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1920

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An Amalie Freud

Wien IX, Berggasse 19, 26. Januar 1920

Liebe Mutter

Heute habe ich eine traurige Nachricht zu geben. Unsere teure, blühende Sophie ist gestern früh an einer rasch verlaufenden Grippe mit Lungenentzündung gestorben. Wir haben es mittags durch ein Gespräch mit Minna in Reichenhall erfahren. Oli und Ernst sind von Berlin aus zu Max gereist. Robert und Mathilde fahren am Neunundzwanzigsten dieses Monats, um wenn möglich dem armen vereinsamten Mann beizustehen. Martha ist zu elend, man könnte ihr die Reise nicht zutrauen, und Sophie hätte sie doch nicht mehr am Leben angetroffen.

Es ist das erste unserer Kinder, das wir so überleben müssen. Was Max tun, was mit den Kindern geschehen wird, wissen wir natürlich noch nicht.

Ich hoffe, Du wirst es ruhig hinnehmen, man muß sich ja auch das Unglück gefallen lassen. Trauer um die prächtige, lebenstüchtige Kleine, die so glücklich mit Mann und Kindern war, ist aber erlaubt.

Ich grüße Dich herzlich

Dein Sigm.

*

An Stefan Zweig

Wien IX, Berggasse 19, 19. Oktober 1920

Sehr verehrter Herr Doktor

Hier endlich zu erster Ruhe gekommen, besinne ich mich der Pflicht, Ihnen für das schöne Buch zu danken, das ich vorgefunden und noch im Gedränge der ersten zwei Wochen gelesen. Mit außerordentlichem Genuß gelesen, sonst brauchte ich Ihnen ja überhaupt nicht darüber zu schreiben. Die Vollkommenheit der Einfühlung im Verein mit der Meisterschaft des sprachlichen Ausdrucks hinterlassen einen Eindruck von seltener Befriedigung. Ganz besonders haben mich die Häufungen und Steigerungen interessiert, mit denen sich Ihr Satz an das intimste Wesen des Beschriebenen immer näher herantastet. Es ist wie die Symbolhäufung im Traum, die das Verhüllte immer deutlicher durchschimmern läßt.

Wenn ich Ihre Darstellung mit einem ganz besonders strengen Maßstab messen dürfte, würde ich sagen: die Bewältigung von Balzac und Dickens ist restlos gelungen. Aber das war nicht zu schwer, es sind einfache geradlinige Typen. Aber mit dem vertrackten Russen konnte es nicht so befriedigend abgehen. Da verspürt man Lücken und zurückgelassene Rätsel. Gestatten Sie mir einiges Material hierzu vorzubringen, wie es sich meiner Laienhaftigkeit zur Verfügung stellt. Auch mag der Psychopatholog, dem Dostojewski nun einmal verfallen bleibt, hier einigen Vorsprung haben.

Ich glaube, Sie hätten Dostojewski nicht bei seiner angeblichen Epilepsie lassen sollen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß er ein Epileptiker war. Die Epilepsie ist eine organische Hirnaffektion außerhalb der seelischen Konstitution und in der Regel mit Herabsetzung und Vereinfachung der seelischen Leistung verbunden. Es ist nur ein einziges Beispiel vom Vorkommen dieser Krankheit bei einem geistig hochstehenden Menschen bekannt, und dies betrifft einen Riesen des Intellekts, über dessen Gefühlsleben wenig bekannt ist (Helmholtz). Alle anderen Großen, denen man die Epilepsie nachgesagt hat, waren reine Hysteriker. (Der Phantast Lombroso verstand noch nicht die Differentialdiagnose zu machen.) Diese Unterscheidung ist aber keine medizinische Pedanterie, sondern etwas ganz Wesentliches. Die Hysterie stammt aus der seelischen Konstitution selbst, ist ein Ausdruck derselben organischen Urkraft, die sich in der genialen Künstlerschaft entfaltet. Sie ist aber auch ein Anzeichen eines besonders starken und ungelösten Konflikts, der zwischen diesen Uranlagen wütet und das Seelenleben später in zwei Lager zerreißt. Ich denke, der ganze D. hätte über seiner Hysterie aufgebaut werden können.

So überwältigend groß auch der Faktor der konstitutionellen Veranlagung bei einer Hysterie wie die Dostojewskis sein mag, so ist es doch interessant, daß der andere Faktor, auf den unsere Theorie Wert legt, auch in diesem Falle nachweisbar ist. Irgendwo in einer Biographie Dostojewskis wurde mir eine Stelle gezeigt, welche das spätere Leiden des Mannes mit einer unter sehr ernsthaften Umständen erfolgten Bestrafung des Knaben durch den Vater – mir schwebt das Wort: tragisch vor, ob mit Recht? – in Verbindung bringt. Aus ›Diskretion‹ ist natürlich nicht gesagt, um was es sich handelte. Sie werden es leichter haben, diese Stelle wiederzufinden, als ich. Diese Kindheitsszene – dem Autor der ›Ersten Erlebnisse‹ muß ich es nicht erst wahrscheinlich machen – war es, die der späteren Szene vor der Hinrichtung die traumatische Kraft verlieh, sich als Anfall zu wiederholen, und das ganze Leben Dostojewskis wird von der zweifachen Einstellung zur Vater-Czar Autorität, der wollüstig masochistischen Unterwerfung und der empörerischen Auflehnung dagegen beherrscht. Der Masochismus schließt das Schuldgefühl, das zur ›Erlösung‹ drängt, in sich ein.

Was Sie mit Vermeidung des Kunstwortes ›Dualismus‹ nennen, heißt bei uns ›Ambivalenz‹. Diese Gefühlsambivalenz ist auch ein Erbstück aus dem Seelenleben der Primitiven, im russischen Volk aber weit besser erhalten und eher bewußtseinsfähig geblieben als anderwärts, wie ich es erst vor wenigen Jahren in der ausführlichen Krankengeschichte eines echt russischen Patienten darstellen konnte. Diese starke Ambivalenzanlage mag im Verein mit dem Kindheitstrauma die ungewöhnliche Heftigkeit der hysterischen Erkrankung mitbestimmt haben. Sehr deutlich ambivalent sind auch die nicht neurotischen Russen, ebenso wie die Gestalten Dostojewskis in fast allen Romanen.

Fast alle Eigentümlichkeiten seiner Dichtung, von denen Ihnen kaum eine entgangen ist, sind auf seine für uns abnorme, für den Russen gewöhnlichere Seelenanlage, eigentlich richtiger: Sexualkonstitution zurückzuführen, was im einzelnen sehr schön zu zeigen wäre. Alles Quälende und Befremdende in erster Linie. Er ist ohne Psychoanalyse nicht zu verstehen, das heißt, er bedarf ihrer nicht, da er sie mit jeder Gestalt und jedem Satz selbst erläutert. Daß ›Die Brüder Karamasow‹ eben das persönlichste Problem Dostojewskis, den Vatermord, behandeln und den analytischen Satz von der Gleichwertigkeit der Tat und des üblen Vorsatzes zugrunde legen, wäre nur ein Beispiel. Auch die Sonderbarkeit seiner Geschlechtsliebe, die entweder triebhafte Brunst ist oder sublimiertes Mitleid, die Unsicherheit seiner Helden, ob sie lieben oder hassen, wenn sie lieben, wann sie lieben und so weiter zeigt, auf welch besonderem Boden seine Psychologie erwachsen ist.

Von Ihnen brauche ich das Mißverständnis nicht zu besorgen, daß diese Hervorhebung des sogenannten Pathologischen die Großartigkeit der poetischen Schöpfungskraft Dostojewskis verkleinern oder aufklären wollte. Ich schließe diesen ohnehin zu langen Brief, auf den Wink des geduldigen Stoffes hin, nicht wegen Erschöpfung des Materials, mit nochmaligem Dank und einer herzlichen Begrüßung

Ihr Freud


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