Nikolai Gogol
Tote Seelen
Nikolai Gogol

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Neuntes Kapitel

In aller Morgenfrühe – es war vor der in N. gebräuchlichen Visitenstunde – entflatterte der Türe eines ockergelben Holzhauses mit Mezzaningeschoß und blauen hölzernen Pilastern eine Dame in modischem kariertem Umhang. Der Diener, der ihr auf dem Fuße folgte, trug einen Mantel mit mehreren Kragen und einen goldbetreßten runden Lacklederhut. Die Dame sauste wie ein Wirbelwind über den herabgelassenen Tritt in die Kalesche, die vor der Anfahrt wartete. Der Diener schloß den Schlag, klappte den Tritt hinauf, griff nach den Halteriemen hinten am Verdeck und gab dem Kutscher den Befehl: »Fahr zu!« Die Dame war erfüllt von einer Neuigkeit, die sie soeben erst vernommen hatte, und brannte sehr darauf, sie brühwarm weiter zu erzählen. Sie schaute jeden Augenblick vor Ungeduld durchs Kutschenfenster und mußte immer wieder ärgerlich erkennen, daß sie noch gut die Hälfte ihres Weges vor sich hatte. Jedes Gebäude schien ihr heute sehr viel länger als gewöhnlich; das weiße steinerne Armenhaus mit seinen kleinen Fenstern reckte sich einfach zum Verzweifeln. Sie mußte unwillkürlich rufen:

»Verdammtes Haus, das nie ein Ende nimmt!«

Der Kutscher hatte mehrfach schon die Worte hören müssen:

»Schnell, schnell, Andruschka! Fahr doch nicht so gräßlich langsam!«

Endlich war man am Ziel. Der Wagen hielt vor einem gleichfalls einstöckigen dunkelgrauen Holzhause mit weißen Flachreliefs über den Fenstern und hohen Gittern an den Fenstern; hinter dem Lattenzaun des schmalen Vorgartens standen ein paar kümmerliche Bäumchen, ganz weiß gepudert von dem ewigen Straßenstaub. Und in den Fenstern sah man Blumenstöcke und einen Papagei, der sich in einem Ringe schaukelte, wobei er sich mit seinem Schnabel festhielt, sowie zwei kleine Hunde, die friedlich in der Sonne schlummerten. Dies Haus bewohnte eine intime Freundin jener andern Dame, die zu so früher Stunde auf Visiten fuhr.

Der Autor ist in tödlicher Verlegenheit, wie er die beiden Damen nennen soll, damit er nicht am Ende wieder einmal Ärgernis erregt. Ganz einfach einen Namen zu erfinden, ist ein gewagtes Unternehmen. Und sei der Name, den du wählst, auch noch so merkwürdig, – in irgendeinem Winkel unseres Vaterlandes, das ja ziemlich groß ist, haust bestimmt ein Mensch, der diesen Namen rechtens führt. Der ärgert sich dann nicht nur krank, sondern ganz einfach tot und wirft dir vor, du wärest eigens heimtückisch in seine Vaterstadt gereist, um auszuspionieren, wes Geistes Kind er sei, bei welcher Lise oder Trine er verkehre, und welche Speise er am liebsten esse. Und gibst du statt des Namens Rang und Titel an, so läufst du noch viel schlimmere Gefahren. Jeder Beruf und Stand in unserer guten Heimat ist heute so empfindlich, daß er alles, was er gedruckt in einem Buche liest, gekränkt auf sich bezieht, – das scheint nun einmal in der Luft zu liegen. Und sagst du auch nur ganz bescheiden, es lebte irgendwo in irgend einer Stadt ein dummer Mensch, – sofort bezieht es schon ein Zeitgenosse auf seine wertvolle Person; ein Herr von würdigem Exterieur springt plötzlich auf und schreit empört: »Ich bin ja auch ein Mensch; dann bin ich also dumm?« Mit einem Wort, er weiß sofort, wie es gemeint ist. – Um den Gefahren zu begegnen, entschließen wir uns kurz und nennen die Dame, die in dem grauen Hause wohnte, so, wie die ganze Stadt sie nannte: die in jeder Hinsicht angenehme Dame. Den Namen führte sie mit Recht, – sie unterließ auch nichts, was dazu dienen konnte, sie in den Ruf der höchsten Liebenswürdigkeit zu bringen. Freilich stand hinter ihrer Liebenswürdigkeit ein stark gerüttelt Maß von weiblich geschäftiger Intrigensucht, und unter ihren netten Worten verbarg sich eine ganz verteufelt spitze Zunge. Gott schütze jeden vor der Mißgunst, die in ihrem Herzen kochte, wenn sie mit anzusehn genötigt war, daß eine andere die erste Violine spielen wollte. Das alles aber hüllte sich in das Gewand des allerfeinsten gesellschaftlichen Taktes, der bis zu solchem Grade der Vollendung nur in Provinzstädten gedeiht. Jede Bewegung, die sie machte, war von Geschmack diktiert, sie schwärmte außerdem für lyrische Gedichte, und es gab Augenblicke, wo sie voll holder Träumerei ins Weite starren konnte, – nein, es gab niemand in der Stadt, dem sie nicht als in jeder Hinsicht angenehme Dame gut bekannt gewesen wäre. Die andre Dame, die zu ihr auf Besuch kam, war nicht so vielseitig begabt; wir nennen sie daher die schlechtweg angenehme Dame. Ihre Ankunft weckte die beiden kleinen Hunde, die vorher friedlich im Sonnenscheine auf dem Fensterbrett geschlafen hatten: die langhaarige Adèle, die ewig über die eignen Zotteln stolperte, und das dünnbeinige Windspiel Potpourri. Die Tiere stürzten mit erhobnen Ringelschwänzchen laut kläffend in das Vorzimmer, wo die Besucherin den Umhang von sich tat; sie stand nunmehr in einem Kleid vom allerneuesten Schnitt und allerneuester Farbe da, mit einer langen Boa um den Hals; das ganze Zimmer duftete auf einmal nach Jasmin. Kaum war nun die in jeder Hinsicht angenehme Dame von dem Besuch der schlechtweg angenehmen Dame unterrichtet, da eilte sie auch schon ins Vorzimmer. Die Damen drückten sich die Hände, küßten sich herzlich ab und stießen jede vor Freude einen kleinen Schrei aus, wie zwei Schulfreundinnen, die sich kurz nach dem Abgang aus dem Pensionat begegnen, bevor die lieben Mütter Zeit gefunden haben, ihnen klarzumachen, daß der Vater der einen ärmer ist und niedriger im Range steht als der der andern. Sie küßten sich so laut, daß die langhaarige Adèle und Potpourri, das Windspiel, von neuem ein Gekläff erhoben und dafür mit dem Taschentuch scherzhaft gezüchtigt werden mußten. Dann traten beide Damen ins Boudoir, ein blaues Zimmer, wie man sich denken kann, mit Sofa, rundem Tisch und epheuüberrankten Wandspalieren.

»Ach bitte, dorthin, in die Sofaecke!« sagte die Wirtin und nötigte den Gast zum Sitzen. »So ist es recht! So ist es recht! Ach, nehmen Sie das Kissen, bitte!«

Sprachs und stopfte ihrer Freundin ein Kissen hinters Kreuz, geziert mit einem Ritter, der so aussah, wie es in Wolle auf Stramin gestickten Rittern zukommt: Nase gestuft wie eine Treppe, Mund in der schlichten Rechteckform.

»Ach, bin ich froh, daß Sie es sind! Ich hör' den Wagen und denke mir: – Wer kann das sein, so früh am Morgen?« – Und Parascha meint: ›Die Vizepräsidentin.‹ Und ich sag' erschrocken: ›Na, was möchte denn die lederne Person schon wieder?‹ – Ich hätte mich beinah verleugnen lassen.«

Die schlechtweg angenehme Dame öffnete den Mund, um schleunigst ihre Neuigkeiten abzuladen, jedoch ein Ausruf der in jeder Hinsicht angenehmen Dame gab dem Gespräch fürs erste eine andere Richtung.

»Der nette Musselinstoff . . .!« sagte die in jeder Hinsicht angenehme Dame und musterte das Kleid der schlechtweg angenehmen Dame.

»Nett, ja; nicht wahr? Praskowja Fjodorowna meinte zwar, das Muster würde noch gewinnen, wenn die Carreaus ein winziges Ideechen kleiner wären und diese Tupfen blau statt fraise. – Ach, meiner Schwester hab' ich einen Stoff besorgt, – nicht zu beschreiben, wie entzückend! Denken Sie sich bloß: ganz schmale Streifchen, überhaupt das schmalste, was man sich irgend träumen kann, ein blauer Fond und darauf, zwischen diesen schmalen, schmalen Streifchen, nur Ringelchen und Sternchen, süß, ein Ringelchen, ein Sternchen, ein Ringelchen, ein Sternchen . . . Also bezaubernd, sag' ich Ihnen! So wahr ein Gott im Himmel lebt, – solch ein Gedicht von einem Stoff war noch nicht da!«

»Ja aber Liebste, Beste, das wirkt doch sicher kakelig!«

»Ach nein! Wieso denn? Nicht die Spur von kakelig!«

»Natürlich wirkt es kakelig.«

Es muß hier eingeschaltet werden, daß die in jeder Hinsicht angenehme Dame auf Überschwänglichkeiten gerne Dämpfer setzte. Sie neigte stark zu Skepsis und Widerspruch und hatte einen unerbittlich kritischen Verstand.

Die schlechtweg angenehme Dame blieb dabei, daß man von kakelig bei diesem Stoff nicht reden könne, und rief dann auf einmal:

»O, wünschen Sie sich Glück: man trägt jetzt keine gefältelten Besätze mehr!«

»Wieso? Warum? Was heißt denn das?«

»Man trägt jetzt nur Festons.«

»Ach nein, das find' ich gar nicht schön, – Festons . . .

»Festons, nichts als Festons: Pelerinen aus Festons, Festons hier auf den Ärmeln, auch Epauletten aus Festons, und unten um den Rock Festons, und überall Festons.«

»Nein, nein, das find' ich gar nicht schön, – die ewigen Festons.«

»Sie stellen sich nicht vor, wie das entzückend aussieht. Liebste: man näht zuerst zwei Säumchen ab, läßt einen breiten Schlitz, und oben drüber . . . – Ja aber, was werden Sie erst sagen, wie werden Sie erst staunen, wenn ich . . . Nun, fallen Sie nicht um: man trägt die Taillen jetzt noch länger, mit einer Schneppe vorn, so einer Schneppe, bis da hinunter, ganz unglaublich lang . . . Der Rock wird ringsherum gerafft, wie bei den Fischbeinröcken unserer Großmütter, und hinten legt man sogar ein bißchen Watte unter, um die richtige Linie à la belle femme herauszumodellieren.«

»Nein aber, das geht doch zu weit!« rief die in jeder Hinsicht angenehme Dame und warf voll sittlicher Entrüstung ihr Kinn empor.

»Sag' ich doch auch: das geht zu weit!« erwiderte die schlechtweg angenehme Dame.

»Nein, bieten Sie mir, was Sie wollen, – die Mode mach' ich nie im Leben mit!«

»Ich auch nicht, selbstverständlich. Wenn man sich das vorstellt . . .! Solche Geschmacksverirrungen, – das ist zu stark! Nur Spaßes halber hab' ich mir den Schnitt von meiner Schwester ausgebeten; und meine Melanie ist schon am Nähen.«

»Haben Sie den Schnitt?« rief die in jeder Hinsicht angenehme Dame lebhaftest bewegt.

»Natürlich, meine Schwester hat ihn mitgebracht.«

»Ach, liebes Herz, dann leihen Sie ihn mir, bei allem, was Ihnen heilig ist!«

»Zunächst hab' ich ihn leider schon Praskowja Fjodorowna fest versprochen. Aber wenn Sie ihn nach ihr wollen . . .«

»Und ich soll anziehn, was so eine Praskowja Fjodorowna schon vor mir trägt? Das find' ich äußerst sonderbar von Ihnen . . . Wildfremde Leute Ihrer intimsten Freundin vorzuziehen . . .

»Weil sie doch, sozusagen, meine Tante ist.«

»Daß Sie das Tante nennen mögen . . .! Lieber Gott, und wenn sie schon die Frau von Ihrem Onkel ist . . .! Nein, meine Beste, reden Sie kein Wort mehr, bitte! Das sieht mir doch sehr nach Absicht aus! Sie wollen mich beleidigen! Sie haben den Verkehr mit mir ganz einfach satt und brechen einen Grund vom Zaun, um Schluß zu machen!«

Die arme schlechtweg angenehme Dame wußte nicht aus noch ein. Da war sie in ein schönes Kreuzfeuer geraten. Das kam von ihrem dummen Renommieren! Sie hätte sich am liebsten ihre Zungenspitze abgebissen.

»Nun, und was macht denn unser Don Juan?« fragte plötzlich ihre in jeder Hinsicht angenehme Freundin.

»Ach lieber Gott, und ich sitz' da . . .! Ja, wissen Sie denn, Liebste, warum ich eigentlich gekommen bin?« Der schlechtweg angenehmen Dame ging auf ein Haar die Luft aus. Die Worte saßen in ihr auf dem Sprung wie Falken, die sich zum Jagdflug in die Lüfte schwingen wollen. Und es gehörte schon die ganze Bosheit einer nahvertrauten Freundin dazu, sie eben jetzt zu unterbrechen.

»Vergöttern Sie ihn immerhin und machen Sie wer weiß wie viel aus ihm,« sprach die in jeder Hinsicht angenehme Dame mit besonderem Feuer, »ich sag' es Ihnen grad heraus und sag' es, wenn es sein muß, auch ihm selber ins Gesicht: er ist ein übler Kerl, ein übler, übler, übler Kerl!«

»Ja, denken Sie sich nur, was ich von ihm gehört hab' . . .

»Nein, ich weiß nicht, wer das aufgebracht hat, daß er ein schöner Mann sein soll. Er ist gewiß kein schöner Mann, nichts weniger als das! Und seine Nase . . . Seine Nase ist ganz einfach ordinär.«

»Ach, lassen Sie sich doch erzählen, liebes Herz! Ach, lassen Sie sich doch erzählen . . .! Eine Geschichte, sag ich Ihnen . . .! Eine Geschichte . . .! Ce qu'on appelle histoire!« rief die Besucherin beinahe verzweiflungsvoll beschwörend.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu erwähnen, daß die zwei Damen Fremdwörter ohne Zahl verwendeten und manchmal ganze lange Sätze auf französisch in die Unterhaltung flochten. Natürlich habe ich die ehrfurchtsvollste Meinung von dem Nutzen, den das Französische dem Reußenlande bringt, und ich bewundre mit der größten Andacht die sehr löbliche Gewohnheit unserer vornehmen Gesellschaft, Tag und Nacht aus lauter Heimatliebe nur französisch zu parlieren, – trotzdem aber kann ich mich nicht recht entschließen, Sätze aus der fremden Sprache hier in diesem russischen Romane zu verwenden. Fahren wir drum lieber fort in unserm vaterländischen Idiom!

»Eine Geschichte, sagen Sie?«

»Ach Teuerste, ach liebste Freundin! Nein, Sie stellen sich ja gar nicht vor, wie mir zumute war! Also, was sagen Sie: kommt da in aller Herrgottsfrühe heute die Oberpfarrerin zu mir, vom Oberpfarrer Kirill die Frau, und . . . Nun, was glauben Sie, was mir die Frau erzählt von unserm Biedermann, von unserm Ehrengast?«

»Ach was, hat er ein Techtelmechtel mit der Oberpfarrerin angefangen?«

»Liebste Freundin . . .! Techtelmechtel? Was wär' denn dabei! Nein, denken Sie sich nur, was mir die Oberpfarrerin erzählt! Zu ihr kommt auf einmal die Gutsbesitzerin Karobotschka vom Land herein, bleich wie der Tod vor Schrecken, und weiß unglaubliche Geschichten zu erzählen! Nein, denken Sie sich nur, ein förmlicher Roman: in dunkler Nacht, zur Geisterstunde, als alles auf dem Hofe schläft, da klopft es an das Tor, so furchtbar laut, wie es bestimmt noch nie ein Mensch vernommen hat, und eine Summe schreit: ›Macht auf, macht auf, – sonst schlag' ich euch das Tor in Stücke!‹ – Wie finden Sie das, Liebste? He? Wie steht nun unser Don Juan da?«

»Und die Karobotschka? Ist sie denn jung und hübsch?«

»Ach, keine Spur! Ein altes Mütterchen!«

»Wie süß! Er hält es mit den alten Mütterchen! Da zeigt sich der unfehlbare Geschmack von unsern Damen! Da haben sie sich wieder einmal gerade in den Richtigen verliebt!«

»Nein, liebste Freundin, nein, nicht so, wie Sie sich denken . . .! Er stürzt, gespickt mit Waffen wie ein Rinaldo Rinaldini, dieser alten Frau ins Haus und brüllt: ›Verkaufen Sie mir alle Seelen, die Ihnen weggestorben sind!‹ brüllt er. Und die Karobotschka sagt ganz vernünftig: ›Nein, die kann ich Ihnen nicht verkaufen,‹ sagt sie, – ›weil sie nämlich tot sind,‹ sagt sie. ›Nein,‹ sagt er, ›sie sind nicht tot; das werd' ich doch wahrscheinlich besser wissen, ob sie tot sind,‹ sagt er. ›Sie sind nicht tot, sie sind nicht tot!‹ schreit er. ›Sie sind nicht tot!‹ Kurzum, er macht den schrecklichsten Skandal. Das ganze Dorf versammelt sich, die Kinder heulen, ein jeder schreit, kein Mensch versteht sein eignes Wort, – enfin: horreur, horreur, horreur! – Sie stellen sich die Aufregung von mir nicht vor, als ich das hörte! ›Gnädige Frau,‹ sagt meine Maschka, ›sehen Sie bloß in den Spiegel, wie totenbleich Sie sind!‹ sagt sie. ›Was, Spiegel?‹ sag' ich, ›danach ist mir nicht zumut,‹ sag' ich, ›ich muß sofort zu Anna Grigorjewna und muß es ihr erzählen.‹ Gleich ließ ich anspannen; mein Kutscher, der Andruschka, fragt, wohin wir fahren, – ich starr' ihn an wie blödsinnig und kann ihm überhaupt nichts sagen; ach, er muß mich für verrückt gehalten haben. Liebste Freundin, nein, Sie stellen sich die Aufregung nicht vor, in der ich war!«

»Ja aber, das ist doch sonderbar,« sprach die in jeder Hinsicht angenehme Dame. »Was sollen diese toten Seelen nur bedeuten? Ich muß bekennen: ich steh' hier vor einem Rätsel. Zum zweitenmal hör' ich von diesen toten Seelen . . . Ja, und mein Mann behauptet noch, das wär' bloß eine Lüge von Nasdrjow . . . Nein, nein, da steckt schon was dahinter.«

»Mein liebes Herz, Sie stellen sich nicht vor, wie mir zumute war, als ich das hörte! ›Und ich,‹ sagt die Karobotschka, ›ich wußte überhaupt nicht,‹ sagt sie, ›was ich machen sollte. Er zwingt mich einfach,‹ sagt sie, ›ein gefälschtes Dokument zu unterschreiben, und wirft mir fünfzehn Rubel in Reichskassenscheinen hin. Und dabei bin ich,‹ sagt sie, ›eine unerfahrne Witwe,‹ sagt sie, ›die sich nicht selber helfen kann und von Geschäften nichts versteht!‹ – Ja, das sind Sachen! Ach, Sie stellen sich im Traum nicht vor, wie mich das aufgeregt hat!«

»Nun, Sie mögen drüber denken, wie Sie wollen,« erklärte die in jeder Hinsicht angenehme Dame, »hier dreht sich's überhaupt nicht um die toten Seelen, – dahinter steckt was anderes.«

»Ja, wenn ich ehrlich sein soll, hab' ich selber schon . . .« erwiderte, trotzdem sie eigentlich recht überrascht war, die schlechtweg angenehme Dame und brannte vor Begier, zu hören, was eigentlich dahinter stecken könnte. Sie fragte deshalb zögernd: »Und was steckt nach Ihrer Ansicht wohl dahinter?«

»Nein, sagen Sie zuerst: was meinen Sie?«

»Ich . . .? Ich . . . ich muß gestehn, ich . . . kenn' mich überhaupt nicht aus in der Geschichte.«

»Ich möchte ja nur wissen, was Sie sich darüber für Gedanken machen?«

Doch hierauf wußte die schlechtweg angenehme Dame keine Antwort. Sich aufzuregen, das verstand sie; scharfsinnige Hypothesen aber waren durchaus nicht ihre Sache. Und darum hatte sie noch mehr als andre Frauen ein starkes Anlehnungsbedürfnis an liebe Freundinnen, die ihr in solchen Dingen hilfreich aufklärend zur Seite stehen konnten.

»Dann will ich Ihnen sagen, was hinter diesen toten Seelen steckt!« sprach die in jeder Hinsicht angenehme Dame; und alle Kräfte der schlechtweg angenehmen Dame verlegten sich aufs Horchen: ihre Ohren spitzten sich, sie hob sich fast vom Sofa in die Luft; trotz ihrer Korpulenz sah sie beinahe schlank aus, sie hatte geradezu etwas von einem leichten Federchen, das jeder Windhauch schnell von hinnen führen könnte.

So sitzt wohl einer unserer Junker, ein großer Hundezüchter und Jäger vor dem Herrn, gespannt im Sattel, wenn aus dem Wald der von den Treibern aufgescheuchte Hase bricht. Die Peitsche hoch über dem Kopf geschwungen, erstarrt er mitten in der heftigen Bewegung samt seinem Gaul und gleicht der Pulverladung, für die bereits die Lunte glimmt. Sein Auge bohrt sich in den Dunst, – heidi, er hetzt dem flüchtigen Wilde nach und bleibt ihm auf den Fersen; nichts hält ihn auf, mag auch der Schnee der Steppe in Wolken ihm entgegenstieben, ihm Mund und Schnauzbart, Augen, Brauen und die Kappe aus Biberpelz mit eisigen Silbersternchen bombardieren . . .

»Die toten Seelen . . .« setzte die in jeder Hinsicht angenehme Dame zum Sprechen an.

»Ja? Ja?« fiel ihr die Freundin aufgeregt ins Wort.

»Die toten Seelen . . .

»Reden Sie! Mein Gott, was ist's mit diesen Seelen?«

»Die toten Seelen, – das hat er sich nur so ausgedacht, um uns von seiner Spur zu locken. Und sein Plan ist einfach, mit der Tochter unseres Präsidenten durchzubrennen.«

Dies durfte in der Tat als eine überraschende und kühne Hypothese gelten. Die schlechtweg angenehme Dame saß starr und wurde totenbleich. Sie zitterte vor Aufregung, daß es kein Spaß mehr war.

»Gerechter Gott!« rief sie und schlug die Hände ineinander. »Darauf wär' ich nun wirklich nie gekommen.«

»Und ich, ich muß gestehn: Sie hatten kaum den Mund geöffnet, da wußte ich genau, was es geschlagen hatte,« sagte die in jeder Hinsicht angenehme Dame.

»Ja aber, liebste Freundin, sagen Sie: was soll man da von unserer Pensionatserziehung denken? Dies Lämmchen weiß wie Schnee!«

»Ein feines Lämmchen weiß wie Schnee! Ich hab' sie Dinge sagen hören, – da muß ich schon gestehn: ich hätte nicht den Mut, so etwas in den Mund zu nehmen.«

»Ja liebste Freundin, muß einem denn da das Herz nicht bluten, wenn man sieht, wie sittenlos die Jugend heutzutage ist? Und unsere Herren, die sind einfach weg von der Person! Was sie nur an ihr finden? Ich finde nichts an ihr.«

»Und die Gesichter, die sie zieht vor lauter Tuerei!«

»Nein aber, liebste Freundin: sie ist doch wie ein Marmorbild und hat auch nicht die Spur von Ausdruck im Gesicht.«

»So was von Tuerei! So was von Tuerei! Nein, so was Affektiertes! Wer ihr das beigebracht hat, weiß ich nicht. Für jeden Fall hab' ich so was Geziertes überhaupt noch nicht gesehn.«

»Ja aber, Teuerste, sie ist doch wie ein Marmorbild und totenblaß.«

»Ach, reden Sie nicht, liebste Freundin: sie legt Rot auf, daß es eine wahre Schande ist!«

»Wie kommen Sie auf die Idee, Verehrteste: sie ist doch kreideweiß, ganz einfach kreideweiß!«

»Mein liebes Herz, ich habe neben ihr gesessen: sie legt Rot auf, fingerdick; die rote Schminke bröckelt ja in Stücken von ihren Wangen ab, wie Kalk von einer alten Wand! Das hat sie von der Mutter. Die ist auch ekelhaft kokett . . . Aber die Tochter gibt ihr noch was vor!«

»Da muß ich wirklich staunen . . .! Schwören Sie, wobei Sie wollen . . .! Mein Mann und meine Kinder sollen auf der Stelle tot sein, mein ganzes Geld will ich verlieren, wenn sie auch nur ein Tröpfchen, ein Atom, auch nur die kleinste Spur von Rot auf ihren Wangen hat!«

»Wie können Sie das nur behaupten, Liebste, Beste?« rief die in jeder Hinsicht angenehme Dame und schlug die Hände ineinander.

»Wie sonderbar Sie sind, Verehrteste! Ich muß nur staunen über Sie!« erwiderte die schlechtweg angenehme Dame und schlug auch ihrerseits die Hände ineinander.

Der wohlgeneigte Leser braucht sich nicht zu wundern, daß unsere Damen so verschiedner Meinung über etwas waren, was sie doch beide fast im gleichen Augenblick gesehen hatten. Es gibt sehr viele Dinge in der Welt, die diese Chamäleonseigentümlichkeit besitzen: wenn eine Dame sie betrachtet, sind sie schneeweiß; betrachtet eine andre Dame sie, so sind sie rot wie Preißelbeeren.

»O, ich kann es Ihnen ja sogar beweisen, daß sie bleich war,« fuhr nun die schlechtweg angenehme Dame fort. »Ich weiß es noch wie heute, daß ich zu Manilow, der bei mir saß, gesagt hab': ›Sehn Sie nur, wie bleich sie ist!‹ – Wirklich, man muß schon so verdreht wie unsere Männer sein, um sich für die da zu begeistern. Und unser Don Juan . . .! Ich hab' mich an dem Abend geradezu geekelt vor dem albernen Getu, das er vollführte! Nein, Sie stellen sich nicht vor, mein liebes Herz, wie eklig er mir war.«

»No, immerhin gewann ich doch den Eindruck, daß er manchen Damen ganz erstaunlich gut gefiel.«

»Zielt das auf mich, Verehrteste? Das können Sie mir wohl nicht nachsagen, – niemals, niemals!«

»Ja, sprech' ich denn von Ihnen? Sie tun fast, als ob es sonst gar keine Damen gäbe.«

»Niemals, niemals, Verehrteste! Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich mir über mich sehr klar bin. Das trifft viel eher auf gewisse andre Damen zu, die dabei gern so tun, als wären sie ein Blümlein Rührmichnichtan.«

»Da muß ich doch sehr bitten, meine Beste! Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß mir noch keiner so was Skandalöses nachgesagt hat. Da dürfen andre sich vielleicht getroffen fühlen, – ich nicht. Das müssen Sie mir schon gestatten, zu bemerken!«

»Warum denn so pikiert? Es waren ja noch viele Damen da. Gewisse Damen machten doch buchstäblich einen Wettlauf nach den Stühlen an der Tür, um unserm Don Juan nur recht nah zu sein.«

Bei Gott im Himmel: dieses Wort der schlechtweg angenehmen Dame mußte unbedingt den fürchterlichsten Sturm entfesseln; doch etwas Überraschendes geschah: die beiden Damen wurden plötzlich wieder sanft, der Sturm blieb unentfesselt. Denn der in jeder Hinsicht angenehmen Dame fiel es auf einmal ein, daß sie den Schnitt zu jenem hochmodernen Kleid noch nicht in Händen hatte, während die schlechtweg angenehme Dame es sich nicht verhehlen konnte, daß ihr die Freundin ja bis jetzt noch alle Einzelheiten über die schwarzen Pläne unseres Helden schuldig war. So wurde denn der Friede schnell geschlossen.

Man möge übrigens nicht glauben, daß die beiden Damen ein wirkliches Bedürfnis in sich getragen hätten, einander Schnödigkeiten anzutun, sie waren auch nicht etwa bösartig von Natur, – bloß überkam sie so im Gespräch ganz unwillkürlich ein gewisser Kitzel, der andern einen kleinen Puff zu geben und hie und da ein stacheliges Wörtlein in die freundschaftliche Rede einzuflechten. – Da, nimm es und verschluck es mit Gesundheit! – Ja, das Menschenherz kennt allerhand Gelüste, beim weiblichen, sowie beim männlichen Geschlecht.

»Bloß eines kann ich nicht begreifen,« sagte die schlechtweg angenehme Dame. »Daß Tschitschikow, der doch nur als Passant hier in der Stadt ist, sich auf dies gewagte Abenteuer einläßt . . .! Es ist doch gar nichts andres möglich, als daß er Helfershelfer hat.«

»Ach, dachten Sie, er hätte keine?«

»Aber wer wird ihm denn bei so was helfen?«

»Nun, und wenn Nasdrjow der einzige wäre?«

»Nasdrjow? Ja, glauben Sie im Ernst?«

»Das halte ich für selbstverständlich! Denn für ihn ist so was das gefundene Fressen. Wissen Sie denn nicht: der Mensch hat ja auch seinen eignen Vater kurzerhand verkaufen oder vielmehr, daß ich ihn nicht verleumde, im vingt et un verspielen wollen!«

»Ach lieber Gott, was man von Ihnen für interessante Sachen hört! Ich hätte nie gedacht, daß auch Nasdrjow in diese peinliche Geschichte verwickelt ist.«

»Das wußte ich sofort!«

»Nein, wenn man überlegt, was es doch alles auf der Erde gibt! Als Tschitschikow hier in die Stadt kam, – hätte ihm da jemand zugetraut, daß er so üble Streiche machen könnte? Liebste Freundin, wenn Sie ahnten, wie mich das aufgeregt hat! Ja, und ohne Ihre Liebenswürdigkeit und Freundschaft stände ich noch immer vor dem größten Rätsel. – Also, die Maschka, meine Jungfer, sieht sofort, wie totenbleich ich bin, und sagt: ›Ach, liebe gnädige Frau,‹ sagt sie, ›Sie sind ja totenbleich!‹ – ›Ach, Maschka,‹ sag' ich, ›laß das nur; danach ist mir jetzt nicht zumut!‹ – Nein, so eine Geschichte! Und auch Nasdrjow ist mit im Spiel! Ich danke schön!«

Die schlechtweg angenehme Dame forschte mit Eifer nach genaueren Einzelheiten: wann die Entführung vor sich gehen solle, und so weiter. Doch da verlangte sie zu viel. Und die in jeder Hinsicht angenehme Dame erklärte schlicht, daß sie davon nichts wisse. Denn sie war nun einmal keiner Lüge fähig. Sie stellte höchstens Hypothesen auf, aber auch das tat sie nur dann, wenn ihre Hypothesen fest auf einer inneren Überzeugung ruhten. Allerdings, sobald sie eine solche Überzeugung fühlte, ließ sie sich auch durch nichts mehr davon abbringen. Sogar ein Rabulist von einem Advokaten, berühmt für sein Talent, durch Worte jede fremde Meinung umzustimmen, wäre vollkommen unfähig gewesen, ihr das geringste auszureden, und hätte staunend sehen müssen, was es mit einer Überzeugung auf sich hat.

Und daß die beiden Damen dann zu guter Letzt fest überzeugt von ihren Hypothesen waren, die sie am Anfang selber nur als Hypothesen angesehen hatten, – das wird keinen Kundigen wundernehmen. Auch wir klugen Leute, wie wir uns fein bescheiden nennen, machen es meist ebenso. Betrachten wir doch nur einmal, wie beispielsweise die neuen Entdeckungen der Wissenschaft zustande kommen! Zuerst schleicht sich so ein Gelehrter an einen Stoff heran gleich einem Diebe in der Nacht; maßvoll und schüchtern, stellt er mit ganz harmlosem Gesicht die Frage: »Könnte das am Ende so und so sein? Leitet sich der Name jenes Landes wohl von diesem oder jenem Worte ab?« oder: »Ob diese Urkunde nicht doch aus einer andern, viel späteren Epoche stammt?« oder: »Sollte dies Volk am Ende nicht mit jenem andern Volk identisch sein?« Flugs blättert er in irgendeinem alten Autor nach, und wenn er nun in dessen Schriften nur den geringsten Anhaltspunkt entdeckt, oder was ihm von fern als Anhaltspunkt erscheint, so geht die Karre mit ihm durch, ihm wächst der Mut, er redet mit den Verfassern seiner Quellenschriften freiweg, ganz wie mit seinesgleichen, legt ihnen Fragen vor und läßt sie antworten, wie's ihm in seinen Kram paßt, kurz, er weiß nicht mehr, daß er von einer dürftigen Hypothese ausging; nein, er glaubt schon völlig klar zu sehen, und er zieht mit edler Unbefangenheit die Summe seiner Untersuchung: »Jawohl, so und nicht anders ist's gewesen! Dies ist das Volk, um das es sich hier dreht! Von diesem Punkt aus ist die Sache zu betrachten!« Alsbald verkündet er das öffentlich auf dem Katheder, – eine neuentdeckte Wahrheit tritt den Weg in alle Winde an und wirbt sich Jünger und Adepten scharenweise.

Als sich nun unsere beiden Damen über die rätselhaft verworrene Angelegenheit dank ihrem Scharfsinn glücklich klar geworden waren, erschien im Zimmer auf einmal der Staatsanwalt mit seinem steinernen Gesicht, den dichten Brauen und dem uns bekannten Augenzwinkern. Unsere Damen nun erzählten ihm in wildem Durcheinanderreden die ganze schreckliche Geschichte vom Seelenkauf und dem Entführungsanschlag auf die Präsidententochter. Der arme Staatsanwalt stand wie betäubt, er zwinkerte und putzte sich mit dem Taschentuch den Schnupftabak vom Kinn und wußte überhaupt nicht, was er denken solle. In diesem Zustande verließen ihn die beiden Damen und schwärmten nach verschiedenen Seiten aus, um die Stadt N. in Aufruhr zu versetzen. Zur gründlichen Vollendung dieses Werkes genügte ihnen eine gute halbe Stunde. Der Aufruhr in der Stadt war fabelhaft, die Geister brodelten und warfen Blasen, kein Mensch verstand ein Wort von der Geschichte. Die Damen rührten einen Nebel auf, daß all die wackern Bürger, besonders aber die Beamten, sich eine Weile förmlich vor den Kopf geschlagen fühlten. Im ersten Augenblick war ihnen etwa so zumute wie einem Schuljungen, dem seine früher aufgewachten Kameraden im Schlafe eine kleine Tüte voller Schnupftabak – einen »Husaren«, wie es unsere Jungen nennen – in das Nasenloch geschoben haben. Der Schläfer atmet tief und zieht den ganzen Tabak in die Nase. Davon erwacht er, springt aus seinem Bett und glotzt mit blödem Staunen vor sich hin. Er weiß nicht, wo er ist, und was man ihm getan hat. Allmählich kommt er zu Bewußtsein und findet sich in dem bekannten Schlafsaal, über dessen Wände sich durchs Fenster schräg der helle Morgensonnenschein ergießt, er hört die in den Ecken wohlverborgenen Kameraden lachen, er sieht: da draußen ist es Tag, der Wald erwacht und schallt von tausend Vogelstimmen, der Schlängellauf des Baches sendet Silberblitze durch das Röhricht, und nackte Knabenleiber wimmeln dem Ufer zu und freuen sich schon auf das Bad, – erst als er dieses alles wahrgenommen hat, bemerkt er plötzlich, daß ein »Husar« in seiner Nase steckt . . .

Genau so fühlten sich im ersten Augenblick die Bürger der Stadt N., und ganz besonders die Beamten. Sie standen blöde glotzend, wie die Kuh vorm neuen Tor. Die toten Seelen und die Präsidententochter und Tschitschikow, – das alles mischte sich in ihren Köpfen zu einem kunterbunten Durcheinander. Später erst, als sich die erste Überraschung legte, konnten sie allmählich wieder die Dinge voneinander sondern, um sie einzeln zu betrachten; doch so viel sie sich bemühten, einige Klarheit zu erlangen, – sie erkannten zornig und enttäuscht, daß diese Sache unerklärlich blieb.

»Herrgott, was soll denn da für ein geheimer Sinn in diesen toten Seelen stecken, was für ein Sinn kann denn dahinter stecken? Wo soll die Logik sein von diesen toten Seelen? Wer wird tote Seelen kaufen? Kann denn ein Mensch so ein verdrehter Narr sein? Kann man dafür gutes Geld bezahlen? Und was verfolgt er mit dem Unsinn denn für einen Zweck? Kann man aus toten Seelen irgend etwas machen? Und was hat bloß die Präsidententochter in drei Teufels Namen mit der Angelegenheit zu tun? Und wenn er sie entführen will, – warum muß er da tote Seelen kaufen? Und wenn er tote Seelen kaufen will, – wozu entführt er da die Präsidententochter? Will er ihr diese toten Seelen schenken? Doch einfach nicht zu glauben, was die Leute hier in dieser Stadt für dummes Zeug erzählen! Nein, wie die Leute hier bloß sind: es darf sich einer ja kaum umdrehen, so wird gleich eine Klatschgeschichte draus gemacht! Und steckte wenigstens ein Sinn dahinter . . .! Ja aber, wenn geredet wird, muß doch am Ende etwas dran sein. Bloß, was soll denn eigentlich an toten Seelen dran sein? Es kann gar nichts dran sein! Das ist wie ein Messer ohne Heft und Klinge, ist Blödsinn, Quatsch und Blech! Das ist . . . Ach, hol's der Fuchs!«

Kurzum, es gab ein endloses Gefrage und Gerede. Die ganze Stadt sprach von der Sache. Die toten Seelen und die Präsidententochter, Tschitschikow und die toten Seelen, die Präsidententochter und Tschitschikow . . . Es war ein allgemeiner Aufruhr, und ein Wirbelwind packte die Stadt, die sonst so ruhig vor sich hingedämmert hatte. Sogar die Faulpelze und Murmeltiere, die schon seit Jahren nicht aus ihrem Schlafrock und den vier Wänden ihres Heims gekommen waren, angeblich weil der Schuster ihnen zu enge Stiefel angemessen, weil der Schneider sie mit ihren neuen Kleidern schnöd im Stich gelassen hätte, oder weil ihr Kutscher unentwegt betrunken wäre, selbst solche Leute krochen aus den Höhlen, Leute, die sich längst von jeglicher Geselligkeit zurückgezogen hatten und nur noch mit den Gutsbesitzern »Weckmichnichtauf« und »Laßmichschlafen« Umgang pflogen, Leute, die nicht einmal die Einladung zu einem Mittagessen locken konnte, bei dem es eine Fischsuppe für ein paar hundert Rubel gab, mit einem Sterlett von zwei Klaftern Länge und leckeren Pastetchen, die ganz einfach auf der Zunge schmolzen . . . Kurz: die Stadt erwies sich plötzlich als ein großes, volkreiches und blühendes Gemeinwesen. In den Salons bewegten sich auf einmal ein gewisser Syssoi Pafnutjewitsch und ein gewisser Macdonald Karlowitsch, die nie zuvor ein Sterblicher gesehen hatte; desgleichen ein bis dahin völlig unbekannter, unmenschlich langer Herr, der den im letzten Krieg zerschossenen rechten Arm in einer Schlinge trug. Und durch die Straßen rasselten gedeckte Chaisen, noch niemals in der Stadt erblickte Staatskarossen, uralte Rumpelkasten, die aufs kläglichste mit ihren Rädern quietschten, – kurz, der Brei kam immer heftiger ins Kochen.

Zu einer andern Zeit und unter anderen Verhältnissen hätten derartige Gerüchte vielleicht nicht das geringste Aufsehen erregt; aber die Stadt N. behalf sich notgedrungen schon seit längerer Zeit vollkommen ohne Neuigkeiten. Man mag es glauben oder nicht: im ganzen letzten Vierteljahr hatte sich nicht ein einziger Skandal ereignet; und dabei sind doch solche Sensationen für eine richtige Stadt, die etwas auf sich hält, genau so unentbehrlich wie etwa eine regelmäßige Lebensmittelzufuhr.

Es währte gar nicht lange, da schieden sich die Geister in eine männliche und eine weibliche Partei, die den verzwickten Fall von sehr verschiedenen Standpunkten betrachteten. Die männliche Partei in ihrer Torheit und Beschränktheit suchte den Kernpunkt der Affäre in der Geschichte mit den toten Seelen. Die weibliche Partei hingegen legte nur Wert auf die Entführung und die Präsidententochter.

Zur Ehre unserer Damen muß unumwunden zugegeben werden, daß diese weibliche Partei der anderen an Blick für die Zusammenhänge und an schöpferischer Logik über war. Ganz offenbar schenkt einem schon der Beruf der Hausfrau an sich die nötige Weitsicht und den Sinn für Tatsachen. Im Geiste unserer Damenwelt gewann die Angelegenheit gar bald die klarste und bestimmteste Gestalt, – es wurde, mit einem Wort, ein fertiger Roman daraus. Die Damen wollten wissen, daß Tschitschikow schon seit geraumer Zeit in dieses junge Ding verschossen sei. Sie träfen sich des Nachts beim Mondenschein im Garten. Im Anfang hätte sich der Präsident nicht abgeneigt erwiesen, ihnen seinen väterlichen Segen zu erteilen; Tschitschikow sei ja so reich wie ein Hebräer. Doch stünde dem die angetraute Gattin Tschitschikows im Weg, der er bei Nacht und Nebel durchgegangen wäre. (Woher die Nachricht kam, daß unser Held schon eine Frau besäße, das wird ewig ein Geheimnis bleiben.) Das arme, schnöd verlassene Weib, das seinen Mann unsinnig liebe, hätte an den Präsidenten einen wahren Jammerbrief geschrieben. Tschitschikow sei sich infolgedessen klar, daß er das Jawort von den Eltern nie bekäme, und hätte aus diesem Grund den Plan gefaßt, das junge Mädchen zu entführen. – In anderen Salons erzählte man die Geschichte etwas anders: Tschitschikow sei keineswegs verheiratet, jedoch als Schlauberger, der gerne sicher ginge, hätte er, gerade um die Tochter zu bekommen, vor allen Dingen mit der Mutter angebandelt, und dabei sei es in der Tat zu einem Herzensbund intimerer Natur gekommen. Als späterhin nun Tschitschikow ganz unbefangen um die Tochter angehalten hätte, wäre die Frau Mama von religiösen Bedenken und Gewissensangst befallen worden. Erst ihre schroffe Absage hätte dann bei Tschitschikow den Plan gereift, die Tochter zu entführen. – Natürlich wurde dies Gerede immerzu noch in dem Maß erweitert und durch pikante Einzelheiten ausgeschmückt, wie es von Mund zu Mund ging und schließlich in die fernsten Winkelgassen drang. Bei uns zulande haben auch die kleinen Leute brennendes Interesse für die Klatschgeschichten aus den höheren Kreisen; und deshalb sprach man von diesem Fall auch unter sehr bescheidenen Dächern, wo man Tschitschikow noch nie gesehen hatte und im übrigen nicht das Geringste von ihm wußte. Daß dabei immer noch Phantastischeres an den Tag kam, wird wohl niemand wunder nehmen. Und die Sache wurde stündlich interessanter und gewann mit jedem Tag bestimmtere Unterlagen. Auf diese Art kam sie am Ende, wie es so zu gehen pflegt, mit allen ganz bestimmten Unterlagen an das Ohr der Präsidentin selber. Und die Präsidentin, als Familienmutter, als die erste Dame der Stadt N. und dann als Frau, vor der das alles wie ein Blitz aus heiterm Himmel niederschlug, war auf das äußerste empört, und das mit vollem Recht. Die blonde Maid erlebte das peinlichste Tête-à-tête, das einem jungen Ding von sechzehn Jahren überhaupt begegnen kann. Ihr ward auf eine Weise zugesetzt mit Fragen und Verhören, Vorwürfen, Drohungen, Ermahnungen, daß sie herzbrechend weinte, ohne zu begreifen, was sie eigentlich verbrochen hätte. – Und der Portier der Präsidentin bekam die strengste Weisung, Tschitschikow nie wieder vorzulassen, zu welcher Zeit und unter welchem Vorwand er auch käme.

Als auf die Art die Damen ihren Feldzug, wenigstens soweit die Präsidentin in Betracht kam, glücklich zum Ziel geführt hatten, sahen sie ihre nächste Aufgabe darin, die männliche Partei zu ihrer Ansicht zu bekehren, daß nämlich die Geschichte mit den toten Seelen von Tschitschikow nur vorgeschoben sei, um den Verdacht nach einer falschen Richtung abzulenken; denn das erleichtere ihm selbstverständlich die Entführung. Und viele Männer ließen sich auch breitschlagen und liefen zu den Frauen über, trotzdem sie sich dadurch sehr übler Nachrede von seiten ihrer Kameraden aussetzten. Man hieß sie »alte Weiber« und »Pantoffelhelden«, – Namen, welche für Vertreter des stärkeren Geschlechtes immerhin etwas recht Kränkendes besitzen.

Doch mochten sich die Männer sperren, wie sie wollten, – auf ihrer Seite fehlte die gehörige Disziplin, durch die die weibliche Partei zu siegen wußte. Nein, bei den Männern fand man nicht die Spur von feinerem Instinkt, von Schliff, von klarem Blick und Sinn für die Zusammenhänge, von Geist und Phantasie; in ihren Köpfen liefen die Gedanken wirr, ungeordnet, kunterbunt und unklar durcheinander. Kurzum, es zeigte sich hier wieder mal die männliche Inferiorität, Plumpheit, Schwerfälligkeit im hellsten Licht. Ein Mann ist weder fähig, einem Haushalt vorzustehen, noch auch, sich klar für eine feste Überzeugung zu entscheiden, weil dies Geschlecht behindert wird von seiner dummen Skepsis und Verschlafenheit, von Zweifelsucht und ewiger Angst. – Die Männer beharrten auf dem lächerlichen Standpunkt, daß dies alles nichts als Unsinn sei. Denn mit Entführungen von sechzehnjährigen Präsidententöchtern befaßten sich doch bestenfalls Husarenleutnants, und nicht wohlgesetzte Herren vom Zivil. An so was dächte Tschitschikow auf keinen Fall. Das wären abgeschmackte Weiberlügen. Ein Weibsbild sei nun einmal wie ein leerer Sack: was du in einen Sack hineinstopfst, trägt er weiter. Worum sich's hier in erster Linie drehe, das seien zweifellos die toten Seelen. Was es mit diesen auf sich hätte, solle allerdings der Kuckuck wissen! Doch könne man mit Ruhe Gift drauf nehmen, daß irgend etwas äußerst Übles und Peinliches dahinter stecke. Warum die Herren dieser Ansicht waren, wird der geneigte Leser gleich verstehen.

Es war für die Provinz ein neuer Oberpräsident ernannt, und so etwas pflegt ja die Beamten immer lebhaft aufzuregen. Denn solch eine Ernennung bringt zumeist Verdruß mit sich: da gibt's Kontrollen und Beanstandungen, ein neuer Vorgesetzter steckt die Nase in weiß der liebe Gott was alles und brockt den armen Untergebenen die schönsten Suppen ein. »Hölle und Teufel!« sagten die Beamten. »Und wenn ihm was davon zu Ohren kommt, daß so verdächtige Gerüchte in der Stadt kursieren, o, dann kriegt er einen Zorn, der nicht von schlechten Eltern ist!« Der Physikus ward plötzlich bleich vor Schrecken: lieber Gott, ob nicht der sonderbare Ausdruck »tote Seelen« auf die leider ja recht zahlreichen Patienten deuten mochte, die bei der letzten Nervenfieberepidemie in den Spitälern und auch sonst selig im Herrn verblichen waren. Die starke Sterblichkeit hing, wenn man der Sache auf den Grund ging, immerhin vielleicht mit einer etwas laxen Handhabung der sanitären Vorschriften zusammen. Und wenn nun Tschitschikow ein Sendbote des Oberpräsidenten wäre, der diese Angelegenheit ganz im Geheimen untersuchen sollte? Der Physikus in seiner Angst lief zum Gerichtsdirektor und fragte den um Rat. Der Herr Direktor hielt das zwar für einen Unsinn, aber im gleichen Augenblick wurde er selber bleich und fragte sich: – Ja, Himmel, wenn die Seelen, welche Tschitschikow gekauft hat, wirklich tot sein sollten . . .? Und ich, ich hab' den Kauf verbriefen lassen und noch dazu die Vollmacht Pluschkins übernommen! Wenn das der Oberpräsident erfährt, – na, aber dann . . .! – Von dieser Sorge sprach nun der Direktor insgeheim zu dem und jenem seiner Freunde, und siehe da: ein jeder wurde bleich. Angst ist ansteckend wie die Pest und greift mit Windeseile um sich. Ja, mancher ging so weit, daß er sich Sünden vorwarf, die er nicht einmal begangen hatte.

»Tote Seelen« klang so unbestimmt, daß einigen der Herren der Gedanke kam, es berge sich dahinter eine Anspielung auf einige plötzlich Verstorbene, die man vor kurzem doch am Ende mit zu großer Hast hatte begraben lassen. Es drehte sich dabei um zwei verschiedene Fälle. In dem einen waren die handelnden Personen Kaufleute aus Solwytschegodsk, die zum Jahrmarkt in die Stadt N. gekommen waren und nach Erledigung ihrer Geschäfte ein paar ihnen befreundete Kaufleute aus Ustsyßolsk zu einem kleinen Abendtrunk geladen hatten, – einem vergnügten Abendtrunk von russischer Ausführlichkeit, jedoch mit allerlei Schikanen nach deutscher Art, wie Bischof, Punschen, Bitterschnäpsen und dergleichen. Und dieser Abendtrunk lief, wie das vorzukommen pflegt, zum Schluß auf eine tüchtige Rauferei hinaus, bei der die Herren aus Solwytschegodsk ihre aus Ustsyßolsk gekommenen Kollegen zu sehr stillen Leuten machten. Freilich konnten auch sie selber Beulen und gewaltige blaue Flecken an Brust und Bauch und Rücken vorweisen, die Zeugnis davon gaben, mit welch ungeheueren Fäusten die Verblichenen zugehauen hatten. Einem von den Siegern war sogar, wie sich die Kämpfer ausdrückten, der »Riecher völlig eingetetscht«, das heißt, die Nase so zu Brei geschlagen, daß sie kaum noch nennenswert aus dem Gesichte ragte. Die kampffrohen Handelsleute führten es als mildernden Begleitumstand ins Feld, daß sie ein bißchen übermütig aufgelegt gewesen wären. Einem Gerücht zufolge sollten sie für jeden jählings hingeschiedenen Freund vierhundert Rubel auf dem Hochaltar des Kreisgerichts geopfert haben. Tatsache ist, daß nichts Gewisses festzustellen war. Aus den Ermittlungen und den Verhören ging hervor, daß diese armen Ustsyßolsker Kaufleute an Kohlendunstvergiftung umgekommen wären. Und auf den Befund hin hatte man sie dann getrost begraben lassen. – Der andre Fall, der den Beamten jetzt plötzlich wieder ins Gedächtnis kam, lag so: die Dominialbauern des Dorfes Wschiwaja-Speß hatten sich, wie man behaupten wollte, mit den gleichfalls dem Dominium leibeigenen Bauern der Dörfer Borowka und Sadirailowo verschworen und vereint der Landespolizei, in der Gestalt eines Assessors, der Drabjäschkin hieß, das Licht des Erdenlebens ausgeblasen. Denn die Polizei, verkörpert durch den Herrn Assessor, war übertrieben häufig in den Dörfern eingekehrt und dabei mit der gleichen Freude aufgenommen worden wie etwa der Besuch der Cholera. Die Polizei litt nämlich an einer besondern Art von Herzerweiterung und warf daher zu oft ein Auge auf die Dorfmädchen und Bauernfrauen. Etwas Gewisses wurde nicht bekannt, wenngleich die Bauern offen äußerten, die Polizei sei geil gewesen wie ein Bock, sie hätten sie des öfteren auf frischer Tat ertappt und sie schon einmal splitternackt aus einem Haus gejagt. Die Herzerweiterung der Polizei war ganz gewiß nicht in der Ordnung und verdiente Strafe, doch ließ sich auf der andern Seite die Lynchjustiz der Bauern von Wschiwaja-Speß, Borowka und Sadirailowo auch keineswegs rechtfertigen, – gesetzt den Fall, daß sie tatsächlich an dem Mord beteiligt waren. Hierüber aber herrschte Unklarheit. Man hatte die Polizei, in der Gestalt des Herrn Assessors, tot auf der Landstraße gefunden, die Uniform zerfetzt und das Gesicht so zugerichtet, daß es kaum kenntlich war. Die Sache wurde untersucht und kam am Ende vor das Kreisgericht, wo man zunächst inoffiziell vertraulich davon sprach und sich in diesem Sinne einigte: Kein Mensch hat eine Ahnung, wer sich von den Bauern an dem Mord beteiligt hat, und Bauern sind's die schwere Menge; wiederum Drabjäschkin ist ein toter Mann, darum kann es ihm schnuppe sein, ob er den fraglichen Prozeß gewinnt; die Bauern aber leben noch und haben zweifellos ein lebhaftes Interesse daran, daß unser Spruch zu ihren Gunsten lautet. Auf Grund dieser vertraulichen Erörterung erkannte das Gericht, wie folgt: Drabjäschkin hat sich die Geschichte selber zuzuschreiben; hätte er die Bauern von Wschiwaja-Speß, Borowka und Sadirailowo nicht rechtswidrig bedrückt, so wäre er wahrscheinlich noch am Leben; Ursache seines Todes sei mithin ein Schlaganfall, der ihn bei einer Dienstfahrt über Land getroffen hätte. Man sollte wirklich meinen, daß damit diese Sache glatt und elegant erledigt war. Und trotzdem packte die Beamten, weiß der liebe Gott warum, mit einemmal ein Zweifel, ob nicht ein geheimer Faden diese vielbesprochenen toten Seelen mit den halb vergessenen Gerichtsentscheidungen verknüpfe. Nun wollte es zudem das Schicksal, daß gerade jetzt, wo all die Würdenträger der Stadt N. sich ohnehin in ihrer Haut nicht recht behaglich fühlten, – daß eben jetzt beim Präsidenten beinah gleichzeitig zwei Schreiben amtlichen Charakters in den Einlauf kamen. Das eine Schriftstück wußte allerlei von einem Falschmünzer zu melden, der, wie aus ganz bestimmten Anhaltspunkten zu entnehmen wäre, unter verschiedenen ausgedachten Namen hier in der Provinz sein Wesen treibe. Der leitenden Behörde wurde darum gemessene Weisung übersandt, für schleunige Entdeckung und Festnahme dieses Münzverbrechers alles Nötige zu tun. Das andre Schreiben kam vom Präsidenten der angrenzenden Provinz und teilte mit, daß dort ein Räuber der Polizei entronnen sei; wenn also im Bezirk von N. eine verdächtige Persönlichkeit sich blicken ließe, die weder einen Paß noch sonstige Papiere hätte, wäre sie sofort zu arretieren. Diese zwei Mitteilungen erregten Schrecken bei jedermann und warfen alle früheren Kombinationen plötzlich um. Zwar war es fraglos ausgeschlossen, daß sich die beiden amtlichen Berichte etwa auf Tschitschikow bezögen; dennoch wälzte jedermann dies seltsame Problem tief im Gemüt und mußte sich zum Schluß gestehen, daß er keine Ahnung davon hatte, wes Geistes Kind denn dieser Tschitschikow im Grunde war. Er selber hatte ja von seinen eigenen Verhältnissen nur in sehr unbestimmten Wendungen gesprochen. Freilich, es war ein Wort davon gefallen, daß er im Staatsdienste um seiner Überzeugung willen schon Verfolgungen erduldet hätte; doch gab das keineswegs ein klares Bild. Aber er hatte auch etwas gesagt von Feinden, die ihm buchstäblich nach dem Leben trachteten! Das führte doch zu sonderbaren Schlüssen! Sein Leben war also bedroht, er hatte also die Verfolger auf den Fersen, er mußte also irgend was begangen haben, weshalb man ihn verfolgen durfte . . . Wer, in Dreikuckucksnamen, war der Mensch? Natürlich glaubte keine Seele, daß er falsche Kassenscheine drucke oder gar ein Straßenräuber sei, – dafür sah er denn doch zu staatserhaltend aus; aber trotz alledem empfand man dringend das Bedürfnis, zu erfahren, was wohl hinter diesem zweifelhaften Fremden stecke. So stellten sich die braven Würdenträger jetzt die Frage, die sie sich eigentlich sofort zu Anfang, schon im ersten der Kapitel unseres Buches, hätten stellen sollen. Und man hielt es für das Klügste, denen, die ihm Seelen abgetreten hatten, etwas auf den Zahn zu fühlen und so wenigstens herauszubringen, um welcher Art Geschäfte es sich handle, was denn eigentlich der sonderbare Ausdruck »tote Seelen« sagen wolle, und ob Tschitschikow nicht einem dieser Leute gegenüber absichtslos und unbewußt etwas von seinen dunkeln Plänen offenbart und dadurch hätte merken lassen, was für eine Sorte Mensch er sei. Zunächst begab man sich zu Frau Karobotschka, doch war bei der nicht viel zu holen; er hätte ihr für fünfzehn Rubel Seelen abgekauft und ihr versprochen, späterhin noch alles mögliche von ihr zu kaufen, beispielsweise Schmalz und Gänsefedern, welche er zu Lieferungen an den Staat benötige; und deshalb hielte sie ihn ganz bestimmt für einen Schwindler, – sei doch früher schon einmal ein solcher Kerl bei ihr gewesen, welcher Schmalz und Federn für den Staat einhandelte und dabei alle Welt beschummelte, die Oberpfarrerin allein um über hundert Rubel. Was sie weiter noch erzählte, war in einem fort das gleiche Lied; und die Beamten konnten nichts daraus entnehmen, als daß Frau Karobotschka eine strohdumme alte Schraube war. Manilow wiederum erklärte sich bereit, jegliche Bürgschaft für Herrn Tschitschikow zu übernehmen, ganz wie für sich selber; ja, er würde gern alle seine Habe opfern, wenn er dadurch nur ein Hundertstel von Tschitschikows Talenten, Vorzügen und Tugenden erwerben könnte. Er sprach in den höchsten Tönen über Tschitschikow und knüpfte daran mit vor Wonne zugekniffnen Augen einige Sentenzen zu dem Thema »Freundschaft«. Diese süßlichen Sentenzen zeugten laut dafür, daß er ein liebevolles Herz besaß, zur Sache aber sagten sie den wißbegierigen Beamten wenig. Und als man hierauf Sabakewitsch fragte, gab der fest zurück, er hielte Tschitschikow für einen Ehrenmann. Die Bauern, die er käuflich an ihn abgetreten habe, dürfte er die besten unter seinen Leuten nennen, und sie seien so lebendig, wie man sich's nur wünschen könne. Selbstverständlich übernehme er nicht die geringste Garantie für künftige Ereignisse; und wenn sie also etwa alle an den furchtbaren Strapazen, die die Übersiedlung mit sich brächte, sterben und verderben sollten, wäre er nicht schuld daran. Das liege in der Hand des lieben Gottes, und es gebe leider hitzige Fieber und auch andere Seuchen zur Genüge; ja, es seien Fälle vorgekommen, wo ein solches Unglück ganze Dörfer ausgerottet hätte.

Die Honoratioren griffen schließlich noch zu einem Mittel, das nicht eben vornehm war, zu dem man aber in dergleichen Fällen nicht gerade ungern greift: sie stifteten verschiedene ihrer Diener an, sich Tschitschikows Leibeigenen zu nähern und sie über ihres Herrn Verhältnisse und frühere Taten auszuhorchen. Aber es war äußerst knappe Kunde, die man so erfuhr. Der wackere Petruschka gab überhaupt nichts von sich als den uns bereits bekannten Duft von dichtbewohnten Zimmern, wo niemals ein Fenster aufgemacht wird; Selifan hinwiederum beschränkte sich darauf, lakonisch zu erklären, daß sein Herr früher beim Zollamt angestellt gewesen sei, – und damit Schluß. Hierin sind unsere kleinen Leute sonderbar: fragst du sie auf den Kopf nach irgendwas, dann können sie sich nie erinnern, haben »keinen Verstand davon« und wissen einfach nichts; fragst du sie aber dann nach etwas anderem, so schwenken sie auf einmal um und werden so ausführlich, daß es dir fast auf die Nerven fällt. Kurz, alle Nachforschungen, die unsere Honoratioren pflogen, hatten nur das eine Resultat, daß sie nach wie vor nichts davon wußten, wer dieser Tschitschikow im Grunde war. Und dabei mußte er doch irgendwer und irgend etwas sein. Deshalb ward endlich abgemacht, die Sache ernsthaft durchzusprechen, um doch wenigstens zu einem Schluß zu kommen, wie man sich in dieser Angelegenheit verhalten und was man für Maßregeln ergreifen solle. Denn es ging doch nicht so weiter, daß man sich im Unklaren darüber blieb, ob Tschitschikow ein Mensch sei, welchen die Beamten als verdächtige Persönlichkeit zu arretieren und ins Loch zu stecken pflichtgemäß gehalten wären, oder ganz im Gegenteil ein Mensch, der die Gewalt besaß, sie selber als verdächtige Persönlichkeiten zu verhaften und sie seinerseits ins Loch zu stecken. Um das schlüssig zu entscheiden, wurde eine Sitzung anberaumt, und zwar im Hause des Polizeimeisters, der unsern Lesern als der Vater und Wohltäter der ganzen Stadt noch in Erinnerung sein dürfte.

 


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