Anatole France
Das Hemd eines Glücklichen
Anatole France

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Sigismund Dux

Am nächsten Tage gingen Vierblatt und Waldteufel wieder auf die Suche nach dem verordneten Hemde. Sie schritten die Verfassungsstraße hinunter und begegneten der Gräfin von Cecil, die aus einem Notengeschäft trat, und geleiteten sie zu ihrem Wagen.

»Herr von Vierblatt«, sagte sie, »man hat Sie gestern in der Klinik des Professors Ochsenbein vermißt; desgleichen Sie, Herr von Waldteufel. Schade, daß Sie nicht da waren; es war sehr interessant, Professor Ochsenbein hatte die ganze elegante Welt eingeladen, eine Menge, aber eine erlesene, die seiner Fünfuhroperation beiwohnte, einer reizenden Eierstockausschneidung. Man sah Blumen, Toiletten, hörte Musik und aß Eis. Der Professor zeigte eine wunderbare Eleganz und Anmut. Er hat Aufnahmen für den Kinematographen machen lassen.«

Vierblatt war von dieser Beschreibung nicht zu sehr überrascht. Er wußte, daß Professor Ochsenbein in Luxus und Vergnügungen operierte; und er hätte ihn um sein Hemd gebeten, hätte er nicht wenige Tage zuvor den berühmten Arzt untröstlich gesehen, weil er die beiden größten Tagesberühmtheiten nicht operiert hatte: den deutschen Kaiser, der sich eine Balggeschwulst von Professor Hilmacher hatte entfernen lassen, und die Zwergin von den Folies-Bergère, die an hundert Nägel verschluckt hatte und nicht wollte, daß man ihr den Magen aufschnitt, sondern Rizinus nahm.

Waldteufel blieb vor dem Schaufenster des Musikladens stehen, betrachtete die Büste von Sigismund Dux und stieß einen lauten Ruf aus.

»Das ist unser Mann! Das ist der Glückliche!«

Die Büste, sehr ähnlich, zeigte regelmäßige, vornehme Züge, eines jener harmonischen, vollen Gesichter, die das Aussehen einer Erdkugel haben. Obwohl völlig kahl und schon alt, erschien der große Komponist hier ebenso reizend wie imposant. Sein Schädel rundete sich wie eine Kirchenkuppel, doch seine etwas große Nase sprang mit profaner, sinnlicher Derbheit darunter vor; sein Bart, mit der Schere geschnitten, ließ seine fleischigen Lippen, seinen bacchischen, verliebten Mund frei. Ja, das war wirklich das Ebenbild dieses Genies, das die frömmsten Oratorien und die leidenschaftlichste und sinnlichste Opernmusik komponierte.

»Wie kommt es nur«, fuhr Waldteufel fort, »daß wir nicht an Sigismund Dux gedacht haben, der seinen ungeheuren Ruhm in vollen Zügen genießt, der so geschickt alle Vorteile einheimst und gerade verrückt genug ist, um sich den Zwang und die Langweile einer hohen Stellung zu ersparen? Er ist das vergeistigtste und zugleich sinnlichste Genie, glücklich wie ein Gott, ruhig wie ein Tier, und vereinigt in seinen unzähligen Liebschaften das erlesenste Feingefühl mit dem brutalsten Zynismus.«

»Er hat ein reiches Temperament«, sagte Vierblatt. »Sein Hemd kann seiner Majestät nur nützlich sein. Gehen wir zu ihm und holen wir es!«

Sie wurden in eine weite Halle geführt, die von Klängen durchrauscht war wie ein Konzerthaus. Eine Orgel, um drei Stufen erhöht, bedeckte mit zahllosen Registern einen Teil der Wand. Sigismund Dux, auf dem Kopf einen Dogenhut und in ein brokatnes Priestergewand gekleidet, improvisierte auf ihr, und unter seinen Fingern entstanden Töne, welche die Seelen verwirrten und die Herzen hinschmelzen ließen. Ihm zu Füßen, auf den drei Stufen, die mit Purpur belegt waren, wand sich eine Schar von Frauen, majestätisch und liebreizend, lang, schmal und schlangenhaft, oder rund, voll und üppig, alle gleich schön vor Verlangen und Liebe, glühend und wehrlos; und die ganze übrige Halle erfüllte ein brausender Schwarm junger Amerikanerinnen, jüdischer Bankiers, Diplomaten, Tänzerinnen und Sängerinnen, katholischer, anglikanischer und buddhistischer Priester, schwarzer Fürsten, Klavierstimmer, Reporter, lyrischer Dichter, Impresarios, Photographen, Männer, die als Frauen, und Frauen, die als Männer gekleidet waren, sich drängend, verschmelzend und vereinend zu einer einzigen anbetenden Masse, während über ihnen junge und behende Verehrer gestikulierten, die auf die Säulen geklettert waren, auf den Kandelabern ritten oder an den Kronleuchtern hingen. Dieses ganze riesige Auditorium schwamm in Trunkenheit: es war eine sogenannte intime Matinee.

Die Orgel schwieg. Eine Wolke von Frauen umschwebte den Meister, der für Augenblicke halb aus ihr auftauchte wie ein leuchtender Stern, um sofort wieder darin zu verschwinden. Er war sanft, verschlagen, schlüpfrig und schlangenhaft. Liebenswürdig gegen jedermann, nicht eingebildeter als nötig, groß wie die Welt und zierlich wie die Liebe, zeigte er beim Lächeln zwischen seinem grauen Barte Kinderzähne und sagte allen Damen seichte, gefällige Dinge, die sie bezauberten und die sie nicht festhalten konnten, so winzig waren sie; nur ihr Reiz allein blieb übrig, vom Geheimnis verschönt. Er war ebenso leutselig und freundlich gegen die Männer; und als er Waldteufel erblickte, umarmte er ihn dreimal und sagte zu ihm, daß er ihn liebe. Der Sekretär des Königs verlor keine Zeit: er bat ihn um zwei Worte unter vier Augen im Auftrage des Königs, und nachdem er ihm kurz und bündig auseinandergesetzt hatte, mit welcher wichtigen Sendung er betraut war, sagte er zu ihm: »Meister, geben Sie mir Ihr He . . .«

Er stockte, da die Züge von Sigismund Dux sich plötzlich verfinsterten.

Eine Drehorgel auf der Straße hatte die Narzissenpolka zu leiern begonnen. Und bei den ersten Klängen war der große Mann erbleicht. Diese Narzissenpolka, der Schlager der Saison, stammte von einem armen Fiedler aus einer Tanzkneipe, namens Schmöker, einem obskuren, elenden Kerl. Und der Meister, den vierzig Jahre des Ruhms und der Liebe krönten, ertrug es nicht, daß sich ein wenig Lob zu Schmöker verirrte; er empfand das als eine unerträgliche Kränkung. Selbst Gott ist ja eifersüchtig und klagt über den Undank der Menschen. Und Sigismund Dux konnte die Narzissenpolka nicht hören, ohne krank zu werden. Er ließ Waldteufel, die Menge seiner Anbeter und die prächtige Herde seiner ohnmächtigen Frauen plötzlich im Stich und lief in sein Ankleidezimmer, um eine Waschschüssel voll Galle zu erbrechen.

»Er ist beklagenswert«, seufzte Waldteufel.

Und Vierblatt an den Rockschößen zupfend, verließ er die Schwelle des unglücklichen Musikers.

 


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