Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Etliches von Familienchroniken

Was der Verfasser sonst in den drei Büchlein erscheinen ließ: »Aus dem untersten Stockwerk,« »Aus der Familienchronik eines geistlichen Herrn« und »Aus vergangenen Tagen,« will jetzt den geneigten Leser in einem Büchlein grüßen. Gehören die drei doch zusammen. Es sind wohl zehn Jahre her, daß das erste Büchlein seinen Lauf begann »Aus der Familienchronik eines geistlichen Herrn.« Es war nicht ein Gedanke von gestern und heute, solch ein Büchlein hinaus in die Welt fliegen zu lassen. Als ich noch ein Büblein war und wie alle Büblein mit dem Ranzen auf dem Rücken in die Schule ging, in welchem viel gelehrtes und ungelehrtes Zeug sich aufhielt, hörte ich an einem Schulfest eine Rede vom alten Herrn Rektor. Die Rede war aber kurz und gut und gefiel mir über die Maßen. Der liebe alte Herr, Gott hab ihn selig, sprach nämlich von einem Trieb, den die Knaben hätten, einem absonderlichen vor allen andern, und der hieß: der Sammeltrieb. Und das ist wahr. Der eine klettert wie eine Katze auf die Bäume und holt sich die Vogeleier in seine Sammlung und kauft sich noch ein Straußen- oder Kolibriei dazu, weil sie heuer im deutschen Wald nicht mehr geraten; der andre springt den Schmetterlingen nach, bis er sie alle in den Kasten gesperrt hat und läßt sich keine Mühe dabei verdrießen. Denn es geht ihm dabei oft fatal und um kein Haar besser als den Fischern; wie die an der Angel statt eines Fischleins nach langem Harren ein Stück Holz oder ein Pfund Schlamm herausziehen, so fangen oft die Schmetterlingsförster gelben Ginster und roten Fingerhut im Netz, aber der Herr Schmetterling wirbelt in der Luft und lacht den Ginsterfänger aus. Und wieder ein anderer sammelt Steine und klopft an alle Berge und sogar auch an den Consol mit der Marmorplatte in der Staatsstube, um seine Sammlung zu vervollständigen, und legt zugleich die Ohrfeige, die er dafür bekommt, zu der bereits angelegten Sammlung dieser zarten Südfrüchte; und wieder ein andrer legt sich auf Raritäten und Altertümer, und gäbe das Butterbrot vom Munde weg, wenn ihm einer die Zähne des Kalifen von Bagdad verschaffte, die Hüon, der tapfere Ritter, ihm seiner Zeit aus dem Munde schlug. Da meinte denn der alte würdige Herr, es lohne sich der Mühe, etwas Besseres und Bleibenderes zu sammeln als Vogeleier und Schmetterlinge, hinter die das Ungeziefer kommt, – das sei die Geschichte von Vater und Mutter, Großvater und Großmutter väterlicher- und mütterlicherseits, so weit's hinaufgeht in der Kunde und das Gedächtnis samt dem Papier reicht.

Und darin hatte er wieder recht. Denn da wächst das Männlein unversehens hinein in die Geschichte seiner Familie nicht bloß, sondern auch seines Volkes, wie die Dorfkonfirmanden in den großen Konfirmationsrock, der unten noch zwei Handbreit eingeschlagen ist. Da sieht man durch die Familiengeschichte in die große Volks- und Weltgeschichte wie durch ein kleines Guckfensterlein hinein, und es wird einem die Geschichte beigebracht man weiß nicht wie, aber ohne Arrest und Thränen jedenfalls. Und sie wird lebendig, wenn man hört, wie der Urgroßvater unterm alten Fritz gedient und an seiner Tafel gesessen, und wie der Großvater mütterlicherseits die Bastille hat stürmen und die Guillotine hat aufschlagen sehen; wie der Großvater väterlicherseits von den Franzosen übel traktiert worden ist, und wie die Großmutter von der Frau Seite anno 13 die Kinder versteckte von wegen der Kalmücken und Don'schen Kosaken.

Seit jener Rede habe ich eine Sammlung angelegt von Geschichten aus der Familie, und paßte wie ein Hechelmacher auf, wenn der Vater oder die Großmutter von der Frau Seite erzählte von dem Vorfahr und den guten und bösen Zeiten. Denn es gilt noch immerhin, was in den Sprüchen steht: »Bei den Großvätern ist die Weisheit und der Verstand bei den Alten.« Nun giebt's freilich Familiengeschichten, die man nicht in die Druckerei geben kann, und unter Schloß und Riegel gehören; denn nicht alles was man weiß, kann und soll man an die große Glocke hängen; das will ich auch nicht, sondern nur zeigen, wie Gott mit unsern Vätern gewandelt und sie mit ihm, und wie ihnen und uns nichts fehlen wird an Heil und an allem Guten, wenn wir seine Wege wandeln.

Als ich nun das Büchlein hatte hinausfliegen lassen, dachte ich in meiner angeborenen Bescheidenheit nicht im mindesten daran, daß mir aus verschiedenen Gauen Brieflein zukommen würden mit viel freundlichen Dankworten. Der eine frug: »Ob denn das alles wahr wäre, was da drin stünde« – als ob man etwas drucken lassen könnte, was nicht wahr wäre und dazu noch ein »geistlicher Herr« solches thun würde, das wäre doch etwas stark; abgesehen davon, daß der Herr Steinkopf sein Papier nicht zum Lügen hat. Der andere bat um gefällige Auskunft, wie man denn zu einer solchen Familienchronik kommen könnte. Er habe auch nicht umsonst in der Welt gelebt und wisse auch ein Stücklein daraus zu erzählen, allein er könne die Sache nicht klein kriegen. Darauf habe ich ihm gesagt: er solle nur einmal anfangen zu schreiben und was er geschrieben, den Seinen des Abends nach dem Nachtessen vorlesen und einmal zuschauen, was das für einen Eindruck mache. Er werde bald sehen, wo die Geschichte zu breit oder zu lang sei und solle dann die Schere nicht sparen. Schreiben lerne man durch Schreiben, wie man Schwimmen nur durch Schwimmen lerne. Er könne das Geschreibsel ja, nach des quintus Flaccus Horatius gutem Rat, noch neun Jahre liegen lassen, ehe er's zum Druck befördere; in neun Jahren ließe sich bei redlichem Fleiße immer noch etwas an Gescheitheit zulegen. Der dritte wollte wissen, wie ich denn meine Familienchronik eingerichtet hätte, was denn da alles drin sei. Dem habe ich erzählt, daß ich zunächst einmal einen Stammbaum verfertigt hatte, väterlicherseits, mütterlicherseits und von der Frau Seite. Da müsse eben jeder sehen, wie er sich helfen könne, wie man den Leuten allen auf die Spur komme. Das koste heuer, seit dem deutschen Reich, nicht mehr viel; mit ein paar Groschenmarken und einem Brief an das »Wohlehrwürdige Pfarramt da und da,« mit der Bitte um einen gefälligen Auszug aus dem Familienregister, und drunter: »unter Postnachnahme zu senden« und wenn man besonders wohlgezogen ist, noch dazu mit einem: »Sich damit« oder »Zu Gegendiensten stets bereit« – komme man weit. Sei das in Ordnung und der Stammbaum so weit hergestellt, daß mit einiger Sicherheit auf Adam und Eva als Urahnen zu schließen sei, dann könne man sich beruhigen. Sodann hätte ich eine Hauschronik vom Anfang der Ehe angelegt, dabei die Hochzeitspredigt und Gedichte nebst der Hochzeitsreise und was sich zugetragen bis zur Geburt des ersten Kindleins. Letzteres bekomme dann seine besondere Chronik, mit Taufschein, Taufrede, Patenbriefen nebst allem was sich auf seine Geburt, Leben, Thaten und Meinungen bezieht. Der erste Zahn wird notiert, die andern nicht mehr. So werde jedem Kindlein die Chronik zusammengeheftet; die Hauptsache sei dabei ein guter Aktenstecher und – daß das Männlein oder Fräulein (oder gar wie dem Verfasser am 13. Novembris des Jahres 1862 in der Morgenstunde passierte das Männlein und Fräulein) – etwas erlebt. Die Hauschronik gehe aber trotz alledem weiter, nebenher aber die Familienchronik. Alles was sich von Wissenswürdigem aus alter und neuer Zeit im Jahr sammelt, kommt zusammen in eine blaue Schachtel, die an Sylvester umgestürzt wird, und woraus sich dann die Nachträge und weitere Geschichten spinnen. Am Familientage, an welchem aus Ost und West die Kinder und Geschwisterkinder väterlicher- und mütterlicherseits zusammenkommen, wird der Stammbaum ergänzt, ein alter Fund mitgeteilt und in seiner Echtheit nachgewiesen oder als Familiensage in einen rosenroten Kasten gelegt. Daneben halte ich auch ein besonder Fach mit Schwarz überzogen, drin seien die Erinnerungen an die Heimgegangenen, Leichenreden und Andenken, getrocknete Blätter und letzte Briefe. Bei diesem Fach kämen dem Verfasser freilich manchmal die Thränen in die Augen, nebst einem Ergrimmen im Geist. Aber das »Memento mori« auf dem Deckel thue allezeit Dienste. Bei diesen Aufzeichnungen solle aber der Herr Briefsteller nicht zu scrupulös sein und meinen, es müßten immer große gewaltige Geschichten sein, die er verzeichnen müsse. Auch die kleinen Sachen sind interessant für den, der sich dafür interessiert; und nicht die großen, sondern die kleinen Züge machen oft das Porträt erst ähnlich; selbst Sommersprossen und Leberflecken, wie auch der schüchterne Schnurrbart, der sich zu ihrem Leidwesen bei der Tante allmählich eingestellt, dürften nicht fehlen.

So mache es der Verfasser; wenn der Herr Briefsteller es aber anders machen wolle, so sei dagegen nichts einzuwenden.

So ließ ich das zweite Bändchen »Aus vergangenen Tagen« erscheinen. Und auch das brachte mir manch lieben Gruß zurück, und die Bitte, ob ich nicht im Zusammenhang etwas aus meinen Leben schreiben wollte. Da bin ich freilich schwer dran gegangen. Denn wer bin ich, daß ich von mir erzählen sollte? Aber ich dachte: du erzählst ja nicht von dir, sondern vom lieben Vaterhause, von deinen lieben, seligen Eltern und erinnerst etliche Leute an die Zeit ihrer eignen Jugend. So schrieb ich das letzte Büchlein »Aus dem untersten Stockwerk.« Das haben mir zwar etliche Leute sehr übel vermerkt und gemeint, ein königlicher Hofprediger habe doch heutzutage etwas anderes zu thun, als »Aus dem untersten Stockwerk« zu schreiben. Aber es reut mich nicht. Mögen andere, die das Zeug dazu haben, über Kirchenpolitik schreiben und die Tagesfragen beleuchten, jeder arbeite an seinem Stücklein Erde im Weinberg und es kommt doch dem Ganzen zu gut. Wenn ich schreibe, so schreibe ich mir zur Erholung in den wenig stillen, freien Stunden, die mein Amt mir läßt. Was ich in Jahren gedacht und in mir innerlich reif geworden, das fällt dann in einer stillen Mitternachtstunde fröhlich ab. Wem's nicht gefällt, der braucht's ja nicht zu kaufen. Was aber mir in der brausenden Welt, in der sauren Tagesarbeit, im wechselnden Heute mit seinen kommenden und gehenden Bildern Erholung ist: das stille, traute Heim, das Wandeln mitten unter den Kinderaugen und Kinderherzen, das Zurückgehen auf die Tage der Vergangenheit in der unvergeßlichen Heimat; das Kramen unter alten, vergilbten Papieren, das treue Hangen an denen, die mir noch geblieben sind nach so vielem Scheiden – das, dachte ich, wird vielleicht auch anderen eine solche Erholung und Erquickung sein.

Es geht heutzutage so vieles aus dem Leime, aber wenn das Beste aus dem Leime ginge: der Sinn fürs Haus und die Familie, diesem Schaden würde auch das gelehrteste Buch nicht aufhelfen. Ich möchte im kleinsten Punkte an unserem Volksleben mitbauen durch dies Buch und tröste mich dabei des großen und schönen Wortes eines großen Mannes:

»Aus der Kinderstube wird die Welt regiert.«


 << zurück weiter >>