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4. Kapitel

Ich trat in das Tafelzimmer des Direktors, wahrlich! in diesem Augenblick weniger als je einem frohen Mahle beizuwohnen geneigt; allein ich bezwang mich und suchte meine Laune so viel wie möglich der meiner Tischgenossen anzupassen, zu denen der Direktor, die beiden Ärzte und einige andere Beamte gehörten. Der Prediger war durch ein plötzliches Unwohlsein verhindert, an der Festlichkeit teilzunehmen.

Es war übrigens das heutige Mahl das gewöhnliche monatliche, sogenannte Amtsessen, weshalb auch keine Damen zugegen waren. Wider englische Gewohnheit wurde gleich von vornherein tüchtig getrunken, und da ich durchaus kein starker Trinker bin, so hatte ich unter diesen geprüften Bachussöhnen einen ziemlich harten Stand, zumal da man mit Madeira begann und mit Portwein fortfuhr.

Schon ehe ich in das Zimmer getreten war, hatte ich mir vorgenommen, des Irren von St. James bei dem Zusammensein Mehrerer nie Erwähnung zu tun; ich wollte lieber jedem Einzelnen meine Meinung mitteilen und mir die seinige ausbitten, denn aus Erfahrung wußte ich, daß man mit diesem Verfahren bei weitem leichter zu einem erwünschten Ziel gelangt.

Allein man überhob mich bald dieser Vorsicht, denn der Oberarzt, der mir gegenüber saß, sagte treuherzig und offen, wie es seine Art war, zu mir:

»Sie haben sich heute viel mit Mr. Sidney zu schaffen gemacht, wie ich gesehen habe. Das ist recht. Der arme Teufel hat, trotz seiner vielen Bücher und seiner Musik, gewiß oft die tödlichste Langeweile, und ich kann mir denken, wie er sich freuen mag, wenn er seinem Herzen einmal gegen einen Fremden Luft machen darf, der im Wortgefecht noch keine Lanze mit ihm gebrochen hat. Wie finden Sie unseren Irren von St. James? Sprudelt er für einen Verrückten nicht genug Vernünftiges hervor?«

»Ich muß gestehen, Mr. Lorenzen«, erwiderte ich ebenso offen, »daß dieser Mr. Sidney meine ganze Teilnahme geweckt hat, da ich ihn so klug, so besonnen, geistesklar und geistesruhig wie noch nie einen Wahnsinnigen gefunden habe.«

»Aha!« entgegnete Mr. Lorenzen, »das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Aber lassen Sie sich durch diese feine Larve um Gotteswillen nicht verblenden; unter diesen Rosen schlummert ein Vulkan, und man muß den Ausbruch desselben gesehen haben, um nicht eine ganz falsche Ansicht von ihm zu gewinnen. Lassen Sie es sich gesagt sein, er ist ein gefährlicher Mensch, wenn er einmal losbricht; wenn Sie mit ihm während eines seiner Anfälle zufällig allein wären, dürfte Ihre vergnügliche Unterhaltung sich leicht in eine unerwartet unvergnügliche verwandeln. Übrigens hat er seinen Anfall schon lange nicht gehabt, und ich besorge eben deshalb bald etwas dergleichen.«

»Ich auch«, sagte der Direktor, »denn er scheint mir seit einiger Zeit schweigsamer, zurückhaltender und nachdenklicher denn je; er macht weit weniger Bewegung als früher und reitet sogar seinen Bravour seltener; Abends dagegen läßt er die traurigsten Melodien auf seiner Orgel ertönen.«

»Spielt er die Orgel?« fragte ich.

»O, ausgezeichnet, er spielt nicht allein oft in unserer Kirche, sondern auch in seinem Zimmer auf seiner Privatorgel, überhaupt hat er viel Gefühl, ein großes musikalisches Talent und einen ausgezeichneten Vortrag.«

Also Gefühl, Talent und Vortrag! dachte ich, und damit bist du abgefunden, mein armer Freund; es ist doch etwas Sonderbares mit den oberflächlichen Meinungen der Welt!

»Gefühl genug für einen Verrückten«, nahm der Unterarzt das Wort, »fast zu viel, und eben das sollte man ihm austreiben und dafür mehr Logik beibringen. Haha!«

»Ich würde mich nicht verwundern, wenn er nächstens wieder in seinen alten Zustand zurückfiele«, sagte Mr. Lorenzen, »denn er hat mehr Freiheit und eigenen Willen, zu tun und zu lassen, als je; man sollte einem solchen Menschen nie zu viel Spielraum gestatten und ihn dadurch die Überzeugung gewinnen lassen, er sei mehr unser Herr, als wir die seinigen.«

Und als der gute Oberarzt dies in der besten Meinung von der Welt sagte, blinzelte er dabei ziemlich bemerklich nach dem Direktor hinüber. Dieser verstand auch den Wink und erwiderte sogleich:

»Das zielt auf mich, ich habe Ihren Wink wohl verstanden, Herr Doktor; allein zu Ihrer und meiner Rechtfertigung muß ich Sie erinnern, wie Sie damit einverstanden waren, diesem Manne alle möglichen Annehmlichkeiten des Lebens zu gestatten, dem es nicht an der Wiege gesungen ward, daß er die schönsten Jahre seines jugendlichen Lebens in einem Irrenhaus zubringen würde; und außerdem, Mr. Lorenzen, ich für mein Teil habe diesen Kranken nur unter dieser Bedingung aufgenommen, wie Sie wissen, und kann ihn nur unserer Anstalt bewahren, wenn ich meine Instruktionen über ihn pünktlich und genau erfülle.«

»Ich stimme Ihnen, was Ihre Instruktionen betrifft, bei, Mr. Elliotson; aber wer kann über einen Kranken, wie er einer ist, anders richtige und passende Instruktionen erteilen, als seine Ärzte?«

»Ja, ja, Sir! Ich beschränke Ihren Wirkungskreis nicht, ich aber für mein Teil muß auch mein Recht als Vorsteher der Anstalt geltend machen: die Mitteilungen, die mir über diesen Mr. Sidney gemacht wurden, für mich zu behalten, und die Verbindlichkeiten, zu denen ich mich verpflichtete, in Ausübung zu bringen.«

Der Arzt wollte abermals etwas erwidern, allein Mr. Elliotson winkte ihm mit der Hand und sagte:

»Lassen wir das, mein lieber Freund und Amtsbruder, das gehört ja in unsere Konferenz, ein andermal mehr davon. Jetzt habe ich vielmehr einen Vorschlag zu machen, der sich besser bei einem Glase Wein besprechen läßt. Ich erlaube mir nämlich, Sie wiederum an die längst besprochene und immer noch aufgeschobene Komödie zu erinnern; der Leutnant mahnt mich alle Tage daran, und ich sehe nicht ein, warum wir unseren Pflegebefohlenen dieses Vergnügen noch länger versagen sollten; sie müssen wissen, Sir«, sagte er, zu mir sich wendend, »daß die Zeit, von unseren Kranken ein Schauspiel aufführen zu lassen, heranrückt und daß wir bis jetzt ebenso großen Nutzen davon gesehen wie auch angenehme Unterhaltung gehabt haben. Was meinen Sie dazu?«

»Die Sache ist mir neu, Sir«, erwiderte ich, »allein ich kann mir wohl denken, daß sie ihre Vorteile hat. Die Kranken werden dadurch von ihrer eigenen Gemütswelt abgezogen, indem sie künstlich in eine andere versetzt werden; außerdem werden sie gezwungen zu denken: sie üben ihr Gedächtnis und haben eine angenehme Zerstreuung. Es käme nur auf die schickliche Wahl des Gegenstandes an, wie mich dünkt.«

»Das ist es!« sagte der Direktor, »und darüber, Mr. Lorenzen, sollen Sie Ihre Meinung sagen.«

»Ich habe schon darüber nachgedacht«, entgegnete dieser, »nur bin ich diesmal entschlossen, die Komik aus dem Spiele zu lassen, denn wir haben sie das letzte Mal zum Überdruß komisch gehabt. Die Komik des geistig Gesunden ist ein Übersprudeln eben dieser seiner geistigen Gesundheit; die Komik des Irren aber ist eine Verzerrung des Geistigen, und die handhabt er schon an sich in hinreichendem Grade; überdies erweckt sie eher Traurigkeit als Frohsinn, und das ist doch nicht unser Zweck. Das Schauspiel soll uns vielmehr ein Heilmittel sein, und dazu brauchen wir ergreifende Affekte, aber keine schlecht und roh ausgeführten Spaße. Die Sache ist zu ernst, um damit zu spielen, und daher schlage ich eine großartige, erschütternde und alle Seelenkräfte aufregende Tragödie vor. Wenn es Ihnen genehm ist, werde ich bis morgen meine Wahl treffen und Ihnen in der Konferenz nach dem Konzert meine Meinung darüber sagen. Sind Sie mit mir einverstanden, Herr Kollege?«

»Natürlich!« erwiderte ich, denn er hatte die letzten Worte an mich gerichtet, und mir schien seine Meinung die richtige zu sein.

»Gut!« sagte der Direktor, »und somit ist diese Angelegenheit beendet, das Übrige morgen nach dem Konzert. Sie werden doch bei der Musik nicht fehlen, Sir?«

»Ganz gewiß nicht!« entgegnete ich und verbeugte mich.

»Sie werden etwas hören, was Ihnen neu und seltsam vorkommen wird, denn es ist ein Konzert der Irren, das heißt, für dieselben veranstaltet und von denselben ausgeführt. Und nun, da wir mit Geschäften fertig sind, meine Freunde – zur Flasche – heda, William! Andere Gläser und jenen Burgunder dort in der Ecke. Bravo! Das ist er, Gentlemen.«

Und er entkorkte die erste Flasche mit einer Art Wohlgefallen, welches ansteckend war, denn die ganze Gesellschaft blinzelte vor Vergnügen; sie kannte schon den edlen Saft, den der Direktor zum Besten gab, und es entstand bald eine allgemeine Munterkeit, die den vorherigen kleinen Wortwechsel schnell vergessen ließ. Man trank in der Tat nach Noten, wie man zu sagen pflegt; ich war der Einzige, dem es unmöglich war, gleichen Schritt zu halten.

Ich hatte mich nach dem Mahle in mein Zimmer begeben, es war ungefähr sechs Uhr. Ich hatte so Manches gehört, was mich zum Nachdenken stimmte und meine heftig angeregte Forschbegierde zu neuen Bestrebungen ermutigte, und war eben damit beschäftigt, meine Papiere darüber in Ordnung zu bringen, als es leise an meine Tür klopfte.

Auf meinen Ruf trat, vorsichtig sich umschauend, der ältere Sohn des Krämers Phillipps ein. Als er mich allein sah, zog er behutsam und schnell einen Brief aus seiner Tasche, drückte ihn mit einer eigentümlichen Hast in meine Hand und sagte:

»Guten Abend, Sir! Mein Vater schickt mich mit diesem Brief, aber heben Sie ihn wohl auf und lassen Sie ihn Niemanden sehen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten war der behende Knabe ebenso schnell und leise entwichen, wie er gekommen.

Der Brief aber, den ich so plötzlich in den Händen hielt, war mit Bleistift geschrieben und enthielt folgende in deutscher Sprache abgefaßte Zeilen:

»Mein Herr!

Ich kann Sie, ohne einiges Aufsehen zu erregen, das ich vermeiden muß, nicht mehr aufsuchen, daher grüße ich Sie schriftlich, indem ich mich soeben, nach Vollendung meiner Geschäfte, von St. James entferne. – Sollte der Himmel Sie auserwählt haben, ein gutes Werk zu tun – o! so beschwöre ich Sie! weihen Sie Ihr Mitgefühl und alle Ihre Kräfte dem Unglück, Ihren Trost und Beistand dem Elend, und aller Segen des Allmächtigen wird einst über Sie kommen! – Ihnen jetzt schon mehr zu offenbaren ist mir untersagt, doch vielleicht erfahren Sie bald, was ich Ihnen vorenthalte.

Noch einmal, leben Sie wohl und verzeihen Sie einem armen Krämer, daß er sich anmaßt, mit Ihnen ein Geheimnis teilen zu wollen, welches Sie selbst noch nicht einmal kennen.

Emanuel Phillipps

 

Schweigend faltete ich das Blatt und steckte es zu mir. Also ich hatte richtig vermutet, ich war inmitten eines Geheimnisses, dessen Vorhandensein ich mir selbst kaum hatte gestehen wollen, das mir aber eine ahnungsvolle innere Wahrnehmung wie ein fernes, noch halb unsichtbares Nebelbild gewissermaßen aufgedrängt hatte.

Und was war dies für ein Geheimnis und wen betraf es? Ohne Zweifel den Irren von St. James; denn daß dieser in irgendeiner Verbindung mit meinem Reisegefährten stand, war mir schon am Morgen dieses Tages klar geworden. Aber welches Band umschlang diese beiden, auf so entgegengesetzter Stufe des gesellschaftlichen Lebens stehenden Menschen? – Ich gab mir keine Mühe, es jetzt schon entziffern zu wollen, denn ich sollte es ja, wie mir verheißen war, erfahren.

In Betrachtungen ganz eigener Art vertieft, begab ich mich in den Park, wo ich die Kranken bei ihren gewöhnlichen Beschäftigungen fand, und sah ihren Spielen zu.

Ich beabsichtigte mein Versprechen zu erfüllen und Mr. Sidney auf seinem Zimmer zu besuchen; ich fühlte dabei einen leidenschaftlichen Trieb meine Brust durchwühlen und konnte kaum meinen Schritt mäßigen, um ohne Aufsehen zu erregen, zu ihm zu gelangen. Langsam stieg ich deshalb, auf meinem Wege absichtlich jede Kleinigkeit in der Baulichkeit und Einrichtung beachtend, die breiten steinernen Treppen im Hauptgebäude hinauf, zeigte den in jedem Stockwerke und auf jeder Wendung der Treppe befindlichen Türstehern meine mir vom Direktor eingehändigte und jede Tür öffnende Einlaßkarte und fand, ohne zu fragen, die mir bezeichnete Tür im zweiten Stockwerk, öffnete sie, nachdem auf mein Klopfen keine Stimme geantwortet hatte, und trat in ein Zimmer, welches die Aussicht über den Park hin hatte und gegenwärtig ohne Bewohner war.

Aber wie war ich überrascht, statt eines gewöhnlichen Krankenzimmers ein mit allen Behaglichkeiten ausgestattetes Wohngemach zu finden. Bunte, hellgestreifte Vorhänge von schwerem Stoff, silbergraue Tapeten, ein vielfarbiger wollener Teppich auf dem Boden, ein dunkelrot überzogener Divan, dem breiten Spiegel in Goldrahmen gegenüber, dementsprechend einladende Sessel, ein Schreibtisch, der fast ganz mit Büchern und Schreibmaterialien bedeckt war, eine tragbare Orgel von wunderschöner Arbeit und hohe Bücherschränke, gefüllt mit den Erzeugnissen der Dichter, Philosophen und Naturforscher aller Völker Europas – das war die Ausstattung des Zimmers, in dem der Mann wohnte, der zu den unfreiwilligen Bewohnern einer Irrenanstalt gehörte.

Das ziemlich große Gemach hatte außerdem zwei Fenster. Vor denselben rankte sich ein dichtes Gemisch wilden Efeus und verschiedener blühender und duftender Blumen, vielleicht um die schweren Eisenstangen zu verbergen, die von außen her die Fenster umgaben.

Nachdem ich mir dies alles genau betrachtet, trat ich leise in das offenstehende Nebenzimmer, welches zum Schlafgemach diente. Die Wände desselben waren mit grünen Tapeten bekleidet. An der Hinterwand stand ein großes Himmelbett mit weißen Vorhängen und gesteppter rotseidener Decke. Einfache Möbel standen an den Wänden. An dem einen Fenster, zwischen den ziemlich weit auseinanderstehenden Eisenstangen, rankten sich ebenfalls Efeu und bunte Blumen empor, davor aber stand, mir den Rücken zukehrend und mein Eintreten nicht wahrnehmend, der unglückliche Bewohner des Zimmers selbst.

Die Arme ausgebreitet haltend, hatte er die Brust gegen den Fensterrahmen gelehnt und drückte seine Stirn gegen eine der Scheiben, wie wenn er in ein trübes, melancholisches Sinnen verloren wäre. Auch hörte er mich nicht, als ich meine Anwesenheit durch einige Zeichen zu erkennen gab; um mich nicht in der Lage eines Lauschers von ihm überrascht zu sehen, war ich gezwungen, mit meiner Hand seine Schulter zu berühren, um ihn so aus den Träumereien zu erwecken.

Sobald meine Hand ihn berührte, drehte er sich sanft nach mir herum, nicht im Mindesten über die unerwartete Unterbrechung betroffen – seine Nerven waren also in einem sehr gesunden Zustande. Als er mich aber sah und erkannte, gab er sich Mühe, eine Träne, die ich in seinem großen Auge wahrzunehmen glaubte, zu zerdrücken, und lächelte mich sogar an.

»Da sind Sie ja!« sagte er, »aber – Sie finden mich in einer eigentümlichen Stimmung – meine Seele flog soeben ein wenig spazieren – da, sehen Sie einmal hinaus.«

Ich trat ans Fenster und blickte hindurch. Freilich, es war ganz der Anblick, eine gefangengehaltene Seele ins Freie zu locken und zu einem Fluge einzuladen.

Von dem hochgelegenen Fenster sah man zwischen zwei Baumgruppen über den weithin sich dehnenden Park und tat nun, in das freie, unbegrenzte Land gelangend, einen fröhlichen Blick in das lustige, grüne England. Weite grüne Wiesen wechselten im Vordergrunde des Bildes mit üppigen Saatfeldern und hie und da majestätisch eingestreuten riesigen Eichengruppen ab; im weitgedehnten Hintergrunde aber, bis an den in bläuliche Nebel sich verlierenden Horizont, sah man hier einen hochroten Giebel neugierig durch die Gebüsche schauen, dort das weithin leuchtende, weißgetünchte Landhaus eines benachbarten Squires, Gutsbesitzer während die rechte Seite des Bildes die große Landstraße begrenzte, auf der ich selbst gekommen war. Über alles dieses aber senkte sich, duftig und milde, der warme, klare Sommerabend herab.

Unwillkürlich fesselte mich dieser Anblick länger, als ich es wußte; stillschweigend schaute ich links und rechts, und blieb endlich auf dem Gipfel des Berges haften, über welchen die vorher erwähnte Landstraße führte.

Als mein Gefährte, der jeder Richtung meines Auges zu folgen schien, dasselbe auf dem Berge und der Straße verweilen sah, deutete er mit einem Finger schweigend auf eine wandelnde Gruppe, die ich auch soeben erspäht hatte und durch längeres Hinsehen deutlicher zu entziffern versuchte. Ja, es war der Krämer mit seinem Karren, den seine Knaben wieder langsam zogen, der neuen Geschäften und neuer Betriebsamkeit entgegenging.

»Da geht er hin, der arme ehrliche Krämer«, sagte der an meiner Seite stehende Mann mit leisem, ruhigem Tone, »da geht er hin, und nicht aus Hab- oder Gewinnsucht beschreitet er diese weiten Wege, die ihn führen, er weiß selbst nicht, wohin, nein! aus menschlichem Mitgefühl, aus christlicher Liebe und aus freundschaftlicher Teilnahme an seinem Nebenmenschen. Gott gebe ihm seinen Segen auf seiner Pilgerfahrt!«

»Amen!« dachte ich, »mag es so sein!«

»Ha!« fuhr er etwas lauter fort. »Und sein widerspenstiger und sein sanfter Sohn, die er dennoch Beide gleich liebt und von denen er Gleiches hofft, ziehen seinen Wagen, und wozu? – Für mich! – Brave Jungen, arm, aber frei – frei – frei! Und was bin ich? – reich! reich – aber gefesselt, gefesselt und – was noch? Was soll ich noch sein? Ha! – still, still – sieh die schöne Landschaft, wie ruhig, wie friedlich sie daliegt! Und doch, und doch – wie viele Tausend unruhig pochende Herzen, wie viele hin und her sich bewegende, gequälte Geister mögen sich in ihr auf und ab bewegen, die man nicht sieht! Bild meines Lebens! Bild meiner Gegenwart! – Ah! in der Stille dieser Täler, dieser Wälder und dieser Häuser mögen sie ihre Tränen verbergen, mögen sie ihre Sorgen verhehlen, mögen sie in der bitteren Armut oft ihr trockenes Brot essen – und doch, doch sind sie glücklicher als ich, denn Freude, Hoffnung, Liebe, Alles das ist mit ihnen; Freunde, Gatten, Kinder, ach! Alles das ist bei ihnen – und was ist bei mir? Was habe ich auf dieser schönen, großen, weiten Welt? – Nichts! – Nichts! – Nichts!«

Und sein Haupt sank auf seine Brust. Von einer tiefen Rührung ergriffen, die mich mit dem Sprechenden fortriß, sah ich ihn an. Sein Gesicht war so ruhig, aber es war blaß, es war traurig, trostlos. Da näherte ich mich ihm, legte meine Hand auf seinen Arm und sagte laut:

»Einen Freund haben Sie wenigstens – Sie haben mich!«

Da sah er wieder empor. Seine ruhigen, traurigen Züge wurden plötzlich belebt. Einem Blitzstrahle gleich leuchtete sein Auge auf und eine dunkle, purpurfarbige Glut bedeckte seine eben noch so bleichen Wangen.

»Ja!« rief er mit einer so donnernden Stimme, daß ich erschrak und einen Schritt zurücktrat, »ja! Gott sei Dank! Ich habe Sie gefunden! Und es war die höchste Zeit! – Noch einmal«, und er griff schnell und heftig mit seiner starken Rechten durch das Efeugewinde nach einer der davor ausgespannten eisernen Stangen und rüttelte mit einer so furchtbaren Gewalt daran, daß die Adern an seiner Stirn von der Anstrengung aufschwollen, »noch einmal würde ich es versucht haben, und wenn – wenn es mir das Leben gekostet hätte! Doch«, und er beruhigte sich wieder, und der furchtbare Blick der mich vor Angst beben gemacht und mich an seinen Wahnsinn erinnert hatte, der einen Augenblick vorher gleich einer verzehrenden Flamme aus seinen Augen gebrannt hatte, schwand in sein gewöhnliches mildes und ruhiges Anschauen zurück.

»Doch jetzt – jetzt sind Sie da.« Und mit einer unaussprechlichen Demut in seiner wunderbar klang- und seelenvollen Stimme fügte er gesenkten Kopfes hinzu, indem er meine Hand in die seinige preßte:

»Sehen Sie, wie undankbar ich bin! – Ich habe ja noch Einen.«

Und er erhob den schönen, gedankenschweren Kopf mit einer gläubigen Gebärde nach oben.

»Aber ist es nicht sonderbar?« fuhr er lächelnd fort, »so gut, so verständlich ich früher mit ihm sprach, und so gut er mich und ich ihn verstand, seitdem Sie in meiner Nähe sind, verstehe ich ihn nicht mehr recht, ich kann keine Ruhe mehr im Denken, Hoffen und Glauben finden, ich kann gar nicht mehr mit ihm sprechen, ich denke zuviel an Sie und hoffe zuviel von Ihnen und einer Tat! – Aber freilich, wenn ich mir es recht überlege, so kommt es mir vor, als ob dies Gefühl neuer Hoffnung nur ein Wink von ihm wäre, als hätte er nur seine Schuldigkeit getan und mir den gesandt, den er mir senden wollte und um den ich ihn gebeten habe – ja, ja – das ist das Gefühl – nun begreife ich es – welches mich den ersten Augenblick ergriff, als ich Sie sah; ja, mein Freund, ja, es wird Zeit, daß ich rede, daß ich von mir und mit einem Menschen rede.«

»Reden Sie«, unterbrach ich ihn, »reden Sie, ich will, ich muß hören, und reden Sie wie zu einem kurze Zeit gekannten, aber dennoch bewährten Freunde, denn das Unglück macht schneller bekannt als das Glück, reden Sie – ich will – ich werde Sie verstehen und, was in meinen schwachen Kräften steht, für Sie tun!«

Er sah mich mit einem großen, dankbaren Blick an und preßte meine Hand noch stärker in die seinige.

»Ja«, rief er, »ich muß endlich reden! Mein Herz erträgt dies Schweigen nicht länger mehr, es zwingt mich mächtig zum Handeln und mein Geschick scheint endlich – endlich einer Wendung nahe zu sein; wer weiß, wann ich wieder einen so günstigen, freien Augenblick für mich habe! So hören Sie denn!«

Und er erfaßte auch mit seiner anderen Hand die meinige, drückte sie und sah mich mit einem Blicke unergründlicher Tiefe an. Um seine Lippen, die sich öffnen wollten, zuckte es wie ein entsetzliches Geheimnis. Ich war still – ganz still, was sollte ich sagen? Ich bedurfte nicht mehr der Aufforderung, von ihm zu hören, ich brauchte bloß seine Mitteilung zu erwarten – ich war schon ganz Ohr, da – klopfte es laut an die Tür, die vom Korridor aus in sein Wohnzimmer führte.

Wir fuhren Beide zusammen – das Licht, das mir in diesem Augenblick werden sollte, erlosch – wir drehten uns herum und lauschten nach der Tür.

Sie öffnete sich langsam, einer der Krankenwärter des Irrenhauses streckte seinen Kopf zögernd und vorsichtig herein, er bemerkte uns, fuhr etwas zurück, aber sagte gleich darauf mit seiner barschen Stimme:

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, das Bad ist fertig!«

Darauf zog er sich zurück und schloß die Tür.

Der Irre von St. James sah mich an, wie ich ihn ansah. Ein Schleier, ein Lächeln des Trübsinns flog über sein ausdrucksvolles Gesicht – er ließ meine Hände fahren und sank in einen Stuhl, der hinter ihm stand, zurück.

»Aha! – So, so – ja, ja!« murmelte er.

Dann stand er auf und sagte mit einer tonlosen Stimme:

»Jetzt also noch nicht! – Entschuldigen Sie, Sir, aber man hat für gut befunden – was ich vergessen hatte – mir heute Abend noch ein Sturzbad zu verordnen, um mir dadurch die trostlose Überzeugung zu verschaffen, daß ich noch nicht aus dem Bereiche ihrer – Fürsorge bin. Auf morgen denn oder übermorgen, wie es das Schicksal will oder wie – Gott es will – kommen Sie!«

Mit lautlosen Schritten ging er, ich folgte ihm mechanisch.

Draußen auf dem Korridor standen zwei Wärter und erwarteten ihn; er schloß sich ihnen schweigend an, keine Bewegung verriet seinen inneren Seelenzustand. Er ging mit ihnen die Treppe hinunter, willenlos, widerstandslos, das Opfer folgte seinen Henkern, ich zweifelte nicht mehr daran.


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