Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Wie ein verwundetes Tier hatte sich Georg in die Wildnis des Waldes geflüchtet.

Seit jener Nacht, da er das verhängnisvolle Gespräch zwischen Porges und dem Vater belauscht hatte, lebte er in einem beständigen Fiebertraum. Er vermied jedes Beisammensein mit den Eltern und suchte die Einsamkeit; was er erlebt hatte, war so ungeheuerlich, daß es kaum zu fassen war mit den wirren, ewig um einen einzigen Punkt kreisenden Gedanken.

Es war eine Stelle mitten im Wald am Flußufer, da ragte eine Felswand hoch über die braunen Fluten, die zornig vorüberbrausten und den Fuß des Felsens mit ihrem Geröll bewarfen, als wollten sie zerstören, was sich trotzig ihrem Lauf entgegenstellte. Aber die Wand starrte finster empor wie ein unabwendbares Schicksal und ließ die Wellen da unten ihre ohnmächtige Wut austoben.

So zerschellten die verzweifelten Gedanken des Knaben an dem Erlebnis jener Nacht. 215

Droben wuchsen Tannen und Fichten; ihre Wurzeln streckten sich wie hilfeflehend über den jähen Abhang hin, denn der Westwind prallte an jener Stelle an und riß das Erdreich weg und der Regen wusch die Wurzeln blank, daß sie aussahen wie braune, in Verzweiflung gerungene Arme.

Und weithin sah man keine Felder, kein Haus, nicht einmal eine der Köhlerhütten, die flußabwärts da und dort im Tal verstreut lagen. Nur die grünen Wellen des Waldes stiegen auf und nieder, eine über der andern, und hinter ihnen starrten graue Wolken. Von dorther kamen die Gewitter.

Da saß Georg oft stundenlang und brütete vor sich hin.

Manchmal trat er auf die schwankenden Wurzeln der Bäume hinaus und sah in die Tiefe, die unter ihm gähnte. Da floß das Wasser zwischen den spitzen Steinen dahin. Die Gipfel rauschten wie ein fernes Meer; hier und da zerriß der Schrei einer Krähe die Stille.

Wenn er jetzt den Ast losließ – wenn er einen Schritt hinaus tat in die Luft – dann schlugen einen Augenblick später die Wellen 216 über ihm zusammen und der Wirbel zog ihn in die Tiefe. Und der Fluß führte den bewußtlosen Körper fort, aus dem Wald hinaus, zwischen Wiesen und Feldern dem großen Strom zu.

Und dann war Friede um ihn – Ruhe, ewige, heilige Ruhe.

Und er spielte mit dem Gedanken, bis er ihm vertraut und lieb war und keinen Schrecken, keine Angst mehr in ihm erregte.

Aber wenn er dann den Blick emporwandte und sah, wie die Äste leise im Winde auf- und niederschwankten, wie ein Vogel sich auf den höchsten Wipfel setzte zu kurzer Rast und im Sonnenschein fröhlich zwitschernd mit den Flügeln schlug, und die blaue Himmelsglocke sich über der Landschaft wölbte, so klar und still, Tag für Tag – da schwieg die Stimme in seinem Innern und der Wille zum Leben erwachte wieder.

Und endlich begann er ruhig nachzudenken über alles, was geschehen war und was nun werden sollte.

Des Vaters Beruf war ihm verleidet. Er haßte diese großen, geradlinigen Felder, er sah nicht vom Boden auf, wenn er über den Hof 217 ging, nur um nicht von neuem erinnert zu werden an die Beschäftigung, aus der der Vater so schnöden Gewinn gezogen hatte.

Eine ungeheure Müdigkeit erfaßte ihn. Verschwunden waren die Träume von fremden Ländern und ihren Schätzen, von denen der Onkel gesprochen hatte. Es war ihm, als sei er mit blutigen Nägeln an die Erde geschlagen, wie an ein Marterkreuz, von dem er sich nicht erheben konnte.

Und doch war bis vor wenigen Tagen noch ein Strahl in das Dunkel gefallen – seine scheue Liebe zu jenem Mädchen, das er mit all dem Großen und Herrlichen umgab, was er jemals vom Weib gehört und gelesen.

Er hatte an dieses Idol geglaubt, weil er an irgendetwas glauben mußte, seit die Träume der Kindheit vom Himmel und seinen Heiligen verblaßt waren.

Und schon fühlte er, wie jene stille, tiefe Liebe sein Herz zu beruhigen, seine zerfahrenen Gedanken auf ein Ziel zu lenken begann. Es war jemand in sein Leben getreten, für den es sich lohnte zu leiden und zu dulden; ein Ziel war da, nach dem man streben durfte – da 218 kam die Stunde, die ihm zeigte, wie vergeblich sein Hoffen war.

Mit grausamer Selbstpeinigung malte er sich die Szene im Förstergarten aus. Da stand der fremde Mann in seiner ruhigen Sicherheit, streckte die Arme nach dem Mädchen aus und ergriff Besitz von ihm; und er selbst, scheu und linkisch, drückte sich an den Gartenzaun und stotterte alberne Worte – eine komische, lächerliche Figur . . . .

Als er an jenem Nachmittag nach Hause kam, setzte er sich droben im Obstgarten unter den Kirschbaum, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte wie ein Kind.

Im Gras raschelte ein Frauenkleid. Frau Anna kam, hinter ihr Treff. Sie sah den Sohn unter dem Baum sitzen, sah, wie er schwer und stoßweise atmete. Er bemerkte sie nicht.

Sie stand einen Augenblick still und überlegte. Ein Gefühl des Mitleids regte sich in ihr. »Er kränkt sich wegen Daisy,« dachte sie. Sie hatte Georgs Zuneigung zu dem Mädchen wohl bemerkt und hielt sie für eine müßige Tändelei, wie damals das Spiel mit der Marmorstatue. Trotzdem war sie froh, als sie 219 von Daisys Verlobung hörte. Man konnte doch bei diesem sonderbaren Jungen nicht recht wissen, wie das weitergehen werde. Jetzt aber tat er ihr leid. Es war ihre Pflicht als Mutter, ihn zu trösten.

»Georg, was hast du?«

Er rührte sich nicht. Um keinen Preis hätte er jetzt der Mutter seinen Liebeskummer gestanden. Eine unsichtbare Wand erhob sich plötzlich zwischen ihm und ihr.

Sie setzte sich neben ihn ins Gras und versuchte seine Hand zu streicheln. Er zog sie weg.

»Ich weiß, warum du traurig bist,« sagte sie in einem nachsichtigen Ton, »du denkst noch immer an diese Marmorstatue, die der Vater zerschlagen ließ. Schau, Georg, es hat uns leid getan, aber glaub mir, es war zu deinem Besten.«

Noch immer saß er schweigend, das Gesicht in den Händen vergraben.

»Man darf seinen Kindern nicht jeden Wunsch erfüllen. Der Vater war sehr böse, daß du dich gar nicht mehr um die Wirtschaft gekümmert hast – und du weißt, er liebt es nicht, wenn du so vor dich hinträumst und an 220 alle möglichen Sachen denkst, die dich zerstreuen und zersplittern – und da hat er dem Ganzen ein Ende machen wollen.«

Sie beugte sich zu ihm und legte die Hand auf seinen Kopf: »Einmal zu Weihnachten – vierzehn Jahre warst du damals – da hast du dir so sehnsüchtig eine Armbrust gewünscht. Weißt du noch? Aber der Vater fürchtete, du würdest Unheil damit anrichten, und du bekamst sie nicht. Du hast so bitterlich geweint an dem Weihnachtsabend – aber sag selbst, dürfen die Eltern alles tun, was das Kind will? Wenn du ins Leben kommst, wirst du noch ganz andere Enttäuschungen –«

»Ja, ja, ja, ich weiß schon!« stieß er hervor, voll von einem schmerzlichen Zorn, der ihn plötzlich die Faust ballen ließ.

Es überkam ihn ein Gefühl von Widerwillen gegen diese Frau, die ihn behandelte wie ein Kind, an dem man seine Erziehungskünste probiert.

Und mit einem Male fiel ihm ein: sie war ja die Mitwisserin des Vaters! Sie mußte es sein! Also auch sie hatte ihn betrogen, ihm jahrelang nichts, gar nichts gesagt von dem schnöden Treiben! 221

Und er richtete sich auf, sah ihr starr ins Gesicht: »Mutter, sag mir die Wahrheit, wie hat sich der Vater sein Vermögen gemacht?«

Und als sie ihn verständnislos anblickte, packte er ihre Hand mit einem eisernen Griff und rief: »Ich weiß es! Leugne mir nichts ab!«

Da sprang sie empor und maß ihn mit einem kalten Blick: »In diesem Ton spricht kein Kind mit seiner Mutter. Wer hat dir solche gemeinen Verleumdungen in den Kopf gesetzt? Soll ich den Vater erst verteidigen gegen dich – den Sohn? Schämst du dich nicht, die Lügen von ein paar davongejagten Dienstleuten zu glauben?«

»Antworte mir!« schrie er verzweifelt und schlug mit der Faust auf den Boden.

»Du bist nicht bei Sinnen, Georg. Ich habe dir überhaupt nichts zu antworten – aber wenn du wieder bei ruhiger Überlegung bist, so wirst du mich um Verzeihung bitten.«

Sie wandte sich um und ging zum Schloß zu, mit hocherhobenem Kopf und harten Schritten.

So hatte Georg noch nie mit ihr gesprochen. Sie fühlte sich beleidigt und gekränkt durch den 222 Trotz dieses ungebärdigen Kindes. Wenn sie sich das gefallen ließ, verlor sie die Autorität.

Georg sah ihr nach. »Sie steht auf der Seite des Vaters!« murmelte er. »Nun ja – die Frau gehört zum Mann! Zum Mann!«

Und nun erst fühlte er sich ganz allein. Er drückte den Kopf gegen die kühle Erde und blieb regungslos liegen.

Und die Stille des späten Nachmittags breitete sich über ihn. Hier und da summte noch eine Biene zwischen den Blumen und hob sich zu schwerfälligem Flug nach ihrem Stock.

Treff schnüffelte an der Jacke seines jungen Herrn, leckte ihm die Hand und versuchte mit der Schnauze seinen Kopf zu heben. Als das nicht gelang, fing er an, leise zu winseln, warf sich ins Gras und sah mit besorgter Miene auf den hingestreckten Körper.

Die Sonne verschwand hinter den Hügeln. Georg erhob sich.

Sein Blick fiel auf den Hund. Der hatte stundenlang neben ihm gelegen . . . Und ein bitteres Gefühl kam über ihn. Alle hatten ihn verlassen – niemand hielt bei ihm aus als dieses vernunftlose Tier . . . 223

Der Mond am Himmel leuchtete stärker. Vom Wald her kam die Nacht mit leisen, zögernden Schritten.

Georg schickte den Hund nach Hause und wanderte wie im Traum die Straße hinauf gegen die Försterwohnung.

Die langen, schmalen Baumschatten fielen quer über den Weg. Zwei Fenster des Hauses waren erleuchtet. Hinter den Gardinen bewegte sich ein Schattenbild – das Profil eines Gesichts tauchte einen Augenblick lang auf.

Er blickte zwischen den Stäben des Zaunes in den Garten. Dort auf der Bank hatte sie gesessen und seinen Kopf gestreichelt – damals, in jener Nacht der Trübsal, die so süß begonnen hatte im Duft des Jasmins – und so bitter enden mußte.

Jetzt spielte jemand auf dem schlechten, zitterigen Klavier des Försters. Und eine Stimme sang dazu – eine andere fiel ein, ruhig, voll und männlich. Es war ein Duett von Mendelssohn.

»Ach, wie so bald verhallet der Reigen
Wandelt sich Frühling in Winterszeit –«

Wie sie ineinander klangen, die beiden 224 Stimmen – sie gaben sich Antwort, sie suchten und flohen sich, sie fanden sich endlich zusammen und umschlangen sich zärtlich wie zwei Menschenleiber –

Ein Windstoß fuhr in die Kronen des Baumes, unter welchem Georg stand – und ein paar gelbe Blätter fielen vor ihm nieder.

Er legte seinen Arm um den Stamm und drückte seine heiße Wange an die kühle, glatte Rinde. Das war so gut.

»Eines, nur eines will nimmer wanken,
Es ist das Sehnen, das nimmer vergeht –«

Der Sopran hielt den hohen Ton fest, lange, lange – und die klangvolle Männerstimme brachte wieder das Anfangsmotiv.

Auf den weiten Fluren lag das Mondlicht. Nebel schwebten auf und nieder um die Kuppen der Hügel, wie Schleiergewänder. In der Ferne bellte ein Hund.

Und wieder sanken gelbe Blätter herab, tanzten hin und her in der Luft und legten sich ruhig nieder auf den Boden.

Da fühlte er: es war Herbst geworden. 225



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