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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Stone wartet

Am selben Spätnachmittag, während Stone in seinem Zimmer saß und schrieb, hörte er eine Stimme sagen:

»Vater, hör' einen Augenblick mit dem Schreiben auf und sprich mit mir!«

Ein Ausdruck des Erkennens trat in seinen Blick; es war seine jüngere Tochter, die zu ihm sprach.

»Liebes Kind,« sagte er, »bist du nicht wohl?«

Indem sie seine hagere, durchäderte und feuchtkalte Hand mit der ihren warm umschloß, entgegnete Bianca: »Einsam bin ich.«

Stone sah starr vor sich hin.

»Der Hang zur Einsamkeit,« sagte er dann, »ist des Menschen größter Fehler.« Sein Blick fiel auf die vor ihm liegende Feder, und er versuchte, seine Hand danach auszustrecken.

Bianca drückte sie nieder. Und unter dem warmen Druck ihrer Hand begann sich etwas in ihm zu regen. Seine Wangen röteten sich.

»Küß' mich, Vater!«

Stone zögerte. Dann berührte er entschlossen ihr Augenlid mit seinen Lippen. »Es ist naß,« sagte er. Er schien einen Augenblick bemüht, nach dem Zusammenhang zwischen Feuchtigkeit und dem menschlichen Auge zu suchen. Aber gleich darauf wurde sein Gesicht wieder heiter-ruhig. »Das Herz,« sagte er, »ist ein dunkler Brunnen, – seine Tiefe unbekannt. Ich habe achtzig Jahre gelebt. Ich schöpfe noch immer Wasser.«

»Schöpf' ein wenig für mich, Vater!«

Diesmal blickte Stone seine Tochter besorgt an und sagte dann rasch, als fürchte er, es zu vergessen, wenn er wartete:

»Du bist unglücklich!«

Bianca drückte ihr Gesicht gegen seinen Lodenärmel. »Wie gut dein Rock riecht!« murmelte sie.

»Du bist unglücklich,« wiederholte der alte Mann.

Bianca ließ seine Hand fallen und ging ein paar Schritte von ihm fort.

Stone folgte ihr. »Weshalb?« fragte er. Dann, sich an die Stirn fassend, fügte er hinzu: »Wenn es dir vielleicht gut täte, ein paar Seiten zu hören, könnte ich dir vorlesen.«

Bianca schüttelte den Kopf.

»Nein; plaudere mit mir!«

Stone entgegnete ratlos: »Ich hab's verlernt.«

»Du plauderst doch mit der Kleinen,« murmelte Bianca.

Stone schien sich in Grübeln zu verlieren.

»Wenn dem so ist,« sagte er aus seinen Gedanken heraus, »so müßte man das dem sexuellen Instinkt, der doch wohl noch nicht ganz erloschen ist, zuschreiben. Man hat konstatiert, daß der Birkhahn vor den Weibchen bis in ein hohes Alter hinein tanzt; ich habe es allerdings nie gesehen.«

»Wenn du vor ihr tanzest,« sagte Bianca mit abgewandtem Gesicht, »kannst du mit mir nicht wenigstens plaudern?«

»Ich tanze ja nicht, Kind,« sagte Stone; »ich will mir Mühe geben, zu dir zu reden.«

Eine Stille folgte, und er begann, das Zimmer zu durchmessen. Bianca stand an dem feuerlosen Kamin und sah zu, wie draußen vor dem offenen Fenster ein Regenschauer niederging.

»Dies ist die Jahreszeit,« sagte Stone plötzlich, »wo die Lämmer vom Erdboden aufhüpfen mit allen vier Beinen zugleich.« Er hielt inne, als erwarte er eine Entgegnung; dann erhob sich seine Stimme wieder aus der Stille, und jetzt klang sie ganz anders: »Nichts in der Natur ist symptomatischer als jenes Prinzip, auf das unser ganzes Leben gestellt sein sollte. Lebe in der Zukunft! Bereue nichts! Spring!«

Diesen Worten folgte eine Stille, die nur durch das Kritzeln von Stones Füllfeder unterbrochen wurde.

Nachdem er geendigt, begann er von neuem das Zimmer zu durchmessen, und als er dabei dicht an seine Tochter herankam, blieb er plötzlich stehen. Zaghaft ihre Schulter berührend, sagte er: »Ich habe mit dir geplaudert, Kind, nicht wahr? Wo waren wir?«

Bianca rieb ihre Wange gegen seine Hand.

»In der Luft, glaube ich.«

»Ja, ja,« meinte Stone, »ich erinnere mich. Du mußt mich nicht wieder von meinem Gegenstand abirren lassen!«

»Nein, guter Vater.«

»Die Lämmer,« fuhr Stone fort, »erinnern mich zu Zeiten an jenes junge Mädchen, das zum Abschreiben zu mir kommt. Ich lasse sie hüpfen, um ihre Blutzirkulation vor dem Tee zu fördern. Ich selbst mache diese Übung.« Und sich gegen die Wand lehnend, die Füße etwas von ihr entfernt, hob er sich langsam auf die Spitzen. »Kennst du diese Übung? Sie ist ausgezeichnet für die Waden und Hüften.« Dabei verließ Stone seinen Platz und begann wieder im Zimmer umherzugehen; der Kalk hatte auch die Wand verlassen und klebte in einem großen, viereckigen Klecks an seinem rauhen Rock.

»Wenn das Leben nicht ganz und gar Frühling ist,« sagte er, »hat es überhaupt keinen Wert; dann ist's besser, sterben und noch einmal von neuem anfangen. Das Leben ist ein Baum, der immer wieder ein neues, grünes Gewand anzieht; es ist ein junger aufgehender Mond – nein, das stimmt nicht, denn wir sehen den Neumond nicht aufgehen – es ist ein junger Mond, der untergeht und der nie jünger ist, als da wir uns zum Sterben hinlegen.«

Bianca rief fast heftig: »Nicht doch, Vater! Sprich nicht so; es ist nicht wahr! Das Leben ist ganz und gar Herbst, scheint mir!«

Stones Augen nahmen eine tiefblaue Färbung an.

»Das ist ein schlimmes Wort,« stammelte er. »Davon will ich nichts hören. Das Leben ist der Kuckucksruf; es ist ein erblühender Hügelabhang; es ist der Wind; ich fühle es jeden Tag in mir.«

Er zitterte wie ein Blatt im Wind, von dem er sprach, und Bianca ging rasch mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Plötzlich begannen seine Lippen sich zu regen; sie hörte ihn murmeln: »Ich fühle mich matt; ich will mir etwas Milch wärmen. Ich muß bereit sein, wenn sie kommt.«

Und bei diesen Worten war ihr, als sei ihr Herz ein Stück Eis.

Immer dieses Mädchen! Und ohne noch einmal seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, ging Bianca hinaus. Als sie draußen durch den Garten ging, sah sie ihn am Fenster, wie er eine Tasse Milch hielt, aus der Dampf aufstieg.


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