Thomas Theodor Heine
Ich warte auf Wunder
Thomas Theodor Heine

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Flugapparat

Der Trainer wollte ihre Abwesenheit benützen, um Fräulein Anna näher zu kommen. Ich überraschte beide, wie sie auf einer Bank zusammen sassen, in recht bedenklicher Situation, liess mir aber nichts anmerken.

Am Freitag Vormittag sollte mein Apparat fertig werden. Herr Witzgall hatte schon immer bei dem Probeflug zugegen sein wollen. Das Wetter war günstig, es wehte ein kräftiger Wind. Ich erklärte ihm die Handhabung. Unterhalb der Tragfläche war in einem Gestell das Fahrrad abnehmbar montiert, Schnüre, die von den Lenkstangen ausgingen, konnten die Tragfläche nach allen Richtungen heben und senken. Es kam darauf an, zuerst möglichst schnell den Hügel hinab gegen den Wind zu radeln, um von dem Luftdruck in die Höhe gehoben zu werden. Das versuchte ich, aber ich fuhr zu langsam, erhob mich nur einige Meter in die Luft, glitt dann hinunter, musste den Apparat wieder die Anhöhe hinaufschieben.

Witzgall sagte verächtlich: »Das wundert mich nicht, war ja kein Tempo. Ich bin Rekordfahrer, ich kann es viel besser. Ich mache eine grosse Nummer daraus: ›Witzgall, der fliegende Mensch‹, werde sie in Europa und Amerika vorführen.« 107

»Daraus wird nichts Herr Witzgall! Ich will mit meiner Erfindung die Menschheit beglücken, die grosse Einheit der Völker möglich machen, und Sie wollen damit im Zirkus auftreten! Das lasse ich nicht zu. Für heute ist Schluss. Sie sollen nicht fliegen.«

Ich drehte ihm den Rücken zu und lockerte die Schraube, mit der das Fahrrad am Gestell befestigt war. Er sah das nicht, schob mich gewaltsam beiseite und schwang sich auf den Sitz.

Ich sagte zu dem Tischler, der dabei stand: »Sie haben gehört, ich habe es ihm verboten.«

»Jawohl, Herr Emmaus.«

Witzgall radelte mit aller Kraft den Hügel hinunter, der Wind hob ihn hoch, immer höher, er winkte mir zu, jetzt schwebte er schon in über hundert Meter Höhe. Ich sah, dass er die Tragflächenverschiebung bewirken wollte.

Da geschah es. Das Fahrrad löste sich ab, sackte herunter, hing einen Augenblick an den Schnüren, bevor sie zerrissen. Dann sauste es zur Erde. Witzgall überschlug sich in der Luft, schrie, stürzte mit dumpfem Aufschlag auf abgemähten Grasboden nicht weit davon, daneben das zertrümmerte Rad und eine Strecke abseits, ebenfalls in Stücken, der übrige Apparat. Wir sprangen hin. Der Abgestürzte lag auf dem Gesicht in knieender Stellung, Blut quoll hervor, ein Zucken lief durch seinen Körper, er schleuderte die Beine in die Höhe, dann streckten sie sich zitternd. Wir versuchten ihn aufzurichten. Er sank schwer zurück.

»Schrecklich!« rief ich aus, zu dem Tischler gewendet: »Ich hatte ihn doch ausdrücklich verwarnt und es ihm strengstens verboten.« 108

»Gewiss, das habe ich gehört, Herr Emmaus.«

Bauern kamen von der Feldarbeit herbeigelaufen, holten Polizei vom Dorf und den Arzt. Der stellte fest, dass das Genick gebrochen sei, nichts mehr zu machen. Tot. Erledigt. Dann nahm die Polizei ein Protokoll auf. Alles musste unverändert liegen bleiben bis zum Eintreffen des telegraphisch verständigten Amtsrichters.

Ich begab mich zum Haus zurück, berichtete Fräulein Anna von dem furchtbaren Ereignis. Sie wurde sehr bleich, musste sich hinsetzen, sagte nur: »Armer Herr Witzgall! Er war ein schöner Mann.« Mittags konnte sie keinen Bissen essen, ich hatte einen wahren Heisshunger, wie immer bei Todesfällen und derartigen Aufregungen.

Der Amtsrichter, am Nachmittag, stellte ein genaues Verhör an, hatte Lust, mir ein Verschulden beizumessen. Aber die Aussage des Tischlers machte es ihm. unmöglich . . . Der war jetzt schon bereit zu beschwören, dass ich Witzgall mit aller Kraft vorn Apparat zurückzudrängen suchte und gesagt hätte: »Ich verbiete es Ihnen, denn es ist lebensgefährlich.« So konnte mir der Richter nichts anhaben; er sagte nun »Sie dürfen solche Apparate nicht mehr bauen, das wäre strafbar.«

Wie durch Fernwitterung angelockt, erschien ein Berichterstatter des illustrierten Blattes »Der Meteor«, nahm Photographien auf und verfasste eine Reportage. Später hat mich dann der Herausgeber eingeladen, ihn in seiner Redaktion zu besuchen, weil er einen grossen Artikel über mich und meine Erfindung bringen wollte.

Ich schrieb der Kommerzienrätin nach Karlsbad, 109 was geschehen war. Als Antwort kam dann ein Telegramm: begräbnis erster klasse übernehmen kosten kommerzienrats.

In Etzenhofen wurde er begraben. Der Athletenverein »Biceps«, der »Veloklub«, die »Südbayrische Hochradgesellschaft«, der »Artistenbund« hatten Abordnungen und Kränze geschickt, die Grabrede des Pfarrers war lang und erhebend, warme Nachrufe wurden gehalten, es fehlte nicht an Musik und Gesang, Berge von Blumen häuften sich. Die Bauern sagten, so eine schöne Leich' hätten sie noch nicht gesehen.

Ich wagte noch nicht, einen neuen Apparat herzustellen, machte nur einige kleine Modelle, bei denen ich noch eine Verbesserung anbrachte: Die Gummischnur setzte ein Flügelrad in Bewegung, das den nötigen Luftstrom erzeugte.

Gerade liess ich wieder so ein kleines Ding fliegen, als eine schnarrende Stimme hinter mir sagte: »Ausgezeichnet, gerade was ich suche.«

Es war der Kommerzienrat mit seiner Gattin.

Sie stellte mich ihm vor: »Das ist Herr Emmaus, von dem ich dir schon erzählt habe.«

Er war ein kleiner magerer Mann, fahlgelber Teint, Zwicker auf der Nase, angegrauter schwarzer Spitzbart, kurze energische Bewegungen, elegant gekleidet mit hellen Gemaschen, die ungewöhnlich hohen Absätze seiner Schuhe fielen mir auf, die ihn wohl grösser erscheinen lassen sollten, also ein bischen eitel.

Deshalb sagte ich: »Ist mir eine besondere Ehre, wenn sich der Herr Kommerzienrat für meine Erfindung interessiert. Es freut mich, Herrn Kommerzienrat völlig wiederhergestellt zu sehen.« 110 »Na, die Galle hat mir genug zu schaffen gemacht. Aber jetzt will ich mich wieder ganz dem Geschäft widmen. Kommen Sie, Herr Emmaus, das hier kann eine grosse Sache werden.« Er nahm das Flugmodell von der Erde auf, mit dem anderen Arm fasste er mich unter, führte mich mit schnellem, hüpfenden Schritt ins Haus. Ich fühlte mich sehr gehoben, dachte: Ein Mann, der die Bedeutung meiner Erfindung erkannt hat und sie durchsetzen wird.

Bald sassen wir am Kamin in den Lehnstühlen, das Modell ruhte vor uns auf Peters kleiner Bettstelle. Er klopfte mir auf die Schulter: »Sie haben da etwas Hervorragendes geschaffen, eine Sache, die sich die Welt erobern wird.«

Innerlich wurde ich ganz warm und gross, fiel freudig ein: »Ja, und ich glaube, dass die Welt dadurch beglückt werden wird.«

»Ganz gewiss, Herr Emmaus, besonders die Kinder. Wir werden enorm daran verdienen.«

»Wohl, aber warum gerade die Kinder, Herr Kommerzienrat?« »Nun ja, Erwachsene werden auch damit spielen, aber in erster Linie brauchen wir doch einen Spielzeugartikel für die lieben Kleinen. Ich schätze, der Artikel lässt sich in Massenfabrikation ganz billig erzeugen. Er wird der ganz grosse Weihnachtsclou sein, bei uns und in der ganzen Welt. Wir werden sofort um Musterschutz nachsuchen. Sie übernehmen die Leitung der Fabrikation.«

Ich war aus den Wolken gefallen, ganz klein lag ich unten. Ich verstummte zuerst, dann zögernd: »Eigentlich wollte ich – – –«, er unterbrach mich: »Niemand wird Ihnen bessere Bedingungen bieten als ich. Morgen legen wir Alles vertraglich fest. Sie 111 werden nicht zu kurz kommen. Abgemacht?« Er bot mir die Hand.

Ich schlug ein.

Er nahm mich noch am selben Tage mit nach München, Frau und Tochter wollten bald nachkommen, den Landaufenthalt beenden. Dienstpersonal war ja auch in der Stadtwohnung. Sie bewohnten eine grosse Etage in ihrem eleganten Mietshaus. Furchtbar hohe Zimmer, schwere, dunkle Vorhänge vor den Fenstern, Möbel im Renaissancestil, überall dicke orientalische Teppiche, sehr viele Bilder an den Wänden, die mir, trotz der kostbaren Goldrahmen, letzter Schund zu sein schienen.

»Nicht eins ist dabei, das ich nicht weit unter dem Wert gekauft habe, im Bilderkauf kenne ich mich aus, habe so meine Methoden. Wie gefällt Ihnen meine Sammlung?«

»Grossartig, Herr Kommerzienrat, man sollte eher meinen, dass Sie sie über dem Wert gekauft haben.«

Aber er hielt es für Zustimmung, fuhr fort: »Ich liebe die Kunst. Meine Frau schwärmt von Ihrer Malerei, und das Porträt, das Sie gemalt haben, prima, direkt prima. Sie sollen dieses schöne Talent keineswegs vernachlässigen. So oder so, lassen Sie sich sagen: Sie machen Ihren Weg. Richten Sie sich ein schönes Atelier ein! Mein Haus hier hat hinten im Garten ein grosses Rückgebäude, da sind von unten bis oben nur Ateliers darin. Alle berühmten Maler haben in Georgenstrasse 142 B einmal gearbeitet oder sind noch dort. Jetzt wird gerade ein Atelier frei, schauen Sie es sich an, hat auch anschliessend ein schönes Südzimmer.«

Mir fiel ein, mit welchen Argumenten mich Onkel 112 Nevermind zur Malerei bestimmt hatte, und ich sagte: »Ja, aber ich werde nur teure Bilder malen, die Rohstoffe, die man dazu braucht, sind die gleichen wie bei den billigen.«

Das gefiel dem Kommerzienrat, er lobte mich: »Sie haben einen bei grossen Künstlern seltenen Sinn für das Geschäft. So werden Sie sofort begreifen, welche immensen Vorteile ich Ihnen in dem Vertrag über unser Spielzeug biete.«

Ich las ihn durch, er war in der Tat überraschend günstig für mich, so schwieg ich zuerst eine Weile. Dann: »Herr Kommerzienrat, ich habe so viel Freundlichkeit in Ihrem Hause genossen, dass es undankbar wäre, wenn ich ihn nicht annehmen wollte.«

Nachdem ich unterschrieben hatte, überlegten wir, welchen Namen wir dem Ding geben sollten. Schliesslich dachte ich an die Flugversuche des Ikarus und wir nannten es: Ikarusell.

Ich zog in das Ateliergebäude, Kommerzienrats hatten viele überflüssige Möbel, die sie mir vorerst liehen, bis ich mir eigene angeschafft haben würde. Mein erstes Atelier! Noch dazu ein riesengrosser Raum, und ich bekam eine unbändige Lust wieder zu malen. Aber zuerst musste ich dort die Werkzeichnung für das Ikarusell machen, empfand es fast wie eine Entweihung.

Der Kommerzienrat hatte in der Vorstadt eine grosse Werkstätte mit den modernsten Maschinen, in der allerhand Holzwaren für das Lössel-Magazin hergestellt wurden. Ich erklärte dem Vorarbeiter, was zu machen sei. Wir richteten uns auf rationelle Gross-Erzeugung ein.

Bald waren die ersten paar hundert Exemplare 113 fertig, wurden im Magazin verkauft. Die Kinder waren von dem Spielzeug begeistert, und wir mussten mit Überstunden arbeiten, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Werkstätte vergrösserte sich zu einer Fabrik, als die Lieferungen nach auswärts aufgenommen worden waren.

Nach einem Jahr hat es in ganz Deutschland und bald in der ganzen Welt kein Kind ohne Ikarusell gegeben.

Ich hatte schnell erfasst, worauf es bei der Leitung einer Fabrik ankam, gelernt, die Materialien gut und billig einzuhandeln, die Arbeit richtig zu verteilen, die Löhne niederzuhalten, die Angestellten gegen einander auszuspielen. Der Kommerzienrat fand, dass seine Menschenkenntnis sich wieder glänzend bewährt habe, sparte nicht mit seinem Lob.

Als ich, wie häufig, Mittags bei ihnen speiste, sagte er, indem er auf seine bereits recht unförmige Frau deutete: »Wenn unser Sohn einmal so ein guter Geschäftsmann wird wie Sie, kann ich mir gratulieren.«

Die Kommerzienrätin errötete. Er versuchte, mich auch mehr und mehr mit dem Betrieb des Magazins vertraut zu machen, fragte mich oft um Rat über geschäftliche Dinge, den ich, leicht geschmeichelt, nach bestem Wissen und Gewissen erteilte.

Sollte mein Leben in dieser Bahn weiterrollen? Wenn ich auf der Strasse Knaben sah, die das Ikarusell in die Luft steigen liessen, bekam ich einen Wutanfall. Einmal im Stadtpark, als mir einer stolz zeigte, wie hoch seins flog, gab ich ihm eine Ohrfeige und zertrat es. Er lief heulend weg.

Aber dann fand ich, dass ich nicht als Gentleman gehandelt hatte. War ich überhaupt noch ein 114 Gentleman? Ich setzte mich betrübt auf eine Bank und dachte über mich nach. Das Resultat befriedigte mich nicht.

Zuhaus schrieb ich an Onkel Nevermind, schilderte ihm mein ganzes bisheriges Leben mit allen Einzelheiten und bat ihn um Rat, was ich tun solle. Als ich den Brief abgeschickt hatte, wurde mir erst recht klar, wie verzweifelt ich eigentlich war. Er antwortete mir nicht. Nach drei Wochen erhielt ich die Nachricht von seinem Tode. Er war auf schreckliche Art gestorben. Zum Frühstück pflegte er ein grosses Glas kalte Milch auf einen Zug zu leeren. Das hatte er wieder einmal getan und bekam alsbald furchtbare Magenschmerzen, wand sich in Krämpfen. Der schnell gerufene Arzt fand Magen und Speiseröhre wie Stein verhärtet, konnte es sich nicht erklären, liess sich von der Köchin sagen, was er zu sich genommen habe. Da fand sich dann die Erklärung: In der Küche sollte eine Ausbesserung am Plafond gemacht werden, der Stuckateur hatte sich den Gips in einem Glas angerührt. Das war mit der Milch verwechselt worden, und Onkel Nevermind hatte den flüssigen Gips hinunter gestürzt. Der war natürlich schnell erhärtet. Eine Operation wurde vorgenommen, konnte ihn aber nicht mehr retten.

Ich fuhr zum Begräbnis nach meiner Heimatstadt. Der Onkel hatte bei einem Advokaten ein Testament hinterlegt. Das setzte mich zum Haupterben ein, unter der Bedingung, dass ich ihn nach seinen Angaben bestatten lassen würde. Er wollte verbrannt werden, ohne irgendwelche Ceremonien und ohne dass jemand dabei anwesend sei. Seine Asche sei mir zu übergeben, und ich solle sie in die Wasserspülung des Closets schütten. 115

»Niemals«, rief ich aus, »lieber verzichte ich auf die Erbschaft.« Dann sagte ich mir aber, der Wille des Verstorbenen müsse mir heilig sein, und ich führte ihn aus. Ich warf schöne Blumen als letzten Gruss hinterher. Das war allerdings nicht ganz in seinem Sinne, und es rächte sich, indem die Spülung dadurch verstopft wurde und der Installateur kommen musste, um den Schaden zu reparieren.

Als ich zurückkam, war der Kommerzienrat gerade Vater geworden. Alles war gut verlaufen, und es schien ein kräftiger Junge zu sein. Leider hatte er eine Hasenscharte, und die Kommerzienrätin behauptete, sie habe sich an Peter versehen, wollte den sofort abschaffen. Der glückliche Vater meinte aber, es wäre weil das Kind um einen Monat zu früh das Licht der Welt erblickte habe, ein Argument, dem sie nicht widersprach. Ich sollte der Taufpate des herzigen Kleinen werden und er den Vornamen Emmaus bekommen. Dem wiedersetzte ich mich, riet zu dem schönen Namen Ikarus, als Erinnerung an unseren grössten Geschäftserfolg. So wurde er Ikarus genannt.

Später zog man einen berühmten Arzt wegen der Hasenscharte zu Rate. Er tröstete, man könne diesen Fehler seit neuerer Zeit durch Operation beheben.

Er untersuchte das Kind genau und schüttelte den Kopf bedenklich: »Ich hoffe, dass ihm weiter nichts fehlt.« Als ich den Arzt hinaus begleitete, fragte er mich als den Freund des Hauses im Vertrauen, ob die Eltern des Kleinen dem Alkohol sehr zugetan seien. Ich antwortete, mir sei nichts davon bekannt, nur zu ganz seltenen Gelegenheiten; ob das denn einen Einfluss haben könne. 116

»Allerdings! Bei Alkoholeinwirkung erzeugte Kinder sind oft schwachsinnig. Wollen vorläufig abwarten.«

Die Zahnräder des Alltags erfassten mich wieder. Millionen des abscheulichen Spielzeugs wurden im Verlauf zweier Jahre hergestellt. Glücklicherweise war der Betrieb schon so eingearbeitet, dass mir bald etwas mehr Zeit zum Malen blieb, besonders als nun der Absatz stark nachzulassen begann. Die künstlerische Atmosphäre des Ateliergebäudes zog mich wieder in ihren Bann. Das ganz grosse Atelier neben meinem hatte der junge Professor Hopf, das kommende Genie Münchens. Er wandte sich wieder mehr von der Natur ab und, da er keine klassische Bildung besass, malte er mit Vorliebe antike Gestalten. Er war Spezialist in Kentauren, aber auch Minerva, Diana und Venus malte er oft und benutzte dazu nicht nur Berufsmodelle, sondern viele Damen der Münchner Gesellschaft machten es sich zu einer Ehre und einem Vergnügen, ihm, oft unbekleidet, Modell zu stehen. Ich konnte mir seine Erfolge bei den Frauen nicht recht erklären, er sah ungeschlacht und bäurisch aus, redete fast kein Wort, blickte seine Opfer nur tief durchdringend an, und schon war es um sie geschehen.

Es kam manchmal vor, dass eine Dame seine Tür verschlossen fand, weil schon eine andere bei ihm war. Je nach Temperament wartete sie dann geduldig oder mit hysterischen Ausbrüchen. So taten sie mir oft leid und, wenn es mir einfiel, lud ich sie ein, bei mir zu warten, bemühte mich, ihnen den Meister auf jede Weise zu ersetzen.

Allerdings malte ich sie nicht als antike Göttinnen, sondern als entkleidete Münchnerinnen, das gefiel ihnen besser. Professor Hopf wurde dadurch mein 117 Feind, und als ich ein Bild zur Jahresausstellung schickte, sorgte er als Obmann der Jury für dessen Zurückweisung.

Im Atelier auf der anderen Seite malte Professor Lühre, der nach dem Erfolg seines Bildes »Christus bei den Fabrikarbeitern« bemüht war, die biblische Geschichte weiter in moderne Umgebung zu versetzen. Sein Bild »– der werfe den ersten Stein auf sie« wurde eine Weltsensation. Magdalena war in einer Vorstadtstrasse von der Sittenpolizei verhaftet worden, und Christus rettete sie.

Weiterhin war das Atelier Waldemar Knöpfels, des berühmten Militärmalers. Er besass dort eine der grössten Sammlungen von Uniformen aus allen Jahrhunderten. Damit die Motten nicht hineinkommen sollten, zog er täglich eine davon nicht nur seinen Modellstehern an, sondern auch sich selbst. Ich sah ihn zufällig in seinem Atelier, wie er als Napoleon Friedrich den Grossen malte, fragte, ob ich das skizzieren dürfe, und er erlaubte es lachend.

Kommerzienrats besuchten mich selten im Atelier, ich hatte gesagt, dass ich dort nicht gern gestört werde. Ich war sehr überrascht, da eines Tages Fräulein Anna zu mir kam und sagte, sie möchte gern meine Bilder sehen.

Sie sah die Nacktbilder, fragte schüchtern: »Haben sich die Damen denn ganz ausgezogen?«

»Natürlich, Fräulein Anna, das tun sie gern, ausser, wenn sie keinen schönen Körper haben, übrigens, ich glaube, Sie treiben keine Gymnastik mehr, da wird Ihre Figur stark nachgelassen haben.«

»Oh nein, Herr Emmaus!«

»Na, ich glaube doch! Lassen Sie sehen!« 118

»Aber nein, Herr Emmaus!«

»Ziehen Sie sich ruhig aus, was ist denn dabei?« Ich fing an, die rückwärts geschlossene Bluse aufzuknöpfen. Nach Vorschrift der damaligen Mode waren es 85 Knöpfe. Dabei fand ich Zeit nachzudenken. Beim sechzigsten Knopf angelangt, hatte ich es mir überlegt, fing an wieder zuzuknöpfen.

Als der letzte Knopf geschlossen war, drehte ich sie um und sagte: »Sie haben recht, Fräulein Anna, Ihre Figur ist noch wundervoll.«

Sie schien ein bischen enttäuscht zu sein, und zum Spass und als Trost fuhr ich fort: »Lieben Sie mich, Fräulein Anna?«

»Ach ja, Herr Emmaus.«

»Na also, dann auf Wiedersehen, Fräulein Anna.«

Meine Freude darüber, dass das Ikarusell nicht mehr zog, wurde vom Kommerzienrat nicht geteilt. Es machte ihm schwere Sorgen. Er glaubte, der Rückgang sei auf das Erlahmen meines Geschäftsinteresses zurückzuführen, und dieses habe seine Ursache darin, dass ich durch meine Erbschaft ein reicher Mann geworden war. Er schlug mir deshalb vor, sein Compagnon zu werden, mich mit meinem Kapital an seinem Geschäft zu beteiligen. Ich wollte mich noch nicht entscheiden, sagte, ich könne das Geld nicht recht bald flüssig machen.

»Hat ja nicht solche Eile, lieber Herr Emmaus, lassen Sie es sich durch den Kopf gehen. Würde Sie gern dauernd mit meiner Firma verbunden wissen, und ich glaube, ich glaube, meine Anna würde es auch gern sehen.« Dabei lächelte er schelmisch und tippte mir mit dem Zeigefinger auf den Bauch. Ich zog vor, es zu überhören. 119

Unter vier Augen fragte ich Anna ganz obenhin: »Warum hat Sie Ihre Mama neulich zu mir ins Atelier geschickt?«

»Ach nein, Herr Emmaus, das war doch der Papa.«

Vorläufig sprach der Kommerzienrat nicht wieder von meiner Teilhaberschaft, suchte aber immer neues Interesse bei mir zu erwecken, appellierte an mein Genie zur Erfindung eines neuen zugkräftigen Spielzeugs. Vergeblich. Dann wollte er es selbst versuchen, er habe eine grossartige Idee. Mit Mechanikern und Holzschnitzern schloss er sich täglich einige Stunden im Laboratorium der Fabrik ein.

»Sie werden staunen, lieber Emmaus! Das Geschäft machen wir dann zusammen. Na, was ist jetzt? Mit der Malerei tut sich ja sowieso nicht viel. Professor Hopf hat der Frau Direktor Seidlmaier gesagt, er habe Ihre Bilder nicht aufhängen lassen in der Glaspalast-Ausstellung. – Haben Sie es sich schon überlegt?«

»Noch nicht, Herr Kommerzienrat, muss erst sehen, ob ich das Kapital freimachen kann.«

Abends sass ich in schwerer Verstimmung in meinem Atelier bei einer Flasche uralten Portweins, noch aus dem Keller meines Onkels. Also das sollte aus mir werden! Braver, erfolgreicher Geschäftsmann, Schwiegersohn eines Kommerzienrats, vielleicht selbst Kommerzienrat, Ehrenmitglied der Handelskammer, Familienvater, Millionär. Sind Millionäre überhaupt glücklich? Ist das Leben im Palast weniger ekelhaft als in der Hütte? Nein, aber man erträgt es mit mehr Genuss. Ist Genuss und Glück dasselbe? Soll ich, soll ich nicht? Wenn ich an ein Jenseits glauben würde, lieber Onkel Nevermind, bäte 120 ich dich jetzt noch einmal: rate mir, was soll ich tun?

Indem klopfte es an die Tür. In meiner Depression wollte ich niemanden sehen, öffnete nicht. Das Klopfen wiederholte sich stärker. So rief ich »Herein!« Der Postbote brachte mir einen Expressbrief. Die Adresse zeigte die Handschrift meines Onkels. Es benahm mir den Atem. Mit zitternder Hand öffnete ich das Kuvert. Es enthielt einen grossen Briefbogen, auf dem stand nur: Get out of that! Uncle N.

Ich war so erschüttert, dass ich sofort noch zwei Gläser Portwein trinken musste. Endlich griff das Wunder wieder in mein Leben ein. Gerettet! Also die Seele lebt nach dem Tode weiter, kann mit uns in Verbindung treten. Die sterblichen Reste des Onkels sind längst in das Nichts hinabgespült, aber sein Geist existiert noch und will mich betreuen. Immerhin bewahrte ich Skepsis genug, um den Poststempel anzuschauen. Leider war er unleserlich.

Um ganz sicher zu gehen, habe ich dann später auf der Post nachgefragt, wo und wann der Brief aufgegeben sei. Mit vielen Entschuldigungen hat man mir dort gesagt, dass der Brief schon vor zwei Jahren eingetroffen und dem Boten zur Zustellung übergeben worden war. Der wäre unterwegs eingekehrt, hätte sich betrunken, den Brief nicht abgeliefert. Jetzt sei man ihm auf seine Unregelmässigkeiten gekommen und habe alle Briefe, die man in seiner Wohnung fand, nachträglich zugestellt. Man hat mich gefragt, ob ich Schadenersatz beanspruche. Nein, dass wollte ich nicht. Also war es die damals vergeblich erwartete Antwort auf meinen Brief. Die Wirkung blieb die gleiche.

Nun war ich froh. Ich versank in meinen Klubsessel, 121 leerte den Rest der Flasche, rauchte einige Pfeifen – glücklich. Da klopfte es wieder an die Tür. »Aha da kommt sein Geist persönlich. Herein Onkel!« Eintrat der Kommerzienrat, aufgeregt, ein sehr grosses Paket im Arm. »Entschuldigen Sie, mein lieber Emmaus, dass ich noch so spät komme, sah Licht bei Ihnen, wollte Ihnen gleich meine neue Sache vorführen, ist heute Abend erst fertig geworden. Eine Freude kommt nie zu bald.« Strahlend entnahm er der unförmigen Pappschachtel sein Wunderwerk: Die lebende Puppe.

Sie hatte die Höhe eines sechsjährigen Kindes, der Kopf war etwas zu gross, aber sehr herzig, mit blonden Ringellocken, blauen Augen, die sie bewegen, auf- und zuklappen konnte. Sie bewegte auch die Lippen, ging, tanzte, benutzte die Arme, sogar zu beten brachte sie fertig. Sie war lieblich in hellblaue Seide gekleidet und elegante Spitzenwäsche. Der Kommerzienrat schlug ihren Rock in die Höhe, zeigte mir auf dem Hinterteil eine Vorrichtung wie die Tasten einer Schreibmaschine. Jedes Wort, das man darauf abklapperte, sprach sie dann. Ausserdem war eine Taste mit 1 bezeichnet, eine mit 2, drückte man auf 1 würde sie lachen, auf 2 weinen. Eine Taste 0 und 00 sollte später noch dazu kommen.

Der Kommerzienrat zog die Feder auf und buchstabierte: Ich bin die lebende Puppe Neu-Schöpfung des Lössel Magazins. 1. 2. Sie spazierte, Arme schlenkernd, herum, sprach mit krähender Stimme die Worte genau nach Vorschrift, lachte erst, dann weinte sie, mit richtigen Tränen.

»Na, was sagen Sie nun?«, fragte er stolz, »Allerdings die Herstellung wird eine Stange Gold kosten, brauchen einige ganz neue Maschinen zur 122 Massenfabrikation. Sie werden das schon deichseln, mein Lieber, nicht wahr? Verlasse mich da ganz auf Ihre erprobte Tüchtigkeit. Ich suche noch nach einem schlagkräftigen Namen, vielleicht fällt Ihnen etwas ein.«

»Wie wäre es mit dem Namen Idiota oder Kretina, Herr Kommerzienrat? Und dann möchte ich noch eine Verbesserung vorschlagen. Kann sie nicht eine Schnur in die Hand nehmen und sich aufhängen?«

Er sah mich etwas erschrocken an, aber da ich ganz ernst blieb, meinte er: »Ich glaube nicht, dass das viel zum Erfolg beitragen würde.«

Konnte es etwas Scheusslicheres als diese Puppe geben? Und an so etwas sollte ich mitschuldig sein, damit verbunden und verheiratet! Pfui Teufel! Es war mir, als packte eine Kralle meinen Magen, wühlte mein ganzes Innere um. Massloser Ekel und Zorn ergriff mich. Ich sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte: »Hinaus– nur hinaus!«

Nie habe ich einen Menschen so erstaunt gesehen wie den Kommerzienrat, er stand erstarrt, mit weit aufgerissenen Augen. Ich nahm ihn am Arm, führte ihn hinaus, warf ihm die Puppe und Schachtel nach, schlug die Tür krachend zu.

Dann sank ich in den Klubsessel zurück, wurde allmählich ruhiger, sagte mir: »Manchmal ist es befreiend, kein gentleman zu sein. Sogar old Nevermind würde mir Dispens erteilt haben.«

Nun musste sich Vieles ändern. Aber das wollte ich morgen überlegen. Heute ging ich schlafen – tief und traumlos.

Ich erwachte spät. Wie beim Beginn eines jeden Tages suchte ich mir zuerst vorzustellen: Was gibt 123 es heute Erfreuliches zu denken? Da war dieses Mal eine ganze Menge. Später, beim Rasieren, stellten sich auch einige Bedenken ein. Mein Atelier würde mir natürlich gekündigt werden, das passte mir nicht, gerade jetzt wollte ich es behalten. Abwarten! Die vereinbarte Kündigungsfrist war vierteljährlich. Es war schon halb zwölf Uhr, als ich mir von der Hausmeisterin den Kaffee bringen liess. Sie sagte mir, die Kommerzienrätin lasse fragen, ob sie mich besuchen könne, sie stehe draussen.

»Gewiss, ich lasse bitten.«

Sie kam mit ganz verweintem Gesicht herein, den kleinen Ikarus auf dem Arm. Ich begrüsste sie sehr formell.

Eine Weile, nachdem die Hausmeisterin gegangen war, schlich ich zur Tür und öffnete sie schnell, so dass sie dieser heftig an's Ohr schlug. »Pardon«, sagte ich, »aber lassen Sie sich nicht unnötig aufhalten.«

Die Kommerzienrätin weinte: »Lieber Emmaus, was hast du angestellt! Schorsch hat mir Alles erzählt. Nun ist es aus, und ich werde wieder ganz allein sein. Ihr müsst euch vertragen! Emmaus, ich habe dich ja so lieb. Schau doch deinen herzigen Buben! Ikarus, mach schön bitte-bitte.«

Das Kind glotzte, der Speichel lief ihm aus dem Mund, »Glu – Glu« brachte es nur hervor.

Ikarus konnte noch nicht sprechen, nicht gehen und stehen und war noch nicht zimmerrein.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber Ikarus ist leider ein Idiot, wie mir scheint.«

»Ach nein, Emmaus, er kann es sich nur nicht so geben, ist ein bisserl schüchtern, und heute ist er so erschrocken, wie ihm der Kommerzienrat die Puppe 124 gezeigt hat und sie ist auf ihn zugelaufen und hat gesprochen: ›Komm, mein lieber Ikarus, gib dem Püppchen einen Kuss‹. Da hat er geschrieen und seine Krämpfe bekommen.«

Ich musste lachen: »Das kann ich verstehen, gnädige Frau, ich habe auch geschrieen.«

Sie fing das Lachen sofort auf. »Na siehst du. Du darfst das nicht so tragisch nehmen. Und wir müssen auf jeden Fall die Puppe machen und viel Geld damit verdienen. Der arme Schorschl hat solche Sorgen. Du weisst doch, wegen der Sache mit Sagebrecht.«

Ich wusste nur, dass Sagebrecht, der langjährige Prokurist und Geschäftsführer, abgegangen war, gerade als sein zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert werden sollte.

»Er wird schon zu ersetzen sein«, sagte ich, dann mit plötzlicher Erleuchtung: »Wieviel war es denn?«

»Alles! Und einen Brief hat er hinterlassen, er sei viel zu bescheiden, um die Ehrungen zu seinem Jubiläum abzuwarten und entziehe sich ihnen durch eine Reise in's Ausland. Und nun stellt sich heraus, wie er gestohlen hat. Es ist gar kein Geld mehr da, und neben seinem Privatkontor hatte sich der alte Bock heimlich einen Harem eingerichtet, und drei Fräuleins erwarten Kinder von ihm, und sie wollen die Firma auf Alimente einklagen, und ich glaube der Schorschl war daran auch ein bischen beteiligt. Alles, was wir mit dem Ikarusell verdient haben, ist auch weg, und wenn du jetzt die letzte Abrechnung verlangst, sind wir bankrott. Aber mit der Puppe können wir uns herausreissen.«

»Wunderbar!« lachte ich, »und da hat der Schorschl gesagt, Sie sollten zu mir gehen?« 125

»Das nicht gerade, aber natürlich weiss er es.«

»Na, liebe Frau Kommerzienrat, lassen Sie es sich nicht unter die Haut gehen! Es wird schon alles in Ordnung kommen.«

»Emmaus, willst du mir nicht versprechen – – –«

»Versprechen kann ich heute nichts, Frau Kommerzienrat.«

Sie hob mir das Kind entgegen: »Ikarus, sag schön Pfü Gott, Papa.«

»Glu – Glu«, machte Ikarus.

»Und gib ihm ein Patschhändchen und ein Küsschen.«

Schon war er ganz nah an meinem Gesicht. »Glu – Glu«, kam aus seiner Kehle, und an anderer Stelle kam etwas Nasses. Ich retirierte schleunigst, und die Kommerzienrätin entschwand mit schnellem Lebewohl.

Ich hatte gedacht, ich würde mir nach dem Frühstück gemütlich eine Pfeife anzünden und über meine Zukunftspläne nachdenken können. Nun war es wieder nichts damit. Die verfluchten Geschäfte liessen mich nicht los. Ich eilte in die Fabrik, machte mir eine Aufstellung über den Betrag meines Guthabens. – Seit meiner Erbschaft hatte ich nicht mehr abgerechnet, so war es eine sehr beträchtliche Summe. Dann ging ich zu einem Rechtsanwalt, den ich kannte, sagte ihm, wie die Sachen bei Lössel standen. Er meinte, ich müsse mich dazu halten, um noch etwas zu retten. Wir bestellten uns den Kommerzienrat in die Kanzlei, für heute war es schon zu spät, aber für den nächsten Tag.

Er kam pünktlich. Wir erwähnten mit keinem Wort, dass wir wussten, wie schlecht sein Geschäft stand. 126 Der Anwalt legte ihm meine Aufstellung vor, fragte, ob er sie anerkenne und bereit sei, sofort bar zu bezahlen. Der Kommerzienrat, sehr bleich, wollte erst in seinen Büchern nachsehen, und Barzahlung komme momentan nicht in Betracht, er habe mir statt dessen Geschäftsbeteiligung angeboten.

Ich wollte das Verfahren abkürzen, sagte: »Die habe ich aber abgelehnt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte. Ich verzichte auf Einklagung des Guthabens und nehme statt dessen das Haus in der Georgenstrasse samt Ateliergebäude in Zahlung, dürfte so ziemlich zum Ausgleich genügen.«

Er wollte erst überlegen, seinen Anwalt befragen. Wir stellten ihm ein Ultimatum, er müsse sich bis zum nächsten Morgen entscheiden und dann müsste die Übertragung sofort protokolliert werden, sonst zöge ich mein Anerbieten zurück.

»Überhaupt gehört das Haus ja meiner Frau«, wandte er ein.

»Umso besser«, sagte mein Anwalt. »Dann kann die Übertragung bei einem Konkurs nicht angefochten werden.«

»Es wird jetzt zu keinem Konkurs kommen«, meinte der Kommerzienrat und ging.

Am Ende der Woche gehörte mir das Haus. Mein Anwalt gratulierte mir. Ich liess durch ihn sofort Herrn Professor Hopf das Atelier kündigen, in einem Monat müsse er ausziehen. Gegen Kommerzienrats war ich milde, sie durften vorläufig wohnen bleiben, ich verlangte nicht einmal Miete.

Vor zwei Jahren hatte ich die vom Onkel geerbte Villa verkauft, weil ich nicht Hausbesitzer sein wollte, und nun war ich es doch geworden. Nur der 127 Besitzlose ist wahrhaft frei – vorausgesetzt, dass er genug Geld hat. Aber das wenigstens hatte ich ja – jetzt musste ich bloss vorsichtig vermeiden, irgend etwas anzufangen, das nach Haushalt aussah oder nach festem Beruf. Mein Leben war immer ziemlich bescheiden, ja uncomfortabel geblieben und sollte weiter so bleiben. Im Unterbewusstsein ahnte ich: in einem bequemen Leben gibt es keine Wunder.

Ich begann ein grosses Bild. Die Zeit des Naturalismus war in München vorbei. Ein Bild sollte wieder etwas ausdrücken. Man nannte das damals Symbolismus. Auf meiner Leinwand schleppte eine nackte, nur mit einem Brautschleier bekleidete Frau an einer Rosenkette einen Mann im Frack, dessen Augen verbunden waren, auf einem schmalen Brettersteg, der hoch über felsige Abgründe führte. Am Ende des Stegs war ein Ding aufgebaut, das zwischen Altar und Schafott die Mitte hielt. Daneben stand der Priester mit einem Richtbeil. Allerdings war es nicht ganz deutlich, dass er ein Geistlicher sein sollte, man konnte ihn auch für einen Scharfrichter in mittelalterlichem Kostüm ansehen. Das Bild war in düsteren, blaugrauen Farben gehalten, aus denen nur die Rosen, die Frau und die weisse Hemdbrust des Mannes hervorleuchteten.

Endlich wieder etwas, das mich ganz erfüllte! Ich malte mit Begeisterung, solange es hell war, und bis zur völligen Erschöpfung. Vor dem fertigen Bilde verfiel ich in Depression. Das Feuer war erloschen, und ich war wieder ein kümmerliches Aschenhäufchen.

In diesem Augenblick kam Professor Hopf zu mir, die Hausmeisterin habe ihm erzählt, dass ich ein so schönes Bild male, ob er es sehen dürfe. Er war voller 128 Bewunderung, fragte, ob ich es nicht zur nächsten Ausstellung schicken wolle.

»Damit Sie es mir wieder zurückweisen, nicht wahr?«

»Ach, damals, daran war ich wirklich unschuldig, und es herrschte grosser Platzmangel.« – Er empfahl mir dann, symbolische Bilder nicht in Öl sondern in Temperafarben zu malen. Wenn es mich interessiere, würde er mir gern diese Technik zeigen. Allerdings müsse er in ein paar Tagen ausziehen, habe noch kein passendes Atelier gefunden, ob ich vielleicht eins wisse.

Da musste ich sehr lachen. »Vielleicht lässt es sich machen, Herr Professor, dass Sie noch bleiben. Wenn Sie sicher sind, dass meine Bilder bei der nächsten Ausstellung aufgehängt werden –«

»Das kann ich versprechen, Herr Emmaus«.

»Und einen guten Platz im ersten Saal!«

»Selbstverständlich.«

»Und wenn Sie, Herr Professor, dafür sorgen werden, dass ich eine Medaille bekomme.«

»Ich werde mein Möglichstes tun.«

»Dann will ich die Kündigung zurückziehen.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Herr Emmaus. – Übrigens wusste ich nicht, dass Ihnen jetzt der Atelierbau gehört.«

»Habe ich auch garnicht gemeint, Herr Professor.« Wir lachten beide und schieden als Freunde.

Dieser Blick hinter die Kulissen des Kunstbetriebs dämpfte mir die Freude an der Malerei. Die Farben auf meiner Palette trockneten wieder ein. »Ebenso dreckig wie alle anderen Berufe«, dachte ich. Vielleicht hätte sich mein Leben in anderer Richtung 129 entwickelt, wenn ich seinerzeit der Einladung des Meteor-Herausgebers gefolgt wäre. Warum hatte ich nie wieder daran gedacht? Aber der »Meteor« erschien ja noch immer jede Woche leuchtend am Zeitungshimmel. Ich ging hin. 130

 


 << zurück weiter >>