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XIV

Raiskij ging am niedrigen Flußufer entlang, stieg dann die Anhöhe hinan, lenkte in die Stadt ein und gelangte an Koslows Häuschen. Er sah Licht im Fenster und trat eben auf die Gartenpforte zu, als er plötzlich bemerkte, daß jemand vom Seitengäßchen her über den Zaun in den Garten stieg.

Raiskij wartete im Schatten des Zaunes, bis der andere hinübergeklettert war. Er schwankte, was er tun sollte, da er nicht wußte, ob er einen Dieb oder vielleicht einen Verehrer von Uljana Andrejewna, irgendeinen Monsieur Charles, vor sich hatte. Er wollte keinen Lärm schlagen, auf jeden Fall indes den Eindringling scharf im Auge behalten; er folgte daher seinem Beispiel und kletterte ebenso leise über den Zaun. Der andere schlich sich ans Fenster, und Raiskij folgte ihm, immer in einer Entfernung von einigen Schritten. Der Unbekannte kletterte auf den Fenstervorsprung und begann plötzlich mit aller Kraft gegen die Scheibe zu trommeln.

›Das ist kein Dieb ... das kann nur – Mark Wolochow sein!‹ dachte Raiskij, und er hatte richtig geraten.

»Heda, Philosoph! Mach auf! Hörst du nicht, Plato?« ließ sich seine Stimme vernehmen. »Mach rasch das Fenster auf!«

»Geh von vorn herein, über die Treppe!« tönte von innen her gedämpft Koslows Antwort.

»Warum über die Treppe? Soll ich erst die Hunde wecken? Mach auf!«

»Na, dann wart einen Augenblick – bist du ein Kerl!« sagte Leontij, während er das Fenster öffnete.

Mark stieg in das Zimmer.

»Da kommt ja noch einer hinter dir her! Wen hast du denn mitgebracht?« fragte Koslow erschrocken, während er vom Fenster zurücktrat.

»Niemanden – du träumst wohl? Aber wirklich – da kriecht noch einer durchs Fenster.«

In diesem Augenblick sprang Raiskij vom Fensterbrett ins Zimmer.

»Du bist es, Boris?« sprach Leontij verwundert. »Wie habt ihr beide euch denn gefunden?«

Mark warf einen Blick auf Raiskij und wandte sich dann zu Leontij. »Gib mir rasch ein Paar Hosen und einen Schluck Branntwein!« sagte er.

»Was ist denn mit dir? Woher kommst du?« sagte Leontij ganz verblüfft. Er hatte erst jetzt bemerkt, daß Mark fast bis an den Gürtel durchnäßt und beschmutzt war – seine Stiefel und Beinkleider trieften nur so.

»Gib her, und rede nicht erst lange!« versetzte Mark ungeduldig.

»Ich habe keinen Branntwein. Charles war heut zu Mittag bei uns, wir haben alles ausgetrunken. Ein Glas Portwein kannst du vielleicht bekommen.«

»Nun, auch gut – und wo liegen deine Kleider?«

»Ich weiß es nicht, und meine Frau schläft. Ich muß Awdotja fragen ...«

»Schafskopf! Laß, ich will selber suchen.«

Er nahm das Licht und ging in das anstoßende Zimmer.

»Siehst du – so ist er!« sagte Leontij zu Raiskij.

Nach einem Weilchen kam Mark mit den gewünschten Beinkleidern zurück.

»Wo hast du dich denn so zugerichtet?« fragte Leontij.

»Ich bin in einem Fischerkahn über die Wolga gefahren, und an der Insel ist dieser Esel von einem Fischer in den Schlamm geraten; wir mußten ins Wasser springen und das Boot ans Ufer ziehen.«

Ohne Raiskijs Anwesenheit zu beachten, wechselte er die Beinkleider und nahm dann in einem großen Sessel Platz, wobei er die Knie ans Gesicht emporzog, daß sein Kinn darauf ruhen konnte.

Raiskij betrachtete ihn schweigend. Mark konnte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein, er war von kräftiger Gestalt, wie aus Metall gegossen, dabei wohlproportioniert. Sein Gesicht war blaß, und das hellblonde Haar fiel ihm voll und dicht über die Ohren und den Nacken, wobei die große, vorspringende Stirn stark hervortrat. Bart und Schnurrbart waren dünn und von hellerer Farbe als das Haupthaar.

Das offene, kecke, fast freche Gesicht trat weit vor. Die kräftigen, großen Gesichtszüge waren nicht ganz regelmäßig, das Gesicht eher mager als voll. Ein Lächeln, das von Zeit zu Zeit darin aufblitzte, schien mehr ein Ausdruck von Ärger und Spott als von Zufriedenheit zu sein.

Er hatte lange Arme, mit großen, regelmäßig geformten, geschmeidigen Händen. Der Blick seiner grauen Augen war entweder kühl und herausfordernd oder kalt und gleichgültig abweisend.

Zusammengekauert saß er unbeweglich da; die Arme und Beine rührten sich nicht, als seien sie erstarrt, und die Augen blickten auf alles kühl und ruhig.

Aber hinter dieser Unbeweglichkeit barg sich eine feinfühlig spürende Unruhe, wie man sie zuweilen an einem anscheinend ruhig und still daliegenden Hunde beobachtet. Die Vorderpfoten ruhen ausgestreckt nebeneinander, der Kopf mit den geschlossenen Augen liegt still darauf, der Rumpf ist zu einem schweren, träg ruhenden Ring gekrümmt; er scheint zu schlafen, nur das eine Augenlid zittert leise, und das schwarze Auge schimmert kaum merklich hindurch. Sowie jedoch etwas in der Nähe sich regt, ein leiser Wind weht, eine Tür zugeschlagen wird, ein Fremder sich zeigt, raffen die scheinbar ruhenden Glieder sich im Augenblick zusammen, die ganze Gestalt des Tieres ist geladen von Kraft und Munterheit, es schlägt an, springt auf ...

Nachdem Mark ein Weilchen mit geschlossenen Augen dagesessen hatte, öffnete er sie plötzlich und richtete sie gerade auf Raiskij.

»Sie haben jedenfalls aus Petersburg gute Zigarren mitgebracht – geben Sie mir eine!« sagte er ohne Umstände.

Raiskij reichte ihm seine Zigarrentasche.

»Du hast uns noch gar nicht miteinander bekannt gemacht, Leontij!« sagte er mit leichtem Vorwurf zu Koslow.

»Was ist da noch bekannt zu machen! Ihr seid beide auf demselben Wege hereingekommen, und jeder von euch weiß, wer der andere ist!« versetzte Koslow.

»Das hast du ganz geschickt gesagt – hätte ich von einem Gelehrten deines Schlages gar nicht erwartet!« sagte Mark.

»Das ist derselbe Mark ... verstehst du ... von dem ich dir schrieb«, fuhr Koslow fort.

»Schweig! Ich kann mich selber vorstellen!« sagte Mark, sprang vom Sessel auf, stellte sich in Positur und machte vor Raiskij einen Kratzfuß.

»Habe die Ehre, mich zu rekommandieren: Mark Wolochow, Beamter der fünfzehnten Rangklasse, zur Zeit unter Polizeiaufsicht und unfreiwilliger Bürger dieser Stadt.«

Er biß die Spitze der Zigarre ab, rauchte sie an und nahm wieder in der alten Stellung auf dem Sessel Platz.

»Was treiben Sie hier?« fragte Raiskij.

»Ganz dasselbe wie Sie, glaub ich.«

»Sie sind also ... Künstler?«

»Sind Sie denn Künstler?«

»Gewiß!« mischte sich Leontij ein. »Ich sagte dir doch bereits: er ist Maler, Musiker. Jetzt schreibt er einen Roman. Nimm dich in acht, alter Freund, daß er dich nicht darin abkonterfeit! – Wie weit bist du denn damit?« wandte er sich an Raiskij.

Raiskij machte ihm mit der Hand ein Zeichen, daß er schweigen solle.

»Ja, ich bin Künstler«, antwortete Mark auf Raiskijs Frage. »Ich bin's jedoch in einem besonderen Sinn. Ihre Tante hat Ihnen sicherlich schon manches von meiner Kunstfertigkeit erzählt!«

»Sie kann Ihren Namen nicht hören, ohne in Zorn zu geraten.«

»Na, da haben Sie's! Und dabei habe ich mir bis jetzt höchstens ein paar Dutzend Äpfel aus ihrem Garten geholt!«

»Die Äpfel gehören mir. Ich erlaube Ihnen, so viel davon zu nehmen, wie Sie wollen.«

»Danke, bemühen Sie sich nicht. Ich bin schon mal so dran gewöhnt, alles im Leben ohne Erlaubnis zu tun. Auch mit Ihren Äpfeln will ich es so halten, sie schmecken mir dann besser.«

»Ich war sehr neugierig, Sie kennenzulernen. Man hat mir von allen Seiten so viel über Sie erzählt«, sagte Raiskij.

»Was hat man Ihnen denn erzählt?«

»Nicht viel Gutes.«

»Man hat Ihnen wohl gesagt, ich sei ein Räuber, ein Auswurf des Menschengeschlechts, der Schrecken der ganzen Gegend?«

»Ja, beinahe.«

»Was hat Sie denn da so neugierig gemacht, nach dieser liebenswürdigen Empfehlung? Sie müßten eigentlich in den Chor mit einstimmen: ich habe Ihnen doch Ihre Bücher zerrissen! Der junge Mann da hat es Ihnen sicher gesagt!« fügte er, auf Koslow weisend, hinzu.

»Ja, ja, da hast du ihn leibhaftig vor dir!« sagte Leontij. »Gut, daß er selbst davon angefangen hat.«

»Machen Sie mit den Büchern, was Sie wollen, ich erlaube es Ihnen!« sagte Raiskij.

»Sie wollen mir da schon wieder etwas erlauben – wer hat Sie darum gebeten? Jetzt rühre ich keins mehr an – kannst ruhig schlafen, Leontij!«

»Er ist nämlich in Wirklichkeit ein ganz guter Kerl«, sagte Leontij mit einer Kopfbewegung nach Mark hin. »Wenn man krank wird, pflegt er einen wie eine Kinderfrau, läuft zum Arzt, in die Apotheke ... und was er alles weiß! Unglaublich viel! Nur, daß er nichts tut und keinen Menschen in Ruhe läßt – ein ausgemachter Schalk!«

»Schwindle doch nicht, Koslow!« unterbrach ihn Mark.

»Übrigens gibt es auch Leute, die Sie nicht schelten«, warf Raiskij ein. »Watutin zum Beispiel spricht gut von Ihnen – oder er bemüht sich wenigstens.«

»In der Tat? Der zuckersüße Herr Marquis? Dabei hab ich ihm doch auch schon einige Denkzettel gegeben; ihn des Nachts aus dem Schlummer geweckt und das Fenster in seinem Schlafzimmer geöffnet, er muß nämlich frische Luft haben. Beständig klagt er über seine Gesundheit – und dabei hat ihn in all den vierzig Jahren, seit er hier ist, noch kein Mensch krank gesehen. Angepumpt hab ich ihn gleichfalls – das Geld wird er natürlich nie wiedersehen. Auch sonst gab's noch dies und das zwischen uns – und da lobt er mich?«

»Zu dieser Art von Künstlern gehören Sie also?« versetzte Raiskij heiter.

»Und Sie? Zu welcher Art gehören Sie?« fragte Mark. »Erzählen Sie!«

»Ich bin ... was man eben so gewöhnlich einen Künstler nennt. Weither ist's damit nicht. Ich liebe die Schönheit und bete sie an; ich liebe die Kunst, zeichne, musiziere. Jetzt will ich eine größere Sache schreiben ... einen Roman.«

»Ja, ja, ich sehe, Sie sind ein Künstler, wie jedermann bei uns.«

»Jedermann?«

»Gewiß – bei uns ist jeder Mensch ein Künstler. Die einen modellieren, zeichnen, klimpern, dichten – wie Sie und Ihresgleichen. Die anderen fahren aufs Amt, zur Kommissionssitzung oder sonstwohin, wo sie ihre Künste produzieren. Noch andere sitzen beim Brettspiel vor ihren Läden oder auf ihren Gütern, wo sie zur Betätigung ihres Kunstdranges reiche Gelegenheit finden. Wo man hinsieht, überall steht die Kunst in schönster Blüte!«

»Hätten Sie nicht gleichfalls Lust, sich der einen oder anderen Kategorie anzuschließen?« fragte Raiskij lächelnd.

»Ich hab's versucht, doch ist es mir nicht gelungen. Zu welchem Zweck sind Sie denn jetzt hierhergekommen?«

»Ich weiß es selbst nicht«, erwiderte Raiskij. »Mir ist's ganz gleich, wo ich meine Zeit verbringe. Ein Brief meiner Tante rief mich hierher, und so kam ich eben.«

Mark versank wieder in sein stilles Brüten und kümmerte sich nicht weiter um Raiskij, während dieser ihn um so aufmerksamer betrachtete, seinen Gesichtsausdruck und seine Bewegungen studierte und auf diese Weise seiner Phantasie zu Hilfe zu kommen suchte, die, wie gewöhnlich, von dem neuen Modell ein Porträt nach dem anderen entwarf.

›Gott sei Dank!‹ sagte er sich im stillen, ›es scheint, daß ich nicht der einzige Mensch bin, der so untätig durchs Leben geht, ohne sich an einen bestimmten Platz fesseln zu lassen. Ich habe da offenbar ein Pendant gefunden: einen Ruhelosen, der sich mit seinem Schicksal nicht aussöhnen kann und darum nichts tut; ich zeichne und male wenigstens, will einen Roman schreiben. Man kann's ihm am Gesicht ablesen, daß er mit niemandem und nichts zufrieden ist. Was ist er eigentlich? Das Opfer eines inneren Zwiespalts, wie ich selbst es bin? Ewig im Kampf, ewig zwischen zwei Feuern? Auf der einen Seite von der Phantasie geblendet, die alles idealisiert – die Menschen, die Natur, das ganze Leben, alle seine Erscheinungen; auf der anderen Seite kalte Analyse, die alles zersetzt und zerstört, alle Freude am Leben verdirbt, mit ewiger Unzufriedenheit peinigt? Ist er auch von dieser Art, oder steckt etwas anderes dahinter?‹

Prüfend betrachtete er den im Halbschlummer dasitzenden Mark; auch Leontij schienen die Augenlider zuzufallen.

»Es ist Zeit, daß ich nach Hause gehe«, sagte Raiskij. »Leb wohl, Leontij!«

»Und was soll ich mit dem da anfangen?« fragte Koslow, auf Mark zeigend.

»Laß ihn doch hier!«

»Den Bock soll ich mitten im Garten lassen? Hier bei den Büchern? Wenn man ihn so samt dem Sessel in den Alkoven bringen und dort einschließen könnte!« sprach er, wie überlegend, leise vor sich hin, gab jedoch diesen Gedanken sogleich wieder auf und meinte zu Raiskij: »Wenn er mitten in der Nacht aufwacht, ist er imstande, das Dach vom Hause abzutragen!«

Mark, der die letzten Worte vernommen hatte, lachte plötzlich hell auf und sprang rasch vom Sessel hoch.

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte er zu Raiskij, setzte seine Mütze auf und war im nächsten Augenblick zum Fenster hinaus, nachdem er zuvor das Licht in Leontijs Zimmer ausgelöscht hatte.

»Du mußt schlafen gehen«, rief er ihm zu, »mußt nicht immer nächtelang aufsitzen! Siehst schon ganz gelb aus im Gesicht, hast ganz eingefallene Augen!«

Raiskij folgte, wenn auch nicht ganz so geschickt, seinem Beispiel. Beide entfernten sich durch den Garten, stiegen über den Zaun und gingen nebeneinander auf der Straße.

»Hören Sie«, sagte Mark, »ich habe Hunger, bei Leontij gab es nichts mehr. Würden Sie mir helfen, eine Attacke auf irgendein Wirtshaus zu machen?«

»Sehr gern, aber sollte das nicht auch ohne Attacke gehen?«

»Nein, es ist zu spät, überall ist geschlossen. Und wenn sie gar hören, daß ich dabei bin, lassen sie uns überhaupt nicht ein. Es geht mal nicht anders – wir müssen ›Feuer!‹ rufen, dann öffnen sie, und wir dringen ein.«

»Und dann werfen sie uns zur Tür hinaus.«

»Nein, das wird ihnen nicht gelingen! Sie können mir wohl den Eintritt verweigern, aber wenn ich erst drin bin, bringen sie mich nicht wieder hinaus.«

»Aber das gibt doch einen Auflauf und nächtliche Ruhestörung!« sagte Raiskij.

»Ah, Sie haben Angst vor der Polizei. Was wird der Gouverneur, was wird Nil Andrejitsch sagen? Wie werden die Honoratioren, wie die Damen es aufnehmen?« lachte Mark. »Nun, leben Sie wohl, ich habe Hunger und werde die Attacke auf eigene Faust versuchen.«

»Warten Sie, ich habe eine andere Idee, die vielleicht besser ist als die Ihrige. Ich sagte Ihnen schon, daß meine Tante Ihren Namen nicht hören kann, und neulich versicherte sie sogar, sie würde Ihnen um keinen Preis und unter keinen Umständen auch nur einen Teller Suppe vorsetzen.«

»Na – und!«

»Na, wir wollen eben bei ihr Abendbrot essen – und dann können Sie gleich bei mir über Nacht bleiben! Ich weiß nicht, was sie tun oder was sie dazu sagen wird, ich glaube jedoch, es kann sehr lustig werden.«

»Die Idee ist nicht übel – gehen wir! Aber glauben Sie, daß wir dort noch etwas zu essen bekommen? Ich bin sehr hungrig.«

»Bei Tatjana Markowna – etwas zu essen bekommen? Die kann zu jeder Stunde eine ganze Kompanie Soldaten abfüttern!«

Sie gingen schweigend nebeneinander her. Mark rauchte die Zigarre zu Ende und schritt mit gesenktem Kopf, die Nase im Bart und von Zeit zu Zeit ausspuckend, stumm dahin.

Sie erreichten Malinowka, schlichen sich am Hofzaun entlang bis ans Tor, tasteten sich in der Dunkelheit durch dieses hindurch und kamen an den Gartenzaun, den sie übersteigen wollten.

»Dort, vom Obstgarten her oder von der Schlucht aus, ist es bequemer«, sagte Mark. »Dort stehen Bäume, man sieht nichts. Hier könnten uns leicht die Hunde wittern, und es ist von hier aus auch weiter zum Hause. Ich wähle immer jenen Weg.«

»Sie kommen ... hierher in den Garten?«

»Ja, ich hole mir hier Äpfel. Im letzten Herbst kam ich oft hierher, vom Felde aus, und auch in diesem Jahr, im August, will ich wieder ... wenn Sie es ›erlauben‹ ...«

»Mit Vergnügen – sehen Sie sich nur vor, daß Tatjana Markowna Sie nicht abfaßt!«

»Nein, das gelingt ihr nicht! Aber sehen Sie, da – läuft uns da nicht jemand in die Arme? Eben klettert er über den Zaun, sehen Sie doch! Ganz wie wir! Heda, he! Bleib stehen! Versteck dich nicht! Halt! Wer ist da? Raiskij, kommen Sie mir zu Hilfe!«

Er stürzte vorwärts und bekam in einer Entfernung von etwa zehn Schritten jemanden zu packen.

»Was für Katzenaugen Sie haben! Ich habe nichts gesehen!« rief Raiskij, während er ihm nacheilte.

Mark hielt den Unbekannten bereits fest, der sich seinen Armen vergeblich zu entwinden suchte und schließlich zu Boden stürzte.

»Da klettert noch jemand über den Zaun in den Garten!« rief Mark von neuem. »Packen Sie zu!«

Raiskij erblickte eine zweite Gestalt, die bereits oben auf dem Zaun saß und sich soeben anschickte, in den Garten hinabzuspringen. Er griff zu und bekam eine Hand zu fassen.

»Wer bist du? Was willst du hier – sprich!« fragte er.

»Lassen Sie mich los, gnädiger Herr! Richten Sie mich nicht zugrunde!« bat kläglich eine weibliche Stimme.

»Du bist es, Marina?« sagte Raiskij, der seine Gefangene an der Stimme erkannte. »Was willst du hier?«

»Nicht so laut, gnädiger Herr, nennen Sie mich nicht beim Namen! Wenn Sawelij was merkt, prügelt er mich wieder.«

»Nun, so geh denn – lauf rasch! Oder nein, wart mal! Du kommst gerade recht. Kannst du mir nicht noch etwas zum Abendbrot aufs Zimmer bringen?«

»Alles kann ich, gnädiger Herr – richten Sie mich nur nicht zugrunde, um Gottes willen!«

»Hab keine Angst, es geschieht dir nichts. Gibt's noch etwas Eßbares in der Küche?«

»Gewiß doch, alles ist da! Es wurde nicht viel zu Abend gegessen, weil Sie nicht da waren. Sterlet in Gelee ist da, und auch Truthahn, es steht alles auf Eis.«

»Nun, so bring's herüber. Ist auch Wein da?«

»Eine Flasche ist im Büfett, und in Marfa Wassiljewnas Zimmer ist Beerenlikör.«

»Wie könnte man den herausbekommen? Sie wird erwachen.«

»Nein, Marfa Wassiljewna erwacht nicht so leicht. Lassen Sie mich jetzt gehen, gnädiger Herr – wenn mein Mann uns hört.«

»Nun, so lauf, Semfira, und sieh zu, daß er dich nicht erwischt!«

»Nein, jetzt darf er mir nichts tun, und wenn er mich trifft, sage ich, daß Sie mich beauftragt haben.«

Sie lachte über das ganze Gesicht, ihre Augen blitzten wie die einer Katze, und mit einem kräftigen Abschwung sprang sie vom Zaun hinab, wobei jedoch ihr Rock hängenblieb. Sie riß ihn los, lachte wieder und lief, sich nach Katzenart duckend, zwischen zwei Kohlbeeten davon.

Mark hatte inzwischen herauszubekommen versucht, wer da eigentlich unter seinen Fäusten am Boden lag. Er zog den Unbekannten, der sich dicht an den Zaun zu drücken suchte, weiter vor, stellte ihn auf die Beine und musterte ihn, so gut es ging, im Dunkeln, während jener krampfhaft bemüht war, ihm sein Gesicht zu verbergen.

»Es ist nichts weiter passiert, Sawelij Iljitsch«, flüsterte er in einschmeichelndem Ton. »Wenn Sie mich etwa schlagen wollen, dann bin ich auch noch da!«

»Du kommst mir so bekannt vor«, sagte Mark. »Es ist so dunkel, ich seh dein Gesicht gar nicht.«

»Ach – Sie sind ja ein ganz anderer, sind gar nicht Sawelij Iljitsch!« rief der Unbekannte freudig und richtete sich auf. »Gott sei's gedankt! Ich bin der Gärtner vom Nachbargut drüben.«

»Was hast du hier zu suchen?«

»Ich wollte nur ... die Uhr der Stadtkirche schlagen hören. Unsere Uhr ist nämlich stehengeblieben.«

»Nun, geh zum Teufel!« sagte Mark, gab ihm einen leichten Stoß und ließ ihn laufen.

Der nächtliche Gast sprang über den Graben und verschwand im Dunkel.

Raiskij war inzwischen wieder zum Gartentor gegangen – er wollte das Pförtchen öffnen, scheute sich jedoch, zu klopfen, um die Tante nicht zu wecken.

Er hörte Schritte im Hof, dachte, es sei Marina, die mit dem Abendbrot komme, und rief leise:

»Marina – he, Marina, öffne doch!«

Der Riegel wurde auf der anderen Seite des Pförtchens zurückgeschoben. Raiskij stieß mit dem Fuß gegen das Pförtchen, und es ging auf. Vor ihm stand Sawelij – er stürzte auf Raiskij zu und packte ihn an der Brust.

»Ah, hab ich dich, alter Freund!« rief er voll boshafter Schadenfreude. »Jetzt kriegst du deine Tracht statt Marina! Ich steh dort am Zaun auf Wache – und er kriecht hier durchs Pförtchen!«

Er stieß das Pförtchen mit der Schulter zu, damit der Besucher nicht entfliehen könne.

»Ich bin's, Sawelij!« sagte Raiskij. »Laß mich los!«

»Wer – der gnädige Herr?« rief Sawelij ganz verblüfft und stand wie in den Boden gerammt da. »Sie geruhten doch, Marina zu rufen – haben Sie sie denn gesehen?« fügte er nach einer Weile zögernd hinzu.

»Ich hatte sie heut abend gebeten, mir das Pförtchen zu öffnen, wenn ich käme, und mir das Abendbrot aufs Zimmer zu bringen«, log er, um die Schuldige vor der Rache des eifersüchtigen Gatten zu bewahren. »Sie weiß schon, daß ich zurück bin. Hinter mir kommt noch ein Gast – laß ihn hindurch, schließ zu und leg dich schlafen!«

»Wie Sie befehlen«, sagte er langsam. Eine ganze Weile stand er noch da und sah Raiskij und Mark nach. »So, so!« sprach er für sich und ging dann still nach Hause.

Auf dem Hof begegnete er Marina.

»Was treibst du dich hier herum, du Waldgeist? Warum liegst du nicht im Bett?« sagte sie, während sie, die Hüfte vorschiebend, gewandt an ihm vorüberglitt. »Schleicht in der Nacht herum, macht mir nur Schande vor der Herrschaft!« brummte sie vor sich hin und schwebte gleich einer Sylphe davon. So geschickt trug sie das Präsentierbrett mit den Tellern, Schüsseln, Gläsern, Bestecken, Servietten, daß nicht ein Klirren, nicht ein noch so leiser Laut die Nachtstille störte.

Sawelij sah sie nicht an und antwortete auch nicht auf ihre Herausforderung, sondern drohte ihr nur schweigend mit dem Lenkseil.


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