Anastasius Grün
Gedichte
Anastasius Grün

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Seemärchen.

        Schon glänzt der Mond im Meeresplan,
Noch fern ist das Schiff vom Hafen!
Die Mitternacht bricht mählich an,
Die Passagiere schlafen.

Die Wacht am Maste schielt hinein
In Mond und Sternenkreise,
Bis überblendet vom Strahlenschein
Das Aug' sich geschlossen leise.

Der Steuermann belauscht zuviel
Des Meeres Plätschern und Klingen,
Bis ihn die Wellen mit listigem Spiel
In Schlummer hinübersingen.

Der Kapitän guckt auch zu tief
Ins Glas nach Ankergründen,
Bis er ganz sanft im Herrn entschlief,
Bevor er sie konnte finden.

Weh dir, verlassnes, armes Schiff!
Weh allen Passagieren!
Wer wird durch Sandbank, Sturm und Riff
Euch nun zum Hafen führen?

Da nahm eine lose Welle das Wort:
Ihr Schwestern, was kann's verschlagen!
Wir schieben zum Spaß am Schifflein fort,
Laßt sehn, wie weit wir's tragen?

Da dachte Boreas: Fast ist's Zeit,
Zu ruhn von dem vielen Bewegen!
Will mich einmal gemächlich breit
Zur Rast in die Segel legen.

Hei, wie das Schiff durch die Fluten schoß,
Getrieben von Wind und Wellen!
Doch weh, nun geht's auf den Felsen los,
Hilf Gott, nun muß es zerschellen!

Den Blinden und Lahmen im Wege pflegt
Zu weichen ein Mann von Sitte!
So denkt der Felsen und bewegt
Zurück sich um sechs Schritte.

Vorbei das Schiff durch die Fluten schoß,
Getrieben von Wind und Wellen;
Doch nun geht's grad auf den Hafen los,
Nun wird's an der Küste zerschellen!

Den Ankern ward es zeitlang fast,
Die müßig am Borde hingen:
Da sagte einer: Ihr Brüder, laßt
Zum Bad ins Meer uns springen!

Gesagt, getan! Er hüpft vom Bord!
Das Volk im Schiff erwachte;
Sie lagen vor Anker mitten im Port!
Wie freundlich das Ufer lachte!

Sie stiegen ans Land, gar inniglich
Entzückt von des Schiffs Regierern.
Gott wolle meine Freund' und mich
Bewahren vor solchen Führern!

Doch woll' er meinen Freunden und mir
Solche Wellen und Winde geben,
Und solche Felsen und Anker dafür,
Zur See und auch im Leben!


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