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Meine Erinnerungen an Oscar Wilde

Von G. Bernard Shaw

 

Mein lieber Harris!

Ich habe einen Ihrer interessanten Briefe zu beantworten; aber wenn Sie mich bitten, unsere Biographien auszutauschen, so mißbrauchen Sie den Vorteil, den der Wechsel des Schauplatzes und die geschäftige Veränderlichkeit Ihrer eigenen Abenteuer Ihnen gewährt. Meine Selbstbiographie würde, ebenso wie meine besten Dramen, furchtbar lang werden und nicht in einzelne Akte eingeteilt sein. Denken Sie nur an diese Lebensgeschichte von Wilde, die Sie mir gerade geschickt haben, und mit der ich vor zehn Minuten zu Ende gekommen bin, nachdem ich alles andere beiseite gelegt habe, um sie in einem Zuge zu lesen.

Weshalb war Wilde als Thema für eine Biographie so geeignet, daß keiner der früheren Versuche, die Sie gerade ausgestochen haben, schlecht ist? Eben weil seine erstaunliche Trägheit sein Leben vereinfacht hat. Es ist fast, als hätte er gefühlsmäßig gewußt, daß es keine Zwischenhandlungen geben darf, um die große Wendung am Schlüsse des vorletzten Aktes zu verderben. Es war ein wohlgestaltetes Leben im Scribeschen Sinne. Ebenso einfach wie das Leben des Geliebten der Manon Lescaut, des Chevalier des Grieux; und das übertrifft es noch, weil Manon ausgelassen und der Chevalier des Grieux zu seinem eigenen Liebhaber und Helden gemacht wird.

Des Grieux war nach allen herkömmlichen Regeln ein nichtswürdiger Halunke; und wir verzeihen ihm alles. Wir glauben, daß wir ihm verzeihen, weil er selbstlos und weil seine Liebe groß war. Aber Oscar scheint gesagt zu haben: »Ich werde niemand lieben; ich werde durchaus selbstsüchtig sein; ich werde nicht nur ein Halunke, sondern ein Ungeheuer sein. Und ihr werdet mir alles verzeihen. Mit anderen Worten: ich will eure Regeln zum Unsinn stempeln, nicht indem ich sie durch meine Feder widerlege, obwohl ich das sehr gut tun könnte und in Wirklichkeit getan habe, sondern indem ich sie tatsächlich durch mein Leben und Sterben widerlege.

Aber ich darf nicht damit anfangen, Ihnen ein Buch über Wilde zu schreiben: ich darf nur ein paar Einzelheiten zusammenraffen und sie Ihnen mitteilen. Um nun mit diesen Einzelheiten nach der Reihenfolge Ihres Buches zu beginnen, kann ich mich nur erinnern, daß ich Sir William Wilde ein einziges Mal gesehen habe. Beiläufig bemerkt, operierte er meinen Vater, um ein schielendes Auge geradezurichten, und trieb diese Richtung so weit, daß mein Vater für sein ganzes Leben nach der entgegengesetzten Seite geschielt hat. Und bis zum heutigen Tage fällt es mir überhaupt nicht mehr auf, wenn jemand schielt. Das ist für mich etwas ebenso Normales wie eine Nase oder ein Zylinderhut.

Als Knabe besuchte ich einmal ein Konzert in den »Antient Concert Rooms« zu Dublin. Alle Leute waren im Gesellschaftsanzug erschienen; und wenn ich nicht etwa dieses Konzert mit einem anderen verwechsle (in diesem Falle glaube ich kaum, daß die Familie Wilde zugegen gewesen wäre), war auch der Vizekönig mit seinen Höflingen in ihren blauen Westen anwesend. Wilde trug einen schnupftabakbraunen Anzug. Und da er einen Teint hatte, der nie sauber aussah, machte er neben Lady Wilde (in großer Gala) den dramatischen Eindruck, daß er wie Friedrich der Große jenseits von Wasser und Seife stand, – ebenso wie sein Sohn, der Nietzsche-Verehrer, jenseits von Gut und Böse. Man erzählte sich weit und breit, daß er in jedem Pächterhause Nachkommenschaft aufzuweisen hatte. Und das Merkwürdige dabei war, daß Lady Wilde sich nichts daraus machte, – augenscheinlich stammte diese Tradition aus dem Travers-Prozeß, von dem ich übrigens nichts gewußt habe, ehe ich Ihre Schilderung las. Denn im Jahre 1864 war ich erst acht Jahre alt.

In London war Lady Wilde in meiner hoffnungslosen Zeit nett zu mir, d. h. von meiner Ankunft im Jahre 1876 bis zu den ersten Einkünften, die ich mir im Jahre 1885 mit meiner Feder verdiente, oder vielmehr bis ich mich ein paar Jahre früher in den Sozialismus stürzte und verächtlich von all den Dingen zurückzog, zu denen auch ihre Empfangstage gehörten. Und die waren, wovon Sie sich ja selbst überzeugt haben, auch recht hoffnungslose Angelegenheiten. Ich habe sie zwei- oder dreimal mitgemacht, und einmal habe ich in Gesellschaft einer ehemaligen Tragödienkönigin bei ihr gespeist. Sie hieß Miß Glynn und steckte den Kopf wie eine Rübe in die Luft, weil sie keine äußerlich sichtbaren Ohrmuscheln hatte. Lady Wilde sprach von Schopenhauer, und Miß Glynn erzählte mir, daß Gladstone seinen Rednerstil von Charles Kean übernommen hätte.

Nun frage ich mich, wo und wie ich Lady Wilde über den Weg gelaufen bin; denn wir hatten in der Dubliner Zeit keine gesellschaftlichen Beziehungen. Ich kann es mir nur so erklären, daß meine Schwester, die damals ein sehr reizvolles Mädchen war und schön sang, Oscar und Willie kennen gelernt und an beiden sozusagen eine harmlose Eroberung gemacht hatte. Oscar traf ich an einem dieser Empfangstage; er kam auf mich zu und sprach mit mir, augenscheinlich in der Absicht, besonders freundlich zu sein. Aber wir schüchterten uns gegenseitig furchtbar ein, und dieses wunderliche Hindernis stand bis zum letzten Ende zwischen uns, auch nachdem die knabenhaften Neulinge zu Weltmännern geworden waren und über ein reiches Maß gesellschaftlicher Gewandtheit verfügten. Ich sah ihn sehr selten, da ich die literarischen und künstlerischen Gesellschaftskreise wie die Pest mied und die wenigen Einladungen, die ich erhielt, mit possenhaftem Ingrimm ablehnte, um mich der Gesellschaft fernzuhalten, ohne die Leute zu beleidigen und das Maß zu überschreiten, das mir als einem privilegierten Irren zustand.

Bei Ihrem tragischen Mittagessen im Café Royal habe ich ihn zuletzt gesehen. Und ich weiß ganz genau, daß wir von Anfang bis zu Ende im ganzen nicht häufiger als zwölfmal zusammengewesen sind, – vielleicht auch nicht häufiger als sechsmal. Bestimmt besinne ich mich auf sechs Zusammenkünfte: 1. bei dem obenerwähnten Empfang; 2. in Macmurdos Haus in der Fitzroy Street zur Zeit der »Century Guild« und ihres Blattes »The Hobby Horse«; 3. bei einer Versammlung irgendwo in Westminster, auf der ich eine Rede über den Sozialismus hielt und Oscar plötzlich zum Vorschein kam und sprach. Ich war sehr überrascht, als Robert Roß mir lange nach Oscars Tode erzählte, daß Oscar durch meine damalige Rede bewogen wurde, es mit einem ähnlichen Kunststück zu versuchen, und dann seine Abhandlung »The Soul of Man under Socialism« (Die Seele des Menschen und der Sozialismus) schrieb. Das viertemal begegneten wir uns ganz zufällig am Bühneneingang im Haymarket-Theater. Bei diesem Zusammensein erschwerte die komische Scheu, die wir voreinander empfanden, unser geflissentlich herzliches und wohlmeinendes Gespräch so sehr, daß unser Lachen und unser Händedruck am Schluß ein wechselseitiges Geständnis war. Fünftens verlebten wir einen wirklich angenehmen Nachmittag zusammen, als einer den anderen in einem Lokal erwischte, wo unsere Anwesenheit ein rechter Unsinn war, – nämlich auf irgendeiner Ausstellung in Chelsea, anläßlich einer Marinegedächtnisfeier. Da gab es eine Nachbildung von Nelsons »Victory« und eine ganze Kabinenreihe der »Peninsular and Oriental Company« zu sehen, – man konnte bei diesem Anblick schon allein durch die Gedankenverbindung seekrank werden. Ich weiß nicht, weshalb ich dahin gegangen bin, oder weshalb Wilde dahin gegangen ist; aber wir waren eben da; und die Frage, was wir, zum Teufel! in dieser Galeere zu suchen hatten, pickte uns beide. Es war das einzige Mal, daß ich Oscars herrliche Begabung als »raconteur« selbst erprobt habe. Insbesondere entsinne ich mich einer erstaunlich gut gefeilten Geschichte, die Sie sicherlich von ihm gehört haben: ein Beispiel für die Überspannung einer einzigen Wirkung. Mark Twain erzählt auch eine solche Geschichte von dem Manne, der sich überreden ließ, an allen nur denkbaren Stellen seines Daches einen Blitzableiter über Blitzableiter anzubringen, bis ein Gewitter kam und alle Blitze des Himmels auf sein Haus niederfuhren und es hinwegfegten.

Oscars Geschichte, die viel sorgfältiger und eleganter ausgearbeitet war, handelte von einem jungen Manne, der einen Theatersitz konstruiert hatte, welcher durch sinnreiche, einzeln geschilderte Vorrichtungen eine Raumersparnis ermöglichte. Darauf lud einer seiner Freunde zwanzig Millionäre mit ihm zusammen zum Abendessen ein, damit er ihr Interesse für seine Erfindung gewinnen könnte. Durch seine Darlegungen überzeugte der junge Mann sie vollständig von den Ersparnissen, die sich in einem Theater erzielen ließen, das bei normalen Sitzplätzen für sechshundert Personen ausreichte. Und schließlich brannten sie darauf, ihm zu seinem Glück zu verhelfen. Aber unglücklicherweise fing er nun an, die jährlichen Ersparnisse aller Theater in der ganzen Welt auszurechnen; dann kamen alle Kirchen der ganzen Welt und dann alle Amtsgebäude an die Reihe. Zuletzt veranschlagte er auch noch die zufälligen und die moralischen und die religiösen Wirkungen der Erfindung, bis er nach Verlauf einer Stunde einen Nutzen von mehreren tausend Millionen veranschlagt hatte. Der Knalleffekt war natürlich der, daß die Millionäre ihre Zelte abbrachen und sich schweigend drückten, während der zugrunde gerichtete Erfinder für sein ganzes Leben ein gebrandmarkter Mann blieb.

Bei dieser Gelegenheit kamen Wilde und ich ganz vortrefflich miteinander aus. Ich selbst brauchte nicht zu sprechen, sondern nur einem Manne zuzuhören, der diese Geschichten besser erzählte, als ich sie zu erzählen vermocht hätte. Die Kunst ließen wir ganz unberührt, von der er, wenn man die Literatur aus diesem Gebiet ausschaltet, nur so viel wußte, wie man eben beim Lesen über die Kunst auffischt. Wir trugen beide Sommeranzüge und runde Hüte, und ich hatte ihn, und er hatte mich dabei ertappt, daß wir uns heimlich einen vergnügten Tag in den »Rosherville Gardens« machten, anstatt im Gehrock und sonstigen Ornat unsere feierliche Mission zu erfüllen. Und er hatte ein Publikum, bei dem nicht eine seiner kleinsten Wirkungen verloren ging. So war denn unser Zusammensein dieses eine Mal gut gelungen, und ich konnte es verstehen, weshalb sich Morris, als er langsam hinsiechte, über Wildes Besuch mehr freute als über irgendeinen anderen Besuch. Und ich kann es auch verstehen, weshalb Sie in Ihrem Buche sagen, daß Sie Wilde lieber wiederhaben möchten als irgendeinen anderen Freund, mit dem Sie jemals im Leben geplaudert haben, trotzdem er keiner wahren Freundschaft, wenn auch gelegentlich der rührendsten Güte, fähig war Ein vortreffliches, scharfsinniges Urteil. (Der Herausgeber.).

Unser sechstes Zusammensein, das letzte, dessen ich mich noch entsinnen kann, war die Begegnung im Café Royal. Bei dieser Gelegenheit war er durch die Gefahr, die ihm drohte, nicht zu benommen, um wütend auf mich zu sein, weil ich zwar seine ersten Theaterstücke ausgiebig gerühmt hatte, aber an seinem Lustspiel »The Importance of being Earnest« zum Verräter geworden war. Gewiß, es war geistreich, aber dennoch sein erstes wirklich herzloses Stück. Die irische Ritterlichkeit des 18. Jahrhunderts und die Romantik, die Théophile Gautiers Jünger besaß (denn Oscar war wirklich mit Ausnahme seiner Moralbeurteilung im irischen Sinne altmodisch), hatten den ernsten Stellen und der Charakterisierung seiner Frauengestalten in allen anderen Theaterstücken nicht nur eine gewisse gütige und liebenswürdige Färbung gegeben, sondern auch jene Herzenswärme geschaffen, ohne die selbst das unwiderstehlichste Lachen vernichtend und unheilvoll wirkt. Dieser Einschlag war bei dem Lustspiel »The Importance of being Earnest« geschwunden, und so war es zwar ein äußerst spaßhaftes, aber innerlich gehässiges Stück. Ich hatte keine Ahnung, daß Oscar allmählich vor die Hunde ging, und daß hier eine wirkliche Entartung zum Ausdruck kam, die durch seine Ausschweifungen verursacht wurde. Ich glaubte, daß seine Entwicklung noch nicht abgeschlossen wäre, und wagte es, die verfehlte Vermutung zu äußern, daß »The Importance of being Earnest« gedanklich ein Jugendwerk wäre, das vor Jahren unter Gilberts Einfluß geschrieben oder entworfen und für Alexander als Zugstück aufgemöbelt worden war. An jenem Tage im Café Royal fragte ich ihn in aller Ruhe, ob ich nicht recht hätte. Entrüstet wies er meine Vermutung zurück und sagte hochmütig (es war überhaupt das einzige Mal, daß er mir gegenüber diese Tonart versucht hat, die er im Verkehr mit John Gray und seinen noch verworfeneren Gefolgsmännern anschlug), daß ich ihn enttäuscht hätte. Ich glaube, zu ihm gesagt zu haben: »Um alles in der Welt, was ist denn mit Ihnen los?« Aber weiter weiß ich von der ganzen Sache nichts mehr, abgesehen davon, daß wir uns nicht darüber gezankt haben.

Als er verurteilt worden war, benutzte ich meine Mußezeit während einer Eisenbahnfahrt, die mich auf eine Vortragsreise nach dem Norden führte, um ein Gesuch für seine Entlassung zu entwerfen. Nachher traf ich Willie Wilde in einem Theater – ich glaube, es muß das Duke of York's-Theater gewesen sein, weil es mir im Zusammenhang mit St. Martin's Lane vorschwebt. Ich sprach mit ihm über das Gesuch, fragte ihn, ob irgend etwas Derartiges im Gange wäre, und machte ihn darauf aufmerksam, daß ich und Stewart Headlam es unterzeichnen würden, obwohl es zwecklos wäre. Denn wir wären beide wegen unserer Verschrobenheit berüchtigt, und unsere Namen an sich würden das Gesuch zum Unsinn stempeln und Oscar mehr schaden als nützen. Willie pflichtete mir von Herzen bei und fügte mit weinerlichem Pathos und einem unbegreiflichen Mangel an Takt hinzu: »Oscar hatte als Mensch keinen schlechten Charakter. Sie hätten ihm überall eine Frau anvertrauen können.« Dann bewies er mir überzeugend, daß keine Unterschriften zu beschaffen sein würden, was Sie ja später auch bemerkt haben. So gab ich das beabsichtigte Gesuch auf und weiß nicht, was aus dem Entwurf geworden ist.

Als Wilde während seines letzten Stadiums in Paris war, ließ ich es mir angelegen sein, ihm beim Erscheinen meiner sämtlichen Bücher Widmungsexemplare zu übersenden; und er erwiderte das in der gleichen Form.

Wenn ich damals, als Wilde und Whistler für witzige Schwätzer gehalten und in der Presse Oscar und Jimmy genannt wurden, über die beiden etwas schrieb, ließ ich es mir stets angelegen sein, sie ernst zu nehmen und mit ausgesucht guten Manieren zu behandeln. Und Wilde ließ es sich ebenfalls angelegen sein, mich durch sein Verhalten als einen Mann von Bedeutung anzuerkennen und die landläufige Wertung meiner Person als einfacher Spaßmacher zurückzuweisen. Das war nicht der übliche wechselseitige Bewunderungskniff. Meines Erachtens meinte er es ehrlich und war über das entrüstet, was er für eine gemeine Unterschätzung meines Wertes hielt; und ich hatte ihm gegenüber dieselbe Empfindung. Mein Verlangen, in seinem Unglück zu ihm zu halten, und mein Abscheu vor den Zeitungszoten über den »Kerl Wilde« ließ sich nicht bezwingen. Ich weiß nicht genau, weshalb das so war. Denn ich war nicht durch verständnisvolles Wohlwollen, sondern erst durch Lektüre und Beobachtung zur Duldsamkeit gegen seine Perversität und zur Anerkennung der Tatsache bekehrt worden, daß sie keinerlei allgemeine Verderbtheit oder Roheit des Charakters bedingt.

Ich empfinde den ganzen normalen, heftigen Widerwillen gegen die Homosexualität, sofern er wirklich normal ist, – und heutzutage hat man wohl bisweilen Anlaß, daran zu zweifeln.

Ich war auch in keiner Weise im voraus für ihn eingenommen; er war mein Landsmann im engeren Sinne unserer Heimatstadt Dublin, und zwar gerade ein auserlesenes Exemplar der Sorte Landsmann, die mir am widerwärtigsten war, d. h. ein Dubliner Snob. Seine irische Anmut, die bei den Engländern so wirksam ist, war für mich nicht vorhanden. Und im ganzen kann man wohl zu seinen Gunsten anführen, daß ihm von meiner Seite keine Berücksichtigung zuteil geworden ist, die er nicht verdient hat.

Jene Angelegenheit mit den Anarchisten in Chicago, für die Sie in »The Bomb« Homers Rolle übernommen haben, hat recht unvermutet den ersten Grund zu meinen freundschaftlichen Empfindungen gelegt. Ich war bemüht, in London ein paar Literaten zusammenzubringen – lauter heroische Aufrührer und Skeptiker auf dem Papier –, um eine Eingabe zur Begnadigung dieser unglücklichen Menschen zu unterzeichnen, und Oscars Unterschrift war die einzige, die ich erhielt. Das war eine ganz selbstlose Handlung von seiner Seite; und sie sicherte ihm für sein ganzes Leben meine besondere Achtung.

Nun möchte ich noch mit einem Worte auf Lady Wilde zurückkommen. Wie Sie wissen, gibt es ein Leiden, das man »Gigantismus« nennt und das durch »einen bestimmten krankhaften Prozeß in der Keilbeinhöhle verursacht wird, – d. h. es handelt sich um eine übermäßige Entwicklung des Vorderlappens im Hirnanhang«. (Diese Erklärung habe ich dem ersten besten Nachschlagewerk entnommen.) »Wenn dieser Zustand erst nach dem fünfundzwanzigsten Lebensjahre – einem Alter, in dem das Wachstum der Röhrenknochen beendet ist – akut wird, entsteht die Akromegalie, die hauptsächlich durch eine Vergrößerung der Hände und Füße in Erscheinung tritt.« Ich habe Lady Wildes Füße nie gesehen, aber ihre Hände waren ungeheuer groß und gingen, wenn sie irgend etwas fassen sollten, nie geradeswegs auf ihr Ziel los, sondern fuchtelten tastend umher. Und der riesigen Mulde ihrer Handfläche entsprach die Lendenbildung.

Nun war Oscar überlebensgroß, und sein Körpermaß machte einen nicht ganz normalen Eindruck, wodurch sich Lady Colin Campbell, die ihn nicht leiden konnte, veranlaßt fühlte, ihn »die große weiße Raupe« zu nennen. Sie selbst schildern den unangenehmen Eindruck, den er trotz seiner schönen Augen und seiner feinen Art in körperlicher Beziehung auf Sie gemacht hat. Nun, ich habe stets die Behauptung vertreten, daß er im pathologischen Sinne ein Riese war, und daß dieser Umstand seine Schwäche zum großen Teil erklärt.

Ich glaube, daß Sie in liebevoller Absicht seinen Snobismus unterschätzt und nur seine verzeihliche und wirklich gerechtfertigte Seite erwähnt haben, nämlich die Vorliebe für klangvolle Namen, vornehme Beziehungen, für Luxus und gute Manieren Meines Erachtens hatte ich die schlechte Seite seines Snobismus berührt, denn ich habe erwähnt, daß er überhaupt nur von berühmten Schauspielerinnen und vornehmen Damen sprach; ich habe berichtet, wie gern er von den vornehmen Häusern, wie z. B. Clumber, redete, wohin er eingeladen worden war; und ich habe außerdem ein halbes Dutzend andere diesbezügliche Anspielungen einzeln in meinem Buche verteilt. Ich hatte den englischen Snobismus in meinem Buche über »Shakespeare als Mensch« (The man Shakespeare) so heftig angegriffen und seinen Einfluß auf die beste englische Mentalität so scharf gerügt, daß ich glaubte, die Leute würden es für eine Manie halten, wenn ich ihn bei Wilde nochmals betonte. Aber er war sowohl von Natur als durch Erziehung ein Snob, und ich verstehe unter diesem Begriff dasselbe, was Shaw offenbar hier darunter versteht.. Sie sagen wiederholentlich und auf gewissem Gebiet sehr richtig, daß er nicht scharf war und seine Zunge nicht dazu gebrauchte, um andere Leute zu verletzen. Aber auf snobistischem Gebiet ist das nicht richtig. So schrieb er einmal über T. P. O'Connor mit wohlüberlegter, berechneter, verletzender Unverschämtheit, – mit der ganzen Anmaßung des Protestanten vom Merrion Square, die sich mit lautem Gekläff gegen den Katholiken erhob. Wiederholentlich eiferte er gegen die Gemeinheit der britischen Journalisten, aber nicht in dem Sinne, wie wir beide es vielleicht tun würden, sondern als Sprachrohr jenes abscheulichen Klassenbewußtseins, das an sich die niedrigste Gemeinheit ist. Er beging den Fehler, nicht zu wissen, was sich für ihn ziemte. Er verbat es sich, wenn man ihn einfach mit seinem Namen »Wilde« anredete, und erklärte, daß er für seine vertrauten Freunde »Oscar« und für alle anderen Menschen »Mr. Wilde« wäre. Und dabei war er sich gar nicht bewußt, daß er die Menschen, mit denen er als Kritiker leben und arbeiten mußte, zwang, ihm entweder eine Vertraulichkeit zu gewähren, die zu verlangen er kein Recht besaß, oder ihm eine Ehrerbietung zu bezeigen, auf die er keinen Anspruch hatte. Der gemeine Mann verabscheute ihn, weil er verächtlich von ihm behandelt wurde, und die Tüchtigen wiesen seine Dreistigkeit zurück und schnitten ihn. So blieb ihm nur eine Horde ergebener Trabanten einerseits und ein Mitesserverkehr andererseits und hier und da ein Mensch, der so viel Talent oder Persönlichkeit besaß, um sich seine Achtung zu erzwingen. Aber es fehlte ihm gänzlich an jenem, eine Stütze bildenden, aus schlichten Menschen bestehenden Bekanntenkreise, in dem man sich selbst als schlichter Mensch bewegen und Smith, Jones, Wilde und Shaw sein muß, – nicht aber Bosie, Robbie, Oscar und Mister. Das ist so eine Torheit, die bei einem Manne von Wildes Befähigung nicht ewig dauert; aber sie dauerte doch so lange, daß Oscar verhindert wurde, sich irgendeine gediegene gesellschaftliche Grundlage zu schaffen Die Ursache dafür, daß sich Oscar, trotzdem er ein Snob war und für England und die Engländer schwärmte, keine gediegene gesellschaftliche Grundlage in England schaffen konnte, lag meines Erachtens in seinen geistigen Interessen und seiner geistigen Überlegenheit im Vergleich zu den Leuten, mit denen er zusammenkam. Kein Mensch, der eine hohe, mit geistigen Dingen beschäftigte Mentalität besitzt, ist imstande, sich in England eine gediegene gesellschaftliche Grundlage zu schaffen. Auch Shaw hat in diesem Lande keine gediegene gesellschaftliche Grundlage.
Dieser Seitenhieb auf die englische Gesellschaft ist wohlverdient. Dennoch haben befähigte Menschen in London ihr Plätzchen gefunden. Wo war Oscars?
G. B. S.
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Eine zweite Schwierigkeit habe ich bereits angedeutet. Wilde fing seine Laufbahn als Kunstapostel an, und in dieser Eigenschaft war er ein Aufschneider. Der Gedanke bedünkt mich lächerlich Ich hatte mir bereits vorgemerkt, in dieser Volksausgabe meines Buches zu erwähnen, daß Wilde andauernd musikalische Kenntnisse vorspiegelte, die er gar nicht besaß. Er konnte kaum eine Melodie von der anderen unterscheiden, sprach aber gern von jenem »scharlachroten Stück von Dvorak«. Denn er hoffte dadurch als wirklicher Musikkritiker zu gelten, während er gar nichts von Musik verstand und sich noch weniger daraus machte. Er verriet sich andauernd, ohne es zu wissen, durch seine Lobeserhebungen über musikalische und malerische Leistungen., daß ein Portora-Schüler, der auf das Trinity College zu Dublin und von dort nach Oxford gekommen war und seine Ferien in Dublin verbrachte, wirklich mit der Musik und Malerei vertraut sein sollte, wenn nicht besondere Umstände vorlagen. Während Wilde auf der Portora-Schule war, bin ich daheim gewesen – in einem Hause, in dem bedeutende musikalische Kompositionen, darunter verschiedene vorbildliche Meisterwerke, in einer Form vorgetragen wurden, die sich von der Ahnungslosigkeit des einfachen Musikliebhabers bis zur Reife für den Konzertsaal steigerte. Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, da konnte ich diese Kompositionen vom ersten bis zum letzten Takt pfeifen wie der Schlächtergeselle seine Gassenhauer pfeift. Aber es war tatsächlich für mich eine schwierige Leistung, gewissermaßen eine republikanische Pflicht, die volkstümliche Musik – wie z. B. die Straußschen Walzer – gelten zu lassen.

Von der Malerei war ich so entzückt, daß ich die National Gallery häufig heimsuchte, die Doyle wohl zu der schönsten Sammlung dieser Größe auf der ganzen Welt gemacht hat. Und ich wünschte mir sehnlichst Geld, um mir Malutensilien zu kaufen. Das hat mich später vor dem Verhungern bewahrt; denn als Kritiker auf dem Gebiet der Musik und Malerei für die Zeitschrift »The World« habe ich mich in meinen zehn Journalistenjahren durchgeschlagen, bis ich bei Ihnen in der »Saturday Review« gelandet bin. Ich habe es erreicht, daß taube Effektenmakler meine zwei Spalten füllenden Musikreferate gelesen haben, denn angeblich war der Witz der, daß ich nichts davon verstand, während der wirkliche Witz der war, daß ich alles ganz genau verstand.

Nun war es mir, ebenso wie Whistler und Beardsley, ganz klar, daß Oscar nicht mehr von der Malerei Ich habe meines Erachtens Oscars Unwissenheit auf künstlerischem Gebiet zur Genüge erwähnt, als ich in meinem Buch sagte, daß er alles, was er von der Kunst und der Debatte verstand, von Whistler gelernt hatte, und daß seine Vorlesungen über dieses Thema fast wertlos waren, selbst nachdem er zu Füßen des Meisters gesessen hatte. verstand, als jeder Mensch unterwegs auflesen kann, wenn er auf dieser allgemeinen Bildungsstufe steht und ihm so viele Gelegenheiten geboten werden. Er konnte über die Kunst seine geistreichen Bemerkungen machen, wie ich über den Maschinenbau. Aber das hat keinen Zweck, wenn man die Aufmerksamkeit und das Interesse eines Publikums erwecken und fesseln soll, das Musik und Malerei wirklich liebt. Deshalb war Oscar durch einen falschen Anlauf ins Hintertreffen geraten und galt für oberflächlich und unaufrichtig, – ein Ruf Sehr wahr, und ein bemerkenswertes Beispiel für Shaws Scharfblick., den er nicht wieder gutmachte, bis es zu spät war.

Das Lustspiel: die kritischen »viva voce«-Bemerkungen über Moral und Manieren, das war wirklich seine Stärke. Als er sich darauf verlegte, war er groß. Aber wie Sie selbst bemerkt haben, als Sie sich für Wilde bei Meredith verwendeten, hatte sein anfänglicher Fehler jene »ziemlich geringe Meinung von Wildes Begabung«, jene »tiefeingewurzelte Verachtung für sein prahlerisches Auftreten« hervorgerufen, die als erster Eindruck bestehen blieb und bestehen bleiben wird, bis der letzte Mensch, der sich seines ästhetischen Zeitalters entsinnt, zugrunde gegangen ist. Die Welt ist in mancher Beziehung so ungerecht gegen ihn gewesen, daß man sich hüten muß, ungerecht gegen die Welt zu sein.

Das Vorwort, das ich unter dem Titel »Parents and Children« (Eltern und Kinder) zu meiner mit »Misalliance« beginnenden Dramensammlung geschrieben habe, handelt von der Erziehung und enthält einen Abschnitt »Artist Idolatry« (Künstlergötzendienst), der sich in Wirklichkeit auf Wilde bezieht. Hinsichtlich der »Macht geistreicher Menschen, die zugleich Kunstkenner sind«, drücke ich mich folgendermaßen aus: »Der Einfluß, den sie auf junge Menschen ausüben können, die im Schatten und Elend eines kunstlosen Heims aufgewachsen sind, und deren Hang zur Kunst stets hintertrieben und mit Verachtung abgetan worden ist, erscheint den Menschen unglaublich, die das nicht miterlebt und richtig verstanden haben. Das männliche (oder weibliche) Wesen, das ihnen die Welt der Kunst erschließt, öffnet ihnen den Himmel. Sie werden zu Trabanten, zu Jüngern und Anbetern des Apostels. Nun ist vielleicht der Apostel ein sinnlicher Mensch ohne ausgeprägtes Gewissen. Die Natur hat ihm vielleicht so viel Tugend verliehen, daß sie in einer verständigen Umwelt ausreicht. Aber dieses Maß reicht vielleicht nicht aus, um ihn gegen die Versuchung und Demoralisation zu feien, sich auf Grund dessen, was lediglich die gewöhnlichste Bildung sein sollte, als kleinen Herrgott zu betrachten. Er wird vielleicht in unserer ungebildeten Gesellschaft, unter Leuten, die einen gefestigteren Charakter besitzen als er selbst, überall Anbeter finden. Aber wenn nur ein einziger von diesen eine künstlerische Ausbildung genossen hätte, würde er von ihm nichts zu lernen gehabt und ihn, abgesehen von seinen tatsächlichen Leistungen als Künstler, für nichts Außergewöhnliches gehalten haben. Tartuffe ist nicht immer ein Priester. Und er ist wirklich nicht immer ein Halunke. Häufig ist er ein schwacher Mensch, dem man in alberner Weise Allwissenheit und Vollkommenheit andichtet, und der sich nur ungebührliche Vorrechte anmaßt, weil sie ihm geboten werden und er zu schwach ist, um sie abzulehnen. Gewährt jedem seine Bildung, und keiner wird ihm mehr bieten, als ihm zukommt.«

Dieser Abschnitt war das Ergebnis eines Spaziergangs und Gedankengangs, den ich eines Nachmittags mit Robert Roß in Chartres unternahm.

Ich habe mir Wilde nicht so schwach vorgestellt, wie Sie ihn schildern, und glaube doch, daß sein leidenschaftlicher irischer Stolz mit im Spiel war, als er sich weigerte, dem Gerichtsverfahren aus dem Wege zu gehen. Aber in der Hauptsache sind Ihre Beweismittel überzeugend. Es trug zu seiner Tragödie bei, daß die moralische Kraft, welche die Leute von ihm verlangten, eine zu schwere Last für ihn war. Denn sie begingen den sehr verbreiteten Fehler – der den Schauspielern zustatten kommt –, daß sie die Ausstaffierung für einen augenscheinlichen Beweis von Kraft hielten, ebenso wie sie bei der Frau die Schminke für einen augenscheinlichen Schönheitsbeweis zu halten pflegen. Nun war Oscar Wilde in die Ausstaffierung so verliebt, daß er sich niemals bewußt wurde, wie gefährlich es ist, den Mund zu voll zu nehmen, mit anderen Worten: mehr Ausstaffierung aufzubieten, als sein Thema vertragen konnte. Weise Könige tragen unscheinbare Kleider und überlassen dem Tambourmajor die goldenen Tressen.

Wenn mich mein Gedächtnis nicht in gewohnter Weise täuscht, entsinnen Sie sich der Reihenfolge nicht genau, in der sich die Ereignisse kurz vor dem Gerichtsverfahren abgespielt haben. Damals im Café Royal sagte Wilde, er wäre gekommen, um Sie zu bitten, am nächsten Tage den Zeugenstand zu betreten und die Erklärung abzugeben, daß sein Roman »Dorian Gray« ein höchst sittliches Werk wäre. Ihre Antwort lautete etwa folgendermaßen: »Um Gottes willen, Mensch, schlag' dir auf diesem Gebiet alles aus dem Kopf. Du machst dir nicht klar, was dir geschehen wird. Es wird sich nicht um ein geistreiches Gespräch über deine Bücher handeln. Sie werden eine Schar von Zeugen beibringen, welche die Kunst und Literatur ausschalten; Clarke wird seine Darlegungen von sich geben und die Sache bis zu einem bestimmten Punkte führen. Dann, wenn er die Lawine kommen sieht, wird er kneifen und dich auf der Anklagebank sitzen lassen. Weißt du, was du tun mußt? Heute abend nach Frankreich hinüberfahren. Hinterlaß einen Brief, daß du dem Schmutz und den Greueln eines Rechtsfalles nicht gewachsen bist, – daß du ein Künstler bist und zu derartigen Dingen nicht taugst. Bleib' nicht hier, um dich an solch einen Strohhalm zu klammern, wie ein Zeugnis über ›Dorian Gray‹. Ich sage dir, ich weiß Bescheid. Ich weiß, was geschehen wird. Ich weiß, was Clarke für eine Art hat. Ich weiß, was für Beweismittel sie gesammelt haben. Du mußt fort.«

Es war vergebliche Mühe. Wilde befand sich in einer merkwürdig zwiespältigen Gemütsverfassung. Er wollte weder den Anschein erwecken, unschuldig zu sein, noch die Torheit seines Verfahrens gegen Queensberry zu bestreiten. Aber in Bezug auf die Unmöglichkeit seines Rückzugs und auf sein Recht, Ihr Verhalten zu bestimmen, war er von einem verblendeten Hochmut beseelt. Douglas saß schweigend da – in einem hochmütigen, entrüsteten Schweigen; er ahmte – wie alle Wilde-Verehrer – Wildes Haltung nach. Aber es ist sehr gut möglich, daß er – wie Sie meinen – Wilde durch diese Nachahmung beeinflußt hat. Schließlich stand Oscar mit einer halb unwilligen, halb vornehm tuenden Gebärde auf und ging mit der Bemerkung hinaus, daß er nun entdeckt hätte, wer seine wahren Freunde wären. Douglas schloß sich ihm an, – lächerlich sah er in seinem kleineren Format aus, als er Oscars Gang nachahmte und ihm folgte wie ein Hilfsgeistlicher seinem Erzbischof Das ist ein unnachahmliches Bild, aber Shaw hat sich von seinem ausgesprochenen Sinne für das Lustspielhafte irreleiten lassen. Die Szene fand genau so statt, wie ich sie berichtet habe. Douglas ging als erster hinaus und bemerkte: »Daß Sie ihm sagen, er soll weglaufen, beweist, daß Sie nicht Oscars Freund sind.« Dann erhob sich Oscar, um ihm zu folgen. Er verabschiedete sich von Shaw und fügte ein paar liebenswürdige Worte hinzu. Als er auf die Tür zuschritt, stand ich auf und sagte: »Ich hoffe, daß du nicht an meiner Freundschaft zweifelst, du hast keinen Grund dazu.«
»Ich finde, das ist nicht freundschaftlich von dir, Frank«, antwortete er und ging weiter.
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In Ihrer Erinnerung hat es sich umgekehrt zugetragen; aber bedenken Sie eins: Douglas war in einer erbärmlichen Lage. Er hatte Wilde ins Unglück gebracht, lediglich um seinen Vater zu ärgern, und das so blödsinnig angefangen, daß er seinem Vater tatsächlich einen Triumph bereitet hatte. Außerdem war er bei weitem der jüngste von den Anwesenden und sah jünger aus, als er war. Sie haben ihn nicht willkommen geheißen und ihn, soweit ich mich entsinne, weder durch ein Wort noch durch ein Neigen des Kopfes begrüßt. Ich hätte mich nicht mit der kleinsten Summe dafür verbürgt, daß Sie sich beherrscht haben würden, wenn die geringste Herausforderung von seiner Seite erfolgt wäre, oder er versucht hätte, in irgendeiner Weise den Ton anzugeben. Und Wilde bewahrte selbst in seinem Unglück – über das er sich aber damals noch nicht vollkommen klar war – sein maßgebendes Gebaren, wenn es sich um Fragen des Geschmacks und Benehmens handelte. Unter diesen Umständen war es tatsächlich unmöglich, daß Douglas sich in irgendeiner Weise hervortat. Alle hielten ihn für einen greulichen kleinen Balg. Aber da ich ihn meines Wissens noch nie getroffen hatte und eine gewisse Witterung für sein literarisches Talent besaß, war ich begierig, was er nun selbst zu sagen hätte. Doch er bildete nur ein- bis zweimal Wildes getreues Echo und sagte sonst gar nichts Ich weiß ganz genau, daß Douglas die Führung übernahm und zuerst hinausging.
Ich bezweifle nicht, daß Sie recht haben, und daß meine Anschauung von dem Abgang in Wirklichkeit nur eine Rückerinnerung an den Eintritt ist. Und jetzt, da Sie meinem Gedächtnis nachhelfen, entsinne ich mich in der Tat ganz deutlich, daß Douglas, der als Gefolgsmann hereinkam, als Führer hinausschritt, und daß Wilde die letzten Worte sprach, als jener bereits draußen war.
G. B. S.
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In der Wirkung haben Sie recht, da es augenscheinlich war, daß Wilde von ihm beherrscht wurde und wirklich sein Echo bildete. Aber unwillkürlich hielt Wilde den Souffleur von der Bühne fern und machte sich selbst zum Mittelpunkt.

Aber zur Vervollständigung Ihres Buches braucht's Ihr eigenes Bildnis, und das muß ebenso ähnlich sein, wie Oscar Wildes Bildnis von Ihrer Hand. Oscar war nicht streitbar, obwohl er sich in der Jugend hochnäsig betrug. Wenn sein Snobismus nicht wirksam war, gefiel es ihm, die Leute an sich zu fesseln und ihnen zu diesem Zweck in feinster Art zu schmeicheln. Mrs. Calvert, deren letzte Glanzzeit auf der Bühne als alte Frau mit ihrer Rolle in meinem Theaterstück »Arms and the Man« begann, sagte mir eines Tages, als sie sich entschuldigte, weil sie ihre Leistungen bei der Probe für schlecht hielt, abgesehen von Mr. Wilde wäre kein Verfasser je so nett zu ihr gewesen.

Wenn sich Oscar von kampflustigen Menschen auch nicht wirklich einschüchtern ließ, so gehörten sie doch zu der Art von Leuten, die er nicht beherrschen konnte und die er fürchtete, weil sie möglicherweise imstande waren, ihn zu bezwingen. Sie meinen, daß Queensberrys Kampflust eine Eigenschaft war, mit der Oscar es nicht erfolgreich aufnehmen konnte. Aber wie ging es dann zu, daß Oscar sich bei Ihnen ganz geborgen fühlte? Sie waren kampflustiger als fünf Queensberrys zusammengenommen. Wenn die Leute fragten: »Was ist Frank Harris gewesen?« so lautete die Anwort gewöhnlich: »Offenbar ein Seeräuber aus dem Spanischen Meer.«

Sobald Oscar Ihre Zuneigung gewonnen hatte, brauchte er niemals Angst zu haben, daß Sie ihm etwas tun würden. Denn er wußte mit der Blutsbruderschaft genügend Bescheid, um die Ihrige zu würdigen. Aber er muß immer eine Todesangst ausgestanden haben, daß Sie seinen Freunden etwas tun oder sagen würden Über diesen Scharfblick von Shaws Seite muß ich lächeln, weil er vollkommen richtig ist. Oscar empfahl mir Bosie Douglas ungezählte Male und bat mich, nett gegen ihn zu sein, wenn wir uns zufällig einmal treffen sollten. Aber viele Monate lang weigerte ich mich, mit ihm zusammenzukommen..

Neunzehn Zwanzigstel aller Männer und Frauen, die Sie in den Kreisen trafen, welche er sich am meisten geneigt machen wollte, verachteten Sie ganz höllisch. Und nichts konnte Sie dazu bewegen, das Messer in der Scheide zu lassen, wenn Sie von jenen Leuten geärgert wurden. Bei Ihrer Sprache wäre selbst das Spanische Meer rosenrot erglüht, wenn die klassischen Schimpfworte zum Ausdruck Ihrer Gefühle nicht genügten.

Vielleicht hätte sich Oscar damals, als er gegen Kaution auf freiem Fuße war, doch weglocken lassen, wenn z. B. Edmund Gosse mit zwei Billetten erster Klasse in der Tasche zu ihm gekommen und ihm ganz milde einen harmlosen Ausflug nach Folkestone oder den Kanalinseln vorgeschlagen hätte. Aber zu einem Galopp »ventre à terre« nach Erith – es hätte ebensogut Deal sein können – aufgefordert zu werden und die Piratenfahne – den »Jolly Roger« – an Bord Ihres Loggers zu hissen, das war geradeso, als wenn man einen Komiker oder ersten Liebhaber dazu aussuchen würde, »Richard III.« zu spielen; Oscar konnte sich in diese Rolle nicht hineinfinden.

Ich darf das nicht auf die Spitze treiben, aber es erklärt meines Erachtens einen Punkt, der aus Ihrem Buche durchaus nicht deutlich hervorgeht: nämlich, daß Sie ein ganz anderer Mensch waren als die unterwürfigen und mitfühlenden Jünger, an die er gewöhnt war. Es gibt Dinge, die auf solch eine Seele wie die Oscars beängstigender wirken als die Möglichkeit einer Verurteilung zur Zwangsarbeit, die noch nicht verwirklicht war. Und eine Seefahrt mit Kapitän Kidd mag zu diesen Dingen gezählt haben. Wilde war ein Mensch, der an den herkömmlichen Formen hing, und seine Formlosigkeit war gerade die höchste Pedanterie der Förmlichkeit. Es hat nie jemand gegeben, der weniger zum Vagabunden taugte als er. Sie waren ein geborener Vagabund und werden niemals etwas anderes sein.

Deshalb erscheint er in seinem Verhältnis zu Ihnen wie ein Mensch, der stets vor der Tat zurückschreckte und mehr Feigheit besaß (alle Menschen sind ja mehr oder weniger feig), als es bei einem so stolzen Menschen möglich war. Aber die Wahrheitstreue und Wirkung Ihres Bildnisses bleibt dadurch unbeeinträchtigt. Wildes Andenken muß damit stehen oder fallen.

Ich glaube fast, es wird Ihnen verübelt werden, daß Sie ihm keine lügenhafte Grabschrift, sondern eine glaubwürdige Chronik und ein gründliches Charakterbild gewidmet haben. Aber deshalb werden Sie doch Ihren Schlaf nicht einbüßen. Tatsächlich hätten Sie Ihre Güte nicht weiter treiben können, ohne eine gefühlvolle Narrheit zu begehen. Mein Resumé wäre viel härter ausgefallen. Ich bin überzeugt, daß die Himmelstore vor Oscar Wilde nicht verschlossen worden sind; denn er ist ein zu guter Gefährte, um ausgesperrt zu werden. Aber mit den Worten »Du guter und getreuer Knecht« wird er kaum begrüßt worden sein. Das erste, was wir von einem Knecht verlangen, ist das Zeugnis der Ehrlichkeit, der Nüchternheit und des Fleißes. Denn wir bemerken gar bald, daß das die seltensten Eigenschaften sind, und daß geniale Da kommt Shaws Talmi-Engländertum zum Vorschein. Das Genie ist ungefähr das Seltenste auf Erden, während das erforderliche Quantum »Ehrlichkeit, Nüchternheit und Fleiß« neun Zehnteln aller Menschen vom Leben eingebläut wird.
Wenn sich das so verhält, so kommt eben der Zehnte auf mich!
G.B.S.
und geistreiche Leute ebenso häufig vorkommen wie die Ratten.

Nun, Oscar war nicht nüchtern, nicht bieder und nicht fleißig. Die Gesellschaft rühmte ihn um seiner Faulheit willen und verfolgte ihn grimmig um einer Verirrung willen, die sie besser nicht an die große Glocke gehängt hätte. Dadurch stempelte sie ihn erst zum Helden. Denn es liegt ja im Wesen des Publikums, die Leute anzubeten, die man vorher furchtbar leiden ließ. Und ich habe sogar häufig gesagt, daß das Christentum neunzig Prozent seiner frommen Verehrer einbüßen würde, wenn die Kreuzigung sich als Fabel erweisen ließe und wenn Christus überführt werden könnte, daß er betagt und in behaglichen Lebensverhältnissen gestorben sei.

Wir müssen versuchen, uns auszudenken, wie wir Oscar beurteilt haben würden, wenn er ein normaler Mensch gewesen wäre und sich in der gewohnten, achtbaren Weise zu Tode gegessen hätte wie sein Bruder Willie. Beiläufig dient uns dieser Bruder sozusagen als Fingerzeig, denn Willie, der genau dieselbe Erziehung und die gleichen Aussichten hatte, muß von der Literaturgeschichte als gewöhnlicher, unbedeutender Journalist erbarmungslos ausgeschaltet werden. Nun gesetzt den Fall, Oscar und Willie wären beide an dem Tage gestorben, ehe Queensberry die bewußte Karte im Klub abgab! Dann hätte man Oscar als Schöngeist und Dandy doch im Gedächtnis behalten und ihm in der dramatischen Kunst ein Plätzchen neben Congreve angewiesen. Und ein Band seiner Aphorismen hätte neben La Rochefoucaulds »Maximes« auf dem Bücherbrett mit Ehren bestehen können. Wir hätten allerdings »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« und »De Profundis« entbehren müssen, aber er würde dennoch im »Dictionary of National Biography« eine ansehnliche Rolle gespielt haben und wäre auch außerhalb des Lesesaals im Britischen Museum gelesen und zitiert worden.

In der »Ballade vom Zuchthaus zu Reading« und in »De Profundis« spricht es meines Erachtens sehr zu Oscars Gunsten, daß er zwar mit ehrlichem, tiefem Empfinden gegen die Grausamkeit protestiert hat, die unser jetziges System bei der Allgemeinbehandlung der Kinder und Gefangenen kennzeichnet, aber nicht überzeugungs- und verständnisvoll Eine ausgezeichnete Kritik. über seinen eigenen persönlichen Anteil an diesem Leiden zu schreiben vermocht hat. Abgesehen von der Stelle, die uns schildert, wie er auf dem Bahnhof »Clapham Junction« an den Pranger gestellt wurde, enthält sein Buch »De Profundis« kaum eine Zeile, die er nicht ebensogut fünf Jahre früher als literarisches Kunststück zuwege gebracht hätte. Aber in der »Ballade« beweist er, trotzdem sie in der Form und im Rhythmus von Coleridge entlehnt ist, daß er andere bemitleiden konnte, während er sich selbst nicht ernstlich bemitleiden konnte. Und ich glaube, das darf man gegen den Vorwurf geltend machen, daß er selbstsüchtig gewesen ist. Gewiß war er äußerlich in den gewöhnlichen Lebensbetätigungen, zum Unterschiede von der literarischen Betätigung, die sein Genius verrichtete, infolge seines Gigantismus träge und schwach. Wie ein unbrauchbarer Trinker und Schwindler ist er zugrunde gegangen. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß der mehrfache Verkauf des Entwurfs zu dem Lustspiel »Mr. and Mrs. Daventry« schwindelhaft war, insofern als er auf eine Täuschung der Käufer ausging und keinen durchsichtigen Vorwand zur Bettelei bildete. Trotz alledem wirkt er in seinen Schriften nicht als ein selbstsüchtiger oder niedriggesinnter Mensch. In dem unterdrückten Dasselbe habe ich auf meine Art gesagt. Teil seines Werkes »De Profundis« zeigt er sich von seiner schlechtesten und schwächsten Seite; aber meines Erachtens wäre es aus verschiedenen Gründen besser gewesen, ihn zu veröffentlichen. Denn manche seiner persönlichen Schwächen werden durch die erstickende Enge seines Tageslaufs erklärt, die für einen Menschen verderblich war, der im großen Getriebe des öffentlichen Lebens am Platze gewesen wäre. Und die Verheimlichung ist von Übel; denn erstens weckt sie beim Publikum den Glauben, daß dieses Dokument, das nichts Schlimmeres berichtet als ein paar Kabbeleien zwischen zwei empfindlichen Müßiggängern, allerlei Greuel verbirgt. Und zweitens ist es doch offenbar ungeheuerlich, daß gegen Douglas ein Torpedo geschleudert wird, welcher darauf eingestellt ist, erst nach seinem Tode zu explodieren. Der Torpedo ist ein sehr ungefährlicher Feuersprüher, denn er enthält nichts, was nicht aus Douglas' eigenem Buche erraten werden kann. Aber das Publikum weiß das nicht.

Nebenbei hat die Ironie des Schicksals dem Sohn des Marquis von Queensberry einen ziemlich humoristischen Streich gespielt, denn als Buße für seine Sünden muß er sich eine unvorschriftsmäßige Tracht Schläge unter dem Ringkämpfergürtel gefallen lassen.

Nachdem Sie nun Oscar Wildes beste Lebensgeschichte geschrieben haben, müssen Sie uns Frank Harris' beste Lebensgeschichte schenken. Sonst wird der Mann, der den Hintergrund Ihres Werkes bildet, der Nachwelt Ein charakteristischer Funke des Shawschen Humors. Er ist ein bedeutender Karikaturenzeichner, aber kein Bildnismaler.
Wenn er an meine keltischen Gesichtszüge und meine streitbare amerikanische Freimütigkeit denkt, schildert er mich als einen kampflustigen Menschen, einen Seeräuber, einen »Kapitän Kidd«. In seiner Einleitung zu Shakespeares »Fair Lady of the Sonnets« (Die helle Dame in den Sonetten) lobt er meine »fast krankhafte Mitleidsfähigkeit« und sagt, daß ich »durch Mitleid wissend bin«. Dann preist er mich als Propheten, ohne zu bemerken, daß sich aus einem mitleidigen Weisen, Propheten und Seeräuber ein unmenschlicher Übermensch ergeben würde.
Ich werde für Shaw mehr tun, als er für mich zu tun vermochte. Er ist die erste Gestalt meines neuen Buches »Contemporary Portraits« (Zeitgenössische Bildnisse). Da habe ich sein Bild von der besten Seite dargestellt, – so, wie ich ihn gern vor mir sehe. Und künftig wird er versuchen müssen, meine Auffassung zu rechtfertigen, und das wird ihn – wie ich fürchte – in Atem halten!
Gott steh mir bei!
G. B. S.
überliefert werden als der Held meiner sehr unzulänglichen Einleitung zu Shakespeares »Dark Lady of the Sonnets« (Die dunkle Dame in den Sonetten).

G. Bernard Shaw.

 


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