Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 46 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 4):

Pues no podemos haber aquello que queremos, queramos aquello que podremos.
(Since we cannot get what we like, let us like what we can get.)

Spanish Proverb.


Während Lydgate, glücklich verheirathet und mit der Leitung des Hospitals betraut, für medicinische Reformen gegen ganz Middlemarch kämpfte, wurde Middlemarch mehr und mehr in den nationalen Kampf für eine andere Art von Reform hineingezogen. Um die Zeit, wo Lord John Russel's Reformbill John Russell (1792-1878), liberaler englischer Reformpolitiker; unter Königin Viktoria zweimal Premierminister des Vereinigten Königreichs; bei der Reformbill handelt es sich um einen Gesetzentwurf, welcher den Städten Leeds, Manchester und Birmingham eine Vertretung im Parlament verleihen sollte, jedoch im Unterhaus zunächst scheiterte. – Anm.d.Hrsg. im Unterhause debattirt wurde, regte sich in Middlemarch ein neuer politischer Geist und fand eine neue Parteibildung statt, von welcher anzunehmen war, daß sie bei etwaigen Neuwahlen einen entscheidenden Einfluß äußern würde. Einige sagten den Eintritt eines solchen Ereignisses bereits mit Bestimmtheit voraus, indem sie erklärten, daß eine Reformbill niemals von dem Parlament in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung angenommen werden würde.

Von diesem Gesichtspunkte aus wünschte Will Ladislaw Herrn Brooke Glück dazu, daß er sich bisher noch nicht bei einer Wahl als Candidat präsentirt habe.

»Die Dinge werden wachsen und reifen, als ob wir ein Kometenjahr hätten,« sagte Will; »die öffentliche Stimmung wird sich bald, nachdem einmal die Reformfrage in den Vordergrund getreten ist, bis zur Kometenhitze gesteigert haben. Wahrscheinlich werden wir binnen Kurzem Neuwahlen bekommen und, bis dahin wird Middlemarch von neuen Ideen erfüllt sein. Jetzt müssen wir durch den ›Pionier‹ und durch öffentliche Versammlungen zu wirken suchen.«

»Ganz richtig, Ladislaw. Sie werden hier eine neue öffentliche Meinung bilden,« erwiderte Herr Brooke. »Nur, möchte ich mich in Betreff der Reform nicht binden, wissen Sie; ich möchte nicht zu weit gehen. Ich möchte in der Weise von Wilberforce und Romilly William Wilberforce (1759-1833), britischer Politiker, Philanthroph und Führer der Bewegung zur Abschaffung des Slavenhandels; trat für soziale Reformen ein. – Samuel Romilly (1757-1818), britischer Rechtsanwalt, Politiker und Gesetzreformer; trat zusammen mit Wilberforce für die Abschaffung des Sklavenhandels ein. – Anm.d.Hrsg. wirken, wissen Sie, und für Negeremancipation, Reform der Strafgesetzgebung und dergleichen thätig sein. Aber natürlich würde ich Grey Siehe Anm. 96. unterstützen.«

»Wenn Sie sich für das Prinzip der Reform erklären, so müssen Sie auch bereit sein, für das, was die Situation mit sich bringt, einzustehen,« entgegnete Will. »Wenn Jeder gegen Jeden auf seiner eigenen kleinen Meinung bestehen wollte, würde die ganze Frage in nichts zerfallen.«

»Ja, ja. Ich bin Ihrer Meinung – ich stehe ganz auf Ihrem Standpunkte. Ich würde die Sache so darstellen. Ich würde Grey unterstützen, wissen Sie, aber ich möchte das Gleichgewicht der Verfassung nicht verrücken und ich glaube auch nicht, daß Grey das thun wird.«

»Aber das gerade will das Land,« sagte Will– »Sonst würden politische Vereinigungen so wenig wie irgend eine andere Bewegung, die sich ihres Zieles bewußt ist, einen Sinn haben. Das Land verlangt ein Unterhaus, in welchem nicht die Candidaten der großen Grundbesitzer, sondern die Repräsentanten der übrigen Interessen die Oberhand haben. Und für eine Reform kämpfen, ohne das zu wollen, heißt so viel wie bitten, daß von einer Lawine, die schon ins Rollen gekommen ist, nur ein kleines Stückchen herabfalle.«

»Das ist sehr gut, Ladislaw; so muß man die Sache darstellen. Schreiben Sie das doch gleich nieder. Wir müssen jetzt anfangen, Dokumente über die Stimmung im Lande so wie über das Zerstören von Maschinen und die allgemeine Noth zu sammeln.«

»Dokumente?« fragte Will. »Was wir von der Art brauchen, läßt sich bequem auf einen zwei Zoll großen Zettel schreiben. Ein paar Zahlen würden genügen, um das Elend des Landes nachzuweisen, und ein paar fernere Zahlen, um zu zeigen, in welchem Verhältniß die politische Entschlossenheit des Volkes zunimmt.«

»Gut. Führen Sie das ein bischen weiter aus, Ladislaw. Sehen Sie, das ist eine gute Idee – machen Sie einen Artikel für den ›Pionier‹ daraus. Geben Sie die Zahlen an und folgern Sie daraus das herrschende Elend. Und geben Sie auch die andern Zahlen an und folgern Sie daraus, daß – und so weiter! Sie haben ein eigenes Geschick, die Dinge ins rechte Licht zu setzen. Burke Edmund Burke (1729-1797). irisch-britischer Schriftsteller, Philosoph und Politiker; galt als glänzender Rhetoriker. – wissen Sie, Ladislaw, wenn ich an Burke denke, muß ich immer wünschen, es möchte Ihnen Jemand einen Taschen-Burgflecken » Pocket borough«, d.h. ein Bezirk, in dem die Parlamentswahl von einer einzelnen Person oder Familie kontrolliert wurde. Siehe Anm. 104. – Anm.d.Hrsg. zur Verfügung stellen. Gewählt werden Sie nie, wissen Sie. Wir werden immer Talente im Unterhause gebrauchen; wenn wir noch so viele Reformen bekommen, Talente können wir immer gebrauchen. Was Sie da vorhin von der rollenden Lawine sagten, erinnerte mich wirklich ein wenig an Burke. Daran fehlt es mir – nicht an Ideen, wissen Sie, aber an einer guten Art, sie vorzutragen.«

»Taschen-Burgflecken,« sagte Ladislaw, »wären eine schöne Sache, wenn sie immer in den rechten Taschen steckten und wenn immer ein Burke bei der Hand wäre.«

Will war dieser schmeichelhafte Vergleich, selbst von Herrn Brooke nicht unangenehm; es hieße auch der menschlichen Schwachheit etwas zu viel zumuthen, daß Jemand, der sich bewußt ist, seine Gedanken besser auszudrücken als Andere, es nichts unangenehm empfinden solle, wenn sein Talent unbemerkt bleibt, und bei der allgemeinen Dürre der Bewunderung für das Aechte kann selbst ein zufällig an unser Ohr dringender Beifallsruf von einer Seite, die wir sonst gering achten würden, belebend auf uns wirken.

Will fühlte, daß seine schriftstellerischen Feinheiten in den meisten Fällen die Fassungskraft seiner Middlemarcher Leser überstiegen; nichtsdestoweniger fing er an, großes Gefallen an einer Thätigkeit zu finden, bei deren Uebernahme er ursprünglich sehr lau gewesen war, und studirte die politische Situation jetzt mit einem ebenso lebhaften Interesse, wie er es nur je der Poesie oder der mittelalterlichen Kunst zugewandt hatte.

Unzweifelhaft würde Will, wenn ihn nicht der Wunsch, in Dorothea's Nähe zu sein, und vielleicht der Mangel einer anderweitigen Thätigkeit an Middlemarch gefesselt hätten, um diese Zeit nicht über die Bedürfnisse des englischen Volkes nachgedacht oder englische Staatsmänner kritisirt haben; er würde wahrscheinlich in Italien umhergestreift sein und dort Pläne für verschiedene Dramen entworfen, Prosa versucht und sie zu nüchtern gefunden, Verse versucht und sie zu künstlich gefunden haben, dann wieder kleine Stücke von alten Bildern zu copiren angefangen, die Arbeit aber bald darauf bei Seite gelegt und bemerkt haben, daß es am Ende doch vor allen Dingen auf die eigene Bildung ankomme, während er in der Politik mit der Freiheit und dem Fortschritt im Allgemeinen warm sympathisirt haben würde.

Unser Pflichtgefühl muß sich oft eine Zeit lang gedulden, bis wir eine Arbeit finden, welche an die Stelle dilettantischer Beschäftigung treten und uns mit dem Gefühl durchdringen kann, daß die Art unserer Thätigkeit nicht gleichgültig sei.

Ladislaw hatte jetzt eine regelmäßige Thätigkeit gefunden, wenn es auch nicht jene unbestimmt erhabene Arbeit war, von welcher er einst als der einer fortgesetzten Anstrengung allein würdigen geträumt hatte. Seine Natur erwärmte sich leicht in der Berührung mit Gegenständen, die sichtbar mit Leben und lebendiger Thätigkeit zusammenhingen, und der stets in ihm rege Geist der Auflehnung half ihm dazu, den öffentlichen Geist in einem verklärenden Lichte zu erblicken.

Der Verbannung aus Lowick und Casaubon zum Trotz fühlte er sich ziemlich glücklich in seiner Thätigkeit, die ihm in einer lebhaft anregenden Weise eine Menge von zu praktischen Zwecken verwendbaren Kenntnissen zuführte und ihn dem ›Pionier‹ eine Berühmtheit verschaffen ließ, die bis Brassing reichte, und ungeachtet der Kleinheit dieses Feldes war, was er schrieb, nicht schlechter als Vieles, was über die ganze Welt verbreitet wird.

Herr Brooke konnte Will gelegentlich ungeduldig machen, aber die Ungeduld beschwichtigte sich bald wieder; denn die Eintheilung seiner Zeit zwischen seinen Besuchen in Tipton und der Rückkehr in seine Wohnung nach Middlemarch verlieh seinem Leben den Reiz der Abwechslung.

»Man braucht die Rollen nur ein wenig anders zu vertheilen,« dachte er bei sich, »und Herr Brooke könnte im Kabinet sitzen und ich sein Unterstaatssecretair sein. Das ist der gewöhnliche Lauf der Welt: die kleinen Wellen machen die großen und sind von derselben Beschaffenheit und Form. Ich bin hier besser aufgehoben als in der Art von Leben, zu welcher Casaubon mich erzogen sehen wollte, wo alle Arbeit durch zu strenge Vorschriften geregelt wäre, als daß ich dagegen reagiren könnte. Ich mache mir nichts aus Ansehen und reichlicher Bezahlung.«

Will war wirklich, wie Lydgate von ihm gesagt hatte, eine Art Zigeuner und gefiel sich in dem Bewußtsein, keinem bestimmten Stande anzugehören; es war ihm ein angenehmes Gefühl, daß seine Situation etwas Romanhaftes habe und daß er, wo immer er erschien, eine kleine Ueberraschung hervorrief.

Dieses Vergnügen war ihm aber gestört, als er sich Dorotheen bei seiner zufälligen Begegnung mit ihr in Lydgate's Hause fernergerückt fühlte, und er hatte seinem Zorne in Verwünschungen gegen Casaubon Luft gemacht. Wenn man Casaubon's Prophezeihung, daß Will seine gesellschaftliche Stellung einbüßen würde, gegen diesen ausgesprochen hätte, so würde er gesagt haben: »Ich habe nie eine gesellschaftliche Stellung gehabt,« und die Farbe auf seiner durchsichtigen Haut würde rasch wie Athemzüge gewechselt haben. Aber man kann sich in einem herausfordernden Verhalten gefallen, ohne darum auch die Folgen davon gern hinzunehmen.

Inzwischen schien die Meinung der Stadt von dem neuen Redacteur des ›Pionier‹ Casaubon's Auffassung bestätigen zu wollen. Will's Verwandtschaft mit diesem vornehmen Geistlichen diente ihm nicht wie Lydgate seine adligen Verwandten zu einer empfehlenden Introduction; wenn die Leute in der Stadt hörten, »daß der junge Ladislaw Herrn Casaubon's Neffe oder Vetter sei«, so hörten sie doch auch: »daß Herr Casaubon Nichts mit ihm zu thun haben wolle«.

»Brooke hat ihn sich herangeholt,« sagte Herr Hawley, »gerade weil kein vernünftiger Mensch das erwartet haben würde. Casaubon wird sicherlich verflucht gute Gründe haben, einem jungen Burschen den Rücken zu kehren, den er hat erziehen lassen. Das sieht Brooke recht ähnlich!«

Und einige mehr oder weniger phantastische Sonderbarkeiten Will's schienen die Behauptung des Herrn Keck, des Redacteurs der ›Trompete‹, zu bestätigen, daß Ladislaw nicht nur ein polnischer Emissär sei, sondern daß es auch bei ihm im Oberstübchen nicht richtig sei, woraus sich die unnatürliche Schnelligkeit und Geläufigkeit seines Sprechens erkläre, die er entwickle, sobald er eine Rednerbühne besteige. Das that er aber, so oft sich ihm eine Gelegenheit darbot, wo dann seine Zungenfertigkeit jedesmal den soliden Engländern zu denken gab.

Keck widerte es an, ein junges Bürschchen mit einem hellen Lockenkopf aufstehen und stundenlang schöne Reden gegen Institutionen halten zu hören, welche schon bestanden hatten, als er noch in der Wiege lag. Und in einem Leitartikel der ›Trompete‹ charakterisirte Keck Ladislaw's Rede bei einem Reform-Meeting als ›den leidenschaftlichen Erguß eines Energumenen Urspünglich ›ein vom Teufel Besessener‹; später in der Bedeutung ›ein Fanatiker‹. – Anm.d.Hrsg., den elenden Versuch, hinter einem glänzenden Feuerwerk von Phrasen die Verwegenheit grundloser Aufstellungen und die Armseligkeit eines Wissens zu verbergen, das von der billigsten Sorte und von jüngstem Datum seit‹.

»Das war ein prasselnder Artikel gestern, Keck,« sagte Dr. Sprague in einem sarkastisch bedeutungsvollen Ton. »Aber was ist ein ›Energumene‹?«

»O das ist ein Ausdruck, der in der französischen Revolution aufgekommen ist,« antwortete Keck.

Dieses unheimliche Wesen Ladislaw's contrastirte seltsam mit andern Gewohnheiten, die man an ihm beobachtete. Er hatte eine halb künstlerische halb herzliche Vorliebe für Kinder; je kleiner sie waren, wenn sie nur eben laufen konnten, und je wunderlicher sie gekleidet waren, desto lieber mochte Will sich mit ihnen abgeben und sie amüsiren. Wir wissen, daß er es liebte, in Rom durch die von armen Leuten bewohnten Quartiere der Stadt zu streifen, und dieser Geschmack hatte ihn auch in Middlemarch nicht verlassen.

Er hatte irgendwo einen Trupp possirlicher Kinder aufgelesen, kleine baarhäuptige Jungen mit sehr abgetragenen Pumphosen und einem äußerst dürftigen Vorrath an Wäsche, kleine Mädchen, die sich die Haare aus den Augen schüttelten, um ihn anzusehen, und denen zu ihrer Beaufsichtigung Brüder in dem reifen Alter von sieben Jahren zur Seite standen.

Diesen Trupp von Kindern hatte er zur Zeit der Nußernte in zigeunerhaften Excursionen in das Gehölz von Halsell hinausgeführt, und seit das kalte Wetter eingetreten war, hatte er sie an einem klaren Tage mit sich genommen, um Reiser zu einem Freudenfeuer zu sammeln, das am Fuße eines Hügels brennen sollte, wo er sie mit Pfefferkuchen traktirte und ein Polichinelldrama mit einigen selbstgefertigten Puppen für sie improvisirte.

Das war eine seiner Sonderbarkeiten. Eine andere war, daß er sich in befreundeten Häusern mit Vorliebe, während er sprach, der Länge nach ausgestreckt auf dem Kaminteppich hinlegte, so daß er in dieser Attitüde oft von zufälligen Besuchern getroffen wurde, welche sich durch ein so auffallendes Benehmen leicht in der Vorstellung von seinem gefährlich gemischten Blut und der Laxheit seiner Sitten bestärkt fanden.

Aber Will's Zeitungsartikel und Reden dienten ihm natürlich zur Empfehlung bei Familien, welche sich bei der neuerdings eingetretenen scharfen Spaltung der Parteien auf die Seite der Reformfreunde gestellt hatten. So wurde er auch zu Herrn Bulstrode eingeladen; aber hier durfte er sich nicht vor das Kamin legen, und Frau Bulstrode fand, daß seine Art, über katholische Länder zu reden, als ob ein Compromiß mit dem Antichrist möglich wäre, nur ein neues Beispiel für die gewöhnliche Hinneigung geistreicher Männer zu ungesunden Ideen liefere.

In dem Hause Farebrother's aber, den eine Ironie des Schicksals in der nationalen Bewegung auf dieselbe Seite mit Bulstrode gebracht hatte, wurde Will ein Liebling der Damen; namentlich des kleinen Fräulein Noble, welche er, – auch eine von seinen Sonderbarkeiten! – wenn er ihr mit ihrem kleinen Korbe auf der Straße begegnete, zu begleiten pflegte, wobei er ihr vor aller Welt den Arm reichte und darauf bestand, einen oder den andern der Besuche mit ihr zu machen, bei denen sie ihren kleinen an sich selbst begangenen Raub von Süßigkeiten vertheilte.

Aber das Haus, welches er am meisten frequentirte und wo er öfter als irgendwo sonst auf dem Kaminteppich lag, war das Lydgate'sche. Die beiden Männer waren sich in vielen Beziehungen unähnlich, aber sie kamen nichts destoweniger gut mit einander aus. Lydgate war kurz angebunden, aber nicht reizbar und nahm wenig Notiz von der Reizbarkeit gesunder Menschen, und Ladislaw pflegte seine Empfindlichkeiten nicht an Leute zu verschwenden, die keine Notiz davon nahmen.

Dagegen ließ er sich Rosamunden gegenüber gehen, ja, er war oft recht unverbindlich gegen sie, worüber sie innerlich nicht wenig erstaunt war, was jedoch nicht verhinderte, daß er ihr allmälig zu ihrer Unterhaltung unentbehrlich wurde mit seinem Gesange, seiner lebhaften und amüsanten Art zu reden und seiner Freiheit von jener ernsten Preoccupation, welche ihr das Wesen ihres Gatten, trotz all' seiner Zärtlichkeit und Nachsicht oft unbefriedigend erscheinen ließ und sie in ihrer Abneigung gegen den ärztlichen Beruf bestärkte.

Lydgate, der sich einer sarkastischen Auffassung des abergläubischen Vertrauens der Leute auf die Wirkungen der Reformbill – während Niemand sich um die niedrige Stufe, auf welcher die Pathologie noch stehe, bekümmere –, nicht erwehren konnte, ging Will bisweilen mit unbequemen Fragen zu Leibe.

Eines Abends im März saß Rosamunde in einem kirschrothen Kleide mit Schwanbesatz am Halse am Theetisch, während Lydgate, der erst spät und ermüdet von seinem Tagewerk nach Hause gekommen war, in einem Lehnstuhl am Kamin, das eine Bein über die Lehne geschlagen saß und die Spalten des ›Pionier‹ mit einem etwas unruhigen Ausdruck überflog. Rosamunde, welche wohl bemerkt hatte, wie preoccupirt er sei, vermied es ihn anzusehen und dankte innerlich dem Himmel, daß sie für ihre Person nicht von üblen Launen geplagt sei. Will Ladislaw lag ausgestreckt vor dem Kamin, betrachtete mit zerstreuten Blicken die Gardinenstange und brummte ganz leise eine Melodie vor sich hin, während der gleichfalls ausgestreckt liegende, aber durch Will auf einen sehr engen Raum beschränkte Spaniol über seine Pfoten hinweg den Usurpator des Kaminteppichs schweigend, aber mit vorwurfsvollen Blicken ansah.

Als Rosamunde Lydgate eine Tasse Thee brachte, warf er die Zeitung hin und sagte zu Will, der aufgesprungen und an den Tisch getreten war:

»Er hilft Ihnen nichts, Ladislaw, daß Sie Brooke als einen reformfreundlichen Gutsbesitzer hinstellen; sie flicken ihm dafür in der ›Trompete‹ nur desto mehr am Zeuge.«

»Das ist einerlei,« erwiderte Will, der seinen Thee schlürfte und dabei auf und ab ging, »die den ›Pionier‹ lesen, lesen die ›Trompete‹ nicht. Denken Sie denn, die Leute lesen, um sich zu einer Ansicht bekehren zu lassen? Das würde ein Hexengebräu zum Tollwerden geben, und kein Mensch würde wissen, auf welche Seite er sich stellen solle.«

»Farebrother sagt, er glaube nicht, daß Brooke gewählt werden würde, wenn sich die Gelegenheit dazu bieten sollte; dieselben Leute, die ihn für ihren Kandidaten erklärt hätten, würden doch im rechten Augenblick einen andern Kandidaten parat halten.«

»Man kann es immer versuchen, dabei ist nichts verloren, und es ist wünschenswerth, Jemanden zu wählen, der am Orte wohnt.«

»Warum?« fragte Lydgate, der sich dieser unpassenden Frageform, noch dazu in einem sehr kurzen Ton, häufig zu bedienen pflegte.

»Weil sie die lokale Dummheit besser repräsentiren,« sagte Will lachend und seine Locken schüttelnd, »und weil sie sich dann an ihrem Wohnorte so gut, wie sie können, benehmen. Brooke ist kein übler Mensch, aber doch würde er einiges, was er jetzt zum Besten seiner Gutsleute vorgenommen hat, nie gethan haben, wenn ihn nicht dieser parlamentarische Köder dazu bewogen hätte.«

»Er paßt nimmermehr für eine Rolle im öffentlichen Leben,« sagte Lydgate in einem geringschätzig spöttelnden Ton. »Er würde Jeden, der auf ihn gerechnet hätte, täuschen; ich sehe das deutlich beim Hospital. Nur daß hier Bulstrode die Zügel in der Hand hat und Brooke im Zaum hält.«

»Das kommt ganz darauf an, welchen Maßstab Sie an öffentliche Charaktere legen,« sagte Will, »Brooke ist gut genug für diese Gelegenheit, wo es den Wählern nicht auf einen Mann, sondern nur auf eine Stimme ankommt.«

»Das ist so Eure Art, Ihr politischen Schriftsteller, Ladislaw. Ihr posaunt eine Maßregel aus, als ob sie ein Universalmittel wäre und posaunt Männer aus, die gerade einen Theil des Uebels bilden, das der Heilung bedarf.W

»Warum nicht, solche Männer können, ohne es zu wissen, selbst dazu behülflich sein, das Land von sich zu befreien,« sagte Will, der sich seine Gründe improvisirte, wenn es sich um eine Frage handelte, über die er bisher nicht nachgedacht hatte.

»Das ist keine Entschuldigung dafür, daß Ihr die abergläubische Uebertreibung der Hoffnungen auf diese besondere Maßregel noch aufmuntert, daß Ihr das Geschrei nach einer en bloc-Annahme der Reformbill unterstützt und daß Ihr Abstimmungspapageien poussirt, die zu weiter nichts gut sind, als diese Maßregel durchzubringen. Ihr kämpft gegen verrottete Zustände, und es giebt nichts durch und durch Verrotteteres als das Bestreben, die Menschen glauben zu machen, daß die Gesellschaft durch einen politischen Hokuspokus von ihren Leiden geheilt werden könne.«

»Das ist sehr schön, mein lieber Freund. Aber irgendwo muß doch mit Ihrer Kur angefangen werden, und Sie können es getrost als ausgemacht annehmen, daß tausende von Dingen, welche das Volk herabwürdigen, niemals reformirt werden können, wenn man nicht mit dieser besondern Reform den Anfang macht. Sehen Sie doch, was Stanley neulich sagte, daß das Haus lange genug an kleinen Bestechungen herumgenörgelt und seine Zeit damit zugebracht habe, zu untersuchen, ob für dieses oder jenes Votum eine Guinea bezahlt sei, wo doch Jeder wisse, daß die Sitze en gros verkauft seien. Wer wird auf Weisheit und Gewissenhaftigkeit bei Volksvertretern rechnen? Papperlapapp! Das einzige, wobei man im öffentlichen Leben auf die Gewissenhaftigkeit der Leute rechnen kann, ist, wenn eine ganze Klasse das überwältigende Gefühl eines ihr widerfahrenen Unrechts hat, und die beste Weisheit wird immer nur da zur Geltung kommen, wo sich gleichberechtigte Ansprüche mit einander in's Gleichgewicht zu setzen haben. Mein Text ist: welche Partei ist die in ihren Rechten gekränkte? Ich unterstütze die Leute, die ihre Ansprüche geltend zu machen wissen; nicht den tugendhaften Erhalter des Unrechts.«

»Dieses allgemeine Gerede über einen besondern Fall ist eine reine petitio principii, Ladislaw. Wenn ich sage, ich bin unbedingt für jede Dosis, die kurirt, so folgt daraus nicht, daß ich in einem gegebenen Falle von Gicht für Opium bin.«

»Es ist keine petitio principii, wenn ich mich bei der Frage, die uns beschäftigt – der Frage, ob wir die Hände in den Schooß legen sollen, bis wir makellose Männer finden, um unsere Zwecke auszuführen, so wie geschehen ausspreche. Würden Sie nicht ebenso verfahren? Wenn Sie zu wählen hätten zwischen einem Manne, der Ihnen zur Ausführung einer medizinischen Reform verhelfen, und einem andern, der sich dieser Reform widersetzen würde, würden Sie untersuchen, wer von Beiden die besseren Motive oder auch nur die bessere Einsicht habe?«

»O natürlich,« sagte Lydgate, der sich durch einen Zug, dessen er sich selbst oft bedient hatte, matt gesetzt sah, »wenn man nicht die Leute, die eben zur Hand sind, zu seinen Zwecken verwenden wollte, so müßten die Dinge bald zu einem vollkommenen Stillstand kommen. Angenommen, das Schlimmste, was über Bulstrode in der Stadt gesagt wird, wäre wahr, so würde es darum doch nicht weniger wahr sein, daß er die richtige Einsicht und den Willen hat, das zu thun, was in einer Sphäre, in der ich heimisch bin und die mir zumeist am Herzen liegt, geschehen muß. Aber das ist der einzige Boden, auf welchem ich mit ihm zusammengehe,« fügte Lydgate der Bemerkungen Farebrother's eingedenk etwas stolz hinzu. »Im Uebrigen ist er mir nichts; ich würde keiner persönlichen Eigenschaft wegen sein Lob singen – davon würde ich mich frei zu halten wissen.«

«Meinen Sie denn, daß ich irgend einer persönlichen Eigenschaft wegen Brooke's Lob singe?« fragte Ladislaw empfindlich, und indem er rasch eine bessere Position zu gewinnen suchte. Zum ersten Mal fühlte er sich von Lydgate verletzt; vielleicht nur um so mehr, als er jede genauere Untersuchung seiner Beziehungen zu Herrn Brooke zurückgewiesen haben würde.

»Durchaus nicht,« erwiderte Lydgate; »ich wollte nur einfach meine eigene Handlungsweise erklären. Was ich sagen wollte, war, daß ein Mann für einen bestimmten Zweck mit Andern zusammen gehen kann, deren Motive und allgemeines Verhalten zweideutiger Natur sind, wenn er sich seiner persönlichen Unabhängigkeit gewiß fühlt und sicher ist, nicht für sein persönliches Interesse, sei es in Bezug auf seine Stellung oder auf Geldgewinn, zu arbeiten.«

»Warum lassen Sie denn diese liberale Auffassung nicht auch Andern zu Gute kommen?« fragte Will noch immer empfindlich. »Meine persönliche Unabhängigkeit liegt mir gerade so sehr am Herzen wie Ihnen die Ihrige. Sie haben kein größeres Recht anzunehmen, daß ich persönlich von Brooke etwas zu erwarten habe, wie ich es habe anzunehmen, daß Sie persönlich etwas von Bulstrode zu erwarten haben. Motive sind, wie mir scheint, Ehrenpunkte, die Niemand beweisen kann. Was aber Geld und Stellung in der Welt anlangt,« schloß Will, indem er den Kopf in den Nacken warf, »so ist es, denke ich, doch wohl ziemlich klar, daß ich mich durch Erwägungen dieser Art nicht bestimmen lasse.«

»Sie mißverstehen mich ganz, Ladislaw,« sagte Lydgate überrascht. Er war von seiner eigenen Rechtfertigung preoccupirt gewesen und hatte durchaus nicht daran gedacht, wie viel von seinen Worten Ladislaw etwa auf sich beziehen möchte. »Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Sie unabsichtlich verletzt habe. In Wahrheit würde ich Sie eher einer romantischen Mißachtung Ihres eigenen weltlichen Interesses für fähig halten. In Betreff der politischen Frage sprach ich lediglich von geistigen Richtungen!«

»Wie unangenehm seid Ihr Beide heute Abend,« fiel Rosamunde ein. »Ich begreife nicht, warum auch noch von Geld zwischen Euch die Rede sein muß. Politik und Medicin sind schon ganz hinreichend unangenehme Streitobjekte. Ihr könnt Euch ja Beide auch ferner mit der ganzen Welt und mit einander über diese beiden Gegenstände zanken.«

Rosamunde, die das mit einem mild neutralen Ausdruck gesagt hatte, stand auf, um die Glocke zu ziehen, und ging dann an die andere Seite des Zimmers an ihren Arbeitstisch.

»Arme Rosy!« sagte Lydgate, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, als sie an ihm vorüberging. »Disputationen sind nicht amüsant für Cherubim. Mach' doch ein wenig Musik. Bitte Ladislaw, etwas mit Dir zu singen.«

 

Als Will fortgegangen war, sagte Rosamunde zu ihrem Gatten:

»Was hat Dich denn heute Abend so verstimmt, Tertius?«

»Mich? Ladislaw war verstimmt. Der fängt ja Feuer wie Zunder.«

»Ich meine, schon vorher. Dir muß etwas Verdrießliches begegnet sein, schon ehe Du nach Hause kamst; Du sahst gleich verstimmt aus. Und darum fingst Du mit Ladislaw Streit an. Es thut mir sehr weh, Tertius, wenn Du so aussiehst.«

»Sehe ich denn so aus? Dann bin ich ja eine rohe Bestie,« sagte Lydgate, indem er sie mit reuiger Miene liebkoste.

»Und was hat Dich verstimmt?«

»Geschäftssachen.«

Was ihn verstimmt hatte, war in Wahrheit ein Mahnbrief gewesen, in welchem auf die Bezahlung einer Mobilienrechnung gedrungen wurde. Aber Rosamunde war guter Hoffnung und Lydgate wünschte ihr jede Aufregung zu ersparen.



 << zurück weiter >>