde, und nun befand sich René schon einige Tage in Lille in einem französischen Krankenhaus. So saßen denn Mutter und Schwester des Armen traurig da. Denn da sie infolge der von der deutschen Militärbehörde angeordneten Verkehrsbeschränkungen das Dorf nicht verlassen durften, konnten sie den kleinen Verwundeten nicht besuchen und erhielten auch keine Nachricht über sein Schicksal.

Ich war von diesem Mißgeschick, da ich ja auch nichts ändern konnte, sehr betroffen. Das Kind war mir in den kargen Tagen unseres Zusammenseins ans Herz gewachsen, ja, jetzt sah ich eigentlich zum ersten Male, daß sein sorgloses unbewußtes Dasein und all die wichtigen Kleinigkeiten, die seinen langen Kindertag ausfüllten, mir eine schönere Gegenwelt zu dieser Welt des Mordens bedeutete, das meine Kraft und selbst meine Enttäuschungen stumpfer und stumpfer gemacht hatte. Und so ließ mir denn der Gedanke an den kleinen René, nachdem die Tage der Erholung diesmal in freudloser Bedrückung vergangen waren, auch in der Front des Grabenkrieges vor Hulluch keine Ruhe. Ich sann und grübelte in meinem Unterstand, wenn mir der Tommy gerade Zeit ließ; und eines Nachts im Graben faßte ich den Entschluß, in der kommenden Ruhepause von Provin nach Lille zu fahren und nach meinem kleinen Freunde nachzuschauen.

Als ich eine Woche später zu Mutter Vasseur ins kleine Häuschen trat und ihr erzählte, daß einer meiner liebsten Kameraden im Feuer geblieben sei, schaute die sonst so warmherzige Frau mich nur einmal mit großen fernen Augen schweigend an. Kaum daß sie unmerklich nickte. Als ich ihr aber von meinem Plan eines Besuchs in Lille sprach, kam plötzlich Leben in ihre furchtbare Erstarrung, und unter einem hingestammelten Dank rüstete die Beglückte schon alles, was sie ihrem Kinde in den Stunden der Hoffnungslosigkeit wohl tausendmal vergebens zugedacht. Im Nu standen eine Tüte Waffeln, ein Päckchen Zucker und geringes Spielzeug sorgfältig zugeschnürt bereit – das Letzte, was die Armut noch zu opfern hatte. Dann fuhr ich mit dem Segen der schluchzenden Frau nach Lille. Dort kaufte ich selbst noch ein paar Aepfel und ein Bilderbuch dazu; und bald ging ich an der Seite einer Krankenschwester durch die weltabgewandten Säle des Hospitals, das den unglücklichen kleinen Patienten aufgenommen hatte.

Noch glitten meine Augen suchend über die kleinen armen Bettchen in dem geräumigen Kindersaal mit sehr viel wachsgelbem und bleichem Elend, voll Erwartung, ob René mich auch wiedererkennen würde – da plötzlich brach ein jubelnder Aufschrei in die Stille: Willy!!

Und da: mit ausgebreiteten Aermchen, leuchtendem Gesicht, den Mund zwischen Lachen und Weinen krampfhaft geöffnet, stand René aufgerichtet in seinem Bettchen, als wollte er dem Schrei nachstürzen in den Raum. Ehe ich noch, dem der unsagbare Laut dieses Rufes die Kehle zuschnürte, ein Wort geformt hatte, hing der Kleine an meinem Halse und weinte schluchzend und hemmungslos. Manch gräßliche Verwundung eines Kameraden hat mich nicht so erschüttert wie der Jubel und die strömende Klage dieses Kindes, in dem alles, was Nicht-sprechen-können und Scheu verhärtet hatten, nun langsam hinschmolz.

Ohne daß jemand ihn hätte trösten müssen, wurde René dann wieder ruhiger und hörte stumm, aber mit unersättlichen Augen dem großen Freunde zu, der ihm von seiner Mutter erzählte. Und als ich dann endlich gehen mußte – die Kuchen und das Spielzeug sah René kaum an – folgte mir der Kleine merkwürdig still und klaglos mit dem Blick, solange er konnte.

Ich sah ihn nie wieder. Nicht ihn, noch seine Mutter oder Palmyre. Als wir das nächstemal von Hulluch abgelöst wurden, ging es, vorüber an dem noch schlafenden Häuschen der guten Madame Vasseur, in die Flandernschlacht.

Dr. Wilhelm Martin Esser, Köln.

Der Neunjährige schreibt:

Eine Geschichte aus dem Weltkrieg. Vor zwölf Jahren war der Weltkrieg. Da haben die Menschen vier Jahre lang einander Beine, Arme und Köpfe weggeschossen. Aber einmal sind in Rußland ein paar gute Menschen bei einander gewesen. Da hat ein Russe zu den Deutschen herüber gerufen: He, Kamerad, Zigarr, Zigarett? Und da rief der Deutsche hinüber: Brot, Weißbrot, Schwarzbrot! Da kam der russische Soldat herüber und brachte einen Laib Brot, die Deutschen aber schenkten ihm Zigarren dafür. Aber als es der Hauptmann erfuhr, da mußten sie mit Kanonen wieder auf die Russen schießen und die Freundschaft war aus.

Mitgeteilt von Hauptlehrer Ammer, Fluorn/Württ.


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