Balduin Groller
Vom kleinen Rudi
Balduin Groller

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Rudi wächst.

Wie die Zeit vergeht! Ein Semester noch und Rudi wird Gymnasiast; ein Gymnasiast der untersten Klasse ist zwar noch immer etwas sehr Kleines, aber es ist allerdings vorauszusetzen, daß dieses sehr Kleine mit der Zeit doch bedenklich größer werden wird und aus dem Rahmen unserer Schilderungen herauszuwachsen droht. Wir müssen uns da freilich fügen; es bleibt uns in der Tat nichts anderes übrig.

Rudi ist inzwischen, ohne sein Vorwissen, ein berühmter kleiner Herr geworden. Habent sua fata libelli! Da gehe ich nun schon seit einer stattlichen Reihe von Jahren »ins Dichten«, schreibe, ohne müde zu werden, Werk um Werk, und Buch um Buch flattert hinaus. An manchem derselben hing mein Herz, und ein Erfolg hätte mich beglückt, aber es war nichts damit. Nur die flüchtigen Kleinigkeiten, die ich über meinen Freund Rudi zu berichten hatte, nahm eine freundliche Woge des Geschickes auf den Rücken und hob sie in munterer Laune hoch und trug sie hierhin 81 und dorthin in alle Welt. Sie wurden unzähligemal übersetzt, nachgedruckt, vorgelesen, ohne daß ich gefragt worden wäre, ohne daß ich vorher nur eine Ahnung davon gehabt hätte. Durch all das hat dann der kleine Rudi eine solche Berühmtheit erlangt, daß nun fast keine Woche vergeht, ohne daß ich aus den verschiedensten Gegenden Zuschriften aus dem Publikum mit Anfragen nach den Rudi-Geschichten erhielt.

Doch ich sonne mich im Ruhmesglanze meines kleinen Freundes und spreche von mir, anstatt von ihm, das aber ist ein Unrecht, das auch gleich gutgemacht werden soll. Aus dem unzivilisierten Menschenkinde ist mit der Zeit ein sinnreicher kleiner Bursche geworden, der da weiß, was er weiß. Im Hause G., das die Auszeichnung genießt, Rudi zu seinen Sprößlingen zählen zu dürfen, sind orthographische Streitigkeiten stets auf der Tagesordnung, obschon, oder vielleicht richtiger, weil es auf der Höhe moderner Bildung steht. Herr G. beschäftigt sich ja auch literarisch; Frau G. tut das, Gott sei Dank, nicht, aber sie hat einen gutgefüllten Schulsack mit in die Ehe gebracht und bewährt sich als eine unübertreffliche Beraterin und Helferin in allen Schulsachen der Kinder. Béla ist ein Gymnasiast, in dessen Zeugnissen bisher »lobenswert« die schlechteste Note gewesen ist, der also redlich seinen kleinen Mann stellt, wenn es sich um etwas handelt, was in der Schule gelehrt wird. Wenn nun Papa G. einmal unter dem Schreiben von orthographischen Zweifeln geplagt wird, und wenn er sich dann an die jüngere Hausgenossenschaft um Auskunft wendet, dann 82 gibt es gewöhnlich langwierige Debatten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Schulwesen ganz außerordentliche Fortschritte gemacht, und so kann man wohl sagen, daß Herr G. mit der Orthographie, wie er sie gelernt hat und von der er sich durchaus nicht mehr zu emanzipieren vermag, im Altertum steckt, Frau G. im Mittelalter, während die Buben die Neuzeit repräsentieren. Herr G. schreibt alles mit »th«, Frau G. noch vieles und die Buben gar nichts mehr. Wenn man sich dann schon gar nicht mehr auskennt, dann wird als oberste Autorität – Rudi angerufen, und seine Entscheidung wird als inappellabel anerkannt; denn er hat noch niemals einen unrichtigen Bescheid erlassen. Nicht einmal sein gelehrterer Bruder genießt in diesen Fragen eine solche Autorität, wie er, der den Elementen ja noch näher steht, und der daher vertrauenswürdiger ist, wenn es gilt, sich an dieselben zu erinnern.

Rudi hat denn auch eine hohe Meinung von einer ordentlichen Orthographie, und er hat einmal geradezu und im vollsten Ernste gefragt, wie man denn solchen Leuten wie Schiller und Goethe habe das Dichten erlauben können, da sie doch nicht einmal orthographisch zu schreiben wußten. – Die Kenntnis von der Existenz der beiden großen deutschen Klassiker hat Rudi aus den illustrierten Ausgaben ihrer Werke gewonnen, die er auf die Bilder hin mit erstaunlicher Ausdauer immer wieder durchblättert.

Wie Rudi eine Kapazität ist in der Orthographie, so ist er es auch in der Geographie und in der 83 Geschichte. Er stellt da bei Tische die verfänglichsten Fragen, und nicht, um sich zu belehren, sondern um auf den Busch zu klopfen. Wenn Sie zufällig auch nicht wissen sollten, welches der größte Binnensee auf der Erde ist und wie die höchste Bergspitze heißt, und wenn Sie endlich nicht in der Lage sind, die Herzöge aus dem Geschlechte der Babenberger mit genauer Anführung der Jahreszahlen herzusagen, dann wird es gut sein, wenn Sie dem Bengel ausweichen, Sie riskieren sonst eine schwere Blamage, und es ist sehr leicht möglich, daß er Sie weiterhin nicht mehr grüßen wird. Daß er sich nicht scheut, auch seine ehrbaren Eltern durch derartige indiskrete Fragen in Verlegenheit zu setzen, spricht allerdings nicht für seinen Charakter, aber die Rücksicht auf die Wahrheit zwingt uns, auch das nicht zu verschweigen.

Dabei ist er aber doch ein furchtbar dummer Kerl! Hören Sie nur. Bei einer Mahlzeit, die den p. t. Eltern gewöhnlich durch die unbequemen gelehrten Erörterungen der beiden strebsamen Jünger der Wissenschaft einigermaßen ungemütlich gemacht wird, flunkert einmal der Ältere, der natürlich die Physik schon im kleinen Finger hat und der darum am liebsten von ihr spricht, weil der Rudi noch nichts von ihr weiß und sich daher, ob er will oder nicht, imponieren lassen muß, vom Perpetuum mobile und begibt sich dann von diesem auf das Gebiet der Quadratur des Zirkels, um endlich auch mit dem Stein der Weisen zu prunken – kurz, er bringt lauter Dinge vor, von welchen »eigentlich kein Mensch etwas weiß«.

84 Rudi hat den wunderbaren Berichten mit offenem Munde zugehört, endlich – er hat ja immer das Bestreben, seinen Bruder zu übertrumpfen – ruft er triumphierend, daß man über das Perpetuum mobile wenigstens längst im klaren sei, und auch er wisse genau Bescheid darum.

Hohngelächter von seiten Bélas, erneuerte Versicherung, daß er es wisse, von seiten Rudis.

»So sag's!«

»Jetzt gerade nicht!«

»Ha!! Er weiß es nicht, er weiß es nicht!« Heftiger Jubel über die Blamage des Gegners.

»O, ich weiß es doch!« versichert Rudi beharrlich.

Längeres Parlamentieren mit just und just nicht! Endlich entschließt sich Rudi, mit seiner Wissenschaft herauszurücken.

»Also, was ist ein Perpetuum mobile

»Ein Perpetuum mobile ist ein Lausbub!«

Dieser Definition folgt erst starres Staunen, dann ein kolossales Hohngelächter, aber Rudi beharrt bei seiner Behauptung; höchstens könne es Mistbub oder Spitzbub heißen, oder so etwas Ähnliches sei es gewiß, er wisse das bestimmt. Erneutes Hohngelächter des Größeren, unter dessen frenetischem Indianergeheul Rudi endlich die Erklärung für das Unbegreifliche gibt: der Herr Lehrer habe ihm erst gestern gesagt, er sei ein Perpetuum mobile, weil er ewig nicht stille sitzen könne.

Armer Rudi, so niedrig taxiert er seinen Herrn Lehrer und sich selbst!

85 Daß er sich riesig blamiert hätte, das wollte er nicht Wort haben, wie er denn so seine eigenen Ansichten über die Schande hat. Neulich wird er von seiner Mama einer Generalinspektion unterworfen, als er gerade seinen Schulgang antreten wollte, und dabei stellte es sich denn heraus, daß das eine Ohrläppchen bei der großen Waschung entschieden zu kurz gekommen sein mußte. Mama ist sehr entrüstet und macht ihm einen ernsten Vorhalt.

»Hast du dich denn daran noch immer nicht gewöhnt?« fragte Rudi ungeduldig.

»Daran kann man sich nicht gewöhnen, das ist eine Schande!«

»Oho, eine Schande! Eine Schande ist es, wenn man einen Pfeil in den Rücken bekommt!«

Mama, die ihre Ehrbegriffe nicht an Indianergeschichten genährt hatte, konnte darin allerdings nicht sowohl eine Schande als ein Malheur erblicken.

Wie Rudi der Ortho- und Geograph der Familie ist, so ist er auch der Musikant derselben. Und das ist eigentlich recht merkwürdig. Denn das Haus G. zeichnet sich durchaus nicht durch musikalische Befähigung aus. Herr G. denkt mit Schmerz an seine durch erfolglose Versuche, ihm musikalische Kenntnisse einzubläuen, verbitterte Jugend zurück, und in dem reichen Kranze von Talenten, die Frau G. krönen, fehlt die Blume der musikalischen Begabung. Darum hatte man auch gar nicht erst begonnen, den Erstgeborenen mit dem Musikunterricht zu quälen. Und nun spricht auf einmal Rudi auf einem Wunschzettel die Bitte aus, Klavier 86 spielen lernen zu dürfen. Das war ein erstaunliches Ereignis, und der Bitte wurde natürlich sofort willfahrt. Es kam aber noch erstaunlicher, er lernte wirklich gern, leidenschaftlich gern, und er kann es gar nicht erwarten, wenn er eine Lektion bekommen soll. Er spielt alle seine Stückchen, wenn er sie einigemal durchgesehen, auswendig und transponiert sich auf Wunsch jedes Stück sofort selbst in jede beliebige Tonart. Wer mit ihm nicht über Dominante und verminderten Septim-Akkord reden kann, der ist für ihn überhaupt kein Mensch; er träumt nur vom Konservatorium, und wenn er über Musik spricht, so spricht er nicht mehr als Kind, sondern mit der Überlegenheit des Fachmannes.

Herr G. ist absolut außerstande zu begreifen, wie ein Kind am Klavierunterricht so viel Vergnügen haben kann, und auch Frau G. hofft mit ihrem Gemahl, daß Rudis Begabung doch nicht stark genug sein werde, um ihn wirklich ganz auf die musikalische Laufbahn zu treiben. Sie stehen dabei, wenn er vergnügt musiziert, wie die Henne, die einmal ein Entenei ausgebrütet hat, am Rande des Teiches steht, wenn das Entlein, das sie ausgebrütet, zu ihrem maßlosen Erstaunen einfach davonschwimmt. – Die Damen eines sehr berühmten Düsseldorfer Malers führen ein fürstliches Haus, in dem sie auch sehr häufig fürstliche Gäste empfangen, während der Maler selbst seinen schlichten bürgerlichen Gewohnheiten treugeblieben ist. Da fragte einmal das Töchterlein des Malers: »Mama, sage doch, wie kommt denn Papa eigentlich in unsere Familie?«

87 So sehen sich wohl auch Herr und Frau G. an, wenn sie über ihren musikalischen Sprößling erstaunt sind, und fragen sich, wie der Rudi eigentlich zu ihnen komme, und wie sie zu ihm.

Rudi ist auch das Auge der Familie. Er sieht mit seinem hellen Blick am allerweitesten, und auf gemeinsamen Spaziergängen hat sein Auge auszuhelfen, wenn es von weitem etwas zu erspähen gibt. Dabei ist er doch farbenblind, wenn man auch davon in seiner Gegenwart keine Erwähnung machen darf, sonst wird er sehr bös. Tatsächlich kann er die Komplementärfarben Grün und Rot oft nicht unterscheiden, und er gerät dabei nicht selten vor seiner Briefmarkensammlung merkwürdig ins Gedränge. Lokomotivführer konnte er also nicht werden, wenn anders das Übel sich nicht beheben lassen sollte.

Ein eigenes Kapitel würden die glorreichen Kopfkissenkämpfe und all das verdienen, was die beiden Buben in ihrem Schlafzimmer vollführen, wenn sie schlafen gehen oder wenn sie an einem Tage, an dem sie nicht zur Schule gehen müssen, aufstehen. Neulich ging es denn doch etwas gar zu bunt und geräuschvoll zu, und Herr und Frau G. erschienen auf der Bildfläche, um Ruhe zu stiften, denn es war Schlafenszeit. Es sah fürchterlich aus in dem Zimmer; der Kampf muß sehr heftig getobt haben. Schließlich wäre noch alles gut gewesen, aber – ich muß hier um Entschuldigung bitten; wir sind im Kinderzimmer, und gerade im Kinderzimmer möchte ich es wiederholen: naturalia non sunt turpia! – also: aber auf dem 88 Fußboden blinkte sogar ein kleines Bächlein in der Nähe eines nützlichen Instrumentes, dessen Gebrauch wohl erst seit der Erfindung des Porzellans recht populär geworden sein mag, und dessen hohe Nützlichkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird, daß es gewöhnlich unter dem Bette versteckt wird.

Diese unerfreuliche Tatsache forderte eine ernste Strafpredigt heraus, die aber ihren Zweck nicht vollständig erreichen konnte, weil der Übeltäler nicht zu eruieren war. Die Buben schoben sich unter lebhaften Protesten die Schuld gegenseitig zu. Der Rudi war's! Nein, der Belus! So ging das eine Weile, bis Rudi kategorisch erklärte: »Der Belus war's! Er stellt sich immer hin wie ein Baron!«

Nach dieser Auffassung der Gepflogenheiten eines hohen Adels gab es dann natürlich keine Debatte mehr. Jetzt wußte man doch wenigstens etwas Näheres über die Barone und ihre wirklichen oder angemaßten Vorrechte.

Sie sehen, er ist noch immer recht dumm, mein kleiner Freund. Wollen sehen, wie er sich als Gymnasiast machen wird. Seine Eltern hätten zwar gewünscht, daß er sich für die Realschule entscheide, das hat er aber kurz und mit einer gewissen Verachtung abgelehnt. Kein Mensch weiß zu sagen, warum? Vielleicht haben ihm die Gymnasiasten bei den Schneebataillen mehr imponiert. – – 89

 


 


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