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An Jakob Kneip

Flensburg, 10. 12. 14

L. J. Eins voraus: ich schrieb kürzlich an Deppe, daß ich über die Ursache der jetzigen Kriegslyrikmisere noch im unklaren wäre. Heute las ich im Blatte, daß die augenblickliche Lyrik zu schnell, zu momenthaft produziert würde, um wertvoll oder gut sein zu können. Dies scheint mir der Ursache nahe zu kommen.

Ich arbeite in diesen Tagen an der Übersetzung dreier Aufsätze aus dem Dänischen, die in der dänischen Hauptzeitung »Politiken« (ich lese sie in der hiesigen Lesehalle) standen. Georg Brandes: »Die verschiedenen Gesichtspunkte im Kriege«. »I. Der englische, II. Der französische, III. Der deutsche Gesichtspunkt.« Eine ziemlich schwierige Arbeit, die mir jedoch gut und schnell von der Hand geht. Da ich nicht glaube, daß diese Aufsätze (allenfalls der III.) von einer deutschen Zeitung (Hann. Kurier) ohne Streichungen oder Zusätze oder ihrer sehr kritischen Haltung wegen überhaupt nicht gedruckt werden, beabsichtige ich, sie in meinem Bekanntenkreis zu verbreiten. Denn diese Aufsätze müssen gelesen werden. Vielleicht hänge ich Entgegnungen, kritische Kommentare an, (und es ist nicht unmöglich, daß der »H. K.« dann den letzten Aufsatz nimmt). Am Sonntag gedenke ich meinen kleinen Kunstaufsatz in irgendeinem ruhigen, menschenleeren Lokal vor der Stadt fertig zu machen.

Wie Du siehst – Arbeit genug – nur Zeit und Ruhe nicht.

Über die Kriegslyrikepidemie schrieb ich an Dich und Deppe ja schon viel. Sonst las ich die Fioretti des Franziskus; ich hatte mehr erwartet; die »Naivität« ist für mein Gefühl mindestens zur Hälfte künstlich. (Ich brachte das Buch mit einigen anderen ausgelesenen ins Krankenhaus.) Eben lese ich im neuen Insel-Almanach. Die ersten Gedichte: Drei deutsche Lieder von R. A. Schröder – herzlich unbedeutend und banal; nur das letzte hat etwas Frische. Dann: Rainer Maria Rilke: Fünf Gesänge (die alle im August entstanden; wieder: die schnelle Produktion!) Der christliche und feine Rilke versagt natürlich: er macht in diesen Gedichten zuviel »Hölderlin«. (Bleichsucht-Poesie.)

Ich lobe mir dies eine Kriegsgedicht (auf welches mich Dehmel zuletzt noch wieder aufmerksam machte, wieder: denn wir hatten's ja in der Schule »auswendig« gelernt) – Freiligrath:

Sie haben Tod und Verderben gespien,
Wir haben es nicht gelitten,
Drei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien,
Wir haben sie niedergeritten.

Da ist doch noch Kanonenschlag drin.

Dann: zwei Gedichte von Albrecht Schaeffer, dem »klassischen« Schaeffer, meinem hannoverschen Konkurrenten in Versen, der in seiner »Meerfahrt« Homers Odyssee neuromantisch verwässerte, Himbeerlimonade draus machte. Das erste Gedicht jedoch »Der letzte Waffengang« ist besser wie ich dachte; aber doch nicht genug glühendes Stahlherz und zuviel Wortmusik.

Hätte ich nur mehr Zeit, dann würde ich mich noch mehr in die Bibel, die Du mir schicktest, vertiefen. Das ist ein ganz gewaltiges und unbarmherziges Buch – das Alte Testament. Ein ganz gewaltiger, mystisch umdunkelter unbarmherziger Gott, vor dem man erschreckt und bewundernd wie vor einem riesigen, von Wolken umnebelten Erzbild steht. Dieser Gott des unerbittlichen Gehorsams, der strengen Disziplin: man möchte ihn, wenn es nicht so verkleinernd wäre, den preußischen Gott nennen.

G.


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