John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Achtzehntes Kapitel

Das Ende

Um Mitternacht erreichte er so erschöpft seine Gemächer, daß er sich nicht die Zeit nahm, das Licht anzudrehen und in einen Sessel fiel . . . Vorhänge und Gardinen waren zur Reinigung beseitigt und die hohen Fenster gestatteten den großäugigen Ausblick in die Nacht. Wie ein verlorener und verlassener Mensch einen anderen ansieht, so richtete Schelton seine Augen auf die draußen dräuende Dunkelheit . . .

In seinem Zimmer schwebte eine ungelüftete, staubgeschwängerte Atmosphäre; allein, gleich dem plötzlichen Lufthauch von Gras oder Blumen, der einem manchmal in den Straßen zuweht, drang ein süßer Wohlgeruch auf ihn ein: die Würze der verwelkenden Gartennelke, die noch immer in seinem Knopfloch stak. Und im Nu erwachte er aus seiner sonderbar starren Bewußtlosigkeit. Ein Entschluß mußte gefaßt werden. Er stand auf, eine Kerze anzuzünden. Auf allem, was er berührte, lag dick der Staub. »Pfui,« dachte er, »wie abscheulich!« Und mit furchtbarer Macht überkam ihn wieder jenes dumpfe Gefühl der Vereinsamung, das ihn auf dem Steinsitz zu Holm Oaks erfaßt hatte . . .

Ungeordnet lag ein Haufen von Rechnungen und Zuschriften auf seinem Tisch. Er öffnete sie, ihre Umhüllung mit jener Zufallshast aufreißend, die Männern eigen ist, die von ihrem Urlaub zurückkehren. Ein einziges langes Kuvert lag gesondert. Und er las:

Mein teurer Dick!

»Beifolgend sende ich Dir den abgeänderten Entwurf Deines Ehevertrages. Er ist nun in bester Ordnung. Sende ihn mir vor Ablauf der Woche wieder zurück, damit ich ihn zur Unterfertigung ins Reine schreiben lasse. Kommenden Mittwoch reise ich für einen Monat nach Schottland; werde aber noch rechtzeitig zurück sein, um Deiner Hochzeit beiwohnen zu können. Übermittle Deiner Mutter, wenn Du sie siehst, meine Liebe.

In herzlicher Zuneigung Dein Onkel

Edmund Paramor.«

Schelton lächelte und zog den Entwurf heraus:

»Dieser Vertrag, gemacht am ... Tage des Monats ... und Jahres 190.., zwischen Richard Paramor Schelton . . .«

Er legte ihn nieder und sank zurück in seinen Sessel – in jenen Sessel, auf dem der ausländische Landstreicher alle Morgen, an denen er kam, um ihm eine Vorlesung über Lebensphilosophie zu halten, zu sitzen gewohnt gewesen war . . .

Nicht lange verweilte er sitzend, sondern erhob sich in lauterster Unglückseligkeit und wandelte im Zimmer umher, hier und da Gegenstände mit seinen Fingern berührend. Dann blickte er in den Spiegel und sah sein in seiner Kläglichkeit ihm abstoßend erscheinendes Gesicht darin . . . Schließlich begab er sich nach dem Vorzimmer, öffnete die Wohnungstür, um abermals hinunter zu gehen in die Straßen. Aber die plötzliche Gewißheit, daß er auf der Straße oder im Hause, auf dem Lande oder in der Stadt, immerdar sein Mißgeschick mit sich führen müsse, veranlaßte ihn, sie rasch wieder zu schließen. Er tastete im Briefkästchen und zog einen Brief heraus; und mit diesem ging er nach dem Wohnzimmer zurück.

Er war von Antonie. Und so groß war seine Aufregung, daß er gezwungen war, dreimal von dem Fenster bis zur gegenüberliegenden Wand auf und ab zu gehen, ehe er den Brief zu lesen vermochte . . . Dann erst, mit einem so heftig hämmernden Herzen, daß er kaum das Papier halten konnte, war es ihm möglich zu lesen:

»Ich tat Dir unrecht, Dich zu ersuchen, wegzugehen. Ich begreife nun, daß ich damit mein Dir gegebenes Versprechen brach und das zu tun, lag mir fern. Ich weiß selbst nicht, warum uns alle Dinge so ganz anders ausgehen. Du denkst über nichts und nie so wie ich.

Immerhin möchte ich Dir doch sagen, daß jener Brief von Monsieur Ferrand an Mutter eine Frechheit war. Natürlich, Du wußtest nicht, was er enthielt. Aber als Professor Brayne Dir diesbezüglich während des Frühstücks eine Frage stellte, hatte ich so das Gefühl, daß Du der Meinung wärest, er habe recht und wir alle hätten unrecht, und das kann ich nicht verstehen. Und dann am Nachmittag, als jenes Weib ihr Pferd verletzte, dünkte mich auch, als ob Du ihre Partei ergriffest! Wie kannst Du nur auf solche Weise empfinden?

Ich muß Dir all dies sagen, denn ich glaube nicht, daß ich berechtigt gewesen bin, von Dir zu verlangen, wegzugehen. Und ich wünsche, daß Du mir Glauben schenken mögest, wenn ich Dir sage, daß ich mein Versprechen halten werde. Täte ich's nicht, so würde ich fühlen, daß Du, wie auch sonst irgend jemand, berechtigt wärst, mich zu verdammen. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, lag wach und habe heute früh einen bösen Kopfschmerz. Mehr kann ich nicht schreiben.

Antonie.«

Der erste Eindruck dieses Briefes war eine Art ihn erleichternder Betäubung und Bestürzung, in die sich ein Element des Zornes mischte. Noch schonte sie ihn, gewährte ihm also huldvollst einen Aufschub! Sie wollte ihr Versprechen nicht brechen, sie erachtete sich also für gebunden! Mitten in diesem Gedanken leidenschaftlichen Gehobenseins lächelte er und dieses Lächeln war höchst merkwürdig . . .

Nochmals las er den Brief durch. Und er begann wie ein Richter zu erwägen, was sie geschrieben, ihre Gedanken, als sie schrieb und die Umstände, die alles herbeiführten.

Das Abschiedsdokument des Landstreichers hatte eben seine Mission besorgt . . . In Ausübung seines unheilvollen Talents, die Dinge ihrer Hülle zu entblößen, war Ferrand nicht entschwunden, ohne recht gründlich darzutun, welchen Kalibers sein Gönner sei . . . Selbst Schelton war es nun endlich klar, welcher Menschengattung er angehörte . . . Antonie fühlte, daß ihr Liebhaber einen Verrat verübte – ein Verräter an allem, was ihr heilig . . . Und als er, selbst in dieser Folterqual der Unschlüssigkeit, sein Herz prüfte, empfand Schelton, daß dies wahr sei . . .

»Und dann am Nachmittag, als jenes Weib ihr Pferd . . .« Jenes Weib! ». . . Dünkte mich auch, als ob Du ihre Partei ergriffest!«

Allzu klar erschaute er nun ihren Geist: seine lautere Strenge, intuitive Erfassung all dessen, womit zu sympathisieren nicht recht geheuer sein mochte; sein Instinkt der Selbsterhaltung und die spontane Verachtung für diejenigen, die jener Instinkte bar waren . . . Und jene Worte hatte sie nur geschrieben, weil sie sich für gebunden erachtete, an ihn gebunden – an einen Mann mit Sentimentalität, aufrührerischen Meinungen und mangelhafter Prinzipienfestigkeit! Hier lag die Antwort zu der Frage, die er sich den ganzen Tag gefragt hatte: »Wie kam es, daß die Dinge sich so zuspitzten?« Und er begann, Erbarmen mit ihr zu empfinden . . .

Armes Kind! Wie konnte sie ihrem Liebhaber den Abschied geben? Schon in dieser Zumutung lag doch etwas so Vulgäres! Niemals sollte man sagen dürfen, daß eine Miß Antonie Dennant ihm zuerst ihr Jawort und dann einen Korb gab. Derlei Dinge tut keine Lady! Unmöglich, es auch nur auszudenken! Und auf dem Grunde seines Herzens regte sich eine seltsame, unbewußte Sympathie mit einer solchen Unmöglichkeit . . .

Noch einmal las er den Brief, dessen Inhalt ihm nun, wie durch einen neuen Sinn befruchtet, schien. Und der Zorn, der sich seinem ersten Eindruck der Erleichterung beigemengt, löste sich nun los und wuchs an und für sich als Macht heran . . . In diesem Brief war etwas ihn Tyrannisierendes zu verspüren, ein Verbot seines Rechtes auf einen selbständigen Gesichtspunkt. . . . Heiratete er sie, dann heiratete er nicht nur sie. sondern ihre Klasse – seine Klasse! Mahnend würde diese immer vor ihm stehen und ihn zwingen, auf sie und auf sich, auf alle Leute, die sie kannten und alle Dinge, die sie taten, Rücksicht zu nehmen, mit Selbstzufriedenheit zu blicken. Immer würde, ihn betreuend, diese Klasse vor ihm stehen und ihn zwingen, sich erhaben, überlegen über jeden und jede zu fühlen, deren Leben andere moralische Gußformen ausfüllte, als das seine, das ihre. Ihn zwingen, sich erhaben, überlegen zu fühlen – nicht aufdringlich geräuschvoll, wohl aber mit dem Gefühl in seinem Unterbewußtsein, einzig und allein der Gerechte, der Biedermann zu sein . . .

Allein plötzlich kam ihm vor, als ob sein Zorn – der, wie jener Paroxismus war, der ihn vor zwei Tagen zu dem Connaisseur hatte murmeln lassen: »Wie hasse ich euer aller abscheuliches Sichüberlegendünken!« – ohnmächtig und possierlich in einem wäre. Was half es, sich zu ärgern? Er stand ja auf dem Punkte, sie zu realisieren! Und die Qual jenes Gedankens, die auf seinen Zorn zurückwirkte, verdreifachte diesen wie jene. Wie war sie doch ihrer selbst gewiß! Wie erhaben über ihre Gefühlsregungen! über ihre naturgemäßen Impulse – ja, sogar erhaben über ihre eigene Sehnsucht, von ihm ihre Freiheit wieder zu erlangen! Immerhin, Schelton durfte dieser Tatsache ganz sicher sein, brauchte nicht an ihr zu zweifeln. Sie stand außer jeder Frage. Sie liebte ihn keineswegs wirklich – wäre sogar sehr gern wieder frei gewesen, würde aber nie ihr ihm gegebenes Versprechen zurückziehen!

In seinem Schlafzimmer zu Holm Oaks hing ein Gemälde, das eine Gruppe rings um das Eingangstor des Hauses darstellte. Die honourable Charlotte Penguin, Mrs. Dennant, Lady Bonington, Halidome, Mr. Dennant und der Mann aus farbigem Glase – sie alle waren darauf; und auf der linken Seite, gerade vor sich hin blickend, stand Antonie. Mehr als das aller übrigen drückte just ihr Antlitz in seiner frischen Jugendlichkeit den von ihnen allen eingenommenen englisch-vornehmen Standpunkt aus. Hinter diesen kalten jungen Augen lag eine ganze Welt von Wohlgeborgenheit und Tradition. Sie schienen zu sprechen: »Ich bin nicht, wie andere . . .«

Und von diesem photographischen Bilde hoben sich Mr. und Mrs. Dennant vereinzelt ab. Er konnte deutlich ihre Gesichter wahrnehmen, wie sie sprächen – ihre Gesichter, mit einem sonderbaren und verstörten Ausdruck . . . Und er vermochte – noch immer entschieden, aber ein wenig herbe, als ob sie gezankt hätten – ihre Stimme zu vernehmen:

»Benahm sich wie ein Esel!«

»Ach, es ist allzu betrübend!«

Auch sie hielten ihn für nicht zuverlässig und für unerwünscht. Aber um die Situation zu retten, wären sie doch froh, ihn zu behalten. Sie wollte ihn nicht, liebte ihn nicht, aber um alles in der Welt wollte sie ihr Recht, sagen zu können: »Gemeinere Mädchen mögen ihr Versprechen brechen, ich aber würde so etwas nie tun!« nicht verlieren. Er ließ sich an dem Tische, zwischen den Kerzen, nieder und bedeckte sein Angesicht . . . Immer stärker und stärker wuchsen Zorn und Schmerz in seinem Innern. Da sie sich nicht selbst befreien wollte, oblag es ihm, sie frei zu geben! Sie war bereit, ihn ohne Liebe zu heiraten, als Opfer ihres Ideals, wie sie zu sein habe!

Jedoch, schließlich und endlich, bildete der Stolz nicht allein ihr Monopol!

Als ob sie vor ihm stünde, konnte er die Schatten unterhalb ihres Auges sehen, die zu küssen er geträumt, die eifrigen Bewegungen ihrer Lippen . . . Einige Minuten verharrte er, ohne Hand oder Glied zu rühren. Dann aber loderte nochmals der Zorn in ihm auf. Sie wollte sich – aber auch ihn opfern! Seine ganze Manneswürde bäumte sich angesichts eines solchen sinnlosen Opfers höhnisch auf . . . Nicht das war es, was er gewünscht, erhofft hatte!

Er schritt zum Schreibtisch, nahm Briefpapier und Kuvert und schrieb das Folgende:

»Niemals gab es, noch gibt es, oder würde es je zwischen uns geben dürfen irgend eine Frage des gegenseitigen Gebundenseins. Ich lehne es ab, aus einer solchen Sache meinen Vorteil zu schlagen. Du bist absolut frei. Unsere Verlobung ist auf Grund wechselseitiger Einwilligung zu Ende.

Richard Schelton.«

Er versiegelte das Brieflein. Und mit seinen Händen zwischen den Knien sitzend, ließ er seine Stirne tiefer und tiefer auf den Tisch herabsinken, bis sie auf seinem Ehevertrag ruhte . . . Und ein Gefühl der Erleichterung erfaßte ihn wie einen Wanderer, der am Ende seiner Pilgerfahrt erschöpft zusammenbricht . . .

 


 


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