Ernst Georgy
Aus den Memoiren einer Berliner Range
Ernst Georgy

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Viertes Kapitel.

Unglückliche Nachbarn.

Der Garten, in dem unser Quartett seine Mußestunden verlebte, stieß an drei Nebengärten. Es war selbstverständlich, daß diese das größte Interesse der Kinder erregten. Sie wußten genau, daß rechts von ihrem Spielplatze ein junges zärtliches Ehepärchen wohnte, das die alleinige Benützung des schmalen Landstückchens hinter seinem Hause kontraktlich ausbedungen hatte. Mit unendlichem Fleiß und vielen Kosten schufen Herr und Frau Köhn sich ein kleines Blumenparadies mit poetischen Flieder- und Jasminlauben. Morgens und abends sprengten und begossen sie eigenhändig die Beete, harkten die Kieswege und ruhten in den Lauben von ihrer Arbeit aus. Wie es oft die Gepflogenheit glücklicher Neuvermählter, benützten sie ihre Pausen zum Austausch von Zärtlichkeiten und vergaßen vollständig, daß nebenan auch Menschen hausten. Kein Polizeibeamter hätte seine Verbrecher besser aufs Korn nehmen können, als die vier Kinder die Familie Kühn in den ersten Wochen ihrer Ehe. Wenn die Dienstboten des Morgens den Kaffeetisch auf der Veranda, die nach dem Garten herauslag, deckten, erkletterten Haffners, Max und Lotte mit Hilfe der Kletterstange das Turngerüst und setzten sich nebeneinander auf den Querbalken. Von diesem aus beobachteten sie das Pärchen, zählten die getrunkenen Tassen Kaffee, die verspeisten Semmeln, die getauschten Küsse. Sie beobachteten, daß Herr Köhn seine Frau »besonders verliebt anglotzte«, wenn sie einen himmelblauen Schlafrock anhatte, daß er fünfzigmal die Uhr herauszog und sich dann seufzend und ärgerlich von der Teuren trennte.

Zuerst machten die Kinder den Leuten Spaß. »Sieh da, noch immer Ferien, denn da hocken unsere Spatzen auf dem Telegraphendraht!« meinte Herr Köhn in den ersten Tagen lachend. Dann aber wurde er ärgerlich und verscheuchte »die Spione« mit ein paar energischen hinübergerufenen Worten.

Damit hatte er aber, wie man in Berlin sagt: die Karre im Schmutz verfahren; denn nun waren die Kinder wie losgelassene Hunde. Sie saßen auf dem Zaune, bohrten Gucklöcher in die Latten, rückten Bänke heran, um durch einen oberen Spalt zu lugen. – Wenn nun der junge Köhn in der Jasminlaube saß und seine Ehehälfte liebevoll umschlang, hörte er hinter den Brettern verhaltenes Kichern. Wagte er es, sie zu küssen, so konnte er sicher sein, daß hinter ihnen ein langdauerndes Schnalzen hörbar wurde. Seine Leib- und Magenausdrücke schollen ihm aus dem Nebengarten entgegen.

»Lottepüppchen!« – »Schätzchen!« – »Hundchen!« und »Wonneviehchen!« waren die Rufnamen für Bachs Jüngste geworden, die dann schmachtend zurückrief: »Was wollt ihr, meine Süßen?« oder »Max, Herzensschatz« – »Fritz, mein Ein und mein Alles, gießt du jetzt die Blumen?« – »Franz, du Herrlichster von allen, wie glücklich machst du mich«.

Eines Tages wurde aber dem geduldigen Köhn die Sache zuviel. Er versteckte sich hinter der Laube, ahmte ein Gespräch nach und wartete gespannt, bis die Missethäter lachend hinzuschlichen. Als sie nichts ahnend ihre Lauscherposten bezogen hatten, sprang er auf eine Leiter und tauchte plötzlich oberhalb des Zaunes auf. Die Kinder schrieen erschreckt auf. »Ich will euch einmal 'was sagen, meine Lieben,« sagte er entrüstet, »wenn ihr euch noch ein einziges Mal untersteht, den Unfug zu wiederholen, mit dem ihr euch die letzten Wochen beschäftigt und die Zeit vertrieben habt, so passiert etwas! Bei der nächsten Ungezogenheit besuche ich eure Eltern und werde ihnen sagen, wie ihr euch benehmt. Schämt euch, denn ihr betragt euch schlimmer als Straßenkinder. Der Vater meiner Frau ist Polizeirat, wenn ich dem alles erzähle, so kann es euch noch schlecht gehen. Merkt euch das!« Er warf noch einige drohende Blicke auf die eingeschüchterten Rangen, deren tiefes Erröten ihn innerlich höchlich amüsierte, und tauchte ins »Dunkel« seines Gartens zurück. Seine eindringliche Rede hatte gewirkt. Die Beobachtung stets wiederholter Handlungen war den Vieren längst langweilig geworden. Lotte faßte ihre Gedanken über die Sache kurz zusammen: »Na, denn nich', Herr Köhn. Eigentlich war's ja auch mopsig! Mir ist's höchst pipe, ob er sie abknutscht, oder sie ihn. Die Haberei von den beiden ist überhaupt dämlich.«

Diese Worte erwischte der enteilende Köhn noch und kam, sich vor Lachen biegend, zu seiner holden Gattin, die schon gespannt das Ende des Feldzuges erwartete. Von diesem Tage an blieben die Liebenden unbehelligt. Nur als der junge Ehemann eines Morgens mit neuen hellen Beinkleidern auf der Veranda erschien, hörte er stirnrunzelnd nebenan einen vierstimmigen Gesang ertönen:

»Ferdinand, ach, wie schön bist du, mit den hellen Hosen,
Jedes Mädchen lacht dir zu, Ferdinand, ach wie schön bist du!«

Jedoch seine reizende Gattin beruhigte ihn und räumte stillschweigend eine Reihe von Bildern fort, die man auf den Gartentisch geklebt hatte. Es waren Ausschnitte aus humoristischen Zeitschriften, die, grell angetuscht, liebende Pärchen darstellten. Von Köhns fort wandte sich die Aufmerksamkeit der vier Spielgefährten auf eine andre Nachbarschaft. An ihren Garten stieß ein andrer ganz winziger, der zu einer Bäckerei gehörte, deren langjähriger Inhaber gestorben war. Sein Nachfolger wurde der dicke Herr Faust, der mit seiner verschrumpelten, »vergneddert« ausschauenden Ehehälfte von den Kindern sofort in »Fäustlich und Compagnie« umgetauft wurde. – Diese in der That unangenehmen Menschen ließen das gepflegte Gärtchen verkommen. Ja, nach einiger Zeit bemerkten unsre Vier von einem Laubendach aus mit Entrüstung, daß sich ein stattlicher Mist- und Schutthaufen in unmittelbarer Nähe ihres Zaunes aufzutürmen begann. Dicht daneben strickte die Fäustlich, deren »Riechlöcher«, laut Fritz Haffners Ausspruch, verstopft zu sein schienen. Die ehrsame Frau und der Haufen wurden unablässig von einem kläffenden Köter umrast, von dem wieder der sachverständige Franz bemerkte: »Pfui Deibel, das Viech hat keine Rasse. Das ist 'ne Kreuzung von Bulldogg' und Rattenfänger. Kinder, dem thun wir mal was an!«

In diesem Momente, allwo sich vier Menschlein gegen ihn verschworen, bemerkte der Hund die über den Zaun spähenden Kinder und geriet sofort in einen dem Wahnsinn nahen Wutausbruch. Er sprang gegen die Laube, tobte, wälzte sich im Sande, belferte, jaulte und heulte wie ein Besessener, worauf sein Frauchen ihm in den höchsten Fisteltönen zurief: »Sei doch man jut, Putzeken, rege dir man nicht uf, mein ollet bravet Putzeken!«

Die Kinder hörten den Namen mit Begeisterung, und nun ging es tagein tagaus: »Putzeken, sei gut, Putzeken, rege dir man bloß nicht uf!« auch auf ihrem Grund und Boden. Frau Fausts gelbbraune Gesichtsfarbe vertiefte sich dann vor Wut, es war gut, daß der Himmel nicht die Flüche erhörte, die sie auf »die verdammtigen Bälger« herabflehte.

Lotte ging auf der Straße an keinem Hunde vorbei, ohne die eingehendsten Studien zu machen. Sie verstand es nach einer Woche schon, so naturgetreu zu knurren und zu belfern, daß »Putzeken« tobsüchtig wurde, wenn er es hörte. Fritz und Franz miauten dafür um so genialer. Sie lauerten auf ihrem Laubendache so lange, bis die »Töhle« neben seiner Herrin niederkauerte, sich faul streckte und endlich sanft einschlief. Dann ging es los, da oben! Erst ein ganz leises zartes: »Mii–au«.

Putzeken blinzelt mit den Augen und spitzt die Ohren.

Langsam schwillt das sanfte: »Mii-au« zu einem stärkeren Geräusch an.

Putzeken knurrt und hebt den Kopf. Er erhebt sich auf die Vorderfüße . . . . Auf der Laube erschallt ein wahres Katzenkonzert in den wimmerndsten, inbrünstigsten Miauvariationen. Zu gleicher Zeit beginnt Lotte in einem entfernten Winkel des Gartens zu bellen, durchdringend und heulend, wie nur ein gereizter Hund es vermag.

Nun ist es um Putzeken geschehen. Seine Geduld ist erschöpft. Er winselt durch das Gärtchen, erklettert den Misthaufen, tobt, rast, fuhrwerkt 'rum, bis er erschöpft den nutzlosen Kampf aufgibt und matt japsend zu Boden sinkt.

Drei Tage fällt er auf das nachbarliche Anulken 'rein, dann durchschaut er das schändliche Manöver und bleibt friedlich liegen. So sinnt denn unser Quartett auf neue Tücke.

Lotte und Franz graben eines Tages ein tiefes Loch neben dem Zaun. Der Schweiß rinnt ihnen von der Stirn, aber sie schaffen unentwegt weiter mit einem Eifer, der eines würdigeren Zweckes wert gewesen wäre. Max und Fritz sind in den Tiergarten gegangen, um ein geheimnisvolles Etwas, ungesehen von den umherstreifenden Wächtern, zu »stiebitzen«. Nach ein paar Stunden kehren sie rot und erhitzt ausschauend heim.

»Na,« fragt Lotte neugierig, »habt ihr?«

»Na ob!« entgegnet Fritz. »Aber Mühe genug hat's gekostet. Max hat sein neues Messer dabei zerbrochen.«

»Schad't nischt«, meint dieser gleichgültig, »dafür ist's ein feiner, biegsamer Ast, oben dünn und fest, unten dick und handlich. Seid ihr denn so weit?« »Wir, lange, was ihr euch einbildet!« Fritz und Mäxchen sprangen in die Grube und sahen, daß sie wirklich »so weit« waren. Bäcker Fausts Zaun reichte ziemlich tief in die Erde hinein, da hatten nun die Kinder so tief »gebuddelt«, bis sie unter den halbverfaulten Brettern hindurchgreifen konnten. Sie packten nun den dem Fiskus entwendeten Ast und stießen ihn durch das Loch. Siehe da: er paßte! – Für heute war ihre Arbeit gethan, denn von »Fäustlichs« war nichts mehr zu sehen. Wenn die Zeit der frischen warmen Semmeln nahte, also um die sechste Abendstunde, mußte Madame ins Geschäft, um den Kundenandrang mit zu befriedigen. Aber am nächsten Tage, nach der Schule, ging der »Hauptjux« los.

Mäxchen und Lotte erkletterten ihren Aussichtsturm, das Laubendach, und nahmen den Nachbargarten aufs Korn. Franz und Fritz kauerten in der Kule, den Ast in Bereitschaft. Gegen halb Zwei erscholl es von oben her leise: »Achtung, sie kommen!« Harmlos wie stets erschien Frau Fäustlich mit ihrem braunen Strickzeug und Putzeken. Sie machten ein paarmal die Runde und ließen sich dann in der Bohnenlaube nieder, trotz Staub und Mistgeruch. Heute blieb alles still, weder Hunde noch Katzen kränkten das brave Putzeken, das sich daher auch gemütsruhig zum Mittagsschläfchen niederließ. »Jetzt!« klang ein scharf geflüstertes Kommandowort. Die beiden Jungen stießen den Ast durch. Er erschien als merkwürdig drohendes schwarzes Etwas im Nebengarten und begann zitternd hin und her zu »wibbeln«. Putzekens ahnungslose Blicke schweiften vorm Einschlafen durchs Gefild, bis er zusammenschreckend den gespenstischen, sich von selbst bewegenden Stock erblickte. Mit einem Ruck fuhr er auf und sprang in langen Sätzen mutig hinzu. Na, heute war's aber toll, wie er bellte, sich überschlug, den Stock mit den Zähnen packte, der dann schnell zurückgezogen wurde und erst nach kleiner Pause, wenn Putzeken sich beruhigt hatte, wieder zum Vorschein kam!

Oben auf dem geteerten Dach und unten in der Kule schrieen die Kinder vor Lachen über die gelungene neue Folter der armen Hundenerven. Frau Faust zankte und brüllte mit ihrem Lieblinge um die Wette, aber sie wagte doch nicht, thätlich zu werden. Bachs, Haffners und Helms waren ihre Frühstückskunden geworden. Wiederum war »Stockwibbeln« mindestens acht Tage lang Wonne und Zerstreuung der Gartenkinder, die über Putzekens stets erneute Reinfälle immer neue Lachkrämpfe bekamen. – Doch wie bei dem verliebten Ehepärchen, so war auch Frau Faustlichs Geduld nach einer geraumen Spanne Zeit erschöpft. Sie brütete Tag und Nacht auf Rache und hatte endlich einen feinen Plan ausgeheckt.

Am nächsten Sonntagmorgen sollte es fürchterlich tagen! Um fünf Uhr in aller Herrgottsfrühe schleppte einer der Bäckerjungen eine Leiter über den Hof und lehnte sie wie von ungefähr gegen den Zaun. Die Helden unsrer Erzählung lagen noch im tiefsten Traum, als sich drohende Wolken über ihren nichts ahnenden Häuptern zusammenzogen. Ueberspringen wir ein paar Stunden, in denen nichts Erwähnenswertes vor sich ging, und eilen wir zu dem Moment, wo es bei Bachs gegen zehn Uhr klingelt. Das Dienstmädchen öffnet und empfängt kordial Lottes Busenfreundin, Gretchen Thronick, die im schön gestärkten weißen Kleid ihre übliche Sonntagsvisite antritt. Blutrot vor Verlegenheit betritt das schüchterne, blondzopfige Mädelchen das Wohnzimmer und begrüßt knixend die erwachsenen Familienmitglieder.

Lotte stürzt begeistert auf die Neuangekommene zu und überfällt sie mit stürmischen Liebkosungen. Unter innigen Küssen fragt sie sogleich: »Nicht wahr, du darfst bei mir bleiben, süßes Gesteck, – weißt du, wir haben 'n neues famoses Spiel! – Du, ich hab' 'n weißes Kattunkleid mit roten Blumen gekriegt. Mama, Grete hat auch ihr weißes Kleid an, ich darf doch auch mein neues anziehen, bitte, bitte, Muttachen, erlaub's doch!«

Die Rätin kann dem Flehen der Tochter nur schwer widerstehen. »Gut, Lotte, weil heute Sonntag ist, aber du mußt es rein halten. Es darf mir nicht ein einziger Fleck hineinkommen, verstanden? Wenn du es wieder schmutzig machst, lasse ich es von deinem Gelde waschen!«

»Nein, Mutta, ich wer' mich schon in acht nehmen! Wir gehen 'runter. Auguste kann uns die Stullen ja 'runterschmeißen, aber recht dick belegte, ja? Komm, Gretel!«

»Nehmt eure Sachen in acht und tobt nicht so! Du auch nicht, liebes Gretchen, dein Kleid ist auch noch so sauber und hübsch!«

Die beiden Freundinnen poltern die Treppe hinab, daß man den Wiederhall ihrer Sprünge im ganzen Haus hört. Hier außen hat auch Gretchen Thronick ihre Schüchternheit vergessen und plappert ganz vergnügt: »Du, Lotte, was spielen wir denn?«

»Stockwibbeln!«

»Was?« fragt sie entsetzt noch einmal.

»Stockwibbeln! Das verstehst du noch nicht, du Schöps, wir ärgern Putzeken Fäustlich.«

»Strickt das alte Nilpferd immer noch in dem Mistgestank?« fragt die kleine Thronick mit dem holdesten Lächeln.

»Ja, aber weißt du, sie riecht nix. Die Fäustlich hat der Auguste erzählt, daß sie Stockschnupfen habe; mir nennen sie jetzt: die Fäustlichen mits verstopfte Riechhorn – hat Max erfunden, fein, was?«

An der Gartenthür standen die drei Jungen schon, der Spielgefährtinnen harrend. Sie alle hatten heute etwas Unfreies, Unbehagliches in den Bewegungen, wohl eine Folge der gleichfalls frischgewaschenen Anzüge, mit denen man spiellustige Kinder so oft gewaltsam am Austoben hindert. Ueber jedem einzelnen schwebte eine mütterliche Ermahnung, eine väterliche eventuelle Bestrafung beim Beschmutzen der Sonntagsgewandung. Keiner hätte dem andern seine geheime Unruhe mitgeteilt, das verbot der Stolz, aber jeder warf von Zeit zu Zeit einen sorgenvoll prüfenden Blick über seinen Staat.

»Schade,« rief Franz, »mir sind heute alle wie die Pfingstochsen aufgeputzt, nun können wir nicht Stockwibbeln!«

»Warum nicht?« fragte Lotte enttäuscht.

»Na, in den hellen Sachen können wir doch nicht auf die Laube klettern, wir rujinieren ja alles!«

»Das ist wahr! Aber weißt du, wir warten einfach, bis das Viech nebenan loskläfft, und wibbeln dann.«

»Kann man denn nicht durch den Zaun sehen? Ist kein Loch drin?« schlug Grete vor, der daran lag, endlich hinter das Geheimnis des ihr völlig unbekannten Worts »wibbeln« zu kommen.

»Ist doch eine massive Steinmauer, grade nach der Bäckerei zu, du Schafsnase!« entgegnete Max.

Darauf fuhr Lotte, krebsrot, wie eine Furie auf ihn zu und versetzte ihm einen derben Rippenstoß. »Untersteh' dich und schimpf meine beste Freundin, du, du – Elefant! – Schäm' dich was!«

Ein Kampf wäre unfehlbar ausgebrochen, wenn nicht in diesem Augenblicke im Nebengarten ein Gebell laut geworden wäre. Lauter, als es sonst ihre Art war, schrie Frau Faust nun: »Kusch' dir, Putzeken, kusch' dir man!« Eine atemlose Stille trat sofort »hüben« ein.

»Ruhig! Da sind sie! Kommt, wir können wibbeln!«

Die drei Jungen und Lotte stürzten zur Kule, maßen prüfend deren Weite, dann der Kleidung wegen ihren eigenen Umfang und sprangen vorsichtig hinein. Heute, wo sie auf ihre Kleidung Rücksicht nahmen, hüteten sie sich sorglich, den erdigen Wandungen der Grube zu nahe zu kommen.

»Du, Grete, schnell, hole den langen Ast aus der Laube!« rief Fritz dem Besuch zu, der unschlüssig stehen geblieben war und von ferne zuschaute. Das kleine Mädchen erfüllte sofort ihren Auftrag und reichte ihnen den Ast zu, den sie durch das Loch stießen. Abwechselnd setzten ihn zwei der Kinder in Bewegung, worauf sich nebenan ein Hundegezeter erhob.

Grete trat zurück; sie war maßlos enttäuscht. »Ich sehe ja nix,« sagte sie klagend. »Wartet mal, ich klettere auf den Barren, vielleicht kann ich dann 'rübersehen!« Während sie den höhergelegenen Ausschaupunkt bestieg, kletterte »drüben« Frau Faust, mit einem schweren Eimer bewaffnet, leise auf die Leiter, die ihr Gatte und ein Gehilfe pfiffig lächelnd hielten.

»So, ich bin oben!« schrie Grete den Genossen zu.

»Ich auch,« murmelte die ehrsame Faust und hob das schaukelnde, bis zum Rand gefüllte Gefäß sorgfältig hoch. Unten erschien der Ast, wie aus dem Boden gewachsen und »wibbelte«. Putzeken kläffte und sprang. Deutlich verhaltenes mehrstimmiges Gekicher wurde gehört. »Die Jöhren waren an der Arbeit.«

In dem nächsten Augenblick hörte man einen durchdringenden Schreckensschrei, dem mehrere andre folgten, Gretchen streckte die Arme von sich und kreischte warnend: »Da – da –,« fiel platt auf die Erde und brüllte vor Lachen.

Denn . . . . oben über dem Zaun erschien die unangenehme Gestalt der »Fäustlich« und goß blitzschnell den Eimer über den nichts ahnenden Vieren aus. Während diese pitschenaß losschrieen, rief sie hämisch: »So, meine Lieben, det schickt euch Putzeken, weil ihr 'n immer so nett unterhaltet!«

Triefend, sich schüttelnd, laut heulend vor Wut und zu gleicher Zeit lachend, kamen die Kinder aus der Kule. O weh! Wie sahen sie aus! Es war zwar nur reines Brunnenwasser, aber es lief von den Köpfen herab auf Anzüge und Kleid, triefte auf das Schuhwerk und bildete kleine Lachen rings um die Stehenden. Grete kam hinzu und half bedauern und beraten.

O weh, o weh! Was war zu thun?

Von »drüben« her scholl tückisches jubelndes Gelächter.

Markers Lina passierte just den Hof. Als sie das Stimmendurcheinander hörte, machte sie schnell einen kleinen Abstecher in den Garten, um nach ihrem Liebling zu sehen. – Auch sie lachte dicke Thränen beim Anblick der nassen Missethäter. Lotte fiel ihr um den Hals und bat um Hilfe. Das gute Mädchen wußte Rat und war opferwillig genug, ihren freien Vormittag dranzugeben. Auf Frau Kühnes Maschine wurden fast zwei Stunden hindurch Bolzen erhitzt, bis sie glühten. Erst kam Lotte an die Reihe und nach ihr die Jungen. Sie mußten so lange in der heißen kleinen Kellerküche sitzen, bis ihre Kleidchen respektive Anzüge aufgeplättet waren.

Die Eltern merkten nichts, nur Kläre Bach sagte kopfschüttelnd: »Weißt du, Mütterchen, der neue Kattun von Lotte wird sich nicht gut tragen, die Farben haben jetzt schon etwas Mattes, Verwaschenes!« Auf die von scharfen Augen zeugende Bemerkung platzten Grete und Lottchen heraus und lachten, bis sie rot und blau waren, worauf sie an die »Luft gesetzt« wurden, denn »so alberne Mädchen gehören noch nicht zu den Erwachsenen«.

Spät am Nachmittage brachte Herr Rat Bach, seine Jüngste an der Hand, den kleinen Gast nach Hause. Auf dem Rückwege beichtete ihm Lotte das neueste Erlebnis. Der Herr Rat lachte derart, daß die Vorübergehenden sich nach dem fein aussehenden Herrn umsahen und verwundert stehen blieben. »Was werdet ihr denn nun thun?« fragte er, als er sich wieder erholt hatte.

»Das wissen wir noch nicht; aber wir wollen ihr was Dolles auswischen. Die olle Hexe soll an uns denken!« antwortete sein hoffnungsvolles Kind.

Rache war süß! Schon am Montag hatten die vier Kinder ihren Plan ausgeheckt. Sie steckten die Köpfe zusammen, wisperten, lachten in einer Verträglichkeit, die auf einhellige Absichten deutete. Drei kleine Geldtaschen wurden ihres Inhaltes auf den Tisch in der Laube entleert und die einzelnen Pfennige zusammengezählt. Es waren gerade zwanzig, und diese Unsumme genügte zur Ausführung ihres finsteren Planes.

Max und Fritz wanderten in die »Kabuse« des Hofes, Franz und Lotte zu einem benachbarten »Spielwarenfritzen«, wo sie einen sonderbaren Gegenstand erstanden, den sie wohleingepackt nach Hause schleppten. – Inzwischen hatten die Zurückgebliebenen gleichfalls eine Leiter gegen den Faustschen Zaun gestellt, und zwar so, daß sie gerade an derselben Stelle stand, wie die der braven Bäckermeisterin, die man aus Vorsicht oder mit Absicht stehen gelassen hatte.

Fritz rekognoscierte von der Laube aus das Terrain.

Drüben saß, geschwollen vor innerem Triumph, Dame Fäustlich und strickte zufrieden. Neben ihr lag der Köter.

»Schnell, wibbelt ein bißchen!« rief Fritz den Gefährten zu.

Diese thaten wie geheißen. Der Ast bewegte sich . . . . Lotte bellte und Max rief laut: »Xs, xs, xs, Putzeken!« Die »Töhle« erregte sich in steigendem Maße.

Langsam schritt die Fäustlich zur Pumpe und füllte den bereitgehaltenen Eimer. Dann rief sie etwas in die Backküche hinab. Sofort erschien der Gehilfe und hielt die Leiter, die Frau Faust wiederum bestieg.

Fritz lag, um nicht gesehen zu werden, platt auf dem Bauche. Franz stand seinerseits auch auf der letzen Sprosse, eine greulich entsetzliche Maske mit braunwollenem Bart und gemaltem Zahngefletsche vors Gesicht gebunden. Lotte hockte, vom Blattwerk fast verborgen, auf einer hohen Kastanie.

Unten »wibbelte« Mäxchen.

Schwerfällig klimmt die Faust, den Eimer balancierend, sproßaufwärts.

Putzeken tobt und rast.

»Jetzt hab' ich euch!« flüstert die Bäckerin und hebt den Kopf. Sie taucht hervor, der Eimer schwankt. Ein scharfer Pfiff ertönt. Die »Fäustlich« will gießen, da – erscheint vor ihr eine schauderhafte Mördervisage und schreit dumpf: »Huh!«

Ihre Augen weiten sich, sie starrt in die Teufelsfratze und kippt nach hinten. Ein Angstschrei, und Frau Fäustlich fällt rückwärts von der Leiter, mitten in den Misthaufen. Der Eimer macht einen Bogen und übergießt sie mit scharfer Traufe, dann wuchtig auf die Füße des Gehilfen fallend, der gleichfalls losheult.

An allen Fenstern erscheinen lachende Gesichter.

Oben auf der Laube tanzen die vor Schadenfreude winselnden Kinder einen Indianertanz.

Jedoch die Bäckersleute lachten zuletzt und daher am besten. Am nächsten Morgen empfingen die Herren Bach, Helm und Haffner drei bis auf Überschriften und Namen völlig gleichlautende Briefe. Der Bachsche lautete folgendermaßen:

»Hohchgerter Hehr!

Wo ich mir nehmblich beschwehren muhs, daß Ihr Freilein Lotte serr unartich un immer meine Frauh böleihticht, wo jets schwehrr krank lischt, weil jefallen. Biete döm Kihnt bäser zu hahlten, widrichenfalls ich beim Wirt un Polzeih geh – waß doch ja nich fain un schöhn bei fornehme Leute. Biete uns for dich Apscheilichkeiten von die Jöhren zu schitzen.

Hocherjebens Ihr jnätiger Gotlib Faust, Bekermeihster.«

Der Herr Rat nahm den Brief sofort ins Bureau mit, aber seine sanfte Gattin hielt nach der Schule eine fürchterliche Exekution. Lotte erschien mit dickverheulten Augen am Fenster und pfiff nach ihren Freunden. Sie kamen alle in ihren Zimmern zum Vorschein; sämtlich scheu und verweint.

»Habt ihr was abgekriegt?«

»Mächtig! Und du?«

»Furchtbare Senge, Mutta ist fuchtig; Papa hat mir zugenickt; aber nischt jesagt! Jungens, ich darf heute nicht mehr 'runter!«

»Wir auch nicht!« schrieen Haffners.

»Ich ooch nich'!« Mäxchen Helm.

Darauf schnitten sie sich so viel Fratzen, bläkten die Zunge heraus und sprachen abwechselnd die Räuber- und Erbsensprache, bis der Abend herankam.

Die Affäre »Fäustlich und Putzeken« war wie die »Köhnsche« für unser Quartett erledigt. Nach einer Woche begann die Rotte dem dritten Nebengarten auf der linken Seite ihres »Spielparadieses« Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man sah, außer dem Hauswart, der ihn in Ordnung hielt, nie einen Menschen darin, dafür war er mit einer großen Anzahl Obstbäume bestanden. Die Aeste bogen sich fast unter der Last der Früchte und wurden von Stangen und Brettern vorm Abbrechen geschützt. Lotte entdeckte diese Herrlichkeiten, als sie eines Tages auf dem hohen Maulbeerbaum in der Nähe des Zaunes saß, bequem die weichen Beeren pflückte und sofort in ihrem Leckermäulchen verschwinden ließ. Sie versteckte sich häufig in den Baumkronen, wenn »man« sie von oben zum Ueben heraufbeorderte. Lotte war dann eben nirgends zu finden und die »Drahtkommode« blieb von ihren Fingern verschont, sehr zum Besten des unseligen Instrumentes. Solange die Maulbeeren unreif waren, beehrte sie mehr die Wipfel der Linden und Kastanien mit ihren Besuchen, wurde den treuen Verstecken aber sofort untreu, wenn die Zeit der Fruchtreife nahte.

Während sie oben behaglich schmauste, schweiften ihre Blicke zu dem Nebengrundstück hinüber. Ihre scharfen Augen entdeckten die Obstmenge, und ihr findiges Hirn erwog sofort den Gedanken, wie sie sich und den Spielgefährten zu dem Besitz einiger Prachtexemplare verhelfen könnte. Sie spähte scharf über die Rückwand des Hauses, über die ganze Umgebung. Kein Mensch war zu erblicken. Des Sonnenbrandes wegen hatte man die meisten Fenster mit Vorhängen verschattet. – Lotte wagte noch einen Rundblick. Dann ließ sie sich am Stamm wie eine Katze hinabgleiten, bis ihre Füße auf dem Bretterzaun standen. Nun drehte sie sich um, maß die Höhe und sprang kurz entschlossen in den Nachbargarten. So rasch sie konnte, pflückte sie von den reifen Frühbirnen und schleuderte sie flugs über die trennende Wand. Dann faßte sie mit den Fingern in hochgelegene Ritzen zwischen den Brettern, bis sie sich zu irgend einem Stützpunkt emporziehen konnte, und gelangte langsam, aber sicher wieder auf den Zaun. Von dort rutschte sie am Baume entlang hinunter und stand auf dem Weg. Eiligst sammelte sie nun die Birnen aus Gras und Buschwerk und trug sie in die Laube.

Sie aß nun, bis sie nicht weiter konnte und hob den immer noch ansehnlichen Rest für die Kameraden auf. Dann streifte sie im Garten umher und fand in einer entfernten Ecke ihren Todfeind Kühne in festem Schlafe. Sie bekam zuerst keinen geringen Schreck, daß er ihren Raubzug entdeckt haben könnte. Jedoch von seinem Geschnarche und einer aus seinem Rocke vorschauenden »Schnapspulle« beruhigt, trollte sie sich ihres Weges.

»Eigentlich könntest du doch dem Ekel etwas anthun,« zermarterte sie ihr Köpfchen, »aber was?«

Sie setzte sich auf eine Bank, stützte den Kopf in die Hände und grübelte nach. Endlich sah sie triumphierend auf. Heureka, der Plan war gefunden! »Dem ollen Saufbruder konnte etwas aufgemischt werden!«

Leise stahl sie sich zur Remise, öffnete den hochangebrachten Drücker mit Anstrengung und schlüpfte hinein. Sie suchte eine geraume Weile und kam dann mit einem großen zugebundenen Steintopf und einer Tüte zurück. Vorsichtig schlürfte sie über den knirschenden Kies zu dem den schweren Schlaf der Trunkenen schlafenden Mann. Neben ihm standen seine der Hitze wegen ausgezogenen Stiefel. Eilig bastelte Lotte mit pochendem Herzen den Papierumschlag los und goß den Inhalt des Gefäßes – schönen gelben, dickflüssigen Leim – in die beiden Fußbekleidungen. Dann überstäubte sie den Liegenden noch tüchtig mit Gips, klebte seine schäbige Mütze mit Leim auf einen Starkasten, der in einer hohen Linde angebracht war, und räumte die Zeugen ihres Schandthuns aus dem Wege. Nun verschwand sie aus dem Garten und begab sich, froh des Geschehenen, an ihre Schularbeiten. Niemand war »unten« gewesen; denn die Jungen waren noch in der Schule.

Da Lotte Mappe und Hut zu ihrem Abstecher in den Garten mitgenommen hatte und jetzt erst die väterliche Wohnung aufsuchte, öffnete Auguste unbefangen auf ihr Klingeln.

»Nanu, Mauseken, es ist ja schon zwölf Uhr, habt ihr denn heute der Hitze wegen nicht schon um Elfen aus?«

Die Kleine murmelte etwas Unverständliches und verzog sich, hochrot im Gesicht, in ihr Gemach.

Als die Familie Bach gerade gemütlich beim Mittagbrote saß, klopfte es an der Hinterthür. Kühne stand blaurot, leicht schwankend da und bat, den Herrn Regierungsrat sprechen zu dürfen. »Nanu, mich?« meinte dieser. »Na, dann immer 'rin in die gute Stube! Der brave Kühne kann nicht verlangen, daß ich mein Essen kalt werden lasse!«

Kühne trat bescheiden und sich mühsam zusammenraffend, vor das speisende Familienforum.

»Na, Herr Kastellan, was führt Sie zu mir? Soll ich wieder ein Gesuch aufsetzen?« rief ihm der Rat fröhlich entgegen.

Der Gefragte antwortete leise mit der »gebüldeten Art«, die er sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte. »Hörr Rat! Ich wollte müch nur ergebenst erlauben, nachzufragen, ob Uehre Tochter Lotte meine Stüfel ünnen müt Leim begossen, so dass müch ein Anzühen von ühnen unmöglüch geworden üst!«

»Soviel ich weiß, hat Lotte bisher gearbeitet!« warf die Rätin ein und beobachtete scharf ihren Wildfang, der äußerlich ungerührt dasaß.

»Wann ist es denn geschehen, Herr Kühne?« fragte Ella mit verhaltenem Lachen.

»Während üch derweil ein Nückerchen rüskierte, zwischen Elf und Klock Zwölf,« brachte der Portier hervor und rückte, unter den vielen Blicken verlegen werdend, an seinem noch immer weiß schimmernden Anzug herum.

Da fiel ihm aber Auguste, die neugierig an der halboffenen Thür stehen geblieben war, entrüstet ins Wort: »Immer haben Sie etwas mit unsrer Kleinen vor, heute weiß ich aber besser Bescheid. Sie ist erst um Zwölfe von die Schule gekommen und hat sofort ihre Aufjaben jemacht. Also war's unsre Lotte nicht!« Damit kehrte sie sich energisch um, und ein halbverwehtes: »Oller versoffner Kerl!« drang durch das Gemach. Die älteren Schwestern platzten jetzt in ein unaufhaltsames Gelächter aus.

»Ich soll's immer sein! Herr Kühne kann mich eben nicht ausstehen!« quakte die kleine Heuchlerin los und legte heulend den Kopf auf den Tisch.

»Nanana,« beschwichtigte der Rat und streichelte das zerzauste Köpfchen. »Sie sehen, lieber Kühne, diesmal war es unsre Range nun einmal nicht; ausnahmsweise!« fügte er neckend hinzu.

»Dann habe üch um Pardong zu bütten. Uerren ist menschlüch!« entgegnete Kühne, trotzdem felsenfest von Lottes Schuld überzeugt. Mit dem Vorsatz, es dem »niederträchtigen Jöhr« noch anzustreichen, verbeugte er sich und zog sich zurück. – Der Rat aber sagte nachher lachend zu seiner Gattin: »Das wäre wieder so recht unser Kind gewesen. Zugetraut hätte ich es ihr!«

Am Abend, es dämmerte schon stark, da saßen unsre Vier gemütlich in der Laube zusammen. Lotte hatte sich von den Jungen die rechte Hand aufs Schweigen geben lassen und dann ihre Tücke zum besten gegeben. Strahlend vor Wonne zeigte sie ihnen noch die hoch oben im Lindenwipfel prangende, auf dem Starkasten angeleimte Mütze. Solche Lachstürme hatten die Hausbewohner selten vernommen. Alle Dienstmädchen kamen und sahen das »Corpus delicti« an, das der Teufel dem alten Säufer entführt hatte. Kühne aber ballte insgeheim, rachebrütend die Fäuste. –

Die gemausten Birnen waren von den über ihrer Freundin Herzensgüte tief gerührten Jungen verzehrt worden. Die Dinger hatten nur einen Fehler: Sie schmeckten nach mehr! – Allabendlich unternahmen nun unsre Vier Raubzüge in den Nachbargarten und kehrten mit gefüllten Taschen zurück. Daß sie sich an den Obstmassen nicht den Magen verdarben, war ein Wunder, das ihren eigenen Stolz und ihr Erstaunen hervorrief.

Haffners, Lottes Eltern und Schwestern unternahmen die üblichen Sommerreisen. So blieben denn Mäxchen und Lotte alleinige Inhaber des Gartens während der großen Ferien. Auguste hatte eine gewisse Aufsicht versprochen und holte jeden Morgen Gretchen Thronick zum Spielen herbei. Sie durfte den Tag über bei ihrer Freundin bleiben. Das war die Bedingung, welche die Tochter ihren Eltern bei der Abreise gestellt hatte und auf die besagte Leute widerspruchslos eingegangen waren.

Auguste war eine vortreffliche Person. Sie hatte nur den Fehler, abends zwischen Neun und Zehn vor dem Hause mit irgend einem männlichen Bekannten spazieren zu gehen. Dabei unterschied sie scharf zwischen »Ihm«, »Meinem« und »dem Schatz«. Der erste war »irgend einer« aus der Nachbarschaft. Der zweite der »Sonntagnachmittagausgehfreund«, und der letzte ein Schlosser, der sich werktäglich nach ihrem Befinden erkundigte und mit ihr eben jenen Abendmarsch antrat.

Lotte kannte und schätzte alle drei Anbeter ihrer Küchenfee gleichmäßig. Sie liebte Auguste, las mit ihr gemeinsam den Colportageroman: »Die bleiche Gräfin oder die blutige Hand an der Kirchhofsmauer« und spazierte, solange die Eltern verreist waren, nach dem Abendbrot mit hinunter. Gretchen Thronick bummelte dann auch noch mit auf und ab.

Die Kinder ersannen sich dazu eigenartige Vergnügungen. Sie rannten durch die Straßen, klingelten an fremden Hausthoren, bei Doktoren und andern »weisen« Leuten und rannten dann fort. Auf diese Weise bekam Gretchen von einem benachbarten Pförtner eine fürchterliche Ohrfeige, denn sie war harmlos stehen geblieben und sah Lotte überrascht nach, die wie ein Pfeil davonschoß. Dann sprachen sie fremde Damen als »Tante« an oder brachten ehrsame Soldaten in Verlegenheit, indem sie möglichst schnell: ›Bon soir, monsieur, quelle heure est-il?‹ herunterrollten. Darauf konnten die Männer natürlich nicht antworten, machten dumme Gesichter und erweckten den Lachreiz der unartigen Krabben.

Häufig kam Auguste mit »Ihrem« auch nach dem Garten und verplauderte ein Stündchen in der Laube. Diese Zeit benutzten Mäxchen und Lotte zum Plünderungszuge in die Nachbarschaft, wobei ihnen die Dunkelheit zu statten kam. Sie nützten eben die Abwesenheit der Eltern tüchtig aus und blieben solange als möglich auf. – Eines Abends erkletterten die beiden »Obstdiebe« wieder den Maulbeerbaum, um von dort aus den Zaun zu erreichen und hinabzuspringen. Lotte hatte sich einen Riß ins Kleid gerissen und war deshalb noch auf dem Baum sitzen geblieben, während Max schon drüben war. Er eilte in der Finsternis vorwärts, stieß aber plötzlich einen durchdringenden Schrei aus. »Habe ich dich endlich, du frecher Dieb!« erklang eine zornige Stimme. Der unglückliche kleine Junge wurde hierauf ergriffen, übergelegt und bekam eine furchtbare Tracht Prügel »hinten drauf«.

Als Lotte das Klatschen der Schläge vernahm, erhob sie ein Jammergeheul und ließ sich vom Baume hinabgleiten. Als aber der Kamerad weiter »versohlt« wurde, saß sie im Nu auf dem Zaune und kreischte zornbebend: »Werden Sie wohl Max loslassen, Sie unverschämter Kerl! Lassen Sie ihn los, Sie Ekel, Sie!«

Doch der Mann hatte seinen Grimm schon zu lange verschluckt und zu oft vergebens auf der Lauer gelegen. Er bläute weiter und rief bei Mäxchens Gezappel ungerührt: »Du da oben halt deinen frechen Schnabel, du Diebsgesindel! Wenn du noch Radau machst, kommt ihr beide im Grünen Wagen nach dem Molkenmarkt!«

Lotte verstummte entsetzt. Noch ein Hieb, und Max war entlassen. Er kam ganz ermattet von der »dollen Dresche« bei seiner schluchzenden Freundin an. Beide mischten ihre Thränen und Klagen, verschonten aber fortan die Nebengärten.


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