Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[153] An Frau von Epinay

Neapel, den 3. Juni 1775

Selten, Madame, ist es mir begegnet, daß ich so verärgert war wie diese Woche, weil ich weder von Ihnen noch von sonst jemand Briefe erhalten habe. Wirklich, ich bin nicht in Sorge wegen Ihrer eigenen Gesundheit; Sie haben mir versprochen, gesund zu bleiben. Aber ich seufzte nach Nachrichten über die öffentliche Gesundheit, die eine große Anzahl meiner Freunde hätte interessieren können. Hier sind tausend Gerüchte im Umlauf, die mir übertrieben scheinen: und Sie sagen kein Wort davon. Was soll ich denn davon denken?

... Ich habe das Werk Morellets angeblättert, ich habe sofort gegähnt, und das Buch ist meinen Händen entfallen. Wie gern ich es auch lesen möchte, so fühle ich doch, daß dies meine Kräfte übersteigt. Ich habe ferner das Gefühl, daß es mir unmöglich wäre, es zu widerlegen. Es ist so dick! Und es scheint mir ein fabelhaftes Werk zu sein, weil jedes Stück, jede Zeile, jede Schlußfolgerung gut geschrieben, klar und richtig ist, während das Ganze dennoch flach, dunkel und falsch bleibt. Ich verstehe nicht, durch welches Wunder dies möglich ist: aber es ist der zweite Fall nach dem der Jesuiten. Jeder einzelne Jesuit war liebenswürdig, gut erzogen, nützlich; und die ganze Gesellschaft, die sich doch nur aus der Menge der einzelnen Individuen zusammensetzte, war hassenswert, sittlich verdorben, schädlich. Mögen andere diese sonderbare Erscheinung erklären: ich bringe es nicht fertig.

Nun bitte ich Sie recht inständig, mir ganz genau und ausführlich zu schreiben, welchen Eindruck das Buch Morellets auf die verschiedenen Geister in Paris gemacht hat, von dem Ihren und dem meiner besten Freunde nicht zu reden. Das interessiert mich unendlich.

Was die Frage anbelangt, die ich und der Abbé Morellet behandelt haben, so wird sie von allen Regierungen einstimmig beurteilt. Alle sind von der Begeisterung der Ökonomisten zurückgekommen. Alle haben die Einschränkungen der Getreidehandelsfreiheit verschärft. Selbst die Engländer haben seit zehn Jahren ihrer Freiheit und ihrem Handel Schranken gezogen, trotz ihrer Regierungsform, die wesentlich freihändlerisch ist. Frankreich (der Herd des Übels) war unsicher und schwankend; aber zehn Jahre ununterbrochener Teuerung, Hungersnot, Revolten hätten auch es aufklären müssen, und Herr Turgot, der überzeugt war, daß die Freiheit allein genügte, wird sehr erstaunt sein, daß er gezwungen ist, Prämien für die Einfuhr auszusetzen, den königlichen Schatz zu leeren und seinen Ruhm zu beflecken. Gott gebe, daß es für ihn noch Zeit zur Rettung ist. Es ist schade, wenn man ihn entläßt; aber es ist ein wenig seine eigene Schuld. Warum wurde er Ökonomist? Was zum Teufel hatte er auf dieser Galeere zu tun?...

Haben Sie mich immer sehr lieb. Ich werde in meinem Leben nicht mehr über Getreide sprechen. Ich beschäftige mich jetzt damit, meinen Horaz zu feilen. Das wird wenigstens weder in den Markthallen, noch im Hôtel Soissons irgendeinen Lärm verursachen. Leben Sie wohl; tausend Empfehlungen an Frau von Belsunce.


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