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III
Die Schützen.

Asbjörn Krag trat einen Schritt zurück, so daß sein Rücken von der Wand gedeckt war. So stand er vollkommen unbeweglich. Kohlschwarze Finsternis umgab ihn. Er sah nichts als einen bläulichen Schneestreifen durch die Türöffnung schimmern. Aber er fühlte, daß ein Mensch in der Nähe war. Zwei Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah.

Da hörte der Detektiv plötzlich ein unterdrücktes Hohnlachen ganz dicht an seinem Ohr. Er zuckte zusammen.

»Was tun Sie denn so spät nachts draußen, Herr Doktor?« vernahm er darauf die spöttische Stimme des Pflegesohnes aus dem Dunkel.

Aber sobald Krag wußte, wer der Unbekannte war, hatte er auch all seine Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart zurückgewonnen.

»Diese Frage werden Sie sich wohl von selbst beantworten können«, sagte er. Bengt ging an dem Detektiv vorüber zu der offenen Tür. Krag bemerkte, daß er noch immer seinen Jagdanzug trug. Er war also noch gar nicht im Bett gewesen. Über seiner Schulter hing eine Tasche an einem Lederriemen. Unter dem Arm hielt er ein Gewehr.

»So spät auf die Jagd?« fragte Krag.

Aber Bengt antwortete nicht. Er stand an der Tür und betrachtete ihn voller Hohn.

»Sie sind mir noch die Antwort auf meine Frage schuldig«, sagte er. »Was tun Sie so spät draußen, Herr Doktor? Es ist doch wohl nicht der Pavillon, der Sie gelockt hat?«

Asbjörn Krag ergriff diesen Anhaltspunkt mit Freude.

»Allerdings ist es der Pavillon«, antwortete er. »Ich glaube nämlich wirklich noch immer, daß es ein lebendiges Geschöpf war, das auf Ihren Vater schießen wollte. Und als ich zu Bett gehen wollte, fiel mir ein, daß vielleicht doch noch irgendwo in den Grundmauern des Pavillons ein heimliches Versteck vorhanden sein könnte. Die wurden ja von den Arbeitern nicht aufgerissen.«

»Aber war es denn durchaus nötig, diese Tür aus den Angeln zu heben, um dorthin zu gelangen?«

»Ich hatte keine Schlüssel. Im übrigen ist es für mich eine Kleinigkeit, eine verschlossene Tür auf diese Weise zu öffnen.«

»Sie benehmen sich wie ein Einbrecher, Herr Doktor.«

»Oder wie ein Detektiv«, antwortete Krag und lachte laut.

Bengt biß die Lippen fest zusammen, begann an dem Gewehr zu fingern und wiegte es bedeutsam auf dem Arm.

»Wenn man einen Mann in einer dunklen Nacht auf diese Manier die Türen erbrechen sieht«, sagte er, »so muß man unbedingt annehmen, er sei ein Verbrecher. Es fehlte nicht viel, und ich hätte von meiner Waffe Gebrauch gemacht.«

»Ich habe schon öfter vor einem Flintenlauf gestanden.«

»Nun ja, ich sage es Ihnen nur, damit Sie für die Zukunft vorsichtiger sind.«

Da lachte Krag wieder.

»Das nächste Mal, meinen Sie, würde ich Ihrer Kugel nicht entgehen?«

»Sie sollten auf einen guten Rat hören, meine ich. Wollen Sie nun wohl auch die Güte haben, den Hund wieder frei zu lassen? Gute Nacht.«

Bengt warf die Büchse über die Schulter und schritt dem Walde zu. Der festgefrorene Schnee knirschte unter seinen Füßen.

Krag kehrte in sein Zimmer zurück.

Der Arzt erwartete ihn voller Spannung.

»Ich hörte Stimmen. Mit wem sprachst du?«

»Mit Bengt.«

»Ging er aus?«

Krag nickte.

»Wohin?«

Der Detektiv zeigte nach dem Walde, der wie ein aufgeregtes schwarzes Meer zum Hof herüberwogte.

»Hast du etwas entdeckt?«

»Ja.«

»Etwas Wichtiges?«

»Ja.«

»Tat ich recht, dich mit hierher zu nehmen?«

»Ich bin dir sehr dankbar dafür.« »So sind es also nicht nur Halluzinationen bei dem alten Herrn?«

»Absolut nicht.«

Krag war vollkommen ruhig. Niemand hätte es ihm anmerken können, daß er soeben eine starke Spannung durchlebt hatte. Er stand mit dem Rücken am Kamin und wärmte sich die Hände.

»Man plant hier ein scheußliches Verbrechen«, sagte er. »Und Gott weiß, ob wir seine Ausführung noch verhindern können.«

Bei diesen Worten erhob sich der Arzt und starrte den Detektiv mit entsetzten Augen an.

»Wer ist denn der Verbrecher?«

»Das weiß ich noch nicht, werde es aber wohl im Laufe des morgigen Tages in Erfahrung bringen. Im übrigen können wir augenblicklich nichts anderes tun, alter Feldscher, als es mit Ruhe zu tragen. Laß den Hund hinaus und kuriere mir meine Hände ein wenig.«

Lächelnd reichte ihm der Detektiv die Hände hin. Mehrere Finger bluteten.


Als der Arzt am nächsten Morgen gegen neun Uhr erwachte, kam Asbjörn Krag schon von einem Spaziergang zurück. Der Detektiv scherzte und lachte und war bei strahlender Laune.

»Welch herrliches Winterwetter«, rief er aus, »und welch großartige Landschaft.«

Der Arzt sprang rasch aus dem Bett.

»Du bist ja heute bei so guter Stimmung«, sagte er. »Ist alles in Ordnung?«

»Alles in bester Ordnung. Der alte Herr hat sich von den Geschehnissen des gestrigen Tages erholt und befindet sich in vortrefflicher Verfassung. Aber wie hat ihn die Sache gestern gepackt! Willst du im übrigen wissen, warum ich bei so guter Stimmung bin? Nun, aus dem einfachen Grunde, daß ich das Geheimnis mit den drei Zimmern entdeckt habe.«

»Nicht möglich! Wann gelang dir das denn?«

»Heute nacht. Als du bereits schliefst.« »Ist denn heute nacht noch etwas vorgefallen?«

»Nein. Aber ich saß dort in dem großen Sessel und dachte über die Sache nach. Ich rauchte und dachte und dachte und rauchte. Und plötzlich stand die ganze Geschichte klar vor meinem inneren Blick.«

»Du quälst mich, Krag. Worin besteht denn das Geheimnis?«

»Das kann ich dir noch nicht erklären, du mußt dich schon noch ein wenig länger quälen lassen. Damit mußt du dich nun mal abfinden.«

»Und das Verbrechen?«

»Ist geplant. Doch es hat nichts mehr mit den drei Zimmern zu tun. Dieses Rätsel hätten wir gelöst, sind aber dafür in ein anderes verwickelt. Doch gehen wir nun hinunter zum Frühstück.«

Der Detektiv und der Arzt frühstückten gemeinsam mit dem alten Gutsherrn und dessen Pflegesohn. Asbjörn Krag schien besonders zum Scherzen aufgelegt, und Aakerholm war offenbar belustigt durch seine vielen plötzlichen Einfälle. Auch Bengt schien sich mit ihm aussöhnen zu wollen.

Der Tag verging, ohne daß etwas Besonderes geschah. Gleich nach Tisch kam ein Bote, fragte nach Asbjörn Krag und übergab ihm eine Kiste. Der Detektiv sagte, sie enthalte seine Bücher.

»Meine Studien nehmen mich so vollkommen gefangen«, erklärte er, »daß ich auch auf Reisen meine Bücher stets mit mir haben muß.«

Er ließ die Kiste sofort nach seinem Zimmer hinaufbringen.

Der Arzt beobachtete diese Komödie voller Staunen. Er wußte, daß Asbjörn Krag sich sehr ungern mit anderer Lektüre beschäftigte, als der für gerichtliche Verfahren durchaus notwendigen. Er ahnte sofort, daß dahinter ein Geheimnis steckte, und sobald der Detektiv auf sein Zimmer gegangen war, folgte er ihm.

Als er eintrat, hatte Krag die Kiste bereits geöffnet.

»Verschließe die Tür hinter dir!« rief er dem Arzt zu.

»Was, um des Himmels willen, hast du nur vor?« fragte dieser neugierig interessiert.

»Ich ordne meine Bücher«, antwortete Krag.

Der Arzt trat näher. Die Kiste enthielt nichts als Glasscherben. Aber Krag nahm eine Scherbe nach der anderen heraus und ging so vorsichtig und behutsam damit um, als handle es sich um die kostbarsten Schätze.

»Siehst du nicht, was es ist?« fragte er und ächzte vor Eifer. Er nahm einen neuen Scherben aus der Kiste und untersuchte ihn aufs genaueste. »Es sind die Scherben des von dem alten Herrn zertrümmerten Spiegels.«

»Woher, zum Donnerwetter, hast du die?«

»Zu meinen Nachforschungen heute früh gehörte natürlich als wichtigste Frage die, ob noch alle Spiegelscherben vorhanden wären. Und wirklich, sie waren noch da. Der Stallknecht hatte sie aufgehoben. So gelang es mir, einen umherziehenden Handelsmann zu veranlassen, sie ihm abzukaufen und mir dann in dieser Kiste herzuschicken. In derlei kleinen Anordnungen bin ich Meister, lieber Doktor. Ich konnte ja den Knecht nicht bitten, mir die Scherben zu überlassen, ohne dadurch Aufsehen und Verdacht zu erregen. Daher schickte ich ihm also den Händler auf den Hals.«

Der Detektiv betrachtete die Scherben genau.

»Ja, es sind sicher alle«, sagte er. »Ich werde den Spiegel wohl wieder zusammensetzen können.«

Er sah sie sich immer wieder an und schüttelte den Kopf.

»Ein merkwürdiger Spiegel«, murmelte er. »Ein merkwürdiger Spiegel.«

Als im Wohnzimmer unten die Lampen angezündet waren, der Kaffee und die Zigarren auf dem Tisch standen, taute der alte Herr allmählich wieder auf. Asbjörn Krag ließ ihn mit dem Doktor allein plaudern. Er selbst hatte inzwischen mit Bengt ein interessantes Gespräch unter vier Augen.

Krag fragte den Pflegesohn, wer die Dame sei, die sein Vater heiraten wolle.

Bengt gab ihm eine Beschreibung, die sich in der Hauptsache mit der des Arztes deckte.

»Sie ist also verhältnismäßig noch jung und schön?«

»Ja.«

Der Detektiv betrachtete Bengt durchdringend, stellte aber seine Fragen in halb scherzendem Ton.

»Wäre es nicht eigentlich richtiger, wenn Sie sie zur Frau nehmen würden?«

Bengt wollte die Unterhaltung abbrechen, indem er sich schroff erhob. Doch Krag hielt ihn zurück.

»Mir scheint nämlich, aufrichtig gestanden«, fuhr er fort, »daß Ihr Pflegevater zu alt ist, um sich noch zu verheiraten.«

»Das finde ich auch«, antwortete Bengt.

»Nun, so sollten Sie seinen Heiratsplänen doch entgegenwirken. Und das haben Sie wohl auch bereits getan?«

Bengt zauderte ein wenig. Dann antwortete er:

»Ich habe meinem alten Herrn natürlich meine Meinung darüber gesagt. Aber«, fuhr er in seiner drolligen, von Fremdworten gespickten Redeweise fort, »es war von meiner Seite nur eine gentlemanlike, feinfühlige Opposition.«

Das Wort »Gentleman« wandte er besonders häufig und in verschiedenstem Zusammenhang an.

Krag fuhr unverdrossen fort:

»Vom rein ökonomischen Standpunkt aus wäre es wohl ein Vorteil für Sie, wenn diese Ehe nicht zustande käme. Das Erbe …«

Aber da erhob sich Bengt im Ernst und entfernte sich mit einer Miene, die zu sagen schien: Gott, was für ein brutaler Kerl!

In diesem Augenblick lachte der Arzt laut auf über eine von Aakerholms Geschichten. Der alte Herr war wieder einmal auf den Prärien angelangt und tummelte sich dort unter Indianern, Büffelherden und wilden Pferden.

»Ich lüge nicht«, beteuerte er eifrig, »ich zielte auf sein linkes Auge und traf ihn direkt in die Pupille. Und zwar auf eine Entfernung von zweihundert Fuß.«

Asbjörn Krag näherte sich der Gruppe und fragte freundlich:

»Verzeihung, geschah das mit einem Revolver?«

Aber da warf der alte Herr sich laut lachend in seinen Stuhl zurück.

»Nein, hören Sie sich den an, hören Sie sich doch nur den Grünspecht an, mit einer Büchse natürlich, Sie Narr.«

Aakerholm hatte eine eigene, freie Ausdrucksweise, wenn er in Stimmung war, was aber Asbjörn Krag nicht im geringsten zu verletzen schien, denn er antwortete mit absichtlich schlecht verhehlter Geringschätzung: »Ach so!«

Der alte Herr wurde immer munterer.

»Hören Sie sich den Spatz an«, höhnte er, »wie er piepst! Haben Sie denn je in Ihrem Leben schon mal Pulver gerochen, mein bester Herr?«

»Schießen ist meine einzige Liebhaberei«, antwortete Krag, »und ich bin wirklich ein guter Revolverschütze.«

»Das möchte ich sehen.«

»Ich stehe gern zur Verfügung. Wenn die Herren einen Augenblick warten wollen …«, bat er und verließ das Zimmer.

Gleich darauf kam er zurück, den kleinen schwarzen Kasten in der Hand. Er öffnete ihn und nahm zwei Revolver heraus, zwei achtunggebietende kleine Dinger mit goldenen Beschlägen.

Die Stimmung des alten Herrn gegen ihn wurde milder, als er die Waffen sah. Er betrachtete sie genau und interessiert und hielt sie vorsichtig in der Hand. Es war, als fürchte er, daß sie entzweigehen könnten. Welche feine Arbeit das war!

»Lassen Sie uns mal einen Schuß sehen«, rief er aus und reichte Krag einen von den beiden Revolvern. Den anderen behielt er selbst.

Krag befestigte ein Stückchen Papier an das solide, dicke Eichenbrett des oberen Türrahmens der Verandatür.

Darauf ging er tief in das der Tür gegenüberliegende angrenzende Zimmer hinein, zielte einen Augenblick und schoß.

Die Kugel traf die Mitte des Papierblättchens. Es war ein prächtiger Schuß. Der alte Herr erhob sich und war nahe daran, Krag vor Bewunderung zu umarmen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, rief er aus, »verzeihen Sie mir. Das war ein vortrefflicher Schuß. Aber nun will ich's mal versuchen.«

Aakerholms Wangen hatten ihre frühere frische Farbe wiedergewonnen und seine Augen leuchteten. Er schnupperte an dem Pulverdampf, wie ein Tier, das Beute wittert.

Er nahm den gleichen Abstand wie zuvor Krag und schoß.

Auch seine Kugel traf die Mitte des Papierstückchens.

»Ich ziehe den Hut vor Ihnen«, sagte Krag und verbeugte sich.

Aakerholm erwiderte die Verbeugung, und die beiden Herren unterhielten sich nun eine Weile mit gegenseitigen Komplimenten.

»Eine Spielkarte her!« rief Aakerholm plötzlich. »Rasch eine Spielkarte her.«

Er bekam sie und befestigte sie an dem Türrahmen. Es war Pik drei. Er schoß und traf die Karte am Rande.

Darauf gab Krag drei Schüsse rasch hintereinander ab. Der Arzt nahm die Karte herunter und es erwies sich, daß Krag alle drei Augen herausgeschossen hatte.

Erschrocken und verblüfft betrachtete Bengt den Detektiv. Aakerholm aber warf die kleine Waffe verächtlich zu Boden.

»Moderner Kram!« rief er aus. »Fort damit. Nein, meine Herren, nun sollen Sie mich mal mit meiner eigenen, meiner alten Pistole schießen sehen.«

Ein eigentümlich wehmütiger Ton lag in seinen Worten. Es war, als spräche er von einem geliebten verstorbenen Kinde.

Der Arzt betrachtete Krag mit Aufmerksamkeit. Er begriff sofort, daß der Detektiv diese ganze Szene mit Vorbedacht herbeigeführt hatte. Was beabsichtigte er damit?

Asbjörn Krags Gesicht verriet eine starke Spannung, und der Arzt hatte das ganz bestimmte Gefühl, daß nun etwas geschehen werde.


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