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Der Nebenbuhler im Traum.

Eine Ehestandsgeschichte.

Von allen Schulen ist die, welche man die »Schule des Lebens« zu nennen pflegt, ohne Widerspruch die härteste; darum sind Viele, Viele, die nur gebrochenen Herzens und Muthes aus ihr hervorgehen. Ich weiß nicht, ob es Auserwählte gibt, die niemals diese Schule kennen lernen; jedenfalls gibt es aber Solche, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt ganz von ihr verschont bleiben, besonders Mädchen, die, gehütet von mütterlicher Liebe und Sorge, nur Das erfahren, was dem glücklichen Inhalt ihrer Jugendgedanken keine ernste Färbung beizumischen vermag.

Leonore Neumann gehörte zu diesen Glücklichen, Illusionsberechtigten. Daß sie das einzige Kind einer Witwe war, deren Lebenshorizont von trüben Erfahrungen frühe schon verdunkelt worden, hatte eben dazu beigetragen, den ihrigen wolkenlos zu erhalten. »Alles, was ich an Glück entbehrt habe, soll meinem Kinde zu Theil werden«, sagte die Witwe oft zu den wenigen Freunden, deren Umgang sie noch genoß.

Frau von Neumann gehörte zu den Frauen, die man sehr lange und sehr genau kennen muß, um sie zu lieben, denen man dann aber auch für das Leben ergeben bleibt. Nicht schön, nicht talentvoll, nicht gesprächig, im Gegentheil melancholisch und verschlossen, fehlte ihr dennoch keine der innern Eigenschaften, und ihr ernster, gebildeter und tiefer Geist war ihres makellosen Charakters vollständig würdig. Darum hatte ihr Mann sie auch angebetet und geliebt, wie es wenigen Frauen zu Theil wird. Aber schon nach einjähriger Ehe mußte er als Oberst mit Napoleon nach Rußland ziehen, von wannen er nicht wiederkehrte, sodaß er sein Kind, die kleine Leonore, nie zu sehen bekam, da sie erst einige Wochen nach seinem Abmarsch geboren wurde.

Die kleine Leonore vermißte aber den Vater nicht; denn wenn auch die Mutter ihr viel von ihm erzählte und ihn rühmte und pries und das Kind ihn deshalb in seinem fernen und kalten Grabe liebte und verehrte, so erfüllte doch die zärtliche Mutter so sehr alle kleinen Herzenswünsche der Tochter, daß dieser nichts von einem Dritten zu verlangen übrig blieb, und wäre es der eigene Vater gewesen.

»Leonore soll glücklich und jung sein«, sagte die Mutter, – »ich muß in solcher Reihenfolge reden, denn ohne Ersteres ist Letzteres nicht möglich; nur wer glücklich ist, ist jung, und nicht umsonst gräbt als Warnung das erste Unglück die erste Falte in die glatte Stirn. Es gibt so wenig junge Leute, aber nicht bei allen hindert das Unglück die Entfaltung der Jugendblüte; bei vielen ist es auch die übermäßige Klugheit, die sie von einem Glücke ausschließt, welches selbst die Gesetze anerkennen, indem sie ihnen einen Vormund geben und keine Verantwortung aufladen. Wie viele achtzehnjährige Mädchen bedürfen heutzutage noch eines Vormunds? Ich fürchte, sehr wenige, und zwar nicht in Folge jener Eigenschaft, von welcher Schiller sagt:

Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth –

nein, in Folge eigentlicher ›Klugheit‹, der Klugheit, deren höchste Blüte die Männer zu berühmten Advocaten und die Frauen zu Diplomatinnen macht; der einzige Stand im Staate, wo ihre Hülfe nicht verschmäht, ihr Einfluß nicht geleugnet wird.«

»Du thörichte Jungfrau!« sagte Frau von Neumann eines Abends lächelnd zu ihrer Tochter, als ihr diese mit strahlenden Augen von den vielen Freundschafts- und Liebesbeweisen erzählte, die sie bei einem Besuche in der Stadt im Hause einer Jugendfreundin ihrer Mutter erhalten.

»Warum schiltst du mich, Mama?« erwiderte Leonore, indem sie mit ihren offenen blauen Augen die Mutter verwundert ansah.

»Ich dich schelten, mein Kind?« Und sie schlang die Arme um die schöne Gestalt ihrer Tochter, an der Alles üppig und blühend war, vom reichen dunkeln Haupthaar bis zur Spitze des wohlgeformten Fußes. Nichts war verkümmert an dem Kinde, sondern Körper, Geist und Herz reich genug begabt, um zwei andere ›hübsche junge Damen‹ damit auszustatten. »Nennst du das schelten, Leonore, wenn ich dich thöricht nenne? Weißt du doch, wie ich diese Thorheit gehegt und gepflegt! Thorheit ist in deinem Alter – Liebe zu den Menschen, Glauben und Vertrauen zu ihnen, Zuversicht auf die Zukunft, Zufriedenheit mit der Vergangenheit und Glück in der Gegenwart. Wehe dem Tage, an dem ich zu dir sagen muß: Du bist nicht mehr thöricht; denn Klugheit und Glück sind unvereinbar, – ja Klugheit ist beinahe unvereinbar mit völliger Reinheit des Herzens und unschuldigem Sinne, denn sie ist Mistrauen, und Mistrauen ist Kenntniß des Lasters und der Verdorbenheit. Doch wozu reden von Dem, was du nicht zu wissen brauchst, nicht wissen sollst. Nur das Eine laß dir zu guter letzt sagen: Sei nicht empfindlich, wenn ich dich eine thörichte Jungfrau nenne, und denke, daß deine Thorheit deiner Mutter Freude ist.«

»Dann will ich dir recht viel Freude machen«, rief Leonore sie umarmend, »soviel, daß du bald übergenug haben sollst.«

Frau von Neumann lebte mit ihrer Tochter in Süddeutschland, auf einem kleinen Gute, dem Erbsitze ihrer Familie, die mit der ihres Mannes ein und dieselbe war; denn er war ihr leiblicher Vetter und dieses Gut die erste Veranlassung ihrer Bekanntschaft gewesen, da Beide als Waisen, die letzten Glieder einer früher zahlreichen Familie, in verschiedenen Ländern aufgewachsen, während das Gut, das Erbtheil ihrer Großältern, von ihren beiderseitigen Vormündern für sie verwaltet worden war. Als Leonorens Mutter, die auch Leonore Neumann als Mädchen geheißen wie jetzt als Frau, mündig geworden, kam sie zum ersten mal auf das Gut, das ihr Vetter, der schon fünfzehn Jahre früher mündig war, von Zeit zu Zeit besucht hatte. – Sie wollte mit ihm berathen, ob sie Beide es theilen oder verkaufen sollten. Beide besaßen außerdem kein Vermögen, aber es fiel ihnen schwer, das solange in der Familie gewesene Eigenthum zu veräußern, und so schlug denn zuletzt der Vetter seiner Cousine vor, bis zu ihrer Verheirathung ihn das Gut verwalten zu lassen, dann möge ihr Mann entscheiden, was weiter damit geschehen solle. Das junge Mädchen lächelte ungläubig, als er von ihrer Verheirathung redete, aber sie widersprach nicht, und so blieb es denn dabei. Von da an wechselten Vetter und Cousine ziemlich häufig Briefe. Die kriegerischen Zeiten brachten zum öftern sein Leben in Gefahr. Nach sieben Jahren war er Oberst und hielt nun förmlich um die Hand seiner schon längst geliebten Cousine an, weil er glaubte, endlich den Frieden ins Land kommen zu sehen und so seinen Herd gründen zu können. Da beschloß Napoleon den Feldzug nach Rußland. Oberst Neumann wollte den Abschied nehmen, aber sein Fürst bat ihn, jetzt sein Regiment, das wie ein Mann an ihm hing, nicht zu verlassen. Neumann ließ sich auch für dieses mal noch bereden und verließ seine Frau, um sie nie wiederzusehen. Beim Uebergang über die Bereszina fand er wahrscheinlich seinen Tod, denn ein befreundeter Offizier hatte ihn noch die Brücke betreten sehen; – drüben aber sah ihn Niemand mehr.

Seine Frau hoffte dennoch jahrelang auf seine Rückkehr. Er mußte ja sein Kind sehen, das sie auf den Wunsch des Entfernten Leonore taufen lassen; aber er sah es nicht, und ohne andere Stütze und Aufsicht – denn sie hatte ja auf Erden keine Verwandten, – erzog sie ihr Kind.

Das Gut der Frau von Neumann lag einige Meilen von der ziemlich bedeutenden Hauptstadt, aber sie kam nur selten dahin, da sie die Stille und Einsamkeit liebte und überdem ihre beschränkte Einnahme, die Revenuen des Gutes und eine kleine Pension, ihr eine gewisse Zurückhaltung auferlegte. Für ihres Kindes Wünsche war sie dagegen reich genug, denn die kleine fröhliche Leonore war bescheiden in ihren Anfoderungen und so leicht und selig befriedigt, wie es überhaupt unverdorbene, an Seele und Körper gesunde Kinder sind.

Leonorens alleiniger Gespiele war ein Knabe, der einzige Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers, des Reichsfreiherrn von und zur Hellenburg. Der Knabe hatte, als er seine Mutter bei einem Besuche auf dem Neuhof einmal begleitet, die kleine Leonore kennen gelernt, eine merkwürdige Zuneigung zu ihr gefaßt, und seitdem mußte wöchentlich mehre male sein Hofmeister, ein Geistlicher, der zugleich Hauskaplan seiner Aeltern war, ein durch seine Bildung ausgezeichneter älterer Mann, ihn auf den nur eine Stunde entfernten Neuhof begleiten. Gewöhnlich mußte dann auch noch ein Diener mitgehen, der eine Tasche, gefüllt mit den heterogensten Dingen, ihm nachtrug; denn zu seinen besondern Eigenheiten gehörte, daß ihn nichts erfreute, nichts befriedigte, bis er mit seiner kleinen Freundin darüber gesprochen. Bücher Bilder, Blumen, ja sogar seine jungen Thierchen, Hasen, Hunde und Vögel mußten zur Ausstellung auf den Neuhof, und sobald Leonore sagte: »O wie schön!« rief er sogleich; »Nimm dir's, behalte es, mir gibt die Mama noch genug andere.« Leonore that das aber nur äußerst selten, denn sie besaß schon frühe jenen sichern Takt, der in Allem Maß halten läßt. Während die beiden Kinder ihre Welt miteinander austauschten – Leonore stand damals im neunten, Ludwig im zwölften Jahre –, war Frau von Neumann beschäftigt, mit Hülfe des Erziehers des Knaben ihre Sprachstudien zu treiben, denn da sie ihrem Kinde den meisten Unterricht selbst ertheilte, so war ihr Herrn Denkow's Anerbieten, englische, italienische und spanische Autoren zusammen zu lesen, sehr erfreulich.

Das Verhältniß der beiden Kinder war eigenthümlich genug, denn während Ludwig bei Leonoren sein ganzes Glück zu finden schien, war sie ziemlich gleichgültig für seine Liebe und wahrhaft rührenden Aufmerksamkeiten. Frau von Neumann wunderte sich oft, wie selten ihr Kind von dem Gespielen sprach, wie sie nie darauf drang, auf dem älterlichen Schlosse ihres kleinen Freundes einen Besuch abzustatten. Es war offenbar, Ludwig war zu ihrem Glücke ebenso entbehrlich, wie sie zu dem seinen unentbehrlich war. Wenn er bei ihr weilte, war sie übrigens gefällig, freundlich und fröhlich mit ihm wie mit Jedermann. Man konnte nichts Schöneres sehen, als die beiden Kinder, beide das blühendste Bild der Jugend, sie mit den dunkeln reichen, lang herabhängenden Flechten, er mit dem hellblonden, lockigen Haar.

»Es gibt keine verschiedenern Charaktere als die beiden Kinder«, sagte Denkow eines Tages zu Frau von Neumann, nachdem er die Beiden beobachtet hatte, wie sie ein neues Bilderwerk Ludwig's zusammen ansahen; »er so beifall- und lobesbedürftig, sie so unabhängig und spröde; er so weich und empfindlich, sie so kräftig und unbefangen; er so leicht verstimmt, sie so siegreich heiter.«

»Ich habe ihn noch nie anders als heiter gesehen«, meinte Frau von Neumann.

»Ja hier! weil er hier am Ziele seiner Wünsche ist; aber zu Hause ist er nicht so. Da ist er auch eigensinnig, während hier Leonore nur mit den Augen zu winken braucht, um ihn jede Spur von eigenem Willen ablegen zu lassen. Wenn ein solcher Ausdruck bei einem Kinde seines Alters nicht lächerlich wäre, so würde ich sagen, es handelte sich hier um eine tiefe, nur mit dem Leben erlöschende Leidenschaft.«

»Er verspricht aber kein Mann zu werden, wie ich ihn meinem Kinde wünsche und wie ich allein denke daß er sie wahrhaft beglücken könne«, sprach ernst Frau von Neumann und setzte dann lächelnd hinzu: »ebenso wenig wie mein Kind die Eigenschaften besitzt und je besitzen wird, die Frau von Hellenburg von ihrer Schwiegertochter verlangt.«

Denkow zuckte, ebenfalls lächelnd, die Achseln, sagte aber dann nach einer Pause: »Ihre erste Bemerkung streift in ein Feld, auf dem ich schon manchen Kampf und zwar oft siegreich geschlagen; es ist ein Lieblingsthema meiner Junggesellen-Gedanken.«

»Wie so?«

»Sie sagten eben, mein Zögling sei nicht der Art, wie Sie sich den Ihre Tochter einst beglückenden Gatten vorstellten.«

»So sagte ich – obgleich ich Ludwig ein gutes Herz, einen klaren Verstand und einen ganz unverdorbenen Charakter zutraue. Aber eben dieser Charakter paßt nicht zum Charakter Leonorens.«

»Meine gnädige Frau – verzeihen Sie – aber was wissen Sie davon? Es bringt mich jedesmal in Eifer, wenn ich Menschen sagen höre: Die passen – die passen nicht zusammen! Das weiß nur Gott, denn Gott allein kennt die Wirkungen, welche die Liebe auf zwei durch sie lebenslänglich verbundene Charaktere hervorruft. Wer sagt Ihnen denn, ob nicht die stolzeste und sprödeste Frau dadurch zur demüthigsten, und die demüthigste dadurch zur launigen, eifersüchtigen, herrschsüchtigen wird? Denn Eifersucht und Herrschsucht sind immer verbunden. Welche Resultate habe ich da gesehen! Die Menge aber sagte verwundert: ›Wer hätte geglaubt, daß das hinter dem Mädchen stecke!‹ Du lieber Gott, das steckte auch nicht hinter dem Mädchen, sondern wuchs aus dem leidenschaftlich bewegten Herzen der Frau empor.«

»Das wäre ja schrecklich!« sagte Frau von Neumann. »Damit behaupten Sie ja, daß die Liebe nicht Jedermann veredle, wofür ich bis jetzt doch mein Leben gelassen hätte!«

Denkow versetzte etwas ironisch: »Meine arme gnädige Frau, diesen Glauben müssen Sie aufgeben und mir vertrauen, wenn ich Sie versichere, daß die Liebe sowie das Glück viel mehr Menschen verdirbt, als verbessert. Das Herz ist überhaupt ein gebrechliches Ding und darf nicht zu viel angestrengt werden. Es gibt zwar freilich starke Herzen, wie es starke Geister und starke Körper gibt; im Allgemeinen aber darf man dem Herzen nicht viel zumuthen, es schleift sich ab, wie jeder andere Stoff. Die frischen, noch unbewegten Herzen sind mir deshalb die liebsten. Ich bin ein alter Mann und habe viel beobachtet; deshalb liebe ich auch die Kinder vor allem und habe meine Pfarrei und meine Beichtkinder drangegeben, um für ein frisches Leben zu wirken. In meinem Herzen war leider nicht der Stoff, der dauerhaft genug ist, um auf lange Jahre hinaus zur Ablagerung des Sündenregisters einer ganzen Gemeinde auszuhalten. Glauben Sie mir, gnädige Frau, wer, wie ich, zwanzig Jahre lang die Beichte gehört, weiß leider am besten, welch ein unzurechnungsfähiges, aber auch welch unberechenbares Ding der sogenannte menschliche Charakter ist.«

»Obgleich ich selbst eine Ketzerin bin«, sprach lächelnd Frau von Neumann, »so kann ich mir doch wohl vorstellen, daß der Beichtstuhl für den Geistlichen ein Ort trauriger Erfahrungen und schmerzlicher Bereicherung ist. Doch um auf unser erstes Thema zurückzukommen, daß das Glück oder Unglück in der Ehe etwas zum Voraus rein unberechenbares sei – behaupten Sie das wirklich?«

»Ja; ich nehme natürlich an, daß nur von im Grunde guten und unverdorbenen Menschen die Rede ist. Denn im Beichtstuhl wurde mir oft bekannt, wie Menschen, auf deren Eheglück man im Brautstand so sicher gerechnet, an unüberwindlichen Conflicten ihrer beiderseitig nun erst recht entwickelten Charaktere zu Grunde gingen und sich verzehrten in ungekanntem Leid, während andere, deren zu heterogene oder zu ähnliche Charaktere man einer Uebereinstimmung unfähig gehalten, sich in der reinsten Harmonie, in Liebe auflösten.« –

Ludwig verleugnete keine Woche seine zärtliche Freundschaft. Jahre verflossen und er blieb immer derselbe aufopferungsfähige, hingebende, innige Freund, bis er endlich eines Tages mit Herrn Denkow kam, um Abschied zu nehmen, da er mit seinem Lehrer eine ziemlich entfernte Universität beziehen sollte. Er war jetzt siebzehn Jahre alt und groß und hoch aufgeschossen wie ein Zwanzigjähriger, Leonore, die Vierzehnjährige, konnte ebenfalls überall für eine vollständig erwachsene Dame gelten. Sie hatten freilich in den letzten Jahren nicht mehr zusammen Bilder besehen und Domino gespielt, aber sie hatten doch noch Ball geschlagen, vierhändige Sonaten eingeübt, Spaziergänge gemacht oder auf den zwei Ackergäulen geritten. Oder Ludwig hatte Leonoren seine Uebersetzung Homer's vorgelesen, den sie zu seiner innern Verzweiflung langweilig fand. »Da ist der Schiller ein anderer Mann«, sagte sie übermüthig, als sie auch an dem Abschiedstage noch auf diesen alten Streitpunkt zu reden kamen, »und was Ihre Odyssee betrifft, so ist ein Feldzug Napoleon's zehnmal interessanter, und dieser ist ein anderer Held als Ihre in Bockshaut eingenähten Heroen.«

Ludwig, dem durch die höhere Anschauung seines Lehrers schon eine weit umfassendere und gründlichere Bildung zu Theil geworden, dessen männliche Vaterlandsliebe sich überdem gegen die neue »Gottesgeißel« Napoleon empörte, widersprach dennoch nicht dem Mädchen, das eine unbegrenzte Macht über ihn ausübte. Er bemerkte nur freundlich: »Sie werden vielleicht noch einmal anders urtheilen.«

»Das heißt, wenn ich Ihr hohes Alter erreicht habe, – nicht wahr, wenn ich siebzehn Jahre alt bin, werde ich Homer und Odysseus lieben? – O, es ist komisch, welchen Vorrang einem Menschen drei Jahre voraus geben!«

»Das habe ich nicht gesagt!« rief Ludwig ängstlich, indem er bittend in ihr Auge sah, denn sie war in letzter Zeit viel schnippischer und spröder gegen ihn geworden als früher; »nein, das habe ich nicht gesagt! Ich stelle ja meinen Geschmack durchaus nicht über den Ihrigen, aber ich glaube nur, je mehr man sich mit dem Alterthum und den Classikern befaßt, desto lieber gewinnt man sie. Es ist spröde Kost, die Keinem gleich anfangs mundet.«

»Ach«, sagte Leonore, »das werden Sie bei mir nicht erleben, denn bei dem bloßen Ausdruck ›classisch‹ muß ich schon an etwas Graues, Steinernes, Begrabenes und Todtes denken. Es ist eine Art Reliquienvergötterung, eure Gedanken legen da hinein, was es vielleicht gar nicht ist; aber ihr glaubt es, und das ist die Hauptsache. Jetzt werden Sie mich wieder in Ihrem Innern eine gottlose Ketzerin schelten und vielleicht noch heute Abend von Herrn Denkow Absolution verlangen, daß Sie so lästerliche Reden angehört.«

Ludwig schüttelte traurig mit dem Kopfe und sagte nur: »Warum sind Sie heute, wo ich Abschied nehmen muß, so böse gegen mich?«

Leonorens Augen blickten wehmüthig ihn an, sie reichte ihm bewegt die Hand und nun war er wieder über und über glücklich. In dieser Stimmung schied er, versprach zu schreiben und bat Frau von Neumann, Leonoren doch zu erlauben, ihm zuweilen unter die Briefe, die jene ihm versprochen, ein paar Zeilen schreiben zu dürfen. »Das ginge ganz gut, meint die Mama«, setzte er naiv hinzu. Frau von Neumann konnte kaum ihr Lächeln unterdrücken, als sie antwortete: »O warum ginge das nicht? Herr Denkow wird mir auch schreiben, hoffe ich, und so bleiben wir Alle in gutem Einvernehmen, bis Sie zurückkehren.«

Und so blieb es auch. Frau von Neumann bemerkte aber zu ihrer großen Genugthuung, daß ihr Töchterlein den Jugendgespielen auch jetzt nicht viel vermißte; sie sprach selten von ihm und dann immer in ziemlich gleichgültiger Weise.

Leonore war eine gefeierte Schönheit. Bei ihren jetzt öftern Besuchen in der Stadt hatte sie eine Menge Verehrer, auch schon Freier, denn neben ihrer blühenden Jugend besaß sie als einzige Tochter ihrer Mutter doch genug, um selbst den vorsichtigsten jungen Männern ihres Umgangs als eine »anständige Partie« zu erscheinen. Sie ging aber auf kein Liebeswerben und noch viel weniger auf einen Heirathsantrag ein. »Ich bleibe bei dir«, sagte sie zärtlich zu der Mutter, von der sie wohl fühlte, daß sie mehr Rücksicht und Liebe und Sorge für sie habe, als je ein Mann haben werde, – und Liebe hatte ihr noch keiner eingeflößt.

»Es ist sonderbar«, äußerte sie einmal gegen ihre Mutter, »je mehr mir ein Mann gefallen will, desto mehr misfällt er mir.«

»Daran ist dein Widerspruchsgeist schuld.«

»Bin ich widerspenstig, Mutter? Findest du das im Ernste?«

»Gegen mich nicht, aber gegen die jungen Männer unserer Bekanntschaft, ja.«

»Warum lassen sie sich's gefallen?« sagte Leonore mit dem ganzen Uebermuth eines von der Natur, von ihrer Mutter und von der Welt verwöhnten Geschöpfes.

Doch nahm nicht immer alle Welt ihren Uebermuth geduldig hin. Ein älterer sehr bedeutender, verheiratheter Mann, der aber die Schwäche hatte, jungen schönen Mädchen gegenüber sich in gewöhnlichen Schmeicheleien zu gefallen, wandte auch Leonoren eine galante Redensart zu. Sie gab ihm eine äußerst schnippische Antwort, wie sie solche für die sie umschwärmenden Lieutenants und Referendare immer im Ueberfluß hatte. Diesmal aber wurde es nicht hingenommen wie von Lieutenants und Referendaren. Der Mann, der noch eben so verbindliche Worte für sie gehabt, sah sie spöttisch an und sagte: »Mein gnädiges Fräulein, nehmen Sie mir die Wahrheit nicht übel, aber Sie machen Ihrer Amme unendlich viel mehr Ehre als Ihrer Gouvernante.«

Es traf nun ein, was so oft geschieht, wenn Menschen, die sonst ganz gescheidt sind, gereizt werden, sie sagen dann oft etwas recht Albernes, und so sprach auch Leonore ohne alle Ueberlegung: »Das paßt nicht auf mich, denn ich habe keine Amme gehabt, ebenso wenig wie eine Gouvernante.«

»Das feine Gesicht des Mannes wurde noch spöttischer, als er erwiderte: »So muß ich mich also bei Ihnen folgendermaßen ausdrücken: Wer Sie sieht, wird nie die Amme, wer Sie hört aber wohl die Gouvernante vermissen.«

In die Augen der damals siebzehnjährigen Leonore traten Thränen; sie wußte nichts mehr zu sagen und wandte sich ab, um aber doch später ihrer Mutter ihr Leid zu klagen. Hier fand sie aber wenig Trost. Frau von Neumann lachte sie aus und sagte: »Mich kränkt es nicht, denn da ich deine Amme und deine Gouvernante zugleich war, hebt Eines das Andere auf, und du hast wahrscheinlich die Lection verdient.«

Ludwig hatte inzwischen Unglück gehabt. Jedesmal, wenn er in den Ferien nach Hause kam, war Frau von Neumann mit ihrer Tochter nicht daheim. War das Absicht? Wir glauben es; denn die sorgsame Mutter sah in dem jetzigen Alter der beiden jungen Leute für ihre Tochter Gefahren, welche früher nicht bestanden. – Jetzt aber bezog der junge Freund nach beendigten Studien die Hauptstadt, wo Frau von Neumann sich nunmehr oft wochenlang mit ihrer Tochter aufhielt, hauptsächlich um dem jungen Mädchen Singunterricht von einem dort wohnenden vortrefflichen Lehrer ertheilen zu lassen, da Leonore eine prachtvolle Stimme besaß.

Bei dem ersten Wiedersehen der jungen Leute trat ein Fall ein, der gerade das Gegentheil des Gewöhnlichen war. Er wurde verlegen, sie blieb unbefangen.

Endlich sagte Ludwig stotternd: »Sie haben mich gewiß ganz vergessen?«

»Ueberhören Sie mich, ob ich nicht noch Alles und Alles weiß.«

»So erzählen Sie irgend eine kleine Begebenheit aus unserer frühern Kindheit, damit ich Muth bekomme, auf meine alte Bekanntschaft mit Ihnen zu pochen.«

»Gut. Eine Geschichte fällt mir eben ein. Sie datirt sich aus der allerersten Zeit unserer Bekanntschaft. Es war ein sehr heißer Tag und Mama regalirte uns mit einer großen Schüssel sauerer Milch, woran auch der Sohn des Amtmanns Theil nahm, der an demselben Tage zum ersten mal gebeichtet, obgleich er wie Sie erst acht Jahre alt war. Er war sehr stolz darauf und sprach viel davon. Sie beneideten ihn offenbar um die Art Würde, die ihm das in Ihren Augen verlieh, und klagten, daß Herr Denkow Sie erst in drei Jahren beichten lassen wolle, und waren ganz verstimmt. Als meine Mutter uns nachher Confect und ein paar Gläschen mit süßem Wein schickte, scherzte des Amtmanns Sohn soviel, daß ich vor Lachen gar nicht trinken konnte – ich hatte damals das hohe Alter von fünf Jahren. ›Wenn du nicht aufhörst zu spaßen und zu lachen, sage ich's deinem Vater‹, rief ich neckend dem Jungen zu. Sie aber erhoben traurig die Augen zum Himmel und sprachen mit hohler Stimme: › Ja, der hat gut lachen, der ist seine Sünden los!‹ – So ein Muster von christlicher Gewissenhaftigkeit waren Sie schon im achten Jahre!«

»Nun, ganz so gewissenhaft bin ich jetzt doch nicht mehr!« sagte Ludwig, erröthend bei dem fröhlichen Lachen der Umstehenden und wohl ahnend, daß man diese hübsche Geschichte nicht zu Boden fallen lassen, sondern ihn noch oft damit necken werde.

Am Abend bemerkte Frau von Neumann zu ihrer Tochter: »Ludwig ist eigentlich ganz derselbe geblieben. Nie habe ich Jemand gekannt, dessen Züge und dessen Charakter als Mann so ganz dasselbe Gepräge trugen wie als Kind.«

»Mir gefällt er jetzt besser«, sagte unbefangen Leonore, »denn seine Herzensgüte bildet jetzt einen rührenden Contrast mit seiner männlichen Kraft, während sie mir bei dem Knaben immer mehr als Schwäche erschien. Und wenn ich ihn nicht schon als Kind gekannt hätte, würde er mir vielleicht noch besser gefallen, denn er ist doch eigentlich hübscher, vielseitiger gebildet und gutmüthiger, als alle andern jungen Männer unserer Bekanntschaft.«

»Aber originell oder genial ist er gar nicht«, meinte Frau von Neumann.

»Nein, das ist er nicht, aber gemüthlich und behaglich, sodaß man ihn gern viel bei sich sieht, während uns die Genialen und Originellen oft so ungeduldig machen, daß man sie schon nach einer Viertelstunde wegwünscht.«

»Was hat er dir von Denkow erzählt?«

»Der ist jetzt kränklich. Die Reise nach Italien ist ihm schlecht bekommen und er kann auf dem Schlosse kaum noch seine Functionen als Hausgeistlicher versehen, Ludwig meinte, er sei aus lauter Enthusiasmus über die römischen Alterthümer krank geworden.«

»Ich hörte das aus der Ferne, als ich mit dem alten Präsidenten sprach; was sagte aber Ludwig dann, worüber du so entsetzlich roth wurdest?«

»O« entgegnete Leonore und war von neuem wie mit Purpur übergossen, »ich beging wieder den alten Unsinn, worüber ich mich schon oft hätte selbst steinigen mögen: ich sagte Etwas, wodurch ich ein Compliment für mich hervorrief.«

»Was sagtest du denn?«

»Du kennst meine Lust zu necken und aufzuziehen. Als Ludwig nun von Denkow sagte, er sei aus Kunstenthusiasmus krank geworden, platzte ich heraus: ›Deshalb dürfen Sie unbeschadet nach Rom, ja bis ans Ende der Welt wandern!‹ Du weißt, daß ich ihm immer sein Phlegma vorgeworfen habe.«

»Und was sagte er

»Er – er meinte, von allen Menschen auf der Welt habe ich ganz allein nicht das Recht, ihm Mangel an Enthusiasmus vorzuwerfen. – Es war recht häßlich von ihm, – er machte mich vor mir selber lächerlich, daß ich ihm mit Gewalt die Schmeichelei ausgepreßt. Wenn ich mich nur einmal gewöhnen könnte, einen Gedanken zwei mal zu denken, ehe ich ihn ausspreche. Ein mal von meinem und das zweite mal vom Standpunkt des Menschen aus, gegen den ich ihn aussprechen will.«

»Weil du das nicht thust, bist du eben eine thörichte Jungfrau, so übel du auch diese Benennung nimmst. Diesmal aber warst du wirklich schlimm thöricht Ludwig gegenüber, dessen alte Bekanntschaft und alte Anhänglichkeit an uns dem Umgang mit ihm ohnedies einen Anstrich von Familiarität verleihen könnte, der hier mir doppelt unangenehm wäre.«

»Warum, Mama«, fragte Leonore unbefangen »warum gerade bei ihm doppelt unangenehm?«

»Weil er hier eine Menge Verwandte hat, die ihn auf Schritt und Tritt beobachten und die glauben könnten –«

»Du ambitionirtest für deine Tochter die Hand des steinreichen, reichsfreiherrlichen und rechtgläubigen jungen Mannes, – für mich, die protestantische Tochter eines armen Obersten. Capisco! Du hast recht, er muß verleugnet werden, und sein Reichthum, seine Vornehmheit und seine Rechtgläubigkeit werden ihm nun ein paar gute Freunde kosten, um die ihn Armuth, niedrige Geburt und ketzerischer Glaube nicht hätten bringen können. – Er thut mir leid.«

»Sei nicht so eitel, Kind! Er wird deine Freundschaft nicht schwer vermissen. Leute seiner Art ist Jeder zu trösten bereit.«

»Aber nicht Jeder fähig. Nein, Mutter, ich bin nicht eitel, aber ich glaube, daß Ludwig es schmerzlich empfinden wird, wenn wir Beide ihn kälter behandeln.«

»Und dennoch muß es sein«, sagte Frau von Neumann, die wol mit Recht dachte, daß Ludwig's Aeltern nie ihre Einwilligung zu einer Verbindung mit ihrer Tochter geben würden, und die seine immer gleiche Zuneigung für ihr Kind heute nur zu deutlich bemerkt hatte und fürchtete, Leonore möchte sie doch zuletzt erwidern.

Mit dem Entschluß, den armen und ganz unschuldigen Ludwig kälter zu behandeln, ging es aber hier, wie es mit ähnlichen Entschlüssen gutmüthiger Menschen überhaupt geht, daß heißt, er wurde nicht ausgeführt.

Trafen sie ihn bei ihren zeitweiligen Besuchen in der Stadt in einer Gesellschaft und er kam mit strahlenden Augen auf die beiden Damen zu und küßte Frau von Neumann die Hand und versicherte ihr wiederholt, wie unendlich glücklich er sei, sie einmal wieder zu sehen, – so konnte die gutmüthige Dame ihm unmöglich eine unfreundliche Antwort geben, ebenso wenig wie Leonore, der er ein lieber alter Freund war und oft in einem neuen Kreise der einzige alte Bekannte. Oder war Frau von Neumann auf ihrem Gute, und Ludwig fuhr bei einem Besuche, den er seinen Aeltern abstattete, mit Herrn Denkow hinüber, der ihn dann immer begleiten wollte und deshalb zu Hause mit geheimen Bekehrungsplänen für die beiden Protestantinnen geneckt wurde, – so mußten die gastlichen Damen ihn ja auch freundlich empfangen. Verleugnen kann man sich auf dem Lande nicht lassen, und ist man einmal da, so kann man gegen seine Gäste nicht anders als so höflich wie möglich sein. So bemerkte Ludwig denn gar nichts von dem Ungewitter, das über seinem Haupte gehangen hatte.

Nachdem er über in der Stadt mehre male in Gesellschaft mit Leonoren zusammengetroffen, war Niemand, der ihn gesehen, zweifelhaft, daß er sie liebe und es auch durchsetzen werde, daß seine Aeltern trotz ihres Stolzes und ihrer wohlbekannten hochfliegenden Pläne für den Sohn, sie ihm gewähren müßten. Wo er sie sah, hing er mit den Augen nur an ihr, verließ nicht ihren Stuhl, ging nach Hause, sobald sie ging, kurz zeigte unbekümmert auf jede Weise, daß für ihn nichts mehr Interesse hatte, als Leonore Neumann.

Und Leonore? Den Zustand ihres Herzens zu beschreiben, ist schwer, ja beinahe unmöglich, so unklar, so voll von Widersprüchen war dies sonst so reiche und volle Herz; es würde vielleicht lauter gesprochen haben, hätte der lebhafte Geist es nicht unterjocht mit seinem Willen und seinen energischen Geboten.

Sie sagte zu sich: »Ich will ihn nicht lieben, weil er mich nicht lieben darf, – und ich will keinen Mann von der Gnade seiner Aeltern, ich will überhaupt nicht heirathen, sondern bei meiner Mutter bleiben.« – Aber sie konnte es sich doch nicht versagen, eine gewisse Genugthuung des Herzens bei der rückhaltlosen Huldigung ihres Jugendfreundes zu empfinden, und sie ging sogar einmal so weit, zu sich selbst zu sagen: »Wenn mich meiner Mutter Liebe nicht schon so verwöhnt hätte, dann müßte ich von Ludwig's Liebe gerührt werden, – es ist gut, daß es nicht so ist!« Eines war aber gewiß: Leonore war durchaus nicht unglücklich, durchaus nicht sehnsüchtig, durchaus und vollkommen zufrieden, also eine eigentliche Gefahr noch nicht da.

Ludwig hingegen litt unter diesen Verhältnissen und beschloß bei seiner Mutter einen Sturm zu wagen, damit diese wieder den Vater für seine Pläne gewinne. Wie dieser Sturm ausgefallen, wissen wir nicht, können es aber wol errathen, wenn wir einem Besuche beiwohnen, den Herr Denkow einige Tage später bei der Witwe und ihrer Tochter auf dem Gute machte.

»Ich komme im Auftrage Ludwig's, meine gnädige Frau«, sagte traurig der alte Herr; »er ist gestern abgereist, um in preußische Militärdienste zu treten. Ich soll ihn den beiden Damen zu Füßen legen und einen Abschied aussprechen, der ihm selbst zu schwer wurde.«

Leonore antwortete unbefangen: »Das ist eine große Ueberraschung für mich, denn ich hätte eher alles Andere in Baron Ludwig gesucht, als einen künftigen Kriegshelden. Sein Geschmack war bisher ganz friedlicher und ländlicher Art, er sollte ja bald schon die Güter übernehmen.«

»So war es beschlossen. Jetzt aber will sein Vater ihm erst bei seinem Ableben die Güter hinterlassen und Ludwig soll bis dahin sich mit einem Taschengeld begnügen; vielleicht auch«, setzte er zögernd hinzu, »eine Zulage erhalten, wenn er eine von den Aeltern gewählte Schwiegertochter in das Schloß bringt.«

Frau von Neumann lächelte, Leonore wurde dunkelroth, aber keine sagte jetzt etwas mehr darüber. So fuhr denn der Geistliche fort: »Ludwig hat es unter diesen Umständen vorgezogen, die Selbständigkeit, die ihm seine Aeltern nicht gewähren wollen, sich soviel es geht selbst zu gründen.«

»Das ist aber keine Selbständigkeit, wenn man Lieutenant ist und dem Herrn Hauptmann, dem Herrn Major, dem Herrn Oberstlieutenant und noch dem Oberst und General und Gott weiß wem noch alles als ›Höherstehenden‹ gehorchen muß!« rief mit etwas gezwungenem Lachen Leonore aus.

»Ludwig irrt sich vielleicht, aber er behauptet, diese Art von Unterordnung werde ihm nicht drückend sein«, versetzte der Geistliche.

»Vielleicht irrt er sich auch nicht«, bemerkte ernst Frau von Neumann; »ich finde seinen Entschluß auf jeden Fall achtungswerth, er beweist, daß er sich als Mann und nicht als verwöhntes einziges Kind fühlt.«

Als Denkow weg war, sagte Leonore zu ihrer Mutter: »Der arme Ludwig geht um meinetwillen fort. Seine Aeltern fürchten eine Verbindung mit mir. Vielleicht hat er ihnen sogar schon erklärt, daß er mich heirathen wolle.«

»Hat er dir es vielleicht auch erklärt?«

»Nie, mit keiner Silbe! Nicht mehr hat er über seine Neigung zu mir gesagt, als was er mir auch als zwölfjähriger Junge sagen konnte. Und wären nicht die andern Menschen immer beflissen gewesen, mich auf seine ›Huldigungen‹ aufmerksam zu machen, wer weiß, ich hätte vielleicht Alles noch für alte Jugendfreundschaft genommen.«

»Ich bezweifle das«, sagte lächelnd Frau von Neumann, »jedenfalls ist es aber gut, daß du immer klar gesehen und die Hoffnungslosigkeit dieser ganzen Geschichte durchschaut hast.«

Leonore stützte den Kopf in die Hand. Als sie ihr Gesicht wieder aufrichtete, war es viel blasser als zuvor, und erst nach einer Pause sprach sie: »Ich bin ihm sehr gut gewesen. Ich wünsche ihm alles Glück und vor Allem eine Frau, deren Persönlichkeit ihm erlaubt, zu seinen Aeltern und seinen schönen Gütern zurückzukehren.«

»Das wünsche ich ihm auch, obgleich er dich durch seine offenbare und unverhohlene Neigung compromittirt hat.«

Leonore lachte. »Was liegt daran? Wer sich um das Gerede der Leute kümmern wollte, würde gar keinen frohen Tag mehr haben, besonders wenn man ein junges Mädchen, eine gute Tänzerin und nicht auf den Mund geschlagen ist!«

Frau von Neumann beobachtete in der nächsten Zeit ihre Tochter mit noch größerer Aufmerksamkeit als bisher, aber sie konnte keine Veränderung in ihrem Benehmen bemerken. Leonorens heitere Laune blieb sich gleich, wenn sie auch dem Jugendfreunde die freundlichste Erinnerung bewahrte und tief beklagte, daß sie die Ursache sei, die ihn aus dem Vaterhause trieb. Sie war und blieb ihm eine treue Freundin, aber selbst wenn sie die leidenschaftlichste Liebe für ihn gehegt, würde sie nie ohne die Einwilligung seiner Aeltern ihm angehört haben, denn ihr Stolz war größer als alle ihre andern Gefühle je werden konnten. Vielleicht war es auch dieser Stolz, der sie, da sie von jeher die Verhältnisse kannte, so glücklich vor jeder wärmern Zuneigung zu Ludwig bewahrte.

Es vergingen nun mehre Wochen in tiefer Stille; weder Frau von Neumann noch Leonore waren seit Ludwig's Abreise in der Stadt gewesen, vielleicht weil sie fürchteten, von ihren Bekannten nach dieser Angelegenheit gefragt zu werden. An einem schönen Herbstnachmittage saßen Beide auf der kleinen Veranda, welche aus dem wohnlichen Salon des rebenumlaubten einstöckigen Landhauses geradeswegs in den Garten führte.

Da hörten sie Stimmen. Noch konnten sie Niemand sehen, denn die Bäume verbargen die Ankommenden; aber als diese aus dem Schatten der Allee heraustraten, erkannte Leonore mit ihren scharfen Augen, daß es Denkow und ein junger ihr ganz fremder Mann seien. Frau von Neumann stand auf und ging in ihrer freundlichen Weise ihrem alten Freunde ein paar Schritte entgegen.

»Hier«, sagte der alte Herr, indem er sein Sammetmützchen abnahm, »hier, gnädige Frau, bringe ich Ihnen einen seltenen Gast. Es ist der vielgenannte Archäolog und Reisende Richard Heim, der Sohn eines lieben Jugendfreundes.«

»Sie sind mir Beide herzlich willkommen«, entgegnete Frau von Neumann. Leonore aber blickte mit der größten Aufmerksamkeit auf die Züge des jungen Mannes. Er kündigte sich als eine ganz bedeutende Persönlichkeit an. Groß, schlank, mit dunkelm Haar und dunkeln Augen, ziemlich starken Zügen, zu stark, um schön zu sein, die Haut gebräunt und zwischen den Augen ein so entschiedener Zug, daß Leonore bei seinem Anblick denken mußte: »Was dieser Mann will, setzt er durch, dem widersteht Niemand und nichts!« – Es war ein gefährlicher Gedanke für sie.

Frau von Neumann ließ Erfrischungen bringen. Die beiden Männer ließen sich, nachdem sie mit den Damen eine Weile auf- und abgewandelt, nieder. Denkow wünschte, Heim möge sprechen und von seinen Reisen in China und dem innern Afrika, am Nil und in dem südlichen Amerika erzählen; war er doch weiter gedrungen, als irgend einer von Denen, die lebend zurückgekommen; aber Heim sprach heute wenig. Geradezu fragen wollte man ihn nicht, und so drehte sich denn die Unterhaltung um Dinge, über die man ebenso gut mit Leuten sprechen konnte, die nie den vaterländischen Markstein überschritten.

Endlich sagte Leonore zu Denkow: »Haben Sie in der Stadt das neue Eisenbahnmodell gesehen?« (Man war im Jahre 1832.) Denkow verneinte, aber Heim, der zuletzt in Amerika gewesen, hatte nicht nur Modelle, sondern auch wirkliche Eisenbahnen gesehen.

So kam er denn ins Erzählen, und als er die aufmerksamen Züge der beiden altern Zuhörer und die beredten Augen des jungen Mädchens erblickte, das aussah, als verkünde man ihm ein Evangelium, da ward er immer beredeter und feuriger, und wie ein prächtiger Strom entwickelte sich die Kunde seiner merkwürdigen Reisen. Er erzählte ganz vortrefflich und wurde dabei so lebhaft, wie man eben sein muß, um Zuhörer zu fesseln, indem man für sie neu belebt, was man selbst längst erfahren und über hundertfaches Neue beinahe vergessen hat.

Es wurde dunkel. Frau von Neumann ließ Windlichter bringen, denn sie fürchtete, durch die Umsiedelung in den Salon werde Heim's Erzählung abgerissen. Endlich, ganz spät, brachen die beiden Männer auf, nachdem sie eingeladen worden, während der Anwesenheit des berühmten Reisenden noch einmal auf dem Neuhof einzukehren; aber der junge Mann sagte bedauernd: »Ich muß schon morgen fort; ich habe ein Zusammentreffen mit einem Freunde verabredet, aber wenn es mir die gnädige Frau erlaubt, werde ich ihr einige Skizzen und Auszüge senden, die eigentlich zu meiner eben noch nicht vollendeten Erzählung gehören. Sie sind in der ›Revue de Paris‹ enthalten, – oder halten Sie vielleicht das Journal?«

»Nein, die Damen halten es nicht«, bemerkte Denkow lächelnd, obgleich auf dem nächsten Tische noch die neuesten Nummern davon lagen, die wie er wohl wußte, Frau von Neumann immer regelmäßig mit der Post erhielt, und der junge Mann fiel daher sogleich ein: »So werde ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen die Hefte zu schicken und zugleich für das Fräulein, die ja gesteht, daß sie Blumen über Alles liebt, ein paar getrocknete Blüten aus Südamerika, deren Farben sich wunderbar erhalten haben. Oder wünschen Sie vielleicht ein Exemplar der Rose von Jericho? Auch damit kann ich dienen, ich habe eine ganze Schachtel voll davon mitgebracht.«

»Für die Rose danke ich«, versetzte Leonore, »die Blüten aber nehme ich dankbar an; diese Rose ist mir etwas Schauerliches; nicht wie eine Blumenleiche, nein wie eine Menschenleiche, wie eine Mumie sieht sie aus.«

»Mumien sind auch schön«, sagte lächelnd der Fremde; aber Leonore rief: »O nein, sie sind mir nur schauerlich!«

»Das wundert mich«, meinte der Reisende in seiner ernsten stillen Weise; »junge und blühende Menschen lieben sonst den Tod.«

»O, für mich selbst fürchte ich den Tod nicht, aber für Die, die ich liebe. Ich habe nie Jemand durch den Tod verloren, der meinem Herzen nahe stand. Gott behüte mich auch davor! Er trennt für immer.«

»Er vereinigt mehr als er trennt«, entgegnete der junge Mann, als spräche er mit sich selbst. Das waren seine letzten Worte.

*

Es kam eine Zeit für unsere junge Freundin, eine Zeit so trauriger Prüfung, daß wir nicht lange dabei zu verweilen vermögen.

Der Typhus, jene entsetzliche, mörderische Krankheit herrschte in der Gegend von Schwaben, welche Mutter und Tochter bewohnten. Schon am Tage nach dem Besuche des berühmten Reisenden wurde Frau von Neumann von heftigem Kopfweh befallen; zehn Tage darauf war sie eine Leiche.

Leonore, – als ihr der Arzt am Sterbebette die Hand reichte und mehr durch Blicke als durch Worte sie vom Hinscheiden alles Dessen benachrichtigte, was sie liebte, – Leonore hoffte nur ihrer Mutter alsbald nachzusterben, und die Aussicht auf diese baldige Wiedervereinigung, die durch nichts als durch ihre innere Ueberzeugung begründet ward, daß sie ohne ihre Mutter nicht leben könne, ließ sie wenigstens mit einiger Fassung den sonst so zermalmenden Schlag ertragen.

Eine gutmüthige alte Jungfer, die Schwester des Pastors im nächsten Dorfe, hatte in den letzten Tagen die Pflege der Kranken mit ihr getheilt; sie besorgte das Begräbniß, sie zog ins Haus zu dem verlassenen Kinde, und ihr gutmüthiger frommer Zuspruch, sowie die schöne Natur, die in diesen Trauertagen in besonders warmem und heiterm Wetter mit all ihrem Zauber die verlassene Tochter trösten zu wollen schien, vor allem aber Leonorens eigener tief religiöser Glaube und ihre frische Jugend – sie zählte noch nicht zwanzig Jahre, – gaben dem armen Kinde Kraft, Das zu tragen, was sie nie für möglich gehalten: – ein Leben ohne ihre Mutter.

Vier Wochen nach dem Tode der Frau von Neumann kam ein großes Packet unter ihrer Adresse an. Die blasse Leonore öffnete es mit Thränen in den Augen. Es waren Bücher und ein Heft mit getrockneten Blüten. Der Brief, der beilag, war von London datirt und Richard Heim unterschrieben. Der Reisende schickte seinem Versprechen getreu Alles, was er Frau von Neumann und ihrer Tochter verheißen. Er schrieb, wie dankbar er sich noch des Empfangs in ihrem reizenden Landhause erinnere und wie er gewiß nicht versäumen werde, nach seiner Rückkehr aus Ostindien, wohin er sich wieder einzuschiffen im Begriff stehe, sie bei einer längern Rast in Deutschland aufzusuchen und ihre Gastfreundschaft von neuem in Anspruch zu nehmen. Vierzehn Tage bis vier Wochen könne sich die Abfahrt des Schiffes noch verzögern; wenn sie deshalb noch einen Befehl für ihn habe, so werde er sich glücklich schätzen ihn auszuführen, vorausgesetzt, daß sie denselben ihm gleich kund thun wolle.

Leonoren war es nicht anders möglich, als dem Reisenden, der am Schlusse seines Briefes auch ihrer Erinnerung sich empfahl, in wenigen Worten mitzutheilen, daß ihre Mutter, deren er sich so freundlich erinnere, sich ihm dafür nicht mehr dankbar zeigen könne, indem sie dahin geschieden, wo sein letztes Wort ihr mehr Vereinigung als Trennung verheißen. Sie gab den Brief an Denkow, den sie bat, ihn mit einigen Worten zu begleiten. Der alte Herr war ihr ein großer Trost. Beinahe täglich kam er herüber, denn ihm bangte wirklich um den lebhaften Geist der Verlassenen, für dessen Beschäftigung die Dahingeschiedene bisher so liebend gesorgt. Und wirklich, wer Leonoren oft sah, wie er sie sah, stundenlang in wortlosem Hinbrüten verloren, während sonst ihre sprudelnde Lebhaftigkeit nur versiegen konnte, wenn sie in einem sie mächtig ergreifenden Thema aufging, der konnte leicht eine ähnliche Sorge um sie fassen.

Das verschiedene Glaubensbekenntniß war kein Hinderniß für ihre gegenseitigen religiösen Erörterungen, denn der Geistliche und das junge Mädchen waren beide viel zu sehr Christen, um nicht die Form bei einem Andern als mit der ersten Lebensanschauung verwachsen und verwebt zu achten und zu dulden.

Er erzählte ihr, um sie zu zerstreuen, auch von Richard Heim, daß er der Sohn seines Freundes, eines ausgezeichneten Gelehrten, sei. Richard war der älteste von vier Geschwistern, im Besitze eines nicht unbeträchtlichen Vermögens, da seine früh verstorbene Mutter die Tochter eines reichen Gutsbesitzers gewesen. Schon als Kind hatte Richard eine auffallende Liebe zu den Wissenschaften gezeigt, und sein ganzes kleines Zimmer war bis oben vollgepfropft gewesen von allen möglichen Kisten und Kasten mit Sammlungen. Sein Vater, der darin nur eine Nachäfferei seiner eigenen Bestrebungen sah, stellte diesen unschuldigen Neigungen die größten Hindernisse in den Weg, aber Richard ließ sich nicht hemmen in seinem Wissens- und Sammlungsdrang.

Ein Winter auf dem Lande ist nur erträglich, wenn man ihn in einem größern Familienkreise verbringt; aber einsam und traurig mitten in der vereinsamten und traurigen Natur zu sein, ist über alle Maßen schmerzlich für ein der Freude bedürftiges junges Menschenherz.

Leonore hatte standhaft alle Einladungen ihrer Freunde in der Stadt abgelehnt, denn sie liebte ihren Schmerz um die Todte und wollte ihn sich nicht mildern lassen; war doch dieser Schmerz noch das Einzige, was ihr von der Mutter geblieben. Das Zimmer, das Frau von Neumann vorzugsweise bewohnt, ein kleines grüntapezirtes Cabinet mit großem Kamin, schönen Landschaften und einem Schreibtisch, wo tausend Ueberflüssigkeiten nothwendige Damen-Schreibrequisiten vorstellten, war auch ihr gewöhnlicher und liebster Aufenthalt.

Hier saß Leonore an einem kalten stürmischen Winterabende, ihr gegenüber zeigte sich das gutmüthige Gesicht Margarethens, der Schwester des Pastors, die immer noch treulich bei ihr geblieben. Die beiden Frauen hatten den kleinen ovalen Theetisch unmittelbar vor den weißen Marmorkamin geschoben und saßen in ihren großen grünen Damastsesseln behaglich und warm in der traulichen Ecke. Und doch war es keiner von ihnen behaglich und warm! Margarethe dachte an ihren alten Bruder, dessen Pflege jetzt der einzigen Sorge der Magd überlassen war, die ihm hundert kleine Bedürfnisse, womit ihn die Liebe seiner Schwester verwöhnt hatte, ohne sein Wissen wieder entzog. Aber er wollte es selbst so; das junge Mädchen konnte doch auch nicht ganz allein gelassen werden, und aus der Stadt heraus kam bei dieser Jahreszeit Niemand, um ihr Gesellschaft zu leisten. Davor hüteten sich die guten, sonst so aufopferungsbedürftigen Freunde recht sehr.

Leonore hingegen dachte mit einem tiefen Grausen, als der Wind so draußen am Fenster herfuhr, an den Contrast der Stelle, wo jetzt ihre Mutter ruhte, mit dem warmen Plätzchen, wo sie selbst geborgen war; und sie hätte hinaus stürzen mögen in die kalte Winternacht, auf den fernen Kirchhof, den ihr schien's wie ein Unrecht, daß sie hier blieb, – und Thräne um Thräne fiel auf ihr schwarzes Kleid. Sie stand auf, um den grünen Schleier über die runde Kuppel der Lampe zu decken, damit Margarethe ihre Thränen nicht sehe.

In diesem Augenblicke hörte sie die Thüre des Vorzimmers sich öffnen, und die Schritte zweier Männer, und dann auch ihre Stimmen; eine dieser Stimmen erkannte sie sogleich, es war Denkow. Sie wandte sich erschrocken zu Margarethen und sagte: »Wenn mir noch ein Unglück auf Erden zustoßen könnte, würde ich glauben, das sei der Fall, denn was in aller Welt kann den kränklichen Denkow in dieser fürchterlichen Winternacht noch heraustreiben? Es muß bald acht Uhr sein.«

Margarethe wollte eben antworten, aber den Besuchern, die jetzt sich glücklichen ihrer Mäntel und Pelze entledigt, öffnete schon das Mädchen die Thür, und wer stand hinter Denkow? – ja, er war es ganz gewiß, obgleich Leonore es nicht begreifen konnte – es war Richard Heim, den sie längst auf dem Wege nach Ostindien glaubte.

Denkow begann lächelnd: »Zwei arme verirrte Wanderer bitten bei dem Schloßfräulein um einen Imbiß und ein Nachtlager. Denn wir können nicht mehr zurück, der Schnee hat hinter uns die Wege verweht.«

Leonore reichte ihm die Hand und erwiderte herzlich: »Das freut, aber ist es wirklich –«

»Nein, mein gnädiges Fräulein, ich bin es, der Ihnen den Ueberfall bereitet hat. Ich bin ein abergläubischer Mensch wie alle Reisenden, und bildete mir ein, wenn ich Sie heute nicht sähe, würde ich Sie in meinem Leben nicht mehr sehen.«

Obgleich Leonore diese Antwort nicht recht verstand, sah sie ohne zu fragen nieder auf den Tisch, um den sonderbaren, dunkeln, leuchtenden Augen des Fremden zu entgehen.

»Mein Aberglaube hat mich auch verhindert, nach Ostindien zu gehen; denn als ich durch die Fürsorge unsers beiderseitigen Freundes hier Ihren kleinen Brief erhielt, gab ich die ganze Reise auf. Ihr Brief, den ich gerade empfing als ich an Bord gehen wollte, war so traurig und machte mir einen so schmerzlichen Eindruck, daß ich es für eine üble Vorbedeutung für meine ganze lange Reise ansah.«

»Solch eine Wirkung machte mein Brief auf Sie?« fragte mit verwundertem Tone und ihn groß ansehend Leonore.

»Ja, ja«, sagte gedankenvoll der Fremde, »solch eine Wirkung hatte Ihr Brief auf mich. Er zog alle meine Gedanken ab von dem Meer, von Indien, von meinen Forschungen, und ich dachte an nichts Anderes mehr als an dies stille Haus.« Auch jetzt erröthete Leonore noch nicht, sondern sah nur mit einem überraschten Blick ihren alten Freund an; der aber sprach langsam und wie um ihren Blick zu beantworten: »Es gibt Etwas in uns, das stärker ist als unser Wille.«

»Ja – unser Herz!« bemerkte Heim und sah Leonoren mit einem unbeschreiblich traurigen und bittenden Blicke zugleich an. Leonore nickte traurig mit dem Kopfe und meinte eintönig: »Ja, unser Herz solange es lebt.«

»Kann es denn sterben?« fragte Richard.

»Wenn die Person stirbt, die es ganz allein ausgefüllt hat.«

»Dann ist es noch nicht todt.« –

»Sie sind neunzehn Jahre alt«, sagte Denkow; »liebes Kind, Sie werden Ihr Herz sich wiederbeleben fühlen.«

»Auch ich habe bis jetzt (Richard betonte diese beiden Worte) Niemand voll in mein Herz aufgenommen und doch fühle ich seine Macht so gut.«

»Haben Sie nicht Ihre Aeltern geliebt, Ihre Geschwister?« fragte Leonore mit einer Art Angst.

»Nein«, versetzte entschieden der Fremde. »Meine Mutter war ein Engel, dem ich mit aller Kraft meines Kinderherzens anhing; ich hatte aber noch ein Kinderherz als sie starb, ich war noch nicht fünfzehn Jahre alt.«

»Und Ihr Vater? Ihr berühmter Vater?«

»Mein Vater, mein berühmter Vater, den alle Conversationslexika als einen der ersten Gelehrten Deutschlands und als einen herrlichen Charakter preisen, hat meine engelgleiche Mutter solange gequält, bis sie ihre sanften unvergleichlichen Augen zur ewigen Ruhe schloß; er hat sie mit Nadelstichen gemordet.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und setzte dann leise hinzu: »Und uns Kinder hat er so strenge gehalten, nachdem er uns eine junge und ganz unzurechnungsfähige Stiefmutter gegeben, bis einer meiner Brüder als halb blödsinniger Kaufmannslehrling, der andere als ein ganz unbrauchbarer Taugenichts das Haus verließ; meine Schwester aber – o, von meiner Schwester will ich gar nicht reden.«

»Da bedauere ich Sie tief«, sagte Leonore, ihr eigenes Leid über dem des fremden Mannes vergessend, »es muß ein Unglück für das ganze Leben sein, keine glückliche Kindheit gehabt zu haben, keine glückliche Familie, keine glückliche Heimat.«

»Ja, ja, Sie sind eine beneidenswerthe Tochter, mein Fräulein, beneidenswerth, wenn auch Ihre über Alles geliebte Mutter im Grabe liegt. Sie können ohne Schmerz, ohne Bitterkeit an sie denken.«

»Meine Mutter hat mir aber oft gesagt, daß sie noch ehe ich geboren, ein trauriges Leben bei herzlosen fremden Menschen geführt«, warf Leonore ein.

»Sie haben das nicht mit angesehen. Ich aber kann mir meine herrliche Mutter nicht anders vorstellen, als mit in Thränen schwimmenden Augen; sie umarmte mich oft, nur um ihre Thränen an meinem Kinderherzen auszuströmen. Mein Vater, der gegen Fremde, gegen Freunde des Hauses, ja gegen seine Untergebenen, selbst gegen Dienstboten wie ein Engel war, quälte Frau und Kinder mit Launen und Einfällen und einer an Grausamkeit streifenden Härte. Familienglück habe ich nie gekannt; das väterliche Joch lastete schwer auf mir, solange ich nur denken kann, und als in meinem vierundzwanzigsten Jahre der Vater starb, dem ich bis da in seinen naturhistorischen Studien und Experimenten beistehen mußte, entfloh ich in die weite Welt, weiter und immer weiter, und kein Wunsch nach einer Heimat kam in meine Seele, bis ich Ihren Brief erhielt.«

»Bis Sie meinen Brief erhielten?«

»Ja, mein gnädiges Fräulein, bis ich Ihren Brief erhielt. Sie schrieben: ›Meine Mutter, meine gute vortreffliche Mutter, die mich nie gescholten, nur geliebt und für mich gesorgt, mich gehegt und gepflegt, mich vor jeder rauhen Luft bewahrt, jeden Miston von mir entfernt, unser kleines Haus zu einem Paradiese des Friedens und der Ruhe gestaltet, wie eine Fee meine Wünsche errathen und befriedigt hat, ehe ich noch selbst ihrer bewußt geworden, – sie ist todt, dahin gegangen, wo Sie mir beim Abschied ein Wiedersehen verheißen!‹ – Den Eindruck einer wohlthätigen Fee hatte auch mir das sanfte, bleiche Gesicht Ihrer Frau Mutter gemacht; auch Denkow hier nannte sie einmal so; und mich überkam mit einem mal ein unbeschreiblich stürmisches Verlangen nach dem Hause dieser Fee, das meinem müden Sinne plötzlich, ganz plötzlich als der Hafen der Ruhe und des Glücks erschien.«

»Aber meine Mutter ist ja todt!«

»Leben Sie denn nicht? Sind Sie nicht ihr Kind? Vermögen Sie nicht, das einzige geliebte Kind dieser edlen Frau, auch ein Haus zu einem Paradies der Ruhe und des Friedens zu gestalten?«

»O, ich bin nicht wie meine Mutter, ich komme ihr bei weitem nicht gleich.«

»Ja, Eleonore«, sagte Denkow mit einer Stimme, die aus dem Herzen kam, »ja, Eleonore, Sie sind wie Ihre Mutter, oder vielmehr Sie werden einst sein wie Ihre Mutter, wenn Leiden und Schmerzen die Schlacken von Ihrer Kinderseele gewaschen haben, wie es bei der Verklärten geschehen.«

»Warum Schmerzen und Leiden?« rief heftig Heim. »Hat das arme Kind nicht genug gelitten? Warum soll sie noch mehr leiden?«

»Sie fragen das?« entgegnete Denkow schmerzlich lächelnd, »und doch ist der Wunsch, der eben Ihre Seele füllt, nur eine Schmerzensquelle für dies Kind!«

»Nur eine Schmerzensquelle?« fragte erschrocken Richard. »Ich möchte ihr alles Glück der Erde zu Füßen legen, ich möchte –«

»O Gott«, sagte Leonore, wie beschwörend beide Hände erhebend, »Gott, reden Sie nicht mehr – ich kann diese Sprache nicht ertragen!« und ein Thränenstrom brach aus den Augen des armen, geängstigten Mädchens. Sie verließ das Zimmer, um sich zu fassen.

Denkow wandte sich zu Heim und sagte vorwurfsvoll: »Sie erschrecken das Kind!«

Richard stand auf, und indem er rasch auf- und abging, sprach er in gebrochenen Sätzen halb vor sich hin: »Sie muß mein werden! Nur bei ihr finde ich Ruhe. Und ruhelos, wie Alles in meinem ganzen Leben, quält mich auch dies Verlangen nach Ruhe! Habe ich sie nicht geliebt, als ich sie das erste mal sah? Nur war mir dies neue Gefühl nicht klar.«

»Haben Sie sonst nie geliebt?« fragte Denkow.

»Das wundert Sie von mir, dem dreißigjährigen Manne? Ich weiß nicht, wie ich Ihnen der Wahrheit gemäß diese Frage beantworten soll«, sagte Richard, indem er sich niederließ.

»Was macht Sie denn irre?«

»Ich weiß nicht, ob man ein Gefühl Liebe nennen kann, woran sich keine Zukunft knüpft, nie, auch nicht im Moment der höchsten Zärtlichkeit.«

»So haben Sie geliebt?«

»Ja. Ich war noch im älterlichen Hause, ein ganz junger Mann; eine ältere Frau, zehn Jahre älter als ich, eine geistreiche Frau, die den höchsten Einfluß auf meine ganze Bildung hatte.«

»War sie verheirathet?«

»In einer sonderbaren Ehe. Ihr Mann, von ihren Aeltern für sie ausersehen – er war reich, – mußte im ersten Jahr der Ehe in eine Irrenanstalt gebracht werden. Schon in den ersten Tagen hatte sich die arme Frau über sein scheues und excentrisches Wesen geängstigt, er war schon damals krank.«

»Wollte sie sich nicht scheiden lassen?«

»Nein, – sie hatte ein Kind. Sie glaubte es diesem schuldig zu sein, eine Scheidung zu unterlassen, und dann war sie kränklich. Sie ist schon seit mehren Jahren todt.«

»Sie haben kein Glück in Ihren Verbindungen, Richard, weder in den Familienverbindungen noch –«

»Da habe ich auch bisher nicht das Glück gesucht. Mir schien es nur im Wissen, im Forschen, im Vorwärtsdringen, im Entdecken zu liegen, – ja selbst, wenn Sie wollen, im Wechsel, – jetzt glaube ich plötzlich, ich habe mich geirrt.«

»Das haben Sie.«

»Aber glauben Sie nicht, daß es noch Zeit ist für mich, das Glück zu finden?« sagte Heim, indem er Denkow nahetrat und mit beinahe ängstlich fragenden Augen die Hand auf dessen Schulter legte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Denkow in seiner eigenthümlichen Weise. »Man muß für Alles Anlage mit auf die Welt gebracht haben, auch für das Glück. Fortuna überschüttet Tausende vergeblich mit ihrem Füllhorn, – es fehlt ihnen aber an Anlage, am Talente, glücklich sein zu können, ebenso wie es Menschen gibt, die nie reich werden können, andere, die nie zu Macht und Ansehen sich emporschwingen, wie viele Staffeln und Leitern ihnen auch ein gefälliges Schicksal darbietet.«

»Das ist eine eigenthümliche Ansicht«, bemerkte Richard.

In diesem Augenblick trat Leonore wieder ein und begab sich mit ernstem Antlitz und niedergeschlagenen Augen auf ihren Platz.

Denkow fuhr fort: »Ich beziehe überhaupt Alles auf den innern Menschen; das Schicksal thut wenig, Alles im Gegentheil der Charakter und zwar der angeborene Charakter.«

»Aber die Erziehung!« meinte Richard. »Sie sind ein katholischer Priester und sprechen beinahe wie ein Muselmann!«

»Gerade im Gegentheil, und wenn Sie nicht jetzt zerstreut wären und an etwas Anderes dächten, würden Sie auch eine solche verkehrte Behauptung gar nicht machen. Der Türke hält das Schicksal für allmächtig, sich selbst nur für ein hülfloses Spielzeug in dessen Hand. Ich im Gegentheil halte den Menschen und seinen Willen für stärker als das Schicksal.«

»Aber der Wille Gottes?« fragte Richard.

Denkow antwortete sehr ernst: »Der Wille Gottes ist, daß wir uns selbst unsere Pfade suchen; er straft und lohnt uns, je nachdem wir es gethan; wenn er uns nicht unsern Willen ließe, wären wir ja nicht verantwortlich.«

»Wenn wir aber schlimme Eigenschaften mit auf die Welt bringen – keine guten Talente, wie Sie sagen –, zum Beispiel kein Talent, fromm zu sein?«

»So wird Gott nachsichtig sein«, erwiderte Denkow.

»Dann müßte man ja aber furchtbar vorsichtig sein bei der Wahl seiner Freunde, und am allermeisten bei der Wahl seiner Frau. Man müßte sich ängstlich fragen, wer ihre Vorfahren waren und ob sie also gute angeborene Talente mit auf die Welt bringen konnte oder nicht!«

»Das ist die Grundidee der Aristokratie.«

»Die aber längst abhandengekommen«, lachte Heim spöttisch; »denn Sie werden mir nicht ableugnen, daß heutzutage dem Adel eine tugendhafte bürgerliche Urgroßmutter viel unbequemer ist, als eine untugendhafte adelige.«

»Weil es mit Allem auf der Welt so geht«, sagte lächelnd Denkow. »Alles degenerirt – warum also nicht auch die Ideen?«

»So glauben Sie wirklich, daß die Welt schlechter wird?« fragte plötzlich Leonore; »das wäre schrecklich!«

»Im Ganzen nicht, mein Kind; ich will Ihnen aber durch ein Gleichniß erklären, was ich meine. Die schönen Frauen von heutzutage verwelken und verblühen; darum gibt es aber auf der Welt nicht weniger schöne Frauen als immer; denn während unsere Zeitgenossinnen altern, blühen andere auf. So auch die Ideen, so auch die guten Vorsätze, so auch die Wohlthäter der Menschheit, so alles Gute dieser Welt.«

»Auch das Christenthum?« war Richard's Frage.

»Das Christenthum ist nicht von dieser Welt.«

Hier schwiegen alle Drei. Bald darauf erhob sich Denkow, um sich zur Ruhe zu begeben; er sagte Leonoren herzlich gute Nacht, indem er ihr die Hand reichte. Nach ihm trat Heim vor sie hin. Auch er streckte seine gebräunte Hand ihr entgegen: »Verzeihen Sie mir, Fräulein Leonore, daß ich so bei Nacht und Nebel in Ihr friedliches stilles Haus eingebrochen?«

»Im Gegentheil, ich danke Ihnen für Ihren Besuch.«

»Ich konnte nicht anders, bei Gott, ich konnte nicht anders! Ich mußte Sie sehen. Seitdem ich Ihren Brief erhielt, habe ich nur noch an Sie gedacht!«

»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Denkow, der an der Thüre stand, und Leonore war froh, mit einem Kopfnicken davonzukommen.

Sie konnte die Nacht nicht schlafen, – sie schlief überhaupt wenig seit dem Tode ihrer Mutter, aber heute dachte sie nicht an die Geschiedene, sondern nur an den Mann, der, nur wenige Zimmer von ihr entfernt, eine ebenso unruhige Nacht zubrachte. Sie fragte sich selbst, ob sie ihn liebe, und wußte sich diese Frage nicht zu beantworten. Wenn sie ihn liebte, warum zitterte sie dann so bei dem Gedanken an ihn? Und liebte sie ihn nicht, warum konnte sie schon als sie das erste mal ihn sah, das Auge nicht von ihm wegwenden? Warum schwebte selbst am Krankenbette ihrer Mutter der Ton seiner Stimme ihr vor den Ohren, warum ergriff es sie so übermächtig, als sie den an ihre Mutter gerichteten Brief las, warum hatte sie keinen sehnlichern Wunsch gekannt, als ihm zu antworten?

Sie hatte, als sie begriff, daß er um ihretwillen hier sei, nicht daran gedacht, ihm widerstehen zu wollen, obgleich sie keine Freude, sondern eher Angst über seine Werbung empfand; jetzt aber einsam in ihrem Zimmer kam es ihr doch in den Sinn, ihn abzuweisen, allein sie sprach zu sich selbst: »Wirst du die Kraft haben, ihm das zu sagen?«

Am folgenden Morgen brachte ihr Mädchen, als sie demselben zum Ankleiden schellte, einen kleinen versiegelten Zettel von Richard. Er schrieb:

»Ich beschwöre Sie, Eleonore, kommen Sie einen Augenblick in den Garten. Es ist zwar kalt draußen, aber die Wintersonne scheint hell, und ich muß Sie sehen, ehe ich mit Denkow Sie treffe. Schicken Sie mir keine abschlägige Antwort, denn ich bleibe doch draußen, bis Sie mich selbst hereinholen. Was ich von Ihnen will? – Ein Jawort auf mein stürmisches Werben oder ein Nein, das mir Frieden, Ruhe und Heimat auf ewig versagt. Ja auf ewig, denn so wie ich eben fühle und denke, kann ich nur einmal fühlen und denken. Also, Eleonore, bedenken Sie, was Sie thun, – verschließen Sie mir den häuslichen Herd für immer und weihen Sie mich dem Loose des Ahasver?

Richard.«

»Welche sonderbare und erschreckende Werbung!« dachte Leonore, als sie gelesen. Aber sie kleidete sich mit fliegender Hast an, ließ sich ihren Pelzmantel geben, schlang einen schwarzen Schleier um ihren Kopf, sodaß gerade nur Augen und Mund unbedeckt waren, und eilte in den Garten. Aber was wollte sie ihm denn sagen? Es klingt unglaublich und doch ist es wahr, schon hatte sie den Garten betreten und wußte noch nicht, ob sie ihm ein Ja oder Nein bringen sollte, ihre Seele war in Aufruhr und sie konnte keinen Entschluß fassen.

Als er mit hochgerötheten Wangen und eiligen Schritten auf sie zukam, rief sie in einer Art Seelenangst: »Geben Sie mir Zeit, ich kann Ihnen noch keine Antwort geben!« – Er faßte nun ihre Hand, legte sie auf seinen Arm und wandte sich mit ihr die Allee wieder hinab. Was er im Gehen nun alles ihr zuflüsterte, – Leonore hätte es schwerlich zu sagen gewußt, denn ihre Gedanken fuhren wild und aufgeregt durcheinander, wie die Lichtpunkte auf dem Reife, der an den Bäumen und an den Sträuchern hing.

Als die Beiden aber eine Viertelstunde später in den kleinen Eßsaal traten, wo Denkow bereits am gedeckten Frühstücktische saß, stellte Richard ihm Leonore als seine Braut vor, und Leonore widersprach nicht, aber Thränen schossen aus ihren Augen, während der Mund lächelte.

Denkow sah Beide kopfschüttelnd, doch auch lächelnd an und sagte gutmüthtig: »Ich will euch und euer Verhältniß nicht nach dem Sprichwort: Gut Ding will Weile haben, – beurtheilen, sondern lieber an das Sprichwort denken: Die Ehen werden im Himmel geschlossen.«

»Ja, ja«, rief Richard jubelnd, »ich bin auch wie im Himmel! Nie, nie in meinem Leben habe ich mich so glücklich gefühlt. Dies ›Talent‹, wie Vater Denkow sagt, habe ich mir wahrhaftig nicht zugetraut, ich habe enormes, riesenhaftes Talent, glücklich zu sein, ich kann mich selbst gar nicht mehr fassen und halten! Wahrhaftig, lieber Denkow, mein Talent ist zu groß!« – Leonore erheiterte sich jetzt auch sichtlich, und nur noch wie ein leiser Wolkenschatten fuhr zuweilen die Erinnerung an ihre Mutter über ihr blühendes Gesicht, das gestern noch so bleich und traurig gewesen.

Denkow konnte nur bis zum Abend bleiben, und da mußte auch Richard ihn begleiten.

Richard beschloß, sich um eine Professorstelle an der schlesischen Universität zu bewerben, in deren unmittelbarer Nähe ein Gut lag, das schon Jahrhunderte in seiner Familie und immer dem ältesten Sohne zugefallen war. Leonore kannte Norddeutschland durchaus nicht, ergab sich aber leicht in den Umsiedlungsgedanken, wie ihre glückliche Natur nichts schwer zu nehmen gewohnt war.

Als sie den Pastor des nahen Dorfes mit ihrer alten Freundin, seiner Schwester Margarethe, besuchte, um ihm ihre Verlobung anzuzeigen, meinte der alte Herr: »Ei das ist ja schnell gegangen! Meine Schwester sagt mir, daß Sie einander nur zwei mal, also im Ganzen ein paar Stunden gesehen, als Sie den Bund für das ganze lange Leben schlossen?«

»Sie haben Recht, und ich kann es nur auf Eine Weise erklären.«

»Und wie?«

»Durch Zauberei!«

»Wer ist denn bezaubert, Sie oder der Herr?«

»Ich, und ich bin es noch! Gott weiß, wie es enden soll!«

Der alte Herr lachte und die alte Jungfer sagte freundlich: »Ganz gut! Denn es ist ein sehr gelehrter, gescheidter und was in der heutigen Zeit auch viel sagen will, ein christlicher Herr.«

»Was haben Sie denn beschlossen mit Ihrem Gute hier zu beginnen? Denn ich höre, daß Sie uns verlassen wollen«, fragte der Pfarrherr.

»Heim will das Gut verkaufen, da er selbst ein, noch größeres Gut in Schlesien besitzt und wir dort wohnen wollen.«

»Kennen Sie Schlesien?« fragte wieder der alte Herr mit einer gewissen Besorgniß.

»Nein, ich kenne überhaupt den Norden Deutschlands nicht. Glauben Sie, Schlesien werde mir nicht gefallen?«

»Ich weiß das nicht, ich habe einmal das Land bereist und es so ganz anders gefunden als hier; aber Sie sind jung, gehen dorthin mit einem geliebten Manne und lassen hier keine Verwandte zurück. Sie werden sich dort schon gefallen.«

So hoffte auch Leonore. Sie erhielt bald einen Brief von Richard, der nach seiner schlesischen Heimat zurückgekehrt war. Dieser Brief machte auf sie eine höchst wohlthätige Wirkung; alle Zweifel, die bis jetzt noch hier und da in ihrem so rasch eroberten Herzen ausstiegen, schlug dieser Brief siegreich zu Boden, so klar, so liebevoll, so männlich und zuversichtlich war er geschrieben. Sie las ihn immer von neuem und konnte nicht aufhören, ihr Herz daran zu laben. Aber Denkow war tief betrübt und sah mit Schmerzen dem Frühjahre entgegen, das ihm seine junge Freundin entführen sollte.

Der Rest des Winters verrann schnell für die junge Braut. Schreiben an Richard, Sorge für ihre Ausstattung, der Verkauf des Gutes sowie des Inventars, hier und da kleine Besuche bei ihren Freunden in der Stadt füllten ihre Zeit auf das beste aus und rissen sie plötzlich und gewaltsam aus der tiefen Melancholie, in die sie versunken gewesen, als Richard ankam. Er hatte die Professorstelle erhalten, die er erstrebt, und als er seiner Braut diesen glücklichen Erfolg meldete, schrieb sie ihm: »Ich sagte es ja, als ich dich zum ersten mal sah: Nichts kann dir widerstehen!«

Von Ludwig vernahm Leonore nichts, seit seiner Abreise keine Silbe. Denkow sprach nicht von ihm und sie mochte nicht nach ihm fragen.

Sie war jetzt ganz zufrieden und glücklich. Die Briefe ihres Erwählten schlossen ihr eine neue Welt auf. Er schrieb ihr nicht gewöhnliche Liebesbriefe, nein, Alles was seinen reichen Geist beschäftigte, theilte er ihr mit; aber durch alles dies schlang seine Liebe zu ihr sich wie ein glänzender goldener Faden. Jedesmal, wenn sie einen Brief empfangen – und er schrieb ihr fleißig –, fühlte sie sich gehoben und stolz, daß ein solcher Mann sie erwählt. Ihre Briefe waren wie sie selbst, natürlich, einfach und lebhaft, innig und vertrauensvoll, vor Allem aber gewiß angenehm für Richard durch die große enthusiastische Bewunderung und Dankbarkeit, die sie seinen Briefen darin zollte.

So kam der Mai und mit ihm der Bräutigam, der die wieder erblühte schöne Braut entzückt von dannen zu führen begehrte.

Da Richard katholisch war, so ließ sich Leonore von ihrem Freunde Denkow trauen, der mit tiefer Bewegung ihre Hand in die Hand des Mannes legte, den er ihr damals zugeführt, ohne zu ahnen, daß er ihm dies Mädchen entführen werde, das er liebte wie ein Vater. Niemand als der Geistliche aus dem Dorfe sammt seiner Schwester waren zugegen, und gleich nach der Trauung stieg das junge Paar in den Wagen, um der neuen Heimat zuzueilen.

Heutzutage ist Schlesien uns durch die Eisenbahn nahegerückt, damals aber war es von Schwaben nach Schlesien ein weiter Weg; aber freilich nicht für ein junges Paar, das sich seit Monden nicht gesehen und sich tausend Dinge zu sagen und mitzutheilen hatte. Richard war völlig kindisch, und wer ihn und die lebhafte, heitere, ja beinahe ausgelassene junge Frau auf ihrer Hochzeitsreise gesehen hätte, würde ihnen die ruhigste Zukunft prophezeit haben.

Auf dem Gute in Schlesien, welches, da es nur eine Stunde von Breslau gelegen, zum Sommeraufenthalte des jungen Paares bestimmt worden, sah es ziemlich wüst aus. Seit Jahren hatte Niemand da gewohnt, und obgleich Richard den Auftrag gegeben, einige Zimmer »wohnlich« zu machen, indem man dort tapeziren und anstreichen solle, so war das Alles doch sehr schlecht besorgt worden. Es waren gerade die Zimmer, wo Leonore nicht wohnen und nicht schlafen konnte, weil sie gegen Norden lagen und kalt und düster waren.

»Du mußt dir das Alles selbst einrichten, Kind«, sagte Richard; »ich verstehe so etwas nicht. Ihr Frauen habt ja darin allein das Privilegium, talentvoll zu sein, wie Denkow sagt. Bis deine Sachen anlangen, will ich dir aus dem nächsten Gasthofe, wo freilich auch nicht viel Gutes zu haben ist, einstweilen kommen lassen, was dir fehlt.«

Und es fehlte viel. Freilich waren da einige thurmhohe Federbetten, in denen man auf Nimmerwiedersehen versank, dann einige kleine Canapees, die an Härte ersetzten, was die Betten zu weich waren. Dann einige unergründlich große Schränke, die in der düstersten Ecke des Ganges standen, sodaß Leonore, wenn sie ein Schnupftuch holen wollte, immer ein Licht anzünden mußte, wie andere Frauen, wenn sie in den Keller gehen. Ebenso waren Stühle und Tische und alles Uebrige möglichst unbequem, aber Richard sagte lachend: »Mein Vater verstand von einer Einrichtung ebenso wenig wie ich, und meine Stiefmutter noch weniger als wir Beide.«

»Aber deine eigene Mutter – ist denn von ihr gar nichts mehr da? Du sagtest mir doch, sie sei eine so vortreffliche und liebenswürdige Hausfrau gewesen!«

»Das war sie; aber als sie starb, wurden alle Möbel von hier nach der Stadt gebracht, weil mein Vater damals nicht mehr hier wohnen wollte. Erst meine Stiefmutter richtete hier wieder einige Zimmer in der geschmackvollen Weise ein, die du siehst.«

Die neue Einrichtung machte Leonoren übrigens Freude, obgleich sie zu ihrer Vollendung freilich lange auf den Güterwagen warten mußte, der aus der süddeutschen Heimat eine Unzahl Kisten und Kasten mit allen möglichen nöthigen und unnöthigen Dingen brachte. Das Haus gewann bald unter ihrer gewandten geschmackvollen Anleitung ein anderes Aussehen, obgleich es durch seine ganz geschmacklose Bauart mancherlei Schwierigkeiten bot. Es war ein zweistöckiges Haus mit vielem Raum und vielen Zimmern, aber mit einem engen Flur und einer häßlichen unverbesserlichen Treppe.

Bei der Eintheilung der Wohnung entstand der erste kleine Streit zwischen dem jungen Ehepaar, eigentlich kein Streit, sondern nur eine Meinungsverschiedenheit, bei welcher natürlich die Meinung des Mannes den Sieg davontrug. Leonore dachte nämlich unten die Wohnzimmer und oben Schlaf- und Fremdenstuben einzurichten, ihr Mann aber wollte wegen der schönern Aussicht oben wohnen, und vergeblich stellte ihm Leonore vor, daß die Zimmer dort viel niedriger seien, daß man dann jedesmal die unbequeme und häßliche Treppe passiren müsse und überhaupt nicht so leicht ins Freie gelangen könne, während die Schlafzimmer unten auch feucht und unbequem sein würden. Richard ließ sich nicht auf Widerlegung ihrer Gründe ein und wiederholte nur einfach, oben sei aber eine schönere Aussicht und die Aussicht auf dem Lande die Hauptsache.

So wurde denn nur der Eßsaal nach unten verlegt, aber als Leonore aus diesem eine Thür brechen lassen wollte, um unmittelbar in den Garten schreiten zu können, wollte Richard auch das nicht zugeben. Er vertröstete auf den nächsten Sommer, jetzt mache das zu viel Umstände. – So ging es mit Allem.

Auch der Garten war durchaus vernachlässigt. Er war noch im alten Stile angelegt, das heißt in lauter geraden Wegen und einer Masse von kleinen Beeten. Auch hier ließ Richard seine Frau wenig umgestalten, denn englische Anlagen liebte er nicht. »Ich dulde keine andere als gerade Wege«, sagte er lachend zu Leonoren, »sonst kannst du machen was du willst.«

»Gut, dann will ich die Wege etwas breiter machen lassen und aus den vielen mit Buchsbäumen eingefaßten Beetchen, die aussehen wie Zuckerplätzchen auf einem Theebret, will ich ein paar große Beete machen lassen.«

»Laß doch den Buchsbaum stehen! Nein, den Buchsbaum darfst du mir nicht ausreißen lassen; das wäre schade.«

Da war also freilich nicht viel zu machen.

Leonorens Leben gestaltete sich sonst aber für jetzt ganz angenehm. Ihr Mann, der natürlich täglich in die Stadt fahren mußte, brachte oft einige Freunde mit, meistens freilich ältere Männer, Gelehrte, Professoren, die dann einen halben oder ganzen Tag die Gastfreundschaft des jungen Paares genossen. Aber Leonore, welche außerordentlich wißbegierig und bildungsfähig war, hatte große Freude an der Bekanntschaft dieser Männer, die vielleicht einer jungen Weltfrau höchst langweilig gewesen wären, denn seltsamerweise traf es sich, daß Richard nie einen jungen hübschen Mann herausbrachte; seine jungen Freunde, die Leonore kennen lernte, waren wahre Vogelscheuchen.

Sie war zu unbefangen, um daran zu denken, daß ihr Mann eifersüchtig sei; vielleicht war er es auch nicht, sondern nur mistrauisch durch die traurigen Erfahrungen, die seine eigene Mutter an seinem Vater und sein Vater als Vergeltung wieder an Richard's Stiefmutter gemacht hatte. Wie gesagt, an so Etwas dachte Leonore nicht. Sie war nur froh, wenn sie ihren Mann überhaupt sah, da er viele Zeit in der Stadt verbrachte wegen seiner Collegien und seiner Bibliothek, die er nicht gut herausbringen konnte.

So war denn die Verwaltung des Gutes beinahe ganz der jungen Frau überlassen, der sie übrigens unendlich viel schwieriger wurde, als die Verwaltung des eigenen Gutes daheim ihr jemals geworden. Die Sprache, die Sitten der Menschen waren ihr fremd; überdem fühlte sie eine unübersteigliche Barriere gegen ihre Umgebung durch die Verschiedenheit der Religion; sie fühlte, daß man sie nicht liebte in dem strengkatholischen Lande, weil sie eine »Ketzerin« war. Im Innern ihres Hauses war es ihr ebenso hinderlich, daß sie fremd war, wie in der Landwirthschaft. Die schwäbischen Gerichte, die sie anordnete, waren ihrer schlesischen Köchin ein Gräuel, und es währte nicht lange, so war sie des Widerspruchs und der spöttischen Verwunderung müde und ließ kochen, was und wie es der Küchentyrann verlangte.

Auf dem Hofe war eine Art von Oberknecht, der Georg hieß, ein verstockter, alter, eigensinniger Mann, der sich besonders viel auf den guten Fuß einbildete, auf welchem er mit unserm Herrgott stand; um dies gute Verhältniß zu erhalten, ging er regelmäßig alle vierzehn Tage zu Beichte und Communion. Er behauptete, prophetische Träume zu haben, seinen Schutzgeist reden zu hören, und gab öfters an, wie er auch sogar mit leiblichen Augen Dies und Jenes gesehen, was allen Uebrigen, die sich an seiner Seite befunden, unsichtbar geblieben. Dieser alte Georg hatte einen besondern Stein im Brete bei Richard, dem er auch vielleicht so anhänglich war, wie eine so bissige Natur es ihrem Herrn überhaupt sein konnte. Auf Leonoren hatte er aber seine besondere Ungnade geworfen. Ihre Befehle misverstand er absichtlich; sobald er bemerkte, daß ihr etwas unangenehm war, geschah es viel öfter; kurz, er übte gegen sie alle die kleinen Bosheiten, mit denen beschränkte Menschen sich Leuten gegenüber, die sie nicht lieben, ein bene thun.

Leonore sprach endlich mit Richard darüber. Er lachte laut auf. »Da irrst du dich, Kind; diese treue, ehrliche Seele kennt keine Malice. Das ist deine süddeutsche warme Phantasie, weiter nichts.« Leonore wurde ungeduldig, zuletzt empfindlich, aber Richard blieb dabei, sie auszulachen. Diese Geschichte kränkte sie mehr, als es eigentlich der Mühe werth war; aber es war auch, als wisse Georg um ihre Anklage, denn seitdem war er noch boshafter und gehässiger als früher.

Eines Nachmittags – Richard war einiger Geschäfte wegen zwei Tage in der Stadt gewesen und Leonore erwartete ihn mit Sehnsucht – sah sie den Wagen, den sie ihm geschickt, endlich ankommen. Sie war eben in ihrem Zimmer beschäftigt und trat an die Treppe, als sie ihn vor der Hausthür anfahren hörte; aber Richard kam nicht. Nachdem sie eine Weile auf der obersten Stufe gestanden, war es ihr, als höre sie ihres Mannes Stimme unten mit Jemand sprechen. In der Voraussetzung, daß es ein mitgebrachter Gast sei, eilte sie in ein Zimmer, das die Aussicht auf den Hof hatte, und öffnete das Fenster, um ihren darunter stehenden Mann und Denjenigen, mit dem er sprach, zu sehen. Wie staunte sie aber, als das Niemand anders war denn Georg, der jetzt oben das Fenster öffnen hörte und den Kopf hob. Er nahm ehrerbietig die Mütze ab, wie jedesmal, wenn er ihr begegnete; aber Leonore gewahrte auch wohl den höhnischen Blick, den er ihr hinaufsandte.

Richard hatte, als er sie sah, ihr zugenickt und war dann in das Haus hereingetreten. Leonore flog ihm nicht die Treppe hinab entgegen, wie sonst, sondern ging in ihr Zimmer; er hatte das aber nicht bemerkt und sagte wie immer: »Guten Tag, mein Kind, wie geht es dir?«

»Schlecht«, entgegnete Leonore, die kaum die Thränen zurückhalten konnte, und als er, nachdem er Hut und Paletot abgelegt, zu ihr kam und den Arm um sie legte, brach sie in Weinen aus.

»Was ist dir, Kind?«

»O es hat mich so gekränkt, daß du, nachdem wir uns volle zwei Tage nicht gesehen, anstatt zu mir zu kommen, da unten mit dem alten bösen Menschen ein langes Pour-parler hieltest.«

»Leonore, Leonore, deshalb weinst du?«

»Ich begreife recht gut, daß ich dir deshalb verrückt vorkomme, denn du hast nie Jemand geliebt, weißt also nicht, wie weh Vernachlässigung thut.«

»Auch dich habe ich nicht geliebt?« fragte Richard lächelnd.

»Nicht wie ich's meine! Ich bin nicht zu deinem Glück nothwendig!« Indem sie dies sagte, setzte sie sich auf das Sopha und verbarg ihr weinendes Gesicht auf dem Sammetkissen, das einst ihre Mutter ihr gestickt.

»Doch«, sprach Richard, »doch bist du zu meinem Glücke nothwendig. Ja«, setzte er lächelnd hinzu, als verspotte er sich selbst um der Worte willen, die er äußern wollte, »ja, bist du nicht der Inbegriff alles Glückes, das ich überhaupt besitze? Was habe ich denn sonst für Glück?«

Er stand noch immer lächelnd mit übereinandergeschlagenen Armen in der Mitte des Raumes und schaute auf Leonore, die nun auch plötzlich entschlossen sich die Thränen abtrocknete und aufsprang: »Ich will nicht mehr weinen, wenigstens nicht mehr bei dir. Ich fühle, daß das unrecht ist, denn du liebst mich soviel du kannst, und es ist nicht deine Schuld, daß dein Herz einer gemäßigten Zone entsprossen ist.«

»Liebes Kind, wir sind verheirathet – und Leidenschaft –«

»Wer spricht von Leidenschaft? Ich vermisse nur bei dir eine innigere Liebe, eine Liebe, wie meine Mutter sie mir widmete. Wenn wir uns zwei Tage nicht gesehen hatten –«

»Das war die Gewohnheit, liebes Kind, eine süße Gewohnheit, die ihr Beide schmerzlich mißtet.«

»Nein, nein, Richard; aber du verstehst das nicht, du bist gut und ehrlich, freundlich und großmüthig gegen mich, aber ebenso gegen deinen ärgsten Feind. Du kennst nicht Liebe und nicht Haß!«

»Wer wird hassen!«

»Wer liebt! Ja, ja, sieh' mich nur misbilligend an. Wie war es mir verletzend, als du bei unserm letzten Besuch in der Stadt den Professor Hagen, dessen abscheuliche Intriguen, um dir die Professorenstelle nicht zukommen zu lassen, dir wohl bekannt sind, – als du diesen Mann, der sogar durch ehrenrührige Nachreden dich verleumdet, so freundlich empfingst, wie er dich aufsuchte, weil er eine Gefälligkeit von dir erlangen wollte!«

»Ich hatte diese verjährten Geschichten längst vergessen. Das hätte dir Petersen gar nicht erzählen sollen.«

»Ja, du hast es vergessen, Richard. Aber ebenso hast du auch vergessen, was der gute alte Petersen gethan, um dir die Stelle zu verschaffen; und als er letzthin Abends hier seine alten Anekdoten erzählte, bist du beinahe unartig gegen ihn geworden. – Welch ein Contrast mit deinem Benehmen gegen Hagen!«

»Petersen langweilt mich, Hagen amusirt mich.«

»Es ist wie ich gesagt, du kennst nicht Haß und Liebe, nicht Antipathie noch Sympathie, nicht Groll und auch nicht Dankbarkeit. Wenn ich dich einmal langweile und alt und häßlich bin, liebst du mich auch nicht mehr.«

»Amusement verlange ich nicht von dir, mein Kind, und für Jugend und Schönheit bin ich sehr gleichgültig. Diesen Vorwurf werde ich nie verdienen.« Und mit dieser für eine lebhafte junge und hübsche Frau sehr zweifelhaften Zusicherung ging Richard an das Fenster und öffnete es, um nach dem Thermometer zu sehen.

Leonore bezwang sich wirklich und ließ in der nächsten Zeit keine Gereiztheit blicken. Richard hatte schon nach einer halben Stunde die ganze Scene vergessen. Eine eigene archäologische große Arbeit, dann die Uebersetzung eines großen Werks aus dem Französischen über ägyptische Alterthümer, sowie die Organisation eines naturhistorischen Cabinets für die Universität, die man ihm übertragen, nahm ihn ganz in Anspruch. Leonore sah ihn immer weniger, aber sie wußte, er arbeitete angestrengt, und wenn sie ihn fragte, gab er ihr auch Auskunft, aber eben nur wie eine Frau sie von ihrem Manne erhält, das heißt so kurz wie möglich.

Sie hatte ein ungemeines Interesse für Archäologie, für Botanik, aber freilich nur das Wissen, das ein junges Mädchen hat, welches als zehnjähriges Kind mit seiner Mutter eine Reise nach Italien gemacht und dann seine übrigen Erfahrungen aus eleganten Journalen geschöpft hat, während sie in Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte und in lebenden Sprachen mehr Kenntnisse aufweisen konnte, als gewöhnlich eine Frau. Aber was war das gegen das Wissen ihres Mannes, gegen das Wissen der Männer, die zuweilen einen Tag hier bei ihr zubrachten, – ein Tropfen gegen das Meer! So sah es Leonore, leider aber auch Richard an, und er würdigte daher seine kleine Frau selten einer Mittheilung, die sie doch gewiß sehr interessirt und auch belehrt haben würde.

So schrieb sie denn inzwischen viel an ihrem Tagebuch. Sie hatte, als sie sich das erste mal für kurze Zeit von ihrer Mutter trennte, ihr geloben müssen, jeden Tag ohne Rückhalt Gedanken und Empfindungen, die ihr selbst bemerkenswerth schienen, dort einzutragen, die Ereignisse kurz anzudeuten und so einen getreuen Spiegel ihres Innern zu stiften auf Jahre hinaus. Nun, da ihre Mutter todt war, hielt sie, gewissenhaft wie sie war, sich durch ihr Wort gebunden, und täglich Abends, wenn ihr Mann die Zeitung las, hatte sie, oft nur mit drei Worten, den Tag in ihr Buch eingetragen.

Der Winter kam. Leonore hatte ihn auf dem Gute zubringen wollen, aber sie fühlte sich dort doch so einsam, daß sogar ihre rosenrothe Laune dies nicht zu überwinden vermochte. Sie kam also auf einen frühern Vorschlag ihres Mannes zurück und bat ihn, sie in seine Junggesellenwohnung in der Stadt mitzunehmen, die er dort immer noch inne hatte, zumal seine Arbeiten ihm jetzt oft mehre Tage lang nicht gestatteten, Leonore draußen zu besuchen.

»Wie du willst, Kind«, sagte Richard, »aber mir thut es leid um dich, daß du diesen Winter gerade zuerst in der Stadt wohnen sollst. Du wirst dort wenig Freude haben, da ich durch meine Arbeiten so beschäftigt bin, daß ich dich gar nicht ausführen kann – und du also die Wahl hast, allein auszugehen oder in deinen engen vier Mauern zu sitzen.«

»Das Letzte jedenfalls«, versetzte Leonore, erfreut, daß ihr Mann ihren Wunsch jetzt wenigstens nicht abgeschlagen.

Sie richtete sich nun so gut es ging zwei Zimmer in seiner engen Wohnung ein, und war froh, aus ihrem kleinen Sibirien befreit zu sein. Die Domestiken hatte sie bis auf ein Mädchen zu ihrer persönlichen Bedienung draußen gelassen, denn da Richard's Wohnung keine Küche hatte und er jetzt, um nicht in seiner Thätigkeit gestört zu werden, keine andere beziehen wollte, so mußte sie für sich und ihren Mann die Speisen aus dem Gasthof kommen lassen. Sie hatte übrigens nicht viel gewonnen. Richard führte sie ehrenhalber zu einigen Frauen seiner Collegen, von denen ihr keine einzige zusagte. Außer einem kurzen täglichen Spaziergange aber, den sie gemeinschaftlich machten, genoß sie wenig die Gesellschaft ihres Mannes; er arbeitete den ganzen Tag und oft spät in die Nacht hinein, und so saß denn Leonore Tag für Tag in ihrem kleinen Zimmer, – gegenüber eine hohe dunkle Mauer – aller Aussicht und eigentlich auch ihrer letzten Freiheit beraubt, der, sich nach Gutdünken zu bewegen.

Die Collegen ihres Mannes, die sie draußen besucht, sah sie weniger als im Sommer, weil diese Herren alle die Gewohnheit hatten, im Winter ihre Abende in einem Club mit Whistspielen, Zeitunglesen und Tabackrauchen hinzubringen, im Sommer aber froh gewesen waren, so nahe bei der Stadt einen Besuch abstatten und zugleich einen angenehmen Spaziergang machen zu können. In das Theater kam Leonore den ganzen Winter drei mal und zwar in Gesellschaft einer der Professorfrauen, die sie kennen gelernt. Sie war übrigens durch ihre Mutter an ein zurückgezogenes Leben gewöhnt und würde auch die Vergnügungen der Stadt nicht entbehrt haben, wenn nur ihr Mann ihr mehr Zeit, oder vielleicht nur mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Aber um Morgens, Mittags und Abends, mit Ausnahme einiger sehr langweiliger Gesellschaften, immer allein zu sitzen, muß man doch resignirter und älter als zwanzig Jahre sein, was Leonore eben erst geworden war.

Zuweilen schlug sie schüchtern ihrem Mann vor, er möge doch ein paar Freunde auf den Abend einladen; doch er sagte dann jedesmal: »Lade dir ein, wen du willst, aber ich kann nicht herüber kommen. Der Drucker und der Verleger meiner beiden Werke drängen mich auf eine Weise, daß ich keine Stunde abbrechen darf.«

Einmal meinte Leonore: »Du hast mir selbst gesagt, Richard, eine deiner Arbeiten sei eine Uebersetzung, die eigentlich ebenso gut ein Anderer machen könne, wenn du nur jedesmal die Noten dazu schriebst. Probire es und gib mir ein paar Blätter zu übersetzen.«

Richard verstand sie erst gar nicht; dann erwiderte er, ohne aber einen ironischen Zug um seinen Mund ganz unterdrücken zu können: »Ich danke dir, mein Kind, das geht nicht.«

Leonore suchte sich also die Zeit zu vertreiben wie es ging. Sie las viel, sie stickte, sie besuchte wohlthätige Anstalten, aber sie fühlte sich immer gedrückter und mochte sich doch nicht selbst eingestehen, daß sie nicht glücklich sei. Ihre größte Freude waren Denkow's Briefe aus der Heimat. Dieser alte Mann war ihr der Inbegriff ihrer Familie; er hatte ihre Mutter gekannt und verehrt, er kannte sie selbst seit ihrer frühesten Kindheit, er nahm Theil an ihr. Deshalb schrieb sie ihm auch einmal: »In Ihrem letzten Briefe, lieber Denkow, sagen Sie mir, Sie seien überzeugt, daß Sie nicht mehr lange leben würden. Sagen Sie mir so etwas nicht. Drei Tage lang hat es mich ganz melancholisch gemacht. Wenn Ihre Briefe nicht mehr kommen, bekomme ich das Heimweh und sterbe; ich fühle mich so fremd hier. Sie sind mein einziger Freund und für mich, die ich gar keine Verwandte habe, auch der einzige Verwandte. Wahrhaftig Sie sind mir nöthig wie die Sonne.«

Diese Stelle in ihrem Briefe schmerzte den alten Mann. Sie ist nicht glücklich, dachte er traurig, sonst würde sie nicht so an mir und meinen Briefen hängen. Ich bin ihr Trost, aber warum bedarf sie eines Trostes? Richard ist doch zu sehr Ehrenmann, um sie zu kränken.

Leonorens Gesundheit begann zu leiden. Sie wurde mager und blaß, sie aß nur noch soviel wie sie mußte, um nicht zu verhungern. Richard, in seine Arbeiten versunken, bemerkte nichts davon. Endlich klagte sie ihm über oft wiederkehrendes heftiges Herzklopfen. Er schickte ihr einen Arzt, und als dieser sagte: es sei nichts als eine nervöse Affection, die junge Frau müsse mehr draußen sein und sich mehr Bewegung machen, – rieth Richard ihr, doch wieder auf das Gut zu ziehen. Ohnedies war der Schnee zerschmolzen und die ersten Frühlingslüfte wehten. Leonore ging jetzt selbst gern fort. Hier in der fremden alten dunkeln Stadt kam sie sich vor wie ein gefangener Vogel, und draußen dünkte ihr, hatte sie noch mehr ihren Mann gesprochen als hier; wenn er kam, war er dort doch immer aufgeräumt und mittheilend gewesen; in der Stadt war er ganz verkommen in Schreiben, Büchern und Zeitungen.

Leonore hatte gepackt und machte noch einige Abschiedsbesuche, ihr Mädchen einige Commissionen, Richard saß wie immer in seinem Zimmer und schrieb, als Jemand leise an seine Thüre klopfte. Aergerlich rief er: »Herein!« Es trat ein Handwerker ein, den Richard sich erinnerte schon heute auf dem Corridor gesehen zu haben: ja, nun erkannte er ihn, es war der Tischler, der Arbeiten draußen auf dem Gute gemacht. – Der Mann war in dringender Geldnoth und bat Richard, ihm eine Rechnung, die er heute abgegeben, doch gleich zu bezahlen.

Leonore besorgte immer diese Sachen und Richard hatte die Rechnung noch gar nicht gesehen; weil er aber an dem Manne merkte, daß er wirklich in großer Verlegenheit sich befand, so stand er auf, um im Zimmer seiner Frau, dessen äußere Thür verschlossen war, wohin aber auch ein Zugang aus seinem Zimmer führte, die Rechnung zu holen und selbst zu bezahlen. Er fand in Leonorens Zimmer eine ganz ungewohnte Unordnung, offene Koffer und Schachteln; er konnte die Rechnung zwischen allen diesen Dingen nicht finden. Endlich kam er darauf, einige unverschließbare Schubladen des kleinen Schreibtisches aufzuziehen, wo Leonore gewöhnlich Schreibpapier und Federn verwahrte; die Rechnung lag nicht da, wohl aber ein aufgeschlagenes, eingebundenes Buch, von Leonorens Hand beschrieben – ihr Tagebuch. Unwillkürlich las Richard die Worte: »Ich habe ihn wieder gesehen, er hat mir wieder dieselben wahnsinnigen Betheuerungen gemacht, und ich hatte wieder nicht die Kraft, ihn streng zurückzuweisen.«

Richard's Kopf schwindelte. Er vergaß alles Andere und las mit bebenden Lippen weiter:

»Was hilft es mir, daß ich alle Morgen auf den Knien liege und Gott anflehe, mich nicht solcher Versuchung auszusetzen? Sobald der Schlaf sich auf meine Augen senkt, steht er vor mir und flüstert mir im Traum« – »Ach doch nur im Traum, Gott sei Dank!« rief Richard erleichtert aus – »die süßesten Worte zu. Er sagt dann jedesmal: ›Wenn du mich geliebt hättest und wenn du nur noch zwei Jahre gewartet, so wärest du mein geworden und ich, ich würde dann nicht dem Ehrgeiz und der Wissenschaft, sondern meinem Weibe und der Liebe gelebt haben.‹ O Ludwig, Ludwig, wie kannst du mich so quälen! Diese ewigen Versicherungen, daß ihm das Leben eine Qual ohne mich sei, weil er mich geliebt seit er denken könne; diese Klagen, daß ihm jetzt, nachdem seine Aeltern todt und er endlich Herr seines Schicksals, nicht vergönnt sei, mir Alles zu Füßen zu legen und mich so glücklich zu machen, daß ich ihn endlich lieben müsse! O Ludwig, bin ich nicht unglücklich hier im fremden Lande, ungeliebt und ungekannt! Mußt du noch die Ruhe meiner Seele und die Ruhe meines Gewissens mir stören? Denn sind diese Träume nicht ein Unrecht gegen meinen Mann?«

»Wohl, wohl sind sie ein Unrecht«, dachte Richard. Da hörte er ein Geräusch vor der Thür und schob die Lade hastig zu. Aber es war nur der vergessene Tischler, der leise auf dem Gange hustete. Richard ging rasch hinaus, reichte ihm abschläglich einige Goldstücke und bat ihn, morgen wieder zu kommen, um den Rest zu empfangen. Als er wieder durch sein Zimmer zurückkehren wollte, hörte er das Mädchen kommen und im Zimmer ihrer Herrin aufräumen.

Richard's Seele war heftig bewegt. Nie seit dem Tode seiner Mutter, wo er doch nur noch ein Kind gewesen, hatte er sich so aufgeregt gefühlt. Freilich hatte er, seitdem er mit Leonoren verheirathet war, wenig um sie gesorgt, wenig sich um sie bemüht. Aber er hatte sie wirklich in seiner Weise lieb gehabt und auch behalten, aber eben mit dem Gefühl, daß sie nun auf ewig ihm gehöre und immer da sei, so oft er nach ihr verlange. Er hatte sie nach seiner Ueberzeugung nicht zurückgesetzt und vernachlässigt, sondern nur leider nicht mehr Zeit ihr zu widmen gehabt. »Wahrhaftig«, dachte er, »ich wäre oft Abends lieber mit meiner Frau in das Theater gegangen, als einen halben Druckbogen aus dem französischen Jargon in vernünftiges Deutsch zu übertragen.« Er fühlte nicht sich, sondern sie im Unrecht, obgleich er bedauerte, daß sie so schwach gewesen, als verheirathete Frau sich Jugenderinnerungen hinzugeben, die allein jene oft wiederkehrenden Träume erzeugt haben konnten.

Leonore kam spät nach Hause. Richard trank wie immer den Thee bei ihr. Auf einer Seite seiner Tasse lag eine englische, auf der andern Seite eine deutsche Zeitung, da dies die einzige Zeit war, wo er nicht arbeitete. Leonore sprach kein Wort, denn sie fühlte sich ermüdet und ganz besonders unwohl. Als Richard aufstand, um zu seiner Arbeit zurückzukehren, sagte sie: »Ich will dir jetzt Adieu sagen, denn heut Abend werde ich schon schlafen, wenn du zu Bett gehest, und morgen früh um sieben Uhr will dich ja Professor Hagen schon in den botanischen Garten abholen; also werde ich dich nicht mehr sehen, wenn ich da noch nicht auf bin.« Dabei streckte sie ihm freundlich die Hand entgegen.

Richard sah jetzt zum ersten mal, wie blaß und schmal sie geworden, aber er schrieb es der Liebe zu seinem Nebenbuhler zu und versetzte gereizt: »Wenn du wirklich morgen früh auf das Gut hinaus ziehen willst, werde ich selbstverständlich nicht in den botanischen Garten gehen, sondern dich an den Wagen bringen.«

Leonore sah ihn verwundert an und sagte dann erfreut: »Desto besser!«

So schieden, sie an dem Abende des Tages, der eine bisher unsichtbare Scheidewand zwischen Beiden niedergerissen und dafür zwischen ihnen eine Kluft geöffnet, die durch seine Empfindungen – war es nun Eifersucht oder verletzte Eitelkeit – viel gefährlicher zu werden drohte.

Am andern Morgen sagte Richard nach dem Frühstück zu seiner Frau: »Ich gehe jetzt hinüber in mein Zimmer; wenn der Wagen kommt, so sei so gut und sage es mir.«

»Hast du noch etwas zu bestellen?«

»Nein, aber ich will dich hinunterbringen.«

Damit ging er zum Zimmer hinaus, Leonore sah ihm verwundert nach. Daß er sie zum Wagen bringen wollte, war eine Art Aufmerksamkeit, wie er, seitdem sie verheirathet waren, eigentlich keine für sie gehabt. Der Ton aber, mit welchem er ihr diese Aufmerksamkeit verhieß, war viel weniger freundlich als der, mit welchem er sonst über gleichgültige Dinge mit ihr sprach. Der Gedanke fuhr ihr durch den Kopf, ob vielleicht ein Dritter ihm Vorwürfe gemacht, daß er sie vernachlässige, und so, indem er ihn aufmerksam für sie gemacht, ihn auch zugleich gegen sie erbittert und gereizt habe.

Als der Wagen gekommen und die Koffer aufgepackt waren, schickte sie ihr Mädchen hinüber, um es Richard zu melden; er kam heraus und bot seiner Frau den Arm, um sie die Treppe hinabzuführen. Das kam Leonoren sonderbar vor, daß sie nicht ohne Lächeln es annehmen konnte. Unten hob er sie selbst in den Wagen und reichte ihr dann erst die Hand:

»Adieu, liebes Kind, halte dich gut und pflege deine Gesundheit, daß du wieder wohl wirst.« Dabei sah er sie aber mit einem Blick an, worin für Leonoren etwas wie ein Vorwurf lag.

Sie reichte ihm noch einmal die Hand und sagte, indem Thränen in ihre Augen traten: »Adieu, Richard, bleibe nicht zu lange weg. Es ist draußen fürchterlich melancholisch, wenn du nicht da bist.«

»Uebermorgen komme ich«, entgegnete er etwas freundlicher und schüttelte ihre Hand. »Adieu!«

Der Wagen rollte fort. Leonore bog sich hinaus, um noch einmal ihren Mann zu sehen, aber er war schon in das Haus zurückgetreten.

Draußen auf dem Gute empfing sie Georg an der Thüre mit süßsauerm Gesicht. Die Zimmer oben, obgleich man seit dem frühen Morgen eingeheizt, waren noch eiskalt; die alte Köchin machte auch ein verdrießliches Gesicht, weil Leonorens Stubenmädchen in einem neuen Kleide ankam. Leonore fühlte sich so unbehaglich und unheimlich, daß sie noch keine halbe Stunde nach ihrer Ankunft schon in ihrem Sessel saß und weinte wie ein Kind.

Ihr einsames Mittagsmahl ließ sie beinahe unberührt stehen, und am Nachmittage beschloß sie, weil ihr vor dem Abend bangte, an Denkow zu schreiben und ihm offen und unverhohlen ihr ganzes Leben mitzutheilen und ihn um Rath zu fragen; denn sie fühlte, daß sie so es nicht länger aushalten konnte. Als aber der Abend kam und sie mit der Feder in der Hand vor dem Blatte saß, das ihrem alten und einzigen Freunde wahre Kunde von ihr bringen sollte, konnte sie sich doch nicht entschließen, so zu schreiben, wie sie anfangs gewollt hatte.

Jenes Geheimniß, das traurige Geheimniß ihrer Träume, das Richard so zufällig entdeckt hatte, quälte und bedrängte sie über alle Maßen. Sie war sich keines Unrechts bewußt, und doch war seit Wochen der Inhalt ihrer beinahe regelmäßig wiederkehrenden Träume der Art, daß sie um keinen Preis der Welt irgend Jemand auf Erden ihn mitgetheilt hätte. Es war, als habe ein böser Dämon ihr diese Versuchung auferlegt. Da sie erst seit ihrem Aufenthalt in der Stadt diese quälenden Träume hatte, so hoffte sie, daß sie hier auf dem Lande wieder aufhören würden, und ging mit dieser Zuversicht zu Bett.

Kaum aber war sie in Schlaf gesunken, als sie sich im Geiste in ihre Heimat versetzt fühlte, und während hier noch Alles in der Natur kahl und knospenlos war, prangten die Bäume und Büsche in Schwaben, wie es auch wol wirklich der Fall war, schon in Blüten und Blättern. Sie saß im Zimmer ihrer Mutter; aber es war, als gebe es keinen Richard auf der Welt, sie war ein freies, fröhliches junges Mädchen; auch ihre Mutter lebte noch und kam jetzt herein mit einem Reitkleid in der Hand und sagte: »Rasch, rasch, kleide dich an, er wird gleich hier sein!« – und half ihr das schöne dunkelblaue Gewand anlegen und befestigte auf ihrem Kopfe einen Hut mit einer langen schwarzen Schwungfeder; aber sie konnte gar nicht fertig werden, und schon lange klopfte Jemand draußen an der Thür und die Pferde scharrten und schlugen mit ihren Hufen das Pflaster im Hofe – und immer wollte der Hut auf dem Kopfe nicht festsitzen und immer von neuem nahm ihn die Mutter herunter, und immer von neuem nestelte sie Leonorens reiche Flechten wieder auf, die mit dem Hute heruntergefallen waren. Endlich konnte es Leonore nicht mehr ertragen. »Lasse, Mama, ich muß hinunter!« rief sie und enteilte der Mutter. Unten stand Ludwig an ein Pferd gelehnt, das einen Damensattel trug. Als galanter Stallmeister hielt er ihr die Hand hin, worin sie ihren schmalen Fuß stellte, und mit Kraft schwang er sie in den Sattel. Dann bestieg er selbst sein ungeduldiges Pferd und sie brausten zum Thore hinaus. Nun begann ein tolles Jagen; es war Leonoren zu Muth, als fliege ihr Pferd; Hut und Schleier hatte sie längst verloren, ihre gelösten Flechten flatterten um ihr Antlitz, – aber immer weiter jagte das Pferd, das sie zu halten nicht vermochte. Sie konnte keine Gegend erkennen, es war ihr, als jage sie durch dichten Nebel hindurch. Auch von Ludwig war keine Spur mehr zu sehen, und in wahrer Todesangst, weil es ihr schien, als jage das Pferd einen Berg hinab, einem Abgrunde zu, schrie sie: »O Ludwig, Ludwig, warum hast du mich verlassen?« Da hörte sie dicht neben sich eine Stimme: »Nicht ich, nicht ich habe dich verlassen; du, du hast mich verlassen!« In demselben Augenblicke stürzte ihr Pferd; tief, klaftertief sank sie mit ihm hinab, in furchtbarer Todesangst seinen Hals umklammernd, – und da erwachte sie.

Leonore richtete sich auf, zündete am Nachtlicht ihre Kerze an, faltete die Hände und vermochte die Thränen nicht zurück zu halten, die in großen Tropfen ihr aus den Augen fielen. Endlich sagte sie leise vor sich hin: »O hätte ich diese Tage und diese Nächte überstanden und läge bei meiner Mutter im Grabe.« Sie nahm, nachdem sie sich etwas gefaßt, ein Buch zur Hand, um nicht mehr einzuschlafen.

Schon am folgenden Morgen erhielt sie eine Botschaft ihres Mannes; er bat sie in einigen sehr freundlichen Worten – wenn er schrieb, war er übrigens immer sehr zärtlich gewesen – um einige Bücher, die er draußen hatte, und verhieß seine Ankunft sicher für morgen Nachmittag.

Und er hielt Wort, aber als er kam, war Leonore, die ihn so früh nicht erwartet, auf einem Spaziergange begriffen, nur von Milo, dem vielgetreuen schönen Hühnerhunde ihres Mannes begleitet.

Richard ging in das Zimmer seiner Frau. Der erste Blick bei seinem Eintreten war auf ihren Schreibtisch gerichtet, – es lag nichts da, wol aber steckte in einer der Schiebladen der Schlüssel. Richard zog die Lade auf, aber das Tagebuch, das er suchte, lag nicht darin. Indem hörte er auch unten im Hause die Stimme seiner zurückkehrenden Frau. Er ging hinaus und die Treppe hinab ihr entgegen, umarmte sie herzlich, und als sie so, den Kopf an seine Schulter gelehnt, dastand, von seinem starken Arm umfangen, bemächtigte sich ihrer eine so überwältigende Regung, daß sie in Thränen ausbrach und laut schluchzte. Richard sah sie erschrocken an und fragte, was ihr sei?

»O nichts! Ich bin froh, daß du bei mir bist; ich kann diese Einsamkeit hier nicht ertragen.«

»So kehre mit mir zurück in die Stadt«, sagte Richard, wirklich erschrocken; denn ihre Züge waren ganz verändert und entstellt.

»Wenn du eine andere Wohnung hast – deine jetzige ist auch so melancholisch.«

»Liebes Kind«, sprach Richard, ärgerlich sie loslassend, »dir ist alles melancholisch.«

»Das ist mir's auch, aber wahrhaftig, das war früher nicht so. Alle Welt sprach von meiner Heiterkeit und Lebenslust.«

Richard meinte gereizt: »Es ist mir leid, daß das nicht mehr so ist!« Und den ganzen Abend hing es wie eine trübe Wolke um seine Stirne.

Am folgenden Morgen mußte er zurück und es vergingen nun volle acht Tage, bis er wieder herauskam. Es war aber diesmal wirklich nicht seine Schuld, denn außer seinen Arbeiten hatten noch einige andere Abhaltungen statt gefunden und ihm nicht erlaubt auf das Gut zu fahren.

Leonore verlebte diese Zeit höchst trübselig, obgleich ihr Mann ihr eine Menge Bücher und Zeitschriften zuschickte. Sie schrieb an Denkow einen tief melancholischen Brief voll Klagen. Als Richard wieder heraus kam, war es noch ziemlich früher Morgen und Leonore in ihrem Schlafzimmer mit ihrer Toilette beschäftigt. Er pochte an ihrer Thüre, sie rief ihm zu, er möge hinüber in ihr Wohnzimmer gehen, sie sei gleich fertig und werde kommen. Drüben steckte wieder der Schlüssel in einer der Schiebladen des Schreibtisches, und diesmal lag auch das Tagebuch drin, an welchem Leonore offenbar erst kürzlich geschrieben, denn die Buchstaben waren zum Theil noch naß.

Richard, der jeden Augenblick seine Frau erwartete, las mit fliegender Eile: »Ich bin in Verzweiflung! Jede Nacht derselbe Traum, immer er und immer unverändert derselbe treu ergebene Freund und Verehrer, nur ich bin immer in anderer Lage. Einmal ein Kind, einmal junges Mädchen, zuweilen auch Richard's Frau, – aber nicht seine treue pflichtergebene! Allmächtiger Gott, laß diese Heimsuchungen aufhören! Mein Geist oder mein Körper erliegen dieser Qual, über die nichts, gar nichts mich tröstet, von der nichts mich zerstreut in der trostlosen Oede meines Daseins.«

Hier hörte Richard nahende Schritte und schob die Lade zu. Leonore trat ein mit blassen angegriffenen Zügen. Sie flog mit ungewohnter Heftigkeit auf ihren Mann zu, umschlang ihn mit beiden Armen und rief: »O das ist gut, daß du da bist, – nun lasse ich dich auch nicht mehr fort.«

Richard wußte selbst nicht, ob er ihr mehr grollen oder sie mehr bedauern sollte. Aber in seinem Herzen fühlte er einen tiefen, tiefen Schmerz. Und so sagte er mit trauriger matter Stimme: »Ich will auch sobald nicht fort. Meine Arbeiten sind vollendet, und ich fahre jetzt nur in die Stadt, um meine Collegia zu lesen.«

»O das ist gut, das ist gut!« erwiderte Leonore, »ich hätte es auch so nicht länger ausgehalten.«

Sie ging nun an Richard's Arm im Garten spazieren; sie war gesprächiger, er einsilbiger als je und auch zurückhaltender und weniger herzlich als je. Denn, wenn er früher unterlassen, ihr Freundlichkeit und Zärtlichkeit zu zeigen, so lag es eben in seinem Wesen; jetzt aber grollte er ihr, und nach ein paar Stunden war auch Leonore darüber im Klaren, – ahnte aber natürlich nicht, daß er ihr schmerzliches Geheimniß in ihrem Tagebuch entdeckt, sondern meinte, er zürne ihr wegen irgend einer Unterlassung oder einer Handlung, die ihm unangenehm sei. Zehnmal wollte sie ihn fragen, doch immer fehlte es ihr an Muth, wenn sie in seine ernsten großen Augen sah. Und überdem waren sie sich immer zu fremd gewesen, nie hatte zwischen den Gatten jene Innigkeit geherrscht, die allein ein rücksichtsloses Vertrauen möglich macht. Richard war jetzt freilich beinahe immer da, aber es war um nichts besser; im Gegentheil, es gab Tage, an welchen Leonore die Zeit zurückwünschte, die sie allein auf dem Gute gewesen.

Eines Abends, wo Richard noch bis spät in die Nacht geschrieben, ging er erst lange, nachdem sich Leonore zur Ruhe begeben, hinunter in sein Schlafzimmer. Es war ein kleines Cabinet, welches an das ihrige stieß. Er trat leise auf, um seine Frau, die ihm heute besonders blaß und leidend vorgekommen, nicht zu wecken. Da hörte er in Leonorens Zimmer weinen. Er öffnete rasch die Verbindungsthüre. Er hatte sich nicht getäuscht, Leonore weinte laut, aber sie lag im Bette und schlief. Den Kopf weit zurückgeworfen, den Mund halb geöffnet lag sie da, und als sich Richard mit dem Lichte in der Hand über sie beugte, sah er, daß zwischen ihren geschlossenen Lidern große Thränen hervorquollen. Er hatte wahrhaftig kein überweiches Gemüth, aber er fühlte sich doch tief erschüttert. Leise wie er gekommen, ging er zurück in sein Zimmer. Noch in derselben Nacht beschloß er, Denkow ganz ohne Rückhalt zu schreiben, er allein konnte ihm Licht über diesen Mann verschaffen, von dem Richard weiter nichts wußte, als daß er Ludwig hieß.

Am folgenden Tage machte er wirklich seinen alten und geprüften Freund zum Vertrauten seines neuen Kummers; er schrieb ihm, wie er in Leonorens Tagebuch zufällig entdeckt, daß er einen Nebenbuhler besitze – wenn auch nur im Traum! Doch halte er seine Frau für verantwortlich an dieser scheinbar unfreiwilligen Schuld, denn ihre Gedanken am Tage könnten nur solche Träume in der Nacht hervorgerufen haben. Dann fragte er, wer Ludwig sei, ob Leonore ihn früher geliebt. Kurz, er gab dem alten Denkow eine ganze Welt zu denken und aufzuklären.

Der Zufall wollte es, daß an demselben Tage auch Leonore schon wieder an ihren alten Freund schrieb, und sich zum ersten male geradezu über ihren Mann beklagte. Sein jetzt wirklich unfreundliches grollendes Benehmen, das sie durch Güte, Gefälligkeit und unbefangene Freundlichkeit durchaus nicht zu zerstreuen vermochte, gab ihr den Anlaß hierzu. Sie wäre sich keiner Schuld bewußt, schrieb sie an Denkow, und doch behandelte sie ihr Mann jetzt wie eine Schuldige, während er sie früher nur höchstens wie eine Fremde und Gleichgültige angesehen. –

So verflossen mehre Wochen, ohne daß irgend eine Aenderung eintrat. Richard war auch jetzt noch mehr bei Leonoren als früher, aber sie hatte keine Freude daran, weil er mürrischer und übellauniger war als je. Ihr Arzt, ein junger geistreicher Mann, rieth ihm, seine Frau mehr zu zerstreuen und zu erheitern, da sie nur nervenleidend sei, was aber natürlich nicht geschah und auch bei der jetzigen Stimmung der beiden Eheleute nicht gut geschehen konnte. Leonore, die an nichts mehr dachte, als an ihres Mannes Verstimmung und ihre eigene traurige und melancholische Lage, wurde also immer leidender; sie sah jetzt so angegriffen aus, daß es sogar Richard ernstlich zu beängstigen anfing.

Da, als sie eines Abends beim Thee sich gegenüber saßen, Richard wie immer eine Zeitung neben seiner Tasse, hörten sie einen Wagen auf den Hof fahren. Da es jetzt schöne Frühlingstage waren und die Fenster offen standen, so sprang Leonore auf, um zu sehen, wer da komme. Es war ein einzelner Mann, und am langsamen Aussteigen bemerkte sie, daß es ein alter Mann sein müsse. Sie zerbrach sich den Kopf, wer es sein könne. Da hörte sie den Fremden nach ihr fragen, – sie erkannte die Stimme, und mit einem lauten Freudenschrei stürzte sie zum Zimmer hinaus und die Treppe hinab, bis sie laut weinend in die Arme des alten Herrn sank, der sie tief erschüttert an sein Herz drückte.

»Wer kann das sein?« dachte Richard, der auch aufgestanden war und eben die Thüre öffnete, als Leonore mit dem Besuch eintrat. Es war Denkow.

Mit herzlicher Freude streckte der Hausherr dem Ankömmling die beiden Hände entgegen. »Welch angenehme Ueberraschung! Was führt Sie in unsere Gegend und zu uns?«

»Die Liebe zu dem Kinde da«, sagte der alte Herr, indem er die Hand auf Leonorens Scheitel legte, die auch jetzt in ihrer Freude wirklich wie ein Kind aussah und dankbar, wie außer sich vor Freude, ihr Glück, den einzigen Freund, den sie auf der Welt besaß, hier im fremden Lande, bei sich zu sehen, gar noch nicht begreifen konnte.

Denkow war offenbar sehr ermüdet und angegriffen, und es war überhaupt ein Wunder, daß der alte, in letzter Zeit so kränkelnde Mann die Reise ohne Unfall ertragen. Wäre er nicht Priester gewesen – das heißt, nicht durch seinen Stand gewohnt und verpflichtet zur Aufopferung, er hätte diese Reise wahrscheinlich bei seinem Gesundheitszustande gar nicht unternommen. Aber er fühlte, daß hier das Glück zweier edlen Menschen auf dem Spiele stand und daß er vielleicht allein es zu erhalten im Stande fein werde.

Leonorens unmäßige Freude bei seinem Anblick rührte ihn so sehr, daß er Thränen in seinen Augen fühlte; auch Richard war so herzlich wie möglich, und so fühlte sich der alte Mann schon in der ersten Stunde reichlich belohnt für seine Aufopferung.

Er sollte sich zur Ruhe begeben in dem Zimmer, das Leonore mit Aufwand aller ihrer wirthschaftlichen Talente aufs beste und bequemste für den theuern Freund einrichtete. Während sie in dieser Sorge entfernt war, sagte er zu Richard: »Ihr Brief, lieber junger Freund, hat mich hierher gerufen. Sie schrieben, daß Leonorens Gesundheit angegriffen sei, und zu gleicher Zeit, daß Sie ihr zürnen. Das ängstigte mich, denn einer Kranken darf man nicht zürnen, selbst wenn sie im klarsten Unrecht ist, weil dies Unrecht immer eine Folge ihres Leidens sein kann. Leonore hat aber keine Schuld, – in meinen Augen keine, denn ich kenne ihr Gemüth und weiß, daß es rein wie Schnee ist. Aber das arme Kind hat das Heimweh, wie ich aus ihren Briefen längst ersah, und daran – sind Sie schuld!«

Richard fragte nicht, wodurch, – er mochte das fühlen, ohne es sich einzugestehen, sondern er fragte nur hastig: »Wissen Sie gewiß, daß sie diesen ›Ludwig‹ nie geliebt hat?«

»Ja, das weiß ich gewiß!«

»Wer ist er?«

»Mein ehemaliger Zögling und jetziger Freund. Seine beiden Aeltern sind im Laufe des letzten Jahres, kurz nach Leonorens Abreise, am Nervenfieber gestorben. Er ist jetzt da, wird uns aber bald wieder verlassen, um auf meinen dringenden Rath seinen Wohnsitz in Berlin oder Wien oder Paris zu nehmen.« –

»Hat er Leonoren geliebt?«

»Seit seiner frühesten Kindheit, über alles! Noch jetzt ist er untröstlich über ihren Verlust, und ich bin überzeugt, daß er schuld ist an ihren Träumen, weil sein Geist immer bei ihr ist. Seit dem Tode seiner Aeltern, die nie eine Verbindung mit Leonoren geduldet haben würden, spricht er täglich davon, wie sehr er bedauere und beklage, jetzt nicht seiner Selbständigkeit froh werden und die Geliebte seiner ersten Jugend an den Altar führen zu können.«

»Weiß das Leonore?« rief Richard aus.

»Woher sollte sie es wissen? Nur den Tod von Ludwig's Aeltern habe ich ihr geschrieben, weiter nichts. Aber obgleich sie Ludwig nie geliebt hat und auch gewiß jetzt keinen größern Antheil an ihm nimmt, als an einem Gespielen, dem von jeher ihre Wünsche Befehle waren, der sie mehr liebte als seine Aeltern, und für den sie daher doch einer gewissen Dankbarkeit sich nicht entschlagen kann, – so muß doch sein ewiges Denken und Dichten und Trachten, seine jetzt so gesteigerte Wehmuth um ihren Verlust, ihrem Geiste kund werden. O glauben Sie mir, lieber Heim, der Zug der Geister und Gemüther ist ein mächtiger, und in meiner vielbewegten Jugend sind mir viele Beispiele vorgekommen, daß eine lebhafte und starke Sehnsucht nach einem entfernten Freunde diesem kund wurde durch eine Ahnung, sei es im Wachen, sei es im Traume. Die arme Leonore, die mir übrigens nichts davon mitgetheilt hat, kann sich diesem Einfluß um so weniger entziehen, da ihr armes Herz von Niemand sonst erfüllt und beschäftigt wird.«

Heim sagte in gereiztem Tone: »Das ist ein harter Vorwurf!«

»Nehmen Sie mir es nicht übel, aber ich hege die Ueberzeugung, daß Sie nicht gethan haben, was ich Ihnen als Warnung zuflüsterte, wie wir uns in Schwaben trennten.«

»Was war das?«

»Dachte ich mir doch, daß er es vergessen! Ich sagte Ihnen: vernachlässigen Sie Ihre Frau nicht, sie könnte das nicht ertragen, denn sie ist ein verwöhntes, liebebedürftiges Gemüth; ihre Mutter hat nur für sie gelebt.«

»Das kann ich nicht«, sprach Richard hart, »ich bin ein Mann, und zwar ein strebender Mann, dem geistige Thätigkeit und geistige Forschung ein Bedürfniß sind; ich kann mein Leben nicht ausfüllen, indem ich einer Frau zu Füßen liege.«

Denkow lächelte milde. »Wie Sie übertreiben! das verlangt auch Niemand, Leonore am wenigsten, denn sie ist vernünftig, und weiß recht gut die Liebe eines Mannes von der einer Mutter zu unterscheiden.«

Richard schritt heftig auf und ab. »Es wäre schrecklich, wenn Ihre Theorie richtig wäre; welcher Mann könnte dann noch auf die Treue seines Weibes bauen!«

»Derjenige, der sie liebt und ihr dies kund gibt!«

»Ich liebe Leonoren, aber auf meine Weise. Ja, ich bringe ihr fortwährend Opfer, ohne daß sie es ahnt. Wie gern würde ich zum Beispiel jetzt, wo ich zwei große Arbeiten vollendet habe, um einen halbjährigen Urlaub einkommen und eine Reise nach Griechenland machen, dem reichen Lande, das mir früher durch seine Kriege verschlossen war, aber jetzt von einem deutschen Prinzen regiert, dem deutschen Forscher zugänglich ist mit all seinen Schätzen, – dieses Land, das die Wiege alles Schönen und aller künstlerischen Ideen ist!«

»Warum thun Sie das nicht?«

»Kann ich denn Leonore so lange allein lassen, sie, die ohnedies sich so unglücklich in der Einsamkeit dieses ihr fremden Landes fühlt?«

»Warum wollen Sie denn sie hier lassen? Nehmen Sie sie mit!«

»Mitnehmen?« fragte Richard, als habe Denkow etwas Wahnsinniges gesagt. »Mitnehmen nach Griechenland? Eine Frau, eine verwöhnte zarte Frau mitnehmen auf eine Reise, wo archäologische Forschungen der Hauptzweck, Botanisiren und überhaupt naturwissenschaftliche Studien meine Nebenarbeiten bilden sollen? Lieber Freund, welch ein Einfall!«

»Warum denn nicht? Im Herbste, zu Anfang des Wintersemesters müssen Sie doch wieder hier sein. Was kann es Leonoren schaden, wenn sie einen Sommer lang auch häusliche Bequemlichkeit und gute Gasthöfe entbehrt? Eine Frau wie sie weiß sich in Alles zu finden; und glauben Sie mir, eine Reise nach Griechenland mit Ihnen würde auf ewig Ludwig aus ihren Träumen bannen. Ich kenne den forschungseifrigen, wißbegierigen, schönheitsdurstigen Geist der jungen Frau.«

Richard ging kopfschüttelnd auf und ab und sagte nichts mehr. Leonore trat jetzt wieder ein, um ihren Freund in sein Zimmer zu führen. Er erbat sich von ihr für den nächsten Morgen eine Unterredung nach dem Frühstück; er habe ihr Allerlei mitzutheilen – Ergebnisse der Gedanken, die er sich seither über sie gemacht.

Denkow hatte schon am frühen Morgen Richard und Leonoren im Garten zusammen auf- und abgehen sehen, das heißt, zusammen gingen sie eigentlich nicht, denn er war immer voraus und Leonore konnte ihn offenbar nicht einholen, weil er zu große Schritte machte.

Nach dem Frühstück sagte Richard zum alten Herrn: »Ich will Sie jetzt meiner Frau für ein paar Stunden überlassen, weil ich wohl bemerke, wie sehr sie sich nach einem Tête-à-tête mit Ihnen sehnt. Wenn Sie ihr Alles aus der Heimat erzählt haben, was Sie wissen, dann kommen Sie zu mir, um durch die Einsicht von einigen sehr interessanten neuen Reisewerken auch mir eine Freude zu machen.«

Denkow sagte zu, und als Richard draußen war, fragte er seine junge Freundin, ob ihr Gemahl heut Morgen mit ihr geschmollt habe?

»Nein, er war heute liebenswürdiger als seit langer Zeit. Weshalb glauben Sie das?«

»Weil, als ich Sie zusammen durch den Garten gehen sah, er nie neben Ihnen, sondern immer allein vorausging.«

»O«, lachte Leonore, »das thut er immer, und ich bin oft stundenlang mit ihm gegangen, ohne eine Secunde lang an seine Seite gelangen zu können, wenn ich nicht gewaltsam seinen Arm ergriff und mich an ihn hängte.«

»Erinnern Sie sich noch, daß ich an dem Abend, wo Richard Ihr Haus betrat, um Sie zu entführen, als er von Glück sprach, zu ihm sagte: Es käme nicht auf das Glück, sondern auf das Talent an, es zu genießen? – Richard fehlt es ganz und gar an diesem Talente; er ist unfähig, ein häusliches Glück zu genießen, er tritt es mit Füßen, ohne es selbst zu ahnen.«

Der alte Herr war aufgestanden; er ging in tiefen Gedanken auf und ab und sagte wie zu sich selbst: »Ich habe es mir gedacht; er ist eines von den steinharten Gemüthern, die gar nicht das Bedürfniß zu beglücken kennen; er ist Einer von Denen, die majorenn geboren werden; sie bedürfen keinen Rathgeber, keinen Freund, keine Frau, auch wenn es ihnen zuweilen so vorkommt; und dann war er auch noch in einer zu schlimmen Schule. Dies Unglück seiner Mutter, die widerlichen Eigenschaften seines Vaters und später seiner Stiefmutter, die Unerträglichkeit seiner drei Geschwister haben jedes Familienleben in seinem älterlichen Hause unmöglich gemacht, Familienleben und Familienglück muß aber der Mensch frühe kennen lernen, später ist er dafür nicht mehr empfänglich. Ich bedauere die Frau des Mannes, der nicht mit Sehnsucht und Liebe an sein Vaterhaus denken kann; sie wird das entgelten.«

»O mein väterlicher Freund«, seufzte Leonore.

»Aber auch Sie«, fuhr Denkow fort, »haben Schuld an einem Verhältnisse, das nicht so ist, wie es sein sollte.«

»Nennen Sie mir meine Fehler, mein Vater, ich will mich bessern.«

»Da Sie nicht durch die große Hauptthüre als geliebte Hausfrau – weil ihm für den Reiz dieser Eigenschaft der Begriff fehlt – in sein Herz einziehen konnten, so mußten Sie es auf einem andern Wege versuchen.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie werden mich gleich verstehen. Sie kannten sich Beide nicht; Ihre Verbindung war nur die Folge eines Einfalls Ihres Mannes, der sich plötzlich einbildete, er werde das Glück, dessen Entbehrung er mit einem male empfand, an Ihrem Herde finden. Man kann aber nicht glücklich gemacht werden, wenn man nicht selbst glücklich macht. Das that er nicht; er bemühte sich, als er Sie errungen und seine plötzliche Laune befriedigt war, nicht weiter um Sie, nahm aber Sie mit Ihrem ganzen Leben in Anspruch. Niemand kann aber lange geben, ohne zu empfangen.«

»Was hätte ich nun thun sollen?«

»Durch eine Hinterthür in sein Herz schlüpfen und sich ihm dann unentbehrlich und theuer machen.«

»Durch welche Hinterthür? Durch was mich ihm theuer machen? O, sagen Sie es mir!«

»Als seine Gehülfin, als seine Gefährtin, als die Genossin seines Strebens, seiner Arbeit. Es gibt genug Menschen, die keinen Freund brauchen; einen Gehülfen aber kann Niemand entbehren.«

»O das habe ich versucht! Ich habe ihn gebeten um seine Bücher, ich habe ihn gebeten, mich Theil nehmen zulassen an seinen Arbeiten, mir seine Uebersetzungen anzuvertrauen.«

»Nun, und was hat er da gethan?«

»Mir Mitleid, ja zuweilen Spott gezeigt, aber Alles rund abgeschlagen.«

»Spott?« rief Denkow so eifrig, daß Leonore lächeln mußte; »Spott? Er soll Respect bekommen, und müßte ich hier bleiben Jahr und Tag, ich weiche nicht eher, als bis ich ihn so weit gebracht habe. Aber wir sind jetzt auf gutem Wege! Nur Geduld, kleine Freundin, nur Geduld und – thätige Hülfe! Wir wollen diesen superklugen Norddeutschen doch mit unserer schwäbischen Einfalt schlagen.«

Er theilte nun der jungen Frau mit, daß Richard eine Reise nach Griechenland zu machen wünsche, und wie er ihm gerathen, sie zu unternehmen und sich von seiner Frau begleiten zu lassen.

Leonore lebte bei dem Gedanken völlig auf. Eine Reise nach Griechenland – und mit ihm, der in ihren Augen allein den Schlüssel zu aller dort aufgehäuften Pracht und Herrlichkeit besaß! Sie fühlte sich aus tiefer Melancholie plötzlich auf den Gipfel des Glücks gehoben; ihre Wangen glühten – sie war zehn mal aufgeregter als an ihrem Hochzeitstage.

Denkow beschloß nun einen Hauptstreich, eine Ueberrumpelung zu wagen, die er natürlich nur bei einem im Grunde so gutmüthigen Menschen wie Richard unternehmen konnte, ohne schlimme Folgen zu befürchten. Er ging auf Richard's Zimmer, sprach aber von nichts als wissenschaftlichen Gegenständen. Erst bei Tisch, als der Nachtisch, ein von Leonore besonders kunstreich zubereiteter Kuchen aufgetragen war, und Richard ausrief: »Dazu gehört Champagner!« und eine Flasche aus dem Keller holen ließ, da sagte Denkow lächelnd: »Ich trinke nur von Ihrem Champagner, wenn Sie mir auf meinen Toast Bescheid thun.«

»Warum nicht?« versetzte Richard; »Sie werden als geistlicher Herr schon mein Gewissen wahren, an allem Uebrigen liegt mir nichts.«

»Was soll das heißen?« fragte Leonore, »was verstehst du unter allem Uebrigen?«

Aber Denkow unterbrach sie, indem er sein Glas hoch aufhob und ausrief: »Trinkt mit mir auf eine schöne Reise nach Griechenland!«

Ueber Richard's Stirne flog ein Schatten, aber er leerte sein Glas und sagte dann ziemlich freundlich: »Ich wünsche nichts Besseres.«

»Ich habe Ihnen auch schon einen vortrefflichen Secretär ausgesucht, denn Sie klagten mir ja einmal, daß es Ihnen so unangenehm sei, an manchem schönen Tage auf Reisen im Zimmer sitzen zu müssen, um Ihre Notizen zu ordnen, da sich das nicht aufschieben lasse bis zur Rückkehr, wenn nicht zu vieles Wichtige vergessen werden solle.«

»Was ist das für ein Mensch?« fragte Richard mit der echten Naivetät eines Gelehrten. »Hat er studirt, kennt er Sprachen?«

»Studirt hat er nicht, aber viel gelernt«, erwiderte Denkow, der kaum seinen Ernst beibehalten konnte. »Es ist ein Schüler von mir im Lateinischen; außerdem kennt er Französisch, Englisch, Spanisch und spricht die drei Sprachen geläufig.«

»Aber was ist sein eigentliches Fach, was hat er werden wollen?«

Leonore hatte längst Denkow verstanden, aber ihr Herz klopfte und sie tadelte innerlich ihren alten Freund über das kühne Wagniß. Denkow wandte sich jetzt plötzlich an sie und meinte lächelnd: »Sie kennen ihn ja auch, was ist sein eigentliches Fach?«

»Ich habe den lateinischen Namen vergessen«, sagte Leonore trotz aller ihrer Angst mit einem Anflug von Humor.

»Das wird dir Niemand übelnehmen«, schob Richard ein, »von Frauen verlangt man nicht, daß sie lateinische Wörter behalten. Aber Sie sagten ja, er habe nicht studirt?«

»Das hat er auch nicht. Aber sehen Sie zum Beispiel hier Ihre Frau an, die hat auch nicht studirt und hat doch außer ihrem fertigen Französisch-, Englisch- und Spanisch-Sprechen sich noch einen recht hübschen Anfang des Lateinischen angeeignet. Sie würde freilich noch keinen Cicero abgeben können.«

»Ist es wahr, Mäuschen?« rief laut lachend Richard, »gehörst du zu den wenigen Frauen, die amo laut gesagt, ehe sie ›ich liebe‹ flüsterten? Diese glänzende Errungenschaft, die ich an ihr gemacht, wird mir erst heute klar, nachdem sie schon beinahe ein Jahr meine Frau ist? – Leonore, du bist eine seltene Frau; denn sonst, wenn ihr Etwas wißt, macht ihr Einen schon in der ersten Stunde damit bekannt. Doch jetzt zurück zu dem jungen Menschen. Sagen Sie mir Näheres über ihn.«

»Sie kennen ihn selbst; aber wie alle Gelehrte von Menschen eine verkehrte oder gar keine Meinung haben, so geht es Ihnen auch hier.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Der Secretär ist weiblichen Geschlechts, aber: sexu femina, ingenio vir.«

Erst nun wurde dem Hausherrn die ganze Intrigue des alten Herrn klar. Er sah seine Frau an, als wolle er aus ihren Zügen lesen, ob sie an dieser Mystification Theil genommen. Sie hielt seinen Blick aus, und ihm dann freundlich über den Tisch die Hand bietend, sagte sie: »Ich wußte nicht, zu welchem Amte mich mein alter Freund ausersehen; aber wenn ich dir gut genug bin, soll das alte deutsche Sprichwort: ›Wem der Herr ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand‹, an mir sich bewahrheiten. Auch ist der Herr diesmal ja nicht Gott, sondern du, der mich lehren wird, dir eine wahre Hülfe und Unterstützung zu sein. Kannst du mich brauchen?«

Wir haben früher gesagt, daß Leonore ein auffallend schönes Geschöpf war. Aber nie, gewiß nie in ihrem Leben war sie schöner gewesen, als jetzt, wo sie, ihre großen dunkelblauen Augen in Angst und Erwartung auf ihren Mann gerichtet, den feinen Mund halb geöffnet, ihn ansah wie ihr Orakel. Richard hatte doch nicht umsonst die Antike studirt. Er war auch empfänglich für ihre Schönheit geworden, und jetzt zum ersten mal kam die Ueberzeugung über ihn, daß eigentlich seine Frau vor vielen Jahrhunderten den Griechen als Vorbild einer Minerva unschätzbar gewesen sein würde. Er antwortete nicht. Er sah sie nur mit unverstellter Bewunderung an und wandte sich dann zu Denkow: »So hat Leonore nie ausgesehen, wie heute! Finden Sie das nicht auch?«

Denkow lachte. »Ich finde, Ihre Bewunderung kommt etwas spät. Doch mieux tard que jamais! Ist mein Einfall nicht gut, ist sie nicht ein unvergleichlicher Secretär?«

»Wirst du es auch aushalten, Kind?« fragte nun Richard seine Frau. »Manchmal die Nacht nichts über dir als ein Zelt, – keine andere Nahrung oft, als ein paar Früchte und ein wenig Brot? Alle Toilettenrequisiten, wovon du in deinem Schlafzimmer ein paar Tische voll stehen hast, oft wochenlang nicht in der Nähe?«

»Was liegt mir daran, wenn ich mit dir in Griechenland sein kann!«

»So will ich noch heute um den Urlaub einkommen«, rief Richard entschlossen aus. War es Denkow's Ueberredung, seine eigene späte Ueberzeugung oder die ihn plötzlich anleuchtende Schönheit seiner Frau – wir wissen es nicht, aber er gab nach.

Denkow war nun beruhigt. Als Leonore einmal das Zimmer verlassen, ließ er sich von Richard das Versprechen geben, daß er nie und unter keiner Bedingung seiner Frau verrathen werde, daß er das Geheimniß ihrer Träume aus dem Tagebuch erfahren. »Es würde sie nur betrüben und beschämen«, sagte Denkow, »und das arme Kind verdient das nicht.« Richard versprach es gern.

Denkow mußte bald darauf einmal mit nach der Stadt fahren und benutzte diese Gelegenheit, Richard zu vermögen, für den kommenden Winter eine freundliche und große Wohnung zu miethen, wo seine Frau mit Freuden die Hausfrau spielen könne.

Richard erhielt den Urlaub und bald darauf reiste er mit seiner glücklichen Frau nach dem schönen Griechenland, Denkow aber nach Schwaben ab. Dort erhielt der Letztere einige Monate nachher folgenden Brief aus Athen von ihr.

»Lassen Sie sich erzählen, mein Freund, von dem Glück einer Frau, das Sie allein gegründet. Niemand wird es glauben, daß ich, nur um meinem Manne seine Häuslichkeit und seine Frau lieb zu machen, mit ihm beinahe aus der Welt laufen und blaue Strümpfe anziehen mußte. Bisher war ihm sein Tintenfaß unendlich viel unentbehrlicher, als ich. Das ist jetzt anders. Jeden Tag versichert er mich, daß er ohne mich nicht mehr bestehen könne. Er ist unpraktisch, ich bin praktisch und wende jetzt eine Eigenschaft, die uns der liebe Gott für Haus und Küche verliehen, bei Alterthums- und Steinsammlungen an.

Ich führe die Register und stelle die Notizen zusammen, miethe die Führer und bezahle die Wirthshausrechnungen, schreibe am Abend das Reisetagebuch, das Richard, müde auf den Kissen lagernd und eine Papiercigarre rauchend, mir dictirt, – bin also Registrator, Secretär, Reisemarschall und Kassier in einer Person, und was das Beste ist – alles zu Richard's Zufriedenheit. Wenn wir zurückkommen, soll ich unter seiner Dictée die ganze Reise beschreiben oder, wie er sich gestern galant ausdrückte, wollen wir zusammen die Ergebnisse unserer Reise in Griechenland schreiben. Diese Reise ist jedenfalls das Alpha meines ehelichen Glückes.«

Dann kam eine begeisterte Schilderung des zauberischen Landes, das sie jetzt kennen lernte, und welch wohlthätigen Eindruck es auf ihre Nerven und ihre Gesundheit überhaupt geäußert.

»Am Tage bin ich thätig und Nachts schlafe ich wie ein Murmelthier, denn, – was das Beste ist, – die ängstlichen Träume, von denen ich das letzte halbe Jahr in Schlesien verfolgt wurde und von welchen ich Ihnen noch gar nichts gesagt, haben mich, Gott sei Dank, hier in diesem Lande des Heils sicher für immer verlassen.«

Ja wohl, Gott sei Dank! dachte Denkow, den Brief zusammenfaltend, wollte der Himmel, daß ich über Ludwig ebenso ruhig wäre wie über diese Beiden!

Und er hatte recht über die Beiden ruhig zu sein, denn Leonore hat sich wirklich ihren Mann erobert. Sie ist, wie Denkow sagt, klugerweise durch eine Seitenthür in ein Herz eingezogen, dessen verrostete Hauptthüre sie sich nicht zu öffnen vermochte. Jahre sind verflossen und wer jetzt Richard sieht, hält ihn für den besten und zärtlichsten der Ehemänner; sogar liest er seine Zeitung nicht mehr bei Tisch, seitdem ihn Leonore auf das liebenswürdigste gebeten, das zu unterlassen. Das Tagebuch, worin die unglücklichen Träume verzeichnet sind, ist von Leonoren verwandt worden, um das Feuer anzuzünden, bei welchem das erste Süppchen für Richard's erstes Söhnchen gekocht wurde.

Von Ludwig erhielt sie einige Jahre später einen Brief, der ihr unendliche Trauer bereitete. Er enthielt die Todesnachricht ihres väterlichen Freundes Denkow, der in Ludwig's Armen gestorben und ihrer noch im letzten Augenblick gedacht hatte. Ludwig schrieb:

»Ich habe meinen einzigen Freund und Vertrauten verloren, und in einem Alter, wo der Mann sonst den Mittelpunkt eines geliebten Kreises bildet, versenke ich meinen letzten Trost in die Erde. Reichen Sie mir im Geist die Hand und beweinen Sie mit mir den Verklärten, der Ihnen viel und mir Alles war.«

Leonore gab unter strömenden Thränen den Brief ihrem Mann. Nachdem er gelesen, legte Richard ihn erschüttert vor sich hin, reichte der noch immer weinenden Leonore die Hand und sagte: »Nicht wahr, du weinst nur um den Verlust des einen Freundes?« – Aber Leonore konnte nicht sprechen, sie hob nur ihre guten ehrlichen Augen zu dem Vater ihrer Kinder auf, und er sprach gerührt und beruhigt: »Gott segne dich für dein Herz!«

*

 

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.


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