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Das Übel

Das Gesetz der Spaltung und Einung, welches verzehrt um zu zeugen, zerreibt um zu bewegen, das Gesetz des Allgeschwisters φιλια ϰαι νειϰος ist wie jeder Erscheinung Grund auch Grund des Gutes und des Übels, der Lust und des Leides.

»Geschehen gibt es in der Welt nur, wo Unausgeglichenes ist.«

Alles Tun bringt Dulden. Die Zweiheit ist beider Schoß, weil sie nie zur Dyas, der Zahl mit zwei gleichen Teilen, werden kann.

Wir müssen es hinnehmen: Das Leid kam in die Welt als naturgegebene Teilerscheinung des Lebens. Leben kann nicht sein, ohne daß Leid ist, und zwar keineswegs zufällig, sondern vorbestimmt, zugewogen dem Ganzen wie dem Einzelnen.

Ein dichterisches Bild sagt, auch das Leid der Menschheit gleiche einem Brunnen im Gebirg. Unaufhörlich, aus nie erschöpften Quellen fließe das Wasser hinein; sein Spiegel steige nicht.

Hier sitzt das Geheimnis, worin die tragische Weltfrage sich erhebt: »Warum ist das Leid in der Schöpfung?« Keiner kam und ging, ohne daß er – umsonst – die Frage gestellt hätte. Das Geheimnis hat die Zeiten bewegt und die Geistesgänge der Menschheit wie des Menschen auf sich geleitet. Ja der Preis der Lösung hat den Namen »Erlösung«. Die ewig vergebliche Mühsal der Geschichte geht tragisch und doch immer emportreibend darum, das Übel zu mindern und auszurotten.

Wird es einmal offenbar, daß das Leid der kanonische Ausdruck des immerwährenden Zerfalles sei um des immerwährenden Aufbaues willen, auch der Reibung um der Bewegung willen, also nur scheinbar Nehmendes, dann wäre der daraus geflossene Weltschmerz in Weltvertrauen gebettet. Große Weise und große Heilige haben das Licht in der Finsternis gesehen.

Und die andere, im späteren Verlauf zu begründende Einsicht darf ihr Licht dazu geben, daß in der geschaffenen Welt des Werdens nichts vollkommen sein kann, also leiden muß. Jener Brunnen ist der Brunnen des Urleides.

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Schopenhauer hat feierlich selbstbewußt in die Philosophie den Vorrang des Willens eingeführt gegen den Gedanken. Zweifellos war damit eine warme Quelle angebohrt neben der erkalteten der Intellektualisten. Die Idee Platons, nicht Kants »Ding an sich«, war gleichsam keimhaft gemacht. Denn der Wille setzt ein Anziehendes, ein Ziel voraus. Doch indem der Finder seine Entdeckung durch das ihm widersprechende Röhrenwerk der kantischen Gedankenkunst trieb, brachte er es noch viel gefrorener zum Becken. Denn am Ende der Beweisführung kam seine Lehre zu dem Schluß, Bestimmung des Willen sei abzusterben. Er glaubte, irrig, damit als Denker in den religiösen Kreis der buddhistischen Lehre eingegangen zu sein.

Der (veranlagte) Pessimist konnte keine allerletzten Beziehungen sehen, so scharfäugig und tiefschürfig er war. Ihn hatte das Übel fasziniert, er erkannte es nicht als jenes Teilmittel der Lebensgestaltung, schaute nicht dessen physische, geschweige metaphysische Wechselbindung mit dem anderen kosmischen Teilmittel Lust. Seine Melancholie trübte auch die zeugende Schwestererscheinung wie die Erscheinung des erzeugten Lebens insgesamt. Von seiner groß und ernst angelegten Lehre bleibt die Grundfrage Rest. Seine Nachtansicht verhängte einem ganzen Geschlecht den Blick und der von aller Gedankenmühsal Enttäuschte trug den Stoffphilosophen Wurfsteine bei, die Zeit zu entgöttern.

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Neque bonum neque malum natura. Von Natur an sich gilt weder Gut noch Übel. Gut und Übel machen uns auch an sich nicht glücklich noch unglücklich; das tut nur die Vorstellung.

Und da nichts vergeblich ist nach dem Urgesetz, hat auch das Leid in jeder Gestalt einen Zweck, und weil diesen Zweck ein Ziel. Vermöchten wir uns auf seine andere Seite zu stellen, dann sähen wir dieses Ziel.

Das kleine, auch kanonische Mehr der Lust käme zur Erscheinung, in dessen immer saftendem Überfluß sich das Leben zeugt und wiedererzeugt. Man sähe neben jenem Brunnen des Leides im Gebirg einen anderen Brunnen, unsichtbar mit ihm verbunden.

Darin wirkt das Mysterium der Schöpfung: Es ist mehr Aufbau als Zerfall, mehr Leben als Tod, Zerfall ist zum Aufbau da, Tod zum Leben. Es besteht auch darin ein Gesetz der Schwerkraft, welche von den bejahenden Mächten ausgeht.

Richtete sich der Blick des Pessimisten auf die wunderbare Keimstelle dieser geringen Differenz des Übrigseins, dann wäre er ins Licht gedreht. Der Glaube und die Hoffnung tauchen hier auf.

Leid   x = Lust.
Zerfall   x = Aufbau.

Wir müssen aus dem Stoffkreis steigen. Das Naturgesetz hilft uns zu glauben.

»Erlöse uns von dem Übel!«

In dem Unbekannten, dem verborgenen Mehrquell offenbart sich Gott in der Natur.

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Ein seltsames Rätsel fragt: Wie kommt es, das Leid füllt uns an, die Lust entleert uns? Schmerz bereichert, Wonne zerfließt? Auch Schopenhauer, der Verdrossene, hat die Frage gehört. Vielleicht liegt des Rätsels verborgene Lösung eben darin, daß das Übel, der Zerfallsstoff schon gesetzmäßig zurückstrebender Stoff des Aufbaus wird, die Lust aber, den Aufbau vollzogen habend, reif geworden, zerfällt, zum Übel zerfällt.

Nur die Metaphysik kann Antwort geben. Und der Mystiker spricht: »Nichts ist so gallebitter wie leiden und nichts so honigsüß, wie gelitten haben.« Und der Heilige psalmodiert: »Gott grüße dich bittere Bitterkeit, aller Gnaden voll!«

Das äußere zerstörerische Leid wird zu einem inneren Zellengebild. Für wen es dieses nicht geworden ist, der hat Leid nicht erlebt, und wenn er an seinem Stoß zugrunde ginge. In der geistigen Klärung wandelt sich das Undurchsichtige zum Licht des Urgrundes. »Wir sollten stolz sein auf den Schmerz, er ist ein Zeichen unseres hohen Ranges.«

Vielleicht darf man hier beispielhaft und nebenbei einer Frau gedenken, welche die Mutter des Schreibers gewesen ist. Diese starb an einer schweren Operation, welche sie unbetäubt durchmachen wollte, auf daß der Kelch des Leides nicht an ihr vorübergehe. Vielleicht ist sie schuld, daß dieses Buch unter dem Auge des Lesers liegt.

Und das, was die Menschheit zusammen gelitten, ist unbegreiflich der Schatz der Menschheit, mehr denn die Freude. Glanz fließt daraus auf Geschlecht um Geschlecht. Es ist das große Geheimgut der Gemeinschaft und der Erbbesitz der Blutverwandtschaft. Auch jenes Quellbecken im Berg des Geistes wird von ihm gespeist.

Man stelle sich vor, das ungeheure Leid der Geschichte, woran jeder mitträgt, wäre nur Last geblieben!

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Opfer wurde, was die Hingeschwundenen duldeten, wiederum im geistigen Parallelgesetz erkennbarer Stoff der Neuwertung. Und eben das ist das heilig beweisende, weit heraushebende Zeichen des Christentums, sein Grundbeweis, daß allein durch seine Verkündigung das Leid sich zum Opfer verklärte, zur vergeisteten Gabe des Einwesens an die Gemeinschaft, und darum zum Heilquell, der in höchster Verklärung dem Fuß des Kreuzes entquillt.

Wir sind in den geweihten Kreis des Mit-Leides gestellt.


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