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13.

.Es war ein prächtiger Januartag, da saß ich mutterseelenallein in Tantes Wohnzimmer und so traurig wie noch nie. Vor einer Stunde war Tante Edith nach Fölkerode gefahren, um ihren Sohn zu besuchen, aber allein; nicht, wie verabredet, mit Frau von Demphoff. Drüben in der Villa war unerwartet Besuch eingetroffen und fesselte die Damen an das Haus, so daß auch Charlotte nicht herüber kam und ihre Mutter die Fahrt, die sie jedenfalls ohne Wissen der Kinder unternehmen wollte, aufgeben mußte. Und so hatte denn Tante Edith allein im Schlitten gesessen, und der schöne Platz an ihrer Seite war leer geblieben, so begehrlich auch meine Blicke auf dem eleganten Gefährt ruhten. Tante hatte nur zärtlich bedauert, daß ich so allein bleiben müsse, und war klingelnd davongefahren, als ginge es zum fröhlichen Fest. Und doch war es ein bekümmertes Mutterherz, das sie zu dem tiefgebeugten Sohne zog.

Und wie ich so allein saß und in den glänzend weißen Park hinausschaute und Nähnadel und Faden müßig in der Arbeit stecken ließ, da kamen mir so viele wunderliche und traurige Vorstellungen, daß ich herzklopfend die Näherei wegwarf und mir ein warmes Tuch umband. Ich wollte in die frische Luft hinaus oder zu Gottlieb, meinetwegen auch zu Jette in die Küche, nur nicht mehr allein bleiben, mit solch düsteren Gedanken, die alle fragten: Was soll in der Zukunft aus dir werden? Wie ich darauf kam, zum erstenmal darüber nachzugrübeln? Ja, wer kann es sagen! Es sind ungebetene Gäste und sie lassen sich nicht abweisen.

Als Tante Edith vorhin reisefertig vor mir stand, da schaute ihr Gesicht so alt und krank aus der dunklen Kapuze, und just so ein Zug von Müdigkeit hatte um den Mund meiner Mutter gelegen in ihren letzten Jahren. Wie, wenn meine Tante Edith stürbe? Wohin sollte ich dann? Drüben in die Villa? Das wäre entsetzlich, zusammen zu sein mit Ferra und Tante Therese – und hier bleiben? Ja wie könnt' ich denn das, allein? Ich schauderte zusammen; wie lange dauert es noch, bis Georg erwachsen ist?

Und wenn Gerhard eine junge Frau – –? Ich schrak plötzlich empor; es that weh, mir dies vorzustellen, ich mochte mir keine neben ihm denken. Und doch, es wird kommen, vielleicht schon bald – es ist ja so wunderbar auf der Welt.

Da klang ein fester Schritt den Korridor hinauf, und im nächsten Augenblick stand Gerhard vor mir. Das Blut stieg mir ins Gesicht und meine Augen sahen fest zu Boden in nie gekannter Verlegenheit.

»Ah, Cousine, ich sehe, Sie wissen schon!« sagte er zwischen Ernst und Scherz. »Sie haben recht, sich nun einmal gründlich zu schämen. So, nun setzen Sie sich.« Er führte mich zu Tantes Lehnstuhl am Kamin und nahm mir gegenüber Platz. »Ich will Ihnen einmal einen Brief vorlesen, der mich vorhin in das denkbar größte Erstaunen gesetzt hat.«

Ich wagte scheu zu ihm hinüber zu sehen, aber sein Gesicht war hinter dem großen Briefblatte verborgen. »Ich bin nur froh, daß das Schriftstückchen noch zur rechten Zeit eintraf,« schob er ein, ehe er zu lesen begann:

»Lieber Vetter! Anbei erhältst du das Schulgeld für das Neujahrsquartal zurück, weil es schon bezahlt ist; Lena hat was genäht. Ich danke dir auch sehr schön für alles Liebe und Gute, aber Lena sagt, du solltest nicht alles für uns bezahlen, du hättest schon genug –

»Gestern bin ich im Lateinischen einen heraufgekommen. Adieu, lieber Vetter, grüße Lena und behalte lieb deinen Vetter Georg

Er ließ das Blatt sinken und sah zu mir herüber; es leuchtete etwas aus seinen blauen Augen, das weder Zorn noch Freude war, das mich aber zwang, sofort wegzusehen und mir das Herz stürmisch klopfen machte.

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»Sie sind eine kleine Thörin, Lena,« sagte er weich, »und ich will es nun ein für allemal nicht haben, daß diese Augen da nächtelang auf feiner Arbeit ruhen, um ihren Glanz zu verlieren. Ich würde ernstlich böse sein mit Tante Edith, daß sie nicht besser Obacht gab auf das kleine Mädchen mit dem guten, großen Herzen, wüßte ich nicht, daß alle ihre Sorgen in der einen aufgehen, in der Sorge für ihren unglücklichen Sohn. – Aber nun, Lena, wie kann ich ruhig abreisen, wenn ich mir denke. Sie leben beständig in dem thörichten Wahn, mir eine Last zu sein? Da werde ich am Ende doch Reise Reise sein lassen, die Koffer wieder auspacken und – –«

»Ums Himmels willen!« rief ich erschreckt.

»Nein? Soll ich doch reisen?« fragte er. »Aber wollen Sie mir auch versprechen, keine Kapitalien mehr anzusammeln durch nächtliches Arbeiten? Oder meinen Sie, es ist mir angenehm, wenn ich irgendwo im Süden umherschwärme und denken muß, daß hier zu Hause – –« Er brach ab. »Wollen Sie mir versprechen, vernünftig zu sein, Lena? Nun schlagen Sie nur ein!« ermunterte er und hielt mir die Hand hin, und als ich es verlegen und zögernd that, behielt er sie fest in der seinen.

»So, und nun habe ich noch eine Bitte an Sie. Ich gehe nicht leichten Herzens fort, Lena, und hauptsächlich Charlotte macht mir große Sorgen. Sollte ihr irgend etwas zustoßen, sollte sie krank werden, so bitte ich Sie, benachrichtigen Sie mich. Ich habe Ihnen meine Reiseroute ziemlich genau ausgeschrieben und rechne auf Ihre Güte. Von Ferra kann ich es leider nicht beanspruchen, sie hat kein Auge für dergleichen, und außerdem – ich glaube nicht, daß sie es hier aushält den Winter hindurch. Mutter gegenüber klagte Charlotte nie; so bleibt mir nur noch Tante Edith, aber ich mag diese nicht quälen; wollen Sie mir zuweilen Nachricht geben?«

»Gern,« versicherte ich.

»Ich danke schon im voraus, Cousine. – Und die Antwort, darf ich sie an Ihre Adresse senden?«

»O ja!« rief ich entzückt, »ich habe ja, außer von Georg, noch nie einen Brief bekommen.«

Gerhard lächelte; dann zog er seine Brieftasche hervor und nahm ein Blatt heraus. »Cousinchen, also zuerst Montreux, dann die italienischen Seen, über Milano nach Florenz und schließlich Napoli. Haben Sie schon einmal etwas über den Ort gehört, von dem der Italiener sagt: ›Wenn du Neapel gesehen, so stirb‹?«

»Natürlich, in der Geographiestunde,« erklärte ich fast gekränkt.

»Ich möchte, Sie könnten mitkommen, Magdalene; es ist wonnig dort, und doch –. Kennen Sie das kleine Lied: ›Zwischen Frankreich und dem Böhmerwald‹?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht? Charlotte sang es reizend; vielleicht kommt ihr doch einmal eine fröhliche Stunde, dann singt sie es Ihnen auch wohl vor; sie hat einen Vortrag wie geschaffen für diese kleinen Lieder.«

»Charlotte singt gewiß nie mehr!« rief ich aus, verstummte aber. Durfte ich es ihm denn sagen, daß sie weit unglücklicher war, als die anderen Menschen wußten?

»Niemals mehr? Meinen Sie, Lena? Ich fürchte es fast auch,« sagte Gerhard; indessen Charlotte – sie ist noch so jung, ein solcher Schmerz muß sich ausbluten; es wäre unnatürlich, verharrte sie immer in diesem traurigen Zustande; ich hoffte viel von einer Reise für sie. Nun will sie aber Wendhusen nicht verlassen, und man darf sie nicht zwingen jetzt – die Zeit, die Zeit muß da helfen.« Er war währenddem langsam im Zimmer auf und ab gegangen, nun blieb er vor mir stehen.

»Hat Ihnen Charlotte – ich meine, Sie waren vertraut miteinander – niemals von ihrer Liebe gesprochen?«

»Nein. Ich habe sie aber gesehen,« sagte ich mutig. Warum sollte er es nicht wissen?

»Wen, Cousine?«

Ich wurde rot über meine dumme Antwort. »Charlotte und Robert, als sie sich eben verlobt hatten.«

»Verlobt hatten?« rief er erschreckt und staunend. »So weit war es bereits gediehen? Wann war das, Lena?«

»Am Abend vor dem Duell.«

Er schwieg und schaute bleich zu Boden. »Das arme, arme Kind!« sagte er dann im Tone des tiefsten Mitleids. »Das habe ich nicht gedacht; so weit glaubte ich sie noch nicht gekommen –!«

»Es waltet ein eigener Unstern über den Frauen aus unserem Hause,« begann er nach einer Weile und fuhr heftig mit der Hand durch seine starken, blonden Haare. »Schon aus längst vergangenen Zeiten klingen allerhand wunderbare romantische Begebenheiten zu uns herüber: Entführung, ins Kloster gehen, leidenschaftlich unglückliche Ehen, ja, sogar ein Selbstmord, zu dem es eine Urgroßtante von uns trieb, als ihr Geliebter unter dem alten Fritz bei Hochkirch fiel. Meine Großmutter erzählte mitunter die Einzelheiten jener tragischen Geschichte, und wie man gesucht in einer jener dunklen Oktobernächte, die dem blutigen Tage folgten, und endlich das schöne Mädchen mit zerschmettertem Kopfe, erschossen – fand; sie hatte es als echtes Soldatenkind verschmäht, Gift zu nehmen oder ins Wasser zu springen und hatte auf diese für Frauen ungewöhnliche Weise ihr Leben geendet, das sie ohne ihn nicht zu tragen vermeinte.

»Und so ist's weiter gegangen bis auf Tante Edith, bis auf Ferra und Charlotte; es ist wunderbar, als ruhte gar kein Segen auf unserem Hause. Das Leben meiner Eltern war kalt und entbehrte jeden Schimmers von Liebe; Ferra hat, so kurz ihre Ehe war, mehr wie unglücklich gelebt, weil sie einen andern liebte, dem sie aus Caprice einen Korb erteilt hatte, und das arme Kind Charlotte sieht das Blut des Bruders fließen zwischen sich und ihrem Glück – wahrhaftig, man könnte abergläubisch werden!« Er begann hastig im Zimmer auf und ab zu schreiten.

»Lena,« fragte er dann nach einer Pause, vor mir stehen bleibend, »was würden Sie thun, wenn Sie jemand so recht von Herzen lieb hätten und er wäre so unglücklich gewesen, Ihren Georg zu erschießen?«

Ich sah ihn erschrocken an, fand aber keine Antwort.

»Mein Gott,« sagte er leise, »wie mochte ich Sie auch so fragen, Sie können ja gar nicht darauf antworten.«

»O doch!« erwiderte ich, »ich selbst kann nicht sagen, was ich thun würde, denn ich – ich meine aber, wenn ich an Charlottes Stelle wäre, so ginge ich zu Robert und sagte: ›Du bist schon unglücklich genug, du sollst es nicht noch mehr werden; ich gehöre zu dir, und was die Welt sagt, soll uns nicht kümmern!‹« Ich sprach mit vollster Ueberzeugung, und begriff in diesem Moment nicht, warum Charlotte nicht längst dasselbe gethan.

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Gerhard stand jetzt dicht vor mir. »Das würden Sie thun, Cousine?« fragte er.

»Ja! Denn das müßte eine erbärmlich schwankende Liebe sein, die sich deshalb abwenden wollte. Ich bin neulich in der Kirche gewesen und habe gesehen, wie der Prediger nach dem Gottesdienste ein junges Paar traute. Da gelobten sie sich, in bösen und guten Tagen getreulich bei einander zu stehen, in Not und Tod und allem Schicksal; und ist denn ein Versprechen, das man sich gibt bei der Verlobung, nicht ein ebenso ernsthaftes, wie vor dem Altar? Wenn nun Charlotte und Robert bereits getraut waren, würde sie dann nach jenem Unglück sofort sein Haus verlassen haben? Hätte sie dann nicht gerade die Verpflichtung gehabt, ihm doppelt treu zur Seite zu stehen? Nein, sehen Sie, Vetter, wenn ich mir denke, er sitzt da in seinem Schmerz, seinem Gram, allein in dem weltfernen Hause, ich – ich weiß nicht, ob ich es aushielte, ihn ohne Trost zu lassen – ich glaube es aber nicht. O, wenn ich nur –« Ich schwieg bestürzt, denn in der hereinbrechenden Dämmerung hatte ich hinter Gerhard ein totenbleiches Gesicht erblickt.

»Charlotte!« rief ich erschreckt. Ja, da stand sie, und niemand hatte sie eintreten gehört; sie stützte sich auf die Lehne eines Sessels und ihre Augen hingen fast verzehrend an meinem Gesicht.

»Magdalene,« sagte sie leise, »würdest du mich begleiten nach Fölkerode?«

»Charlotte, du wolltest?« rief ich überrascht. »Um Gottes willen, Charlotte!« stammelte auch Gerhard erschreckt.

Da richtete sie ihre zarte Gestalt hoch auf, ein Hauch von Nöte flog über ihr Gesicht, sie trat einen Schritt näher zu Gerhard. »Magdalene hat recht!« rief sie, »ich bin treulos und pflichtvergessen gewesen. Ich habe ihm in jener schrecklichen Stunde, als er in seiner Verzweiflung zu mir kam, geheißen, er solle von mir gehen; habe mich von ihm abgewandt, anstatt ihn zu trösten und ihm zur Seite zu stehen, wie es sich gehörte für diejenige, die noch vor wenigen Stunden gelobt hatte, sein Weib zu werden. Ich habe ihn gehen geheißen, weil ich wähnte, das Blut, das er vergossen habe, trenne uns bis in alle Ewigkeit. – Es ist mein Bruder, den er getötet hat, ja! Aber that er es nicht gezwungen, aus Notwehr? Geschah es nicht absichtslos, durch einen unberechenbaren Zufall? Robert stand meinem Herzen tausendmal näher als Joachim – was war er mir im Leben? Nichts! Er ist der Mörder meines Glückes, er hat freventlich gespielt mit einem Menschenleben, weil ihm das seine nichts mehr galt, ihm nichts mehr gelten konnte. Keine einzige Stimme in meinem Herzen spricht für ihn, jeder meiner Gedanken klagt ihn an als den, der mir mehr genommen als mein Leben! Magdalene hat recht. Seit jener Stunde, wo ich ihn scheiden sah, habe ich mir dasselbe gesagt, was sie soeben aussprach, und habe gerungen mit mir selbst; ich wollte sie nicht hören, diese Stimme – und warum? Weil mich das Wort erschreckt: Er hat deinen Bruder getötet! Weil ich wußte, alle Welt würde die Hände erheben und ›Wehe‹! schreien über die lieblose Schwester – und ich kann doch nicht anders, Gerhard, ich kann nicht anders! Hilf mir, Bruder, ich bitte dich!«

Sie hielt ihm die beiden Hände entgegen, ihre Augen leuchteten von Entschlossenheit und in ihrer ganzen Haltung lag eine unerschütterliche Willenskraft ausgeprägt.

Gerhard erfaßte ihre Hände. »Charlotte, hast du wohl bedacht, was du verlangst?« beschwichtigte er. »Ich bin es nicht allein, der zu entscheiden hat in dieser Sache; würdest du nicht deine Mutter schmerzlich betrüben, die zu schonen alle Ursache vorhanden ist? Bedenke, sie war jeder Annäherung Roberts in tiefster Seele abgeneigt, und jetzt – es ist unmöglich, Charlotte – beruhige dich,« bat er ergriffen. »Ich fühle, es ist gut und recht, was du sagst, aber du bist aufgeregt jetzt, wir wollen ruhiger darüber reden, wenn – – laß erst noch eine Zeit darüber hingehen!«

»Meine Mutter?« fragte Charlotte, und ein siegesfrohes Lächeln flog einen Augenblick um ihren feinen Mund. »O, Gerhard, wenn ich alles so genau wüßte, als daß sie meinen Entschluß billigen wird! Du kennst sie nicht so wie ich. Aber wenn sie auch mit ihrem ganzen Sein dagegen wäre, ich könnte nicht anders, würde nicht eher ruhig werden, bis ich ihn gesehen. – Und warten, Gerhard? Worauf denn? Nein!« rief sie, »nein, Gerhard, jetzt will ich zu ihm; meinst du denn, ich wollte so frivol sein und ihm sagen: ›Hier bin ich, hier hast du deine Braut wieder?‹ Nein, zwischen unserem Liebesglück da liegt es gewitterschwer und finster, und wer weiß, ob sich jemals diese Wolken lichten? Geh, du kennst mich nicht, Gerhard, ich habe nicht daran gedacht. Ich will ihm nur zeigen, daß er meine Liebe nicht verloren hat. Ich will ihm nur ein Wort des Trostes sagen, ihm beweisen, daß ich einen Charakter besitze, der festhält an dem, was er für gut und recht erkannt; will nur mich selbst beruhigen, denn ein Leben, wie ich es jetzt führe, ist fürchterlich! Immer noch, immer sehe ich sein trauriges, bleiches Gesicht vor mir, als ich ihm unabweislich sagte: ›Wir müssen uns trennen, Robert, geh!‹ O, wie habe ich es nur gekonnt! – Gerhard, nur das eine, ich bitte dich!« rief sie und faßte seinen Arm, als er schwieg und ernst auf sie niedersah; »dann gehe ich mit dir, schon morgen, wenn es sein muß, nur laß mich ihn noch einmal sehen, Gerhard; du weißt ja nicht, was es heißt, ein Glück verlieren, das man schon so sicher in den Armen hielt –«

Der große Mann schlang zärtlich seinen Arm um die bebende Gestalt der Schwester. »Wann willst du fahren?« fragte er leise.

Aber statt aller Antwort schrie sie auf; es war wie ein Erlösungsschrei, den ihr armes, gequältes Herz ausstieß. »Gleich! gleich!« rang es sich von ihren Lippen, »Gerhard, so rasch du kannst!«

Er ging an den Nebentisch und brachte ihr ein Glas Wasser, dann sah er nach der Uhr: »Ein Viertel auf fünf, um neun Uhr könnt ihr dort sein. Es ist mir eine Beruhigung, daß ich Tante Edith dort weiß. Aber dein Versprechen, Charlotte – du kommst mit mir?«

»Ja, ja!« – sie sprach es hastig – »wohin du willst; und jetzt zu ihm, nach Fölkerode!«

Eine Viertelstunde später hielt ein Schlitten vor dem Gitterthor; Gottlieb saß auf der Pritsche, und in dicke Pelze und Decken vermummt, hob uns Gerhard hinein. »Fahrt glücklich!« sagte er bewegt, »ihr kommt noch diese Nacht zurück, ihr könnt Tante Ediths Pferde benutzen, die sind ausgeruht.«

Ich antwortete ihm, denn Charlotte war kaum eines Wortes fähig.

»Ich führe gern mit,« setzte er noch hinzu, »aber es ist leider unmöglich; nun muß ich euch Gottlieb anvertrauen. – Bring sie glücklich wieder, Alter, und laßt euch nicht beschwatzen, den Richteweg durch die Wolfslöcher zu nehmen; es darf nicht auf eine halbe Stunde ankommen.«

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»Gerhard!« sagte Charlotte, und ihr schönes Gesicht bog sich zu ihm hinüber, »ich danke dir!«

Er drückte gerührt einen Kuß auf die Stirn. »Adieu, Charlotte! Adieu, Cousine!« Die kräftigen Pferde zogen an und pfeilschnell und lustig klingelnd flog das leichte Gefährt in den sinkenden Abend hinaus.

Es war ein stiller, klarer Winterabend, ringsum das weite, weiße Land, und seitwärts in der Ferne die verschneiten Berge. Im Westen lag noch ein mattes Gelb am Horizont, aber über uns begannen schon die Sterne zu funkeln; kein Laut weit und breit als das Klingeln unserer Glocken und dann und wann das Knallen der Peitsche. Hier und dort lag ein Dorf am Wege, wir sahen die erleuchteten Fenster unter den weißen Dächern und wütendes Hundegebell begleitete uns; dann ging's wieder auf die einsame Landstraße hinaus und endlich bogen wir in den Wald. – Wer hat schon einen Wald im Schmucke des Anhanges gesehen und flimmerndes Mondlicht darüber ausgegossen, daß es funkelt und glitzert, als wären Millionen Diamanten ausgestreut? Es ist das Feenhafteste, was man erblicken kann in unseren nordischen Ländern, so schön, daß es kaum zu schildern ist! Ein Ausruf des Entzückens entschlüpfte meinen Lippen. »O, Charlotte, sieh doch, sieh!« rief ich; aber sie antwortete zerstreut, nur Gottlieb teilte meine Freude, und so ging es schweigend weiter, immer weiter hinein in den verschneiten Wald.

Es war eine endlose Fahrt, und zuletzt drang die Kälte durch Pelze und Mäntel. »Dauert es noch lange, Gottlieb?« erkundigte ich mich leise. »Eine halbe Stunde,« erwiderte er. Und da regte sich Charlotte.

»Sind wir schon im Fölkeroder Revier?« fragte sie.

»Schon lange, gnädiges Fräulein.«

Mit einem »Ah!« der Erleichterung richtete sie sich aus der liegenden Stellung empor. »Endlich!« klang es aus vollstem Herzen heraus. »Endlich, Lena, und das ist gut. – Sieh, davon habe ich jede Nacht geträumt, jede Nacht bin ich durch diese Wälder gefahren zu ihm. O, welche Seligkeit, daß es im Wachen ist heute, daß ich mich frei gerungen habe von allen Rücksichten, die das Edelste, das Beste, was im Menschenherzen wohnt, das rechte, echte Lieben ersticken wollten. O, Lena, ich bin befreit wie von einem entsetzlichen Alp!«

In diesem Augenblick bog der Schlitten in einen Nebenweg und am Ende dieses Weges tauchten zwei helle schimmernde Punkte auf.

»Das Forsthaus, gnädiges Fräulein!« sagte Gottlieb, die Pferde anhaltend. »Soll ich vorfahren, oder wollen Sie aussteigen? Ich meine, die Hunde werden einen gewaltigen Lärm schlagen.«

»Nein, ich steige hier aus,« rief Charlotte. »O, ich kenne ja alles ganz genau aus seiner Beschreibung.« Und im nächsten Augenblick hatte sie die Verhüllungen abgeworfen und war elastisch aus dem Schlitten gesprungen.

»Ich fahre langsam nach,« erklärte Gottlieb und half mir beim Aussteigen. Und nun schritt ich hinter Charlotte auf dem schmalen Pfade, der in den Schnee getreten war, und die zwei hellen Punkte wurden größer und die Umrisse eines Hauses hoben sich dunkel von dem schneehellen Hintergrunde ab.

Es war ein stattliches Gebäude, das da vor uns lag in flimmerndem Mondlichte, umstanden von alten, riesenhaften Bäumen, die ihre kahlen Zweige rote schützend über das weiße Dach mit dem spitzen Giebel streckten. Breite, mächtige Stufen führten zu der Hausthür empor, deren plumpes Schnitzwerk das Schneegestöber mit zarter Hand in allen Konturen nachgezeichnet hatte. Ueber der Hausthür prangte das Wahrzeichen einer Jägerheimat, ein prächtiges Hirschgeweih, und ringsumher standen die großen, weiten Wälder, und die Nacht hielt sie umfangen mit feierlichem Schweigen; kein Laut, kein Ton in weiter Runde, der an die Welt da draußen mahnte; es webte ein Frieden, eine keusche Abgeschiedenheit um dieses einsame Jägerhaus, die fast überwältigend war.

Charlotte stand vor den schneeverwehten Stufen; die Capote des pelzgefütterten Mantels war halb von ihrem blonden Haar geglitten und das süße Gesicht sah in dem blassen Mondlicht elfenhaft lieblich aus der dunklen Samtumhüllung hervor; ihre Blicke hingen mit verzehrender Sehnsucht an den zwei hellerleuchteten Fenstern; sie hatte die Hände über der Brust gefaltet und achtlos traten ihre Füße in den hohen Schnee.

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»Dort! Dort drinnen!« flüsterte sie, »Tante Edith und er – und er!« – In stummer Hast, als gälte es, mit jeder Minute zu geizen, eilte sie nun die Stufen hinan, der Mantel glitt von ihren Schultern und lag wie ein dunkler Schatten auf dem hellen Grunde, aber sie merkte es nicht; ihre Hand erhob den blitzenden Klopfer und ließ ihn heftig auf die Metallplatte fallen; im Hofe schlugen die Hunde an; ich lehnte mich herzklopfend an das eiserne Geländer der Freitreppe und schloß die Augen.

Da wurde die Thür aufgethan, der Ruf einer Männerstimme scholl hinaus in die stille Nacht: »Charlotte! Charlotte!«

Erschütternd hallte es wieder in meinem Herzen; niemals vergesse ich jenen Ton, jenen tiefen leidenschaftlichen Klang! Eine ganze Welt von Weh und Jubel lag in dem einfachen Mädchennamen. Rötlicher Lichtschein, seltsam mit dem bläulichen Glanze des Mondlichtes vermischt, fiel aus der Thür, auf deren Schwelle die schlanke Gestalt des Mädchens stand; sie hatte sich herniedergebeugt und ihre beiden Hände umfaßten das Haupt des Mannes, der vor ihr niedergesunken war; und »Charlotte!« wiederholte er noch einmal, »Charlotte!«


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