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11

Wie Lerchen stiegen die Lieder über Deutschland empor, die die Taten der Helden feierten, der Namenlosen, der Glaubenskämpfer an Rhein und Ruhr. Und mit tiefgeheimem, freudeheißem Stolz fühlten sich Rheinländer und Westfalen, die im Bannkreis der beiden Schicksalsströme saßen, als Vorkämpfer des erwachenden Vaterlandes. Die fremden Gewalthaber aber hatten mit der unerschöpflichen Fülle der Machtmittel die Kühle des Blutes für sich, und sie legten eine Zollinie um die beiden Schicksalsströme und sperrten jede unerwünschte Einfuhr und Ausfuhr. Der Eisenbahnverkehr wurde aufgehoben, die Briefpost nur noch auf dem langsamen Wasserwege zugelassen, ein paar Dampfer sorgten stromauf und stromab notdürftig für die Beförderung der zu Massen sich stauenden Reisenden, und der Paßzwang wurde bis zur Unerträglichkeit verschärft.

Mehr und mehr kam Handel und Wandel in den gequälten Landen an Rhein und Ruhr zum Erliegen, wuchs das Heer der Arbeitslosen und der Hungernden in allen Volksschichten. Nicht lange noch, und weit mehr als die Hälfte der arbeitslosen und darbenden Bevölkerung mußte aus öffentlichen Mitteln und den großen Sammlungen der Wohltätigkeit ernährt, gekleidet und mit Bargeldunterstützungen über Wasser gehalten werden. Ihre Zahl stieg von Tag zu Tag, und das Wasser stieg von Stunde zu Stunde. Die Schlote erloschen. Die Räder standen still. Das arbeitsamste Volk Deutschlands war in die Rolle müheloser Rentenempfänger gedrängt worden, und aus der Mühelosigkeit grinste schon hier und dort die Würdelosigkeit hervor, aus dem Rentenempfänger der unbekümmerte Faulenzer, der sein Gutgeschick segnete.

Das war es, was die fremden Gewalthaber kühlen Blutes in Rechnung gestellt hatten: die allmähliche Zersetzung der sittlichen Kräfte.

Wohl schuf Deutschlands Regierung durch die bis zum Heißlauf erhitzte Banknotenpresse ungeheure Papiermarkbeträge und sandte sie als Unterstützungsgelder an den Rhein und die Ruhr. Doch die ausländischen Börsenplätze waren nicht minder schnell und setzten Schlag um Schlag den Wert der bürgschaftslosen deutschen Papiermark herab, und schon hieß es Millionen, ja Milliarden deutscher Papiermark verwenden, um aus dem Ausland den Gegenwert auch nur eines einzigen Dollars zu erhalten. Und schon stand die zum Irrsinn führende Billionenziffer vor der Tür.

Denn kühlen Blutes untersagten die fremden Gewalthaber die Einführung und Auszahlung der Hungergelder, und kühlen Blutes beschlagnahmten sie die Summen auf den Banken und den Werken.

Die Wohltätigkeitssammlungen aber, die zu Beginn des deutschen Widerstandes mit Begeisterung von Haus zu Haus, von Kopf zu Kopf unternommen worden waren, gingen mehr und mehr zurück, je stärker die rheinische und westfälische Arbeitslosigkeit die von Rhein und Ruhr abhängigen Industrien des Vaterlandes ergriff und sie in ihrer Wirksamkeit lahmlegte. Die Freude am Geben verebbte vor der eigenen Not. Der Beifallsjubel verstummte.

Das Heer der arbeitslosen Handarbeiter aber verstärkte sich aus den Kreisen der Kopfarbeiter, die nicht mehr über den Tag hinaus zu leben wußten, Handwerker schlossen ihre Werkstätten, Handelsleute ihre Läden und stellten sich mit den Rentenempfängern in Reih und Glied. Ein jeder rechnete sich Verluste aus und begehrte so gut Entschädigung wie der bequemere Nachbar. Die hehren Vaterlandsbilder sanken vom Sockel, und breite Schichten ließen sich ihre Vaterlandsliebe bezahlen wie eine besonders gefragte Ware, während das Kernvolk der Treuen, und Selbstlosen ohnmächtig die Fäuste ballte.

An Stelle des ausgeschalteten Reiches schwangen sich die Gemeinden auf an Rhein und Ruhr zur Abwehr des leiblichen und sittlichen Niederganges. Das Heer der Arbeitslosen wurde in ein Heer von Notstandsarbeitern umgewandelt. Zur Ausbezahlung handhabte jede Gemeinde ihre eigene Notenpresse, ohne ein Wissen, wie einst die ins Unermeßliche wachsenden Schulden gedeckt werden könnten. Die Notdurft des Tages schrie lauter als die Gewissensfrage nach dem Morgen und Übermorgen. Und da der Notstandsarbeiter mehr waren, als die Wegebauten und Waldabholzungen erforderten, so brach auch hier das Geschwür hervor: neben den Trupps der Pflichteifrigen bildeten sich die Trupps der Müßiggänger, Holzfäller und Hafenjäger für den eigenen Bedarf. Keiner schielte nach dem Tun des anderen. Die Obrigkeit schloß die Augen. Nur keine Aufstände und Zusammenstöße jetzt. Mochte ein jeder zuletzt zusehen, wie er durch die Not der Zeit hindurchkam.

Denn eine neue Gefahr wuchs auf dem unterwühlten Boden heran, erhob vielerorts frech das Haupt, ballte sich zusammen, beutegierig, und Beutelüsterne aus allen Winkeln und Verstecken an sich ziehend. Die Rotte der deutschen Landsknechte setzte sich in Marsch. Die Rotte, die durch die deutschen Jahrtausende zieht und überall zu finden ist, wo das höchste Handgeld gezahlt wird. Wiederum besorgten sie heute die blutigen Geschäfte der auf den heiligen Rheinstrom starrenden Fremden, nach einem freien Rheinstaat brüllend, der nur ein welscher werden sollte.

Der würgende Kampf um das Rheingold war im Gange. Und alle suchten es hastig zu heben und in die Tasche zu stopfen, Fremde, Eingeborene, Vaterlandslose. Sie alle wühlten nach dem Rheingold wie atemlose Schatzgräber nach dem Schatz der Geisterstunde und ließen über ihrer gierigen Selbstsucht den Rhein auslaufen und versanden.

Friedrich Thorsberg prägte den Satz und gab ihn an Lenbach weiter.

»Sind Sie immer noch glaubensfest?« fragte der Freund. »Ich wollte, ich dürfte Sie zu meinem Glauben bekehren.«

»Nennen Sie ihn mir. Auch ein Glaube läßt sich fortentwickeln.«

»Schluß machen mit der Entwicklungszeit. Der Steuerlosigkeit der Regierung ein Ende bereiten. Wenn nötig: mit Gewalt. Wo der Zaubermeister fehlt, treiben die Zauberlehrlinge verheerenden Unfug.«

»Das ganze Volk muß an den Zaubermeister glauben und sein Blutrot für Himmelblau nehmen, wenn er es befiehlt. Ein Volk aber wird erst wundersüchtig, wenn es den Tod am Kragen fühlt. Vorläufig jagt es noch wild hinter den Schneeflocken der tanzenden Milliarden her.«

»Thorsberg,« sagte der Oberst kalt, »es wird nichts anderes übrigbleiben. Wenn die Sonderbündler marschieren und uns das Rheinland und die Pfalz versauen, müssen wir auch marschieren und die Herren in Berlin um weitere Auskunft ersuchen. Wenn wir zu Tausenden kommen, bringen wir ihnen vielleicht den Mut.«

Oft horchten die Freunde hinaus, ob sie noch die Lieder vernähmen, die wie Lerchen über Deutschland emporgestiegen waren und vom unvergänglichen deutschen Frühling gesungen hatten, als sie von den Taten der Helden gesungen hatten, der Namenlosen, der Glaubenskämpfer an Rhein und Ruhr. Und horchten umsonst. Die Lieder waren verstummt. Keine Lerche wagte sich mehr in die Höhen des ewigen Lichts. Beim Anflug schon holte man sie mit Steinwürfen herab.

Wieder aber war Ferdinand Waldheim über das Meer gekommen. Diesmal, um im alten verelendeten Vaterlande für immer zu bleiben. Sohn und Tochter gaben für die Spanne eines goldenen Europaherbstes dem Vater das Geleit.

Ferdinand Waldheim lehnte jedes Gespräch über die politische Lage ab. Er schüttelte sich in den Schultern.

»Mich ekelt's,« sagte er, »wohin ich sehe. Bei Freund und Feind dasselbe. Nicht das ausgeblutete, zum Irrsinn gebrachte deutsche Volk – sämtliche Völker sind in der Zersetzung. Ein Mensch mühte sein – nein, ein Halbgott, der ihnen ein ›Halt‹ zudonnern könnte, vor dessen Schreckenston sie zur Besinnung gelangten. Wo ist der Mensch und wo hat er den Schrecken?«

»Und die namenlosen Helden? Die Glaubenskämpfer an Rhein und Ruhr?« fragte Friedrich Thorsberg ernst. »Wie stellst du dich zu ihrer deutschen Opferbereitschaft?«

Der Deutschamerikaner hob die Hand, als wollte er den Hut vom Haupte ziehen. Er verneigte sich schwerfällig. Aber sein Gesicht liefen ein paar Zuckungen.

»Hör mich an, Friedrich. Ich bin ein gesetzter Mann und kein Freund von Händeln. In der vergangenen Woche aber habe ich an unserem heimischen Rhein einem Herrn die Faust ins Gesicht gesetzt, der in sittlicher Entrüstung die Todesmutigen besudelte, weil ihre Taten die Gewalthaber zu Vergeltungsmaßnahmen veranlaßten und die Geschäftstreibenden die Kosten für den Unfug bezahlen mühten. Es war kein Hungernder, dem man es hätte hingehen lassen können, sondern ein gutgenährtes Mitglied der Handelskreise. Mein Gott, werdet ihr denn nie zur Vernunft kommen und zu einem Volksbewußtsein, das nicht nach dem Sterben fragt, wenn es das Leben will?«

»Mein alter Ferdinand,« sagte Friedrich Thorsberg, »der Herr mit deiner Faust im Gesicht stellte gottlob nur die eine Seite der Erscheinung dar. Wir sind bei der Durchsiebung. Der Weizen, der bleibt, wird durch seine Menge nicht so sehr ins Auge fallen, aber er wird hundertfältige Frucht tragen.«

»Gott gebe seinen Segen dazu. Ich bin herübergekommen, um den dritten und letzten Teil meines Lebens in dem Lande zu verbringen, in dem ich den ersten verbracht habe. Ich will mir in Frieden mein Haus errichten.«

»Du hast deine Kinder mitgebracht?«

»Mitgebracht nicht. Sie haben mich begleitet. Das ist ein amerikanischer Unterschied.«

Friedrich Thorsberg nickte, ohne recht hinzuhören. Dort stand ein Mann, der ›in Frieden‹ sein Haus in Deutschland errichten wollte. Also ein Gläubiger. Also war der Glaube an dieses Deutschland auch unter den Geldgewaltigen des immer mächtiger werdenden Amerika nicht erloschen. Das beschäftigte seine Gedanken stärker als der Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Kindergewohnheiten.

»Und wie geht es meinem Liebling, deiner Gertrude?« fragte Ferdinand Waldheim. »Darf ich sie sehen?«

»Sie verbringt ein paar Ferienwochen bei den Großeltern in Starnberg. Gert ist mit hinaus.«

»Wenn du gestattest, Friedrich, mache ich deinen Eltern am See meinen Besuch. Vorher aber darf ich dir meine Kinder vorstellen.«

Es waren ein paar gescheite Menschen, die Friedrich Thorsberg in den jungen Waldheims kennen lernte. Der Sohn, groß, sehnig, mit klug beobachtenden Augen, blieb wortkarg, da ihm seit dem Kriege die ohnedies vernachlässigte deutsche Sprache nicht mehr geläufig war. Die Tochter, schlank, kühl und gepflegt, plauderte mit ihren siebzehn Jahren, als hätte sie als Dame allein den Gesprächsstoff zu bestimmen, doch plauderte sie in leidlichem Deutsch und trotz ihrer Kühle mit aufmerksamer Anteilnahme. Für beide aber schien Friedrich Thorsberg irgendeine Sehenswürdigkeit darzustellen. Entweder hatte ihn der Vater als den großen Löwenjäger Afrikas dargestellt oder als den heißesten Vaterlandsfreund in diesem unglückseligen Deutschland.

Friedrich Thorsberg drückte ihnen zum Abschied kräftig die Hand. Sie hatten ihm nicht schlecht gefallen.

»Wenn Sie Nach Starnberg kommen, vergessen Sie nicht, meine Kinder aufzusuchen. Es wäre schön, wenn sich die Freundschaft der Väter als übertragbar erwiese.«

Dann saß er allein und prüfte Briefe und Pläne.

Ob auch ihm einmal wieder Ferien kamen? Auf ein ganzes Jahr hatte er sich von den Hochschulvorlesungen entbinden lassen. Ein ganzes Urlaubsjahr lag vor ihm. Ob es in seinem Schoße eine noch so karge Freiheit für ihn barg? Eine Spanne Sonnenschein? Sonnenschein, der nur ihm gehörte? Seiner durstig gewordenen Seele?

Er strich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die allzu weich geratenen Gedanken hinwegwischen. Seine Lippen schlossen sich und lagen fest aufeinander. Freiheit? Freiheit für den einzelnen, solange das Vaterland noch in den Fesseln lag? Und Sonnenschein noch dazu?

Er griff zum Schreibstift und arbeitete. Die vaterländischen Aufgaben hatten nicht Zeit.

Als der Abend dämmerte, klopfte Gustav Adolf Brandt an die Tür. Er durfte eintreten. Der Tiermaler hatte eine ruhige, aufrechte Haltung gewonnen. Die an Rhein und Ruhr bestandenen Gefahren hatten seinem gedrückten Wesen aufgeholfen. Nur das Gesicht schien blutlos geworden und glich einem Totengesicht.

»Das freut mich, Brandt, daß Sie wieder einmal von selber zu mir finden. Machen Sie es sich bequem und erzählen Sie mir von Ihrer Kunst. Kann Ihr neues Bild in diesen unruhigen Zeiten gedeihen?«

»Es ist fertig geworden, Herr Professor Thorsberg. Aber ich habe es versteckt und eine abgekratzte Leinwand auf die Staffelei gestellt.«

»Rauchen, Brandt, rauchen. Die Zigarrenwölkchen vermögen die schwersten Gedanken wegzutragen.«

Der Maler saß rauchend im Sessel. Er tat ruhige Züge, und keine Erregung war in seinem Wesen.

»Ich habe es vor meinen Lieben versteckt,« fuhr er in gelassenem Tone fort. »Vor Vater, Gattin und Stiefsohn. Ich möchte doch gerne einen Notgroschen daheim wissen. Sonst – wenn ich plötzlich stürbe – ich glaube, meine Lieben hätten längst auch dieses Bild verkauft und ließen mich auf Armenkosten beerdigen.«

»Wie kommen Sie zu solch trüben Gedanken, Brandt? Sie sitzen zu viel allein.«

»Das sind sehr helle Gedanken, Herr Professor. Und sie entstehen in ihrer Klarheit nicht etwa, weil ich zuviel allein sitze, sondern weil man mich allzuviel allein sitzen läßt. Da habe ich mir die Sache einmal ausgerechnet und erbitte mir Sie als Testamentsvollstrecker.«

»Das ist kein freundliches Gespräch, Brandt.«

»Das ist das freundlichste, das ich seit langem geführt habe, Herr Professor. Denn nun, da das Bild vollendet ist, kann mir auf der Erde und in der Erde nichts Unvorhergesehenes mehr geschehen. Vorausgesetzt, daß ich das Bild bei Ihnen unterstellen darf. Ich habe berechtigte Sorge, daß es sonst doch noch in meiner Abwesenheit entdeckt und versilbert werden könnte.«

Friedrich Thorsberg gab gern die Erlaubnis.

»Ich möchte mehr für Sie tun. Ist das so ganz unmöglich, Brandt?«

»Dann müßten wir unter die Wegelagerer gehen. Anders ist meinen Lieben nicht beizukommen.«

»Brandt!«

»Ja, Herr Professor, das klingt gefühllos. Aber was tun wir anständigen Menschen eigentlich mit unseren vielen Gefühlen? Darf ich Ihnen mitteilen, daß das Gut Seefelden verkauft ist?«

»Ich denke, das hat Ihr Herr Vater schon vor einem Jahre verkauft? An den Amerikaner vom deutschen Main?«

»Er hat es zurückgekauft.«

»Das ist wohl ausgeschlossen. Über solche Beträge verfügt Ihr Vater nicht.«

Brandt streifte die Asche von seiner Zigarre ab. Er lehnte sich zurück und sann seinen Gedanken nach.

»Ich habe Ihnen damals die erste Hälfte der Geschichte erzählt und bitte um die Erlaubnis, Ihnen nun auch die zweite Hälfte erzählen zu dürfen. Nicht aus Schwatzsucht. Auch nicht, um auf diese bequeme Weise meinen Groll zu entladen. Es ist eine Gefühlssache. Sicher eine von den überflüssigen. Aber jeder Mensch hat nun einmal eine kleine Absonderlichkeit. Was mich betrifft, so habe ich mich im Leben nach recht viel Liebe gesehnt und an ihrer Stelle recht viele Prügel empfangen. Das sind so Schicksalsscherze, gegen die der Mensch nicht ankann. Ich glaube, Sie sind der einzige auf der Welt, Herr Professor Thorsberg, der mir ehrlich und herzlich zugetan ist. Und da keinem anderen Menschen einfallen wird, sich von mir ein richtiges Bild oder überhaupt nur ein Bild zu machen, so möchte ich, daß dieser eine doch zu jeder Stunde wüßte, wie ich so und nicht anders geworden bin. Es mag eine Eitelkeit sein. Aber ich bin ja zuletzt auch kein Tier gewesen.«

»Brandt,« sagte Friedlich Thorsberg und drückte ihm hart die Hand, »ich bin immer stolz darauf gewesen, daß Sie in mir Ihren besten Freund sahen. Und nun erzählen Sie mir, wie und was Sie wollen. Wenn es Sie nur erleichtert.«

»Sie fürchteten vorhin,« begann der Gast ohne jede Erregung, »mein Vater verfügte über so große Beträge nicht, wie sie heute zu einem Gutskauf gehören. Und ich fürchte, mein Vater hat selten oder nie über Beträge verfügt, die ihm gehörten. Wozu auch? Er ist ja, wie Frau Amely Brandt ihn bewundernd nennt, der große Lebenskünstler. Und wie ihn der Herr Franz Haßlinger unter vier Augen nennen wird, ist in diesen Kreisen vielleicht noch ehrenvoller.

»Mein Vater hatte sich von seinem Nachfolger im Besitz, dem ebenso ehrenwerten Herrn Robert Heß, sämtliche Vollmachten für das Gut geben lassen, und die Liebenswürdigkeit Frau Amely Brandts hatte das Ihre dazu getan. Der Plan meiner drei Lieben ging aber von vornherein dahin, das verlotterte Gut durch das Geld des Amerikaners, durch riesige Neuanschaffungen von Milchvieh und Pferden, von Maschinen und Wagen, von Düngemitteln und Saatgut, durch Ausbauten am Herrenhaus und Neubauten von Scheunen, Stallungen und Leutewohnungen so gewaltig im Werte zu steigern, bis dem Amerikaner die kostspielige Sache leid wurde oder er geldlich zum Erliegen kam. Daß der amerikanische Geschäftemacher nicht längst die Fallen witterte, dürfte an seiner wütenden Verliebtheit in Frau Amely Brandt liegen. Liebe macht bekanntlich blind. Ich sage bekanntlich, weil ich es ja zur Genüge an mir selber erfahren habe.« Friedrich Thorsberg hörte geduldig zu. Ein tiefes Mitleiden verband ihn mit dem Zaungast des Glücks, der nie einen anderen Einsatz gehabt hatte als seine Anständigkeit. Und Gustav Adolf Brandt fuhr gelassen fort:

»Dem Amerikaner müssen nun plötzlich die flüssigen Gelder ausgegangen sein. Er hatte die Zahlungen der letzten Posten verweigert und seinen guten Freund Franz Haßlinger beauftragt, die Angelegenheit aufs beste und billigste zu regeln. Das hat der Sohn der Frau Amely Brandt aufs beste und billigste besorgt. Er hat, um die fälligen Posten zahlen zu können, die gesamte bewegliche Gutseinrichtung samt Vieh und sämtlichen Maschinen und Saatgütern von dem bevollmächtigten Verwalter, Herrn Brandt dem Älteren, für einen Pappenstiel erworben, des Amerikaners geringfügige Rechnungen beglichen und nunmehr höflichst die Herausgabe seines Eigentums oder den Verkauf des Gutes verlangt. Der Amerikaner tobte und drohte mit den Gerichten. Frau Amely Brandt stand treu zu ihrem Verehrer, dem sie unnötige Gerichtskosten zu ersparen wünschte. Es wurde ein gütlicher Vergleich geschlossen, und da das von allen Betriebsmitteln entblößte Gut in unserer Geldknappen Zeit unverkäuflich geworden war, so übernahm es großmütig der ehemalige Besitzer Herr Brandt der Ältere zurück und zahlte auch in Papiermark zurück, was einst der geschäftskundige Amerikaner gezahlt hatte, der den Golfstrom rauschen hörte.«

»Brandt,« sagte Friedrich Thorsberg, »Ihre Geschichte wäre zum Totlachen, wenn Sie von ihr nicht am Rockärmel gestreift würden. Aber man kann ja auch den Rock wechseln.«

»Das kann man, Herr Professor. Nur ich kann das nicht. Das Schicksal will nun einmal mit mir sein Späßchen haben. Würde ich eine Scheidung beantragen, so müßte ich gegen die eigene Frau und den eigenen Vater alles zusammenschleppen, was ich mit meinen Augen als gemein und unehrenhaft ansehe. Das wäre ein sauberes Familienbild, mit dem lächerlichen Tugendbold im Mittelpunkt. Und keiner bürgt mir, daß die Gegenpartei sich nicht dennoch reinwäscht und mich als erbärmlichen Angeber der allgemeinen Verachtung preisgibt. Bliebe ein Vergehen gegen die Heiligkeit der Ehe. Das festzustellen, ist mir bis heute erspart geblieben. Im übrigen würde auch hier das Verfahren dieselbe schmutzige Familienwäsche waschen.«

Friedrich Thorsberg sann einem Worte nach, das dem Freunde helfen möchte.

»Nun ist ja das Gut in den Händen Franz Haßlingers, der Sie doch als großjährig gewordener Stiefsohn nichts angeht.«

»Wie Sie irren, Herr Professor. Herr Brandt der Ältere arbeitet länger in solchen Geschäften als der jugendliche Franz Haßlinger bei aller seiner natürlichen Begabung. Herr Brandt der Ältere hat mit seinem Meisterschüler höchstens Halbpart gemacht. Und Frau Amely Brandt wird auch nicht ohne eine hübsche Maklergebühr ihre schönsten Augen angestrengt haben. Nein, bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich jammere ja auch nicht, sondern stelle nur in aller Gewissenhaftigkeit fest. Die schlimmste Heimsuchung eines Menschen ist, sich in seiner Familie als Außenseiter zu fühlen.«

Er hatte seine Zigarre zu Ende geraucht und erhob sich.

»Sie haben mir wieder einmal mit so freundlicher Geduld zugehört, Herr Professor Thorsberg. Ich habe das wohl verspürt. Aber ich behellige Sie nun auch nicht wieder. Das Bild, den Notgroschen, stecke ich hinter Ihren Bücherschrank. Herzlichen Dank. Liegt eine Arbeit für mich vor? Einen geeigneteren Mann können Sie nicht finden.«

»Nein, Brandt.«

»Die große Rheinbrücke steht noch aus. Sie hatten alle Einzelheiten schon mit mir besprochen.«

»Wir wollen noch abwarten, Brandt.«

»Sie haben den Befehl. Vergessen Sie, bitte, nicht, daß ich mich zu jeder Stunde bereit halte.«

Der hagere Mensch ging in aufrechter Haltung hinaus. Mit ruhigem Schritt suchte er seine Werkstatt auf, holte das Bild hervor, verpackte es und versah es mit der Anschrift Professor Friedrich Thorsbergs. Es war dunkel geworden, und er zündete das Licht an. Und es wollte ihn gar nicht seltsam bedünken, daß es darum nicht heller wurde.

Die Wohnung lag leer und still. Selbst die Köchin war nach getaner Arbeit ihre eigenen Wege gegangen.

Eine Heimstätte, dachte der Einsame, aus der sich das Leben hinwegschlich, ist nicht mehr als eine dunkle Höhle.

Langsam ging er in das gemeinsame Schlafzimmer hinüber und blickte sich um. Und er ging hinaus, weil ihn die Unwürdigkeit seiner Lage mit noch stärkerer Macht bedrängte.

Frau Amely kehrte erst zu später Stunde heim. Er befragte sie mit keinem Wort nach ihrem Verbleib. Er wußte, sie log.

»Du wirst in den nächsten Tagen ein wenig Rücksicht üben müssen, Gustav Adolf,« warf sie hin, während sie für die Nacht ihr Haar einflocht. »Unserem Freund Heß ist ein neues Geschäft geglückt. Wirklich, er besitzt ein fruchtbares Hirn. Mit jeder Welle geht er nach oben und greift zu. Nun macht er alle Rücklagen flüssig für einen ganz großen Schlag. Und abergläubisch, wie die Geldleute sind, behauptet er, ich dürfe in dieser Zeit nicht von ihm weichen. Hörst du auch zu, Gustav Adolf?«

»... Du dürftest in dieser Zeit nicht von ihm weichen,« wiederholte der Mann gelassen.

»Also sorge dich nicht, wenn ich auch mal in der Morgenstunde erst heimkomme. Diese Geschäfte werden meistens am späten Abend abgewickelt und mit einem Nachtessen gekrönt, das nicht nach der Stunde fragt.«

Ein Lachen stieg in der Brust des Mannes auf. Ein Lachen darüber, daß er Rücksicht üben möge.

War noch eine Entgegnung am Platz? Ach nein. Falschspieler bekehrt man nicht.

Aber am nächsten Abend folgte er seiner Frau. Er folgte ihr, ohne eine Scham über seinen Ausspähergang zu empfinden. Nur aus einem Reinlichkeitsgefühl heraus folgte er ihr.

Sie ging mit ihren schnellen Schritten unbekümmert durch die Straßen dem Ziele zu. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, daß sie unter den Augen ihres Mannes dahinging. Es war ein Abend gewesen, an dem der Amerikaner ängstlich geforscht hatte, ob Gustav Adolf Brandt nicht ihre Fährte nehmen könnte. Und sie hatte ihm, zurechtweisend, geantwortet: »Du vergissest, Bob, daß du es mit einem anständigen Menschen zu tun hast.«

Sie betrat den Gasthof, in dem sie den Amerikaner breit und sicher auf der Diele im Sessel sitzend fand, ein paar Geschäftsleute mit lebhaften Gebärden um ihn her. Sie nickte den Herren zu und ließ sich ohne Umstände in ihrem Kreise nieder. Bald schon, und sie hatte durch treffende und drollige Bemerkungen die Lachlust angeregt.

Der Amerikaner war tief zufrieden. Er wußte: vom Lachen zur schnellen Unterschrift war nur ein Schritt. Diese Frau hatte ihm der günstigste Wind seines Lebens an die Brust geweht.

Das Geschäft wurde abgeschlossen. Bob Heß rief nach dem Kellner und bestellte einen amerikanischen Trunk. Nach einer Viertelstunde verabschiedeten sich die Geschäftsfreunde unter Lachen und Lärmen.

Mit schmiegsamer Zärtlichkeit ging Frau Amely an des plumpen Amerikaners Seite. Der Mann trug eine Handtasche, und Gustav Adolf Brandt folgte ihnen zu einem Kraftwagenstand. Er vernahm, wie der Amerikaner dem Kraftwagenführer einen Gasthof in Starnberg benannte, und sah sie abfahren.

Sein Herz tat ein paar rasende Schläge – dann schlug es im Gleichmaß.

Was soll mir der Mann? fragte er sich. Er ist doch nur ein Opfer, wie ich es einmal war.

Eine wilde Laune kam über ihn.

»Armer Kerl – auch wenn du sonst ein Rüpel bist.«

Die Kosten für den Kraftwagen konnte er sparen. Er wußte ja, wo die beiden zu finden waren. Sollte er überhaupt noch hinaus? Ja. Das erforderte doch wohl die Gerechtigkeit. Die Anzeichen konnten täuschen. Er hatte den untrüglichen Tatbestand festzustellen, wollte er zum Abschluß gelangen.

Er fuhr mit der Bahn hinaus, ließ sich vom Pförtner das Gastbuch vorlegen und fand als letzte Einschrift: Bob Heß und Frau, Vereinigte Staaten von Nordamerika. Er dankte, sagte, daß er den gesuchten Freund auch hier nicht gefunden habe, und ging. Draußen saß er auf einer Bank nieder, die ihm den Blick auf den Gasthofeingang gewährte. Die ersten gelben Herbstblätter raschelten auf seinen Hut. Er fröstelte zusammen. Der Sommer war vergangen. Auch sein Sommer. Ach nein. Ein Lachen schüttelte ihn. Er war im Aprilwetter stecken geblieben.

Die Abendgäste verließen den Gasthof. Es waren vergnügte Menschen darunter. Gustav Adolf Brandt hatte nicht umsonst seine scharfen Maleraugen. Gegen Mitternacht schloß der Pförtner die Tür und legte den eisernen Riegel vor. Der klirrende Ton ließ den Harrenden auffahren. Er hatte hier nichts mehr zu schaffen. – Am andern Morgen fand Friedrich Thorsberg einen kurzgehaltenen Brief auf der Schreibtischplatte.

»Das Notgroschengeld steckt hinter Ihrem Bücherschrank. Ich weiß nun, daß mir auch das Letzte nicht erspart geblieben ist. Mein Leben gehört von dieser Stunde der Erkenntnis an nur noch dem Vaterland. Gott mit jedem Deutschen.«

Sein Herz stockte. In der Wohnung drüben hörte er Stimmen. Er trat in den Flur hinaus und gewahrte Frau Amely in Hut und Heller Herbstjacke, wie sie am Abend has Haus verlassen hatte, bei der Köchin in der Küche.

»So, so. Verreist ist der Herr. Auf einige Zeit. Das macht er jetzt öfter, und ich dürft' des Alleinseins bald satt sein.«

Friedrich Thorsberg zog die Tür hinter sich ins Schloß. »Glück auf den Weg, Gustav Adolf. Du hast ein gerüttelt Maß verdient. Hoffentlich höre ich bald, wohin du dich geschlagen hast.«

Aber er wurde den ganzen Tag eine heimliche Unruhe nicht aus dem Blute los.

Ob er einmal zu den Kindern fuhr? Die Waldheims konnten draußen sein. Er wollte das Sichkennenlernen nicht stören.

Ferdinand Waldheim aber war schon am vorangegangenen Tage mit Sohn und Tochter nach Starnberg übergesiedelt und ließ sich um die Besuchsstunde mit den Kindern über den See rudern zum Hause Seiner Exzellenz des Generalstabsarztes.

Der alte Herr empfing den Besucher sofort. Frau Charlotte stand mit freundlichen Augen neben ihm.

»Waldheim – Waldheim –« überlegte der alte Herr mit dröhnender Stimme, und das kühle amerikanische Fräulein blickte erstaunt zu ihm auf. »Mein Gedächtnis ist ziemlich vorzüglich. Der Name Waldheim muß mir vor langen, langen Jahren – aha, da hab' ich ihn. Mein Zweiter, der Friedlich, besaß einen Freund und Klassenkameraden des Namens. Damals, als ich noch als Oberstabsarzt drunten am Rhein stand. Den Vater habe ich nicht gekannt. Weshalb nicht, weiß ich nicht.«

»So kleine Handwerksleute blieben in den höheren Kreisen unbekannt, Exzellenz.«

»Also stimmt es? Sie sind der Waldheim aus Dingsda? Freut mich, daß Sie sich meiner und meiner Frau erinnern. Und diese jungen Leute? Ihre Kinder? Alle Wetter, das ist doch Klasse, wenn ich mich noch auf die Augen verlassen kann. Eine Patschhand, schönes Fräulein. Grüß Gott, junger Mann.«

Das schöne Fräulein aber gab ihm keine Patschhand, sondern schüttelte ihm mit zornigen Augen die Hand wie ein Mann.

Und der junge Mann nickte ihm wohlwollend zu und brachte ein paar unverständliche Worte durch die Zähne hindurch.

Mit einer anmutigen Handbewegung griff Frau Charlotte ein. Sie nötigte die Gäste zum Niedersitzen und gab ihrer Freude Ausdruck, daß ihr lieber, immer in Arbeit eingespannter Sohn Friedrich durch den Besuch diese reizende Abwechslung erfahren solle. Sie plauderte so warm, wie nur eine silberweiße Frau es vermag, und doch so sein, wie nur eine Dame von Welt, und die jungen Leute nahmen gleich eine artige und aufmerksame Haltung an und lachten nun auch über die polternden Zwischenbemerkungen Seiner Exzellenz.

»Potztausend! Aber dreißig Jahre in Amerika? Lohnt es sich denn dort noch, nach Gold zu schürfen, verehrter Herr?«

»Die Morgenstunde hat auch drüben noch Gold im Munde, Exzellenz. Ich bin Maschinenbauer.«

»Eine sehr schöne Berufsart, die ihren Mann nährt, wie ich sehe.«

»Außerdem noch zehntausend andere Männer,« warf das kühle amerikanische Fräulein ein. »Mein Vater befiehlt über sechs große Fabriken. Mein Bruder William wird sie noch vergrößern.«

Der alte Herr verbarg seine Verblüffung unter einem kräftigen Räuspern. Dann trat er noch einmal auf Waldheim zu und schüttelte ihm die Hand.

»Nicht des Geldes wegen, Herr Waldheim. Aber ich habe Hochachtung vor jedem Mann, der aus sich heraus ein großes Lebenswerk schafft und eine Klasse für sich bildet. Ich habe auch damit begonnen, dem Musketier Maier ein Senfpflaster auf die verschiedenen Körperteile zu legen – Entschuldigung, meine Damen – und doch zum Schluß den Puls des ganzen Heeres in meiner Hand gehalten. Wollen Sie uns das Vergnügen machen, heute abend mit den jungen Herrschaften bei uns zu speisen?«

Der Deutschamerikaner wandte sich mit einem fragenden Blick an die Hausfrau.

»Mein Mann«, sagte die silberweiße Dame gütig, »hat mir die Bitte vom Munde genommen. Die Gelegenheit, sich in der Ritterlichkeit zu üben, läßt er sich selbst von mir nicht nehmen.«

»Charlotte – –?« grollte der Ritter. Aber es war abziehendes Wetter, hinter dem die Sonne lacht.

»Wir nehmen die hohe Ehre mit großem Danke an, Euer Exzellenz. Ich hoffe bei dieser Gelegenheit auch Friedrichs Kinder Gert und Gertrude wiedersehen zu dürfen.«

Der Generalstabsarzt legte die Hand über die buschigen Brauen und blickte zum Fenster hinaus. Er suchte den See ab. »Kalt,« rief er, stolz auf seine Scharfsichtigkeit, »das können Sie jetzt schon haben. Dort in der Ferne. Halblinks. Das ist mein Boot. Meine Enkelkinder führen die Riemen. Hei, wie das heranfegt. Der Studiosus Walter Lenbach hält das Steuer.«

Die Besucher standen hinter ihm und lugten hinaus. »Serr gutt,« brachte William Waldheim hervor, und diesmal war es der alte Herr, der ihm wohlwollend zunickte.

Das Boot schoß näher heran, und der alte Herr lehnte sich weiter zum Fenster hinaus und tat auf zwei Fingern einen schrillen Pfiff. Die Ruder standen wagerecht in der Luft. Der Mann am Steuer bog im Winkel ab. Das Boot schoß weiter und hielt am Steg des Landhauses.

Ferdinand Waldheim war mit Erlaubnis der alten Herrschaften den Landenden entgegengegangen. Seine Kinder folgten ihm auch ohne diese Erlaubnis. »Gertrude!« rief der Deutschamerikaner, und sein Gesicht glänzte vor Freude.

Sie war bei ihm und griff nach seinen Händen. Ihre Augen leuchteten in die seinen hinein.

»Herr Waldheim!« lachte sie. »Das ist schön, daß Sie Wort halten. Ich habe oft an Sie gedacht.«

»Haben Sie wirklich? Können Sie das beschwören?«

»Uns bindet doch Stärkeres als eine Beschwörung, Herr Waldheim. Eine gemeinsame Erinnerung. Und der Vater inmitten.«

Plötzlich war sie blaß geworden. Ihre Augen zogen sich zusammen. Der Deutschamerikaner gewahrte es. Er wandte sich, um ihr Zeit zu lassen, und rief seine Kinder heran.

»Hier mein Sohn William. Hier meine Tochter Ellen. Und dies ist Gertrude Thorsberg, dies Gert Thorsberg und dieser Herr –«

»Doktor Walter Lenbach,« fiel Gertrude Thorsberg ein. »Ganz frisch gebackener Doktor.« Die jungen Leute schüttelten sich die Hände. Der Deutschamerikaner beobachtete hinter der Brille jede Regung in ihren Gesichtern.

»Nun, William? War ein Wort zuviel? Ist sie nicht das schönste Mädchen der Welt?«

»Sie – rudern – ausgezeichnet, Fräulein Thorsberg,« sagte der junge Amerikaner bedächtig. Dann begab er sich ins Boot und prüfte die Bauart. Die junge Amerikanerin aber hatte sofort die beiden jungen Herren in ein lebhaftes Gespräch gezogen. Über die Größe des Sees. Über die Höhe der Berge. Über die Dauer des Schnees. Und sie verglich das alles mit Amerika.

Am Abend erschienen die Gäste pünktlich zu Tisch. Das erfreute das Soldatenherz des Generalstabsarztes. Aber sein ganzes Herz wurde erst gewonnen, als er sah, mit welcher Unbefangenheit selbst das kühle amerikanische Fräulein dem Schinken zu Leibe ging und von einer gefüllten Taube nicht mehr als das Gerippe übrigließ.

»Und Sie bekommen doch noch eine Patschhand, und wenn es Sie ärgert,« rief er ihr dröhnend zu. »Wer einen gesunden Hunger entwickelt, holt sich auch im Leben kein Magenwehwehchen.«

An diesem Abend wurden Seine Exzellenz und das kühle amerikanische Fräulein Freunde.

Für den nächsten Morgen verabredeten die jungen Leute eine Fahrt in einem Viererboot. Ein jeder prüfte mit den Blicken die körperliche Beschaffenheit des andern. Aber es geschah mit den Blicken von Sportsleuten. Und der Deutschamerikaner, der sich jegliches Verwundern abgewöhnt zu haben glaubte, mußte sich dennoch über die neue Jugend wundern, die eine Gertrude Thorsberg mit sachlichen Sportsblicken zu betrachten vermochte.

Er saß bei dem alten Herrn im Rauchzimmer und mußte vom amerikanischen Leben berichten, denn der alte Herr stellte die Wirklichkeitsmenschen über die Schwärmer und die Hellsichtigen über die Traumsüchtigen. »Glauben Sie es einem alten Mann und Mediziner, lieber Freund: Das Leben hält sich den Brustkorb vor Lachen, wenn es sich so von den Lebenden verkannt sieht. Das Kreuz und Leid ist erst der Tod.«

Die jungen Mädchen aber saßen im Nebenzimmer bei Frau Charlotte auf dem Kanapee, und die stille Weißhaarige hielt die Hände der schönen Blondhaarigen und Braunhaarigen, und sie ließen sich alle drei von den jungen Herren etwas vorplaudern, und am liebsten etwas Hübsches. –

Ferdinand Waldheim hatte das Viererboot abfahren sehen und schritt eine Strecke neben ihm her das Ufer entlang. Bis ihn die Morgensonne blendete und das schlanke Boot nur noch wie ein weißer Strich erschien. Er wandte die Augen dem Wege zu, griff nach der Brille, rückte sie Zurecht und blickte einem Manne nach, der aus einem Landhause kam und trotz seiner plumpen Leibesbeschaffenheit im kurzen Trabe von dannen eilte.

»Robert Heß,« sagte er laut und verwundert.

»So heißt der Mann,« sprach hinter dem Gartenzaun eine weibliche Stimme. »Und Sie sind Herr Waldheim aus Amerika, der dem alten Herrn Heß, meinem lieben Freunde und Lehrer Waldemar Heß, vor Jahren die Grüße seines Sohnes brachte und einen Hundertdollarschein. Wissen Sie noch, wie der große Menschendarsteller und Menschenkenner Waldemar Heß bis zum Schluß bei der Behauptung blieb: Das muß ein anderer Heß gewesen sein? Nun, jedenfalls war es nicht der liebende Sohn, den Sie ihm mit seiner Gabe näherbringen wollten. Der dort drüben so lustig über die Straße trabt, das ist der echte, der Bob Heß, der sich soeben sein großmütiges Darlehen, seinen Hundertdollarschein, wiedergeholt hat. Gottlob, der alte Freund hatte ihn noch, denn noch leben mir von unserer Arbeit, unseren Unterrichtsstunden. Verzeihen Sie diesen Überfall, mein Herr. Aber es freut mich doch, Ihnen als Amerikaner sagen zu können, wie es mich freut, daß die Lumpen in Amerika ebenso üppig gedeihen wie im deutschen Vaterland, und daß in dieser Hinsicht überall mit demselben Wasser gekocht wird.«

Und das alte Fräulein Franziska Großmann machte ihren schönsten Bühnenknicks, eilte durch den Garten ins Haus und verschloß mit vielem Geräusch die Tür.

Verblüfft blickte der Gescholtene ihr nach. Und zornig suchten seine Augen den ehrenwerten Landsmann, der in der Ferne verschwunden war. Ein Fluch stieg ihm auf die Lippen, und seine Gottesfurcht vermochte ihn kaum zu unterdrücken.

»Ah, du Gauner. Du eignest dir meine hundert Dollar an, und ich bekomme als Entgelt dafür den Kopf gewaschen.«

Am Nachmittag fuhr er in die Stadt und teilte Friedrich Thorsberg mit einem jetzt schon lachenden Zorne den Spitzbubenstreich des jüngeren Heß mit, der selbst in der verklungenen Verborgenheit des Vaters den Golfstrom rauschen gehört hatte. Aber Friedrich Thorsberg schien von dem Gehörten nur wundersam erregt zu werden. Er bat den Freund, ihn zu entschuldigen, da er heute noch eine Sitzung habe. Und Ferdinand Waldheim, mit dem Sinn des Amerikaners für alles, was geschäftliche Erledigung heißt, verabschiedete sich alsobald und fuhr nach Starnberg zurück.

Friedrich Thorsberg erwartete mit Ungeduld den Oberst Lenbach. Er berichtete dem Freund sofort, was sich mit Gustav Adolf Brandt zugetragen hatte, wies die kurze Briefseite vor und berührte zum Beweis die Geldbeschaffung des Amerikaners in Starnberg. »Der ekle Mensch zieht seine Außenstände ein, auch die fälschlich auf seinen Namen gebuchten. Vielleicht schlägt er sich zum Gefolge der rheinischen Sonderbündler, als Hehler und Aufkäufer des gestohlenen Gutes, und kehrt als Dollarmillionär nach Amerika zurück. Doch das nur nebenbei. Ich spreche auch nur davon, weil ich von unserem treuen und tapferen Gustav Adolf Brandt nichts – nichts zu sagen weiß.«

»Aber Sie fürchten etwas, Thorsberg. Eine unüberlegte Tat?«

»Eine unüberlegte nicht. Eher eine sehr wohl überlegte. Nein, keinen Selbstmord. Gustav Adolf Brandt wirft sein Leben nicht fort wie einen falschen Groschen. Wenn er es losschlagen will, bestimmt er einen höheren Preis dafür. Dann gibt er es nur um eine Tat.«

»Die Rheinbrücke, Thorsberg?« fragte Lenbach leise und schnell.

»Die Rheinbrücke, Lenbach. Auch ich kann von dem Gedanken nicht los. Brandt hat den Plan mit durchgearbeitet. Brandt war für die Ausführung ausersehen.«

»Und von der Gruppe, die bestimmt war, wußte außer uns nur Brandt die Namen, Thorsberg. Da scheint mir die Feststellung eine leichte. Ich rufe Starnberg an und lasse Gert und Walter herüberkommen. Sie haben sich unverzüglich zu den Gruppenmitgliedern in die Wohnungen zu verfügen und festzustellen, ob alle in München anwesend sind.«

Es war Nacht geworden, als Walter Lenbach und Gert Thorsberg von ihren Nachforschungen heimkehrten. Sie überbrachten die Meldung, daß nicht einer fehle, daß keiner ein neugeplantes Vorgehen auch nur ahne.

Gustav Adolf Brandt hatte München allein verlassen. Das wirkte beruhigend. Aber die Wolken blieben. Drei Tage darauf fuhr jäh der Blitz hernieder.

Friedrich Thorsberg und der Oberst saßen schweigend beisammen und lasen Buchstaben für Buchstaben die Drahtnachricht in den Zeitungen, die von dem tollkühnen Anschlag auf die strengbewachte Rheinbrücke berichtete, das wichtigste Bindeglied zwischen dem Ruhrgebiet und dem gegnerischen Grenzland. Nur ein einziger Mann sei gefaßt worden. Er weigere sich standhaft, seinen Namen zu nennen, und führe keinerlei Papiere bei sich. Die Untersuchung arbeite geheimnisvoll. Der Mann werde vor das Kriegsgericht gestellt und sei nach den Bestimmungen über Gefährdung von Beförderungswegen und Besatzungstruppen als ein Kind des Todes zu betrachten.

»Brandt ...« sagte der Oberst schwer. »Sein Geist muß verwirrt gewesen sein.«

Friedrich Thorsberg griff nach dem Fahrplan. »Ich fahre in einer Stunde. Ich werde Mittel und Wege finden, mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Und wenn unsere ganze Kriegskasse ausgeschöpft würde.«

Mit seiner gesammelten Ruhe und Sicherheit ging Friedrich Thorsberg zu Werke. Es gelang ihm leicht, in der niederrheinischen Stadt Einzelheiten über den Brückenanschlag zu erfahren. Schwerer nur gelang es ihm, an die diensttuenden Unterbeamten des Gefängnisses heranzukommen. Die Wirtschaften in jenem Viertel waren ihm zu bevölkert. Auch traute er der Verschwiegenheit eines Trinkers nicht. Lieber schon stellte er sich vor einem Bäckerladen auf, und hier gesellte er sich zu einem Mann, der aus dem düsteren Gefängnisgebäude kam, seine abgegriffenen Papierscheine zählte und freudlos seine Einkäufe besorgte.

Wie ein einfacher Bürger sprach er ihn an, fragte ihn nach einer Wegrichtung und schritt neben ihm her. Sie redeten von der Schwere der Zeit, von der Geringfügigkeit des Verdienstes und der Unmöglichkeit, eine vielköpfige Familie anständig durch den Tag zu bringen.

»Zu Haus ist das neunte Kind angekommen,« erzählte der Mann. »Das ist gewiß zu viel für einen Gefängnisaufseher. Bevor es auf die Welt kam, hatten sich unter den übrigen acht schon zwei Parteien gebildet. Die Mädchen waren für das Neunte, die Jungens lehnten das Wurm sämtlich ab. Beinahe hätten sich alle geprügelt.«

»Verhalten Sie sich jetzt einmal gänzlich still,« sagte Friedrich Thorsberg nach einer Weile, und sie schritten über ein liegengelassenes Baugelände der Vorstadt. »Hundert Dollar stellen heute ein Vermögen dar. Ich will sie demjenigen geben, der mir eine Zeile an einen deutschen Gefangenen besorgt. Und demselben braven Manne werde ich die zweiten hundert Dollar ausbezahlen, wenn er mir eine Antwortzeile überbringt.«

Er schwieg und schritt ruhig weiter.

»Dieser Mann bin ich,« sagte der Aufseher, ohne mit der Miene zu zucken. »Und der deutsche Gefangene kann nur der Namenlose sein, der die Brücke in die Luft gehen lassen wollte. Wir haben ihn alle gern gewonnen, weil er Tag und Nacht freundlich und heiter bleibt und seine Kameraden nicht um den Tod verrät. Selbst die fremden Soldaten mögen ihn leiden.«

»Erzählen Sie mir, wie es sich zugetragen hat.«

»Er muß irgendwo am Ufer gehockt haben. Seine Kleider wurden nicht aufgefunden. In der Dunkelheit ist er halbnackt an die Rheinbrücke herangeschwommen und hat sich an die Pfeiler geklebt. Ein paar Sprengladungen hatte er schon untergebracht, als ihn das Wachtboot überraschte. Erst schien es, als ob man es mit einem harmlos Verrückten zu tun hätte, so gemütlich stieg der halbnackte Mensch ins Boot über. Dann aber gab es einen Kampf auf Leben und Tod.

»Der Mann stürzte sich der Länge nach auf die Bootsleute, schlug und trat wie ein Tier, brachte den Nachen zum Umkippen und setzte den Kampf im Wasser fort. Erst als er einen Ruderhieb über den Kopf weghatte, ließ er sich an Land schleifen. Seitdem sitzt er furchtlos und heiter in seiner Zelle. Wenn übermorgen das Kriegsgericht zusammentritt, ist er ein verlorener Mann.«

»Ich danke Ihnen, Freund, und vertraue Ihnen. Wer einen Todgeweihten um den letzten Gruß betrügen wollte, wäre schlimmer als ein Judas. Ist mit der Wachmannschaft etwas anzufangen?«

»Es sind Burschen darunter, die das Soldatenspielen gründlich satthaben. Sie würden lieber heute als morgen davonlaufen, wenn sie genügend Geld in die Finger kriegten. Und den deutschen Gefangenen nähmen sie mit.«

»Es muß versucht werden,« sagte Friedrich Thorsberg. »Hier ist ein Postamt. Kommen Sie mit hinein. Ich schreibe den Zettel.«

Und er schrieb in seiner festen Handschrift:

»In der Nacht von morgen auf übermorgen werden Sie befreit. Halten Sie sich bereit. Bestätigen Sie den Empfang.«

Draußen übergab er dem Aufseher den Zettel und den Lohn.

»Ich bringe Ihnen die Bestätigung heute abend sieben Uhr an den Bäckerladen, Herr. Ich habe Nachtdienst und lasse mich für eine Viertelstunde vertreten.«

»Glückauf,« sagte Friedrich Thorsberg und ging seiner Wege. –

Gustav Adolf Brandt saß träumend in seiner Zelle, als der Wärter ihm die Abendsuppe brachte und unter den irdenen Krug einen Zettel schob und einen Stift.

»Beeilen Sie sich, Mann. Wenn ich den Krug hole, muß der Zettel drunterliegen.« Gustav Adolf Brandt nahm den Zettel ohne Erstaunen, als ob er ihn erwartet hätte. Der Meister läßt seinen Gesellen nicht im Stich, dachte er, aber sein Meisterstück muß der Geselle allein machen. Und er schrieb auf die Rückseite des Zettels, ohne daß die Hand ihm zitterte:

»Es war kein überlustiges Leben, das ich von Kind an geführt habe. Aber der Abschluß, dies Leben lassen zu dürfen für das Vaterland, macht alles tausendfältig wieder wett. Gönnen Sie mir den schönen Ausklang. Mein Entschluß ist unabänderlich. Gott mit Ihnen, mit Ihren Kindern und Kindeskindern. Gott mit Deutschland in Ewigkeit.« –

Und der Namenlose stand vor dem fremden Kriegsgericht.

»Meine Herren,« sagte er freundlich, »es hat keinen Zweck, in die Verhandlungen einzutreten. Ich kann Sie nicht als meine Richter anerkennen. Ich bin Deutscher und habe mich gegen deutsches Eigentum vergangen. Nur einem deutschen Gericht bin ich Rede und Antwort schuldig. Nur ein deutsches Gericht vermag über mich abzuurteilen. Was würden Sie von einem Ihrer Landsleute sagen, wenn er sich feiger benehmen wollte als ich? Ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen.«

Die Richter sahen ernst und mitleidsvoll. Es war kein weiteres Wort aus dem sonderbaren Menschen herauszubringen. Und in schweigender Achtung verurteilten sie den Namenlosen zum Tode durch Erschießen.

Der Namenlose aber saß weltentrückt in seiner Zelle. Mit freundlichen Dankesworten hatte er die erneuten Vermittelungsversuche des Aufsehers abgelehnt. Nun war seine letzte Nacht gekommen, und er lächelte ins Weite.

Was ließ er hinter sich? Nichts! Einen Vater, dem jeder Tropfen väterlichen Blutes gefehlt hatte. Eine Frau, die sein leibliches und seelisches Leben zu einer Plattheit herabgedrückt hatte. Alles nicht wert, in dieser Stunde auch nur daran zu denken. Und vor ihm lag ein Ehrentod, der mitberufen sein durfte, vorbildlich auf Deutschlands Jugend zu wirken. Vor ihm lag der Friede und die Liebe im Arme der kaum gekannten Mutter. Ihr Bildnis auf Goldgrund war es, dem er entgegenlächelte ...

Friedrich Thorsberg hatte sich in das Schicksal des Freundes fügen müssen. Der innerste Mensch in ihm erkannte Gustav Adolf Brandts Selbstbestimmungsrecht an. Und es waren dieselben Bilder und Gedanken, die ihn bewegten, wie sie Gustav Adolf Brandts letzte Nacht aus dem Dunkeln ins Helle trugen.

Hinter dem Friedhof sollte der Namenlose im Steinbruch erschossen werden. Friedrich Thorsberg hatte die Kunde durch den Gefangenenwärter erhalten. Die ganze Nacht verbrachte er auf einem von Sträuchern dichtverwachsenen Grabstein des Totenackers und erwartete den Morgen.

In der Morgenfrühe marschierte im Steinbruch ein Zug Soldaten auf. Dragoner trabten an und führten einen Kraftwagen zwischen sich. Gustav Adolf Brandt entstieg ihm und ging aufrecht auf seinen Platz. Man legte ihm die Binde um die Augen. Er riß sie ab und schleuderte sie hoch in die Luft.

»Es lebe – Deutschland ...!«

Und niedergestreckt lag er mit den heiligen Wundmalen tot in den Steinen. – –

*

 


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