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Zwölftes Kapitel

Gleich am ersten Morgen, der nach dem Begräbnisabend folgte, fragte Anton nach »seiner Schuldigkeit«.

Der gute Pastor trotz eigener Armut verzichtete nicht allein auf die ihm zustehenden Gebühren, sondern fand auch Mittel, Kirchenkasse und Totengräber zu befriedigen, so daß Anton diesem letzteren nur den versprochenen blanken Taler zu geben hatte.

Um die Tischlerrechnung war er am meisten besorgt. Mutter Goksch wiederholte ihm zwanzigmal, daß für einen Sarg der Schreiner fordern dürfe, was ihm gut dünke, daß er besser getan hätte, vorher mit Fiebig auszuhandeln, daß es sie teuer zu stehen kommen könne; kurz, sie jagte ihm bedeutende Angst ein, und er lief einigemal zu Fiebig, damit dieser ihm die Rechnung machen möge. Endlich brachte sie Fiebigs Urenkeltochter, ein kleines, dummes, rotbäckiges Mädel, das zugleich einen alten Korb trug. Die Rechnung lautete wörtlich folgendermaßen:

Noda
von Antoni Goksch Korbmacher allhier.
vor Hubelspöhne zum Lager ... macht es nichts nich.
item vor schwarzer Farbe ... macht es 2 gude Gr.
item vor Nägel ... hat sie der Schmied geschenkt.
item vor Bretter zum Sarge ... macht es nichts nich, weil es ein Armer war.
item vor Arbeitslohn ... macht es gar nichts, denn der Korbmacher
soll mir meinen Korb ausbessern,
so hebt sich's.
  ___________________________________
  Summa Summarum 2 gude Groschen
  worüber quittiert Gottfried Fiebig,
Tischlermeister zu Liebenau.

Anton enträtselte mit Mühe des redlichen Greises Schriftzüge, doch begriff er bald den liebevollen Sinn derselben. Er trocknete eine Träne aus seinem Auge, nahm dem Kinde den Korb ab, reichte ihm zwei Groschen und schenkte ihm mit Einwilligung der Großmutter ein silbernes Schaustück, das unter den bescheidenen Kostbarkeiten der Alten einen nicht geringen Rang einnahm. Das Kind sprang lustig davon, voll Freude über den Glanz der kleinen Medaille.

»Er hat selbst nichts übrig«, sprach Anton; »Kinder, Enkel und Urenkel zehren an ihm, und ist doch so gut! Dafür will ich ihm auch einen prächtigen neuen Korb bauen. Den alten, durchgewetzten soll er nicht wieder sehen.«

Und wie ein redlicher Schuldner ging er abermals an die Arbeit für seine Gläubiger.

Unterdessen hatte Theodors Kutscher den großen Stuhlwagen vor die Laube am Schlosse gelenkt. Seine vier Pferde, die der Liebenauer Gasthafer stach, wieherten voll Ungeduld. Doch nur acht Jünglinge bestiegen die Sitze. Des Pastors Söhne blieben, wie sich ja von selbst versteht, über die Herbstferien bis zur Abreise nach H. beim Vater. Und Theodor – wollte auch bleiben. Sein Kutscher war beauftragt, statt der Person des Sohnes ein Briefchen desselben an Herrn van der Helfft mitzunehmen und am nächsten Tage mit einem zweispännigen, leichten Wagen und einem Koffer voll Wäsche und Kleider wieder nach Liebenau zurückzukehren. Theodor gab vor, alles recht genau in Augenschein nehmen zu wollen, und es sei, meinte er, die Ausdehnung des Besitztums zu bedeutend, um es mit einigen flüchtigen Spazierritten abzutun.

Onkel Nasus triumphierte. »Man müßte ja doch ein komplettes Stück Rindvieh sein, wenn man zweifeln könnte, daß er um Tieletunkes willen bleibt. O wir haben ihn! Wir haben ihn!! Und das Satansmädel stellt sich an, als wolle sie nichts von ihm wissen!«

Nicht allein Onkel Nasus – der eigentlich nicht nötig gehabt hätte, sich selbst eine Nase zu drehen, da er in diesem Punkte schon so glorreich versorgt war! – auch Ottilies Schwestern wie des Pastors Söhne ließen sich durch Theodors vielsagendes Schweigen täuschen und gaben sich der Meinung hin, zwischen ihm und der stolzen Spröden bilde sich im geheimen ein dauerndes Verhältnis, das ihn an Liebenau fessele. Ottilie fand es entweder nicht der Mühe wert, sie sämtlich zu enttäuschen, oder sie schwieg zu jeder noch so unzarten Anspielung, nur damit ihr Vater nicht fürder in sie dringen möge; oder schien es ihr gelegen, unter dem gleisnerischen Mantel einer keimenden Neigung für den jungen Sohn des reichen Mannes die längst verborgene Blume strafbarer Liebe noch besser als bisher verbergen zu können? Das letztere hauptsächlich in zarter Rücksicht für Anton, dem sie durchaus die Wahrheit nicht zeigen wollte, teils aus Stolz, denn sie schämte sich ihrer, teils aus Liebe, denn sie wollte ihn durch unerfüllbare Hoffnungen nicht unglücklich wissen.

Anton glaubte denn auch mit herzdurchschneidender, martervoller Wonne der Eifersucht, daß Theodor sein beglückter Nebenbuhler sei, und gab sich den Qualen dieser wahnsinnigsten aller Leidenschaften mit Wollust hin. Dabei jedoch bezweifelte seine reine Seele, daß ihre Gefühle auf würdige Weise erwidert würden, denn er bedachte des Auftrittes mit Bärbel! Und doch wieder fand er im eigenen Busen und im eigenen Schuldbewußtsein die Möglichkeit, daß ein unerfahrener Jüngling hier liebend anbeten und dort zitternd begehren könne: beides zugleich! Und wenn etwas Ähnliches bei ihm möglich gewesen, warum sollte es bei dem welterfahrenen Sohne der großen Stadt unmöglich sein? Was er in sich durchkämpfen mußte, ohne mit einer Äußerung des Vertrauens seinem gepreßten Herzen Luft machen, ohne sich einem befreundeten Wesen seines Alters mitteilen zu dürfen, peinigte den armen Jungen, vorzüglich in schlaflosen Nächten, dermaßen, daß er sich bisweilen den Tod wünschte und geradezu den schwarzen Wolfgang beneidete um sein Ruheplätzchen in der Kirchhofsecke.

Ja, die schlaflosen Nächte!

Es ist ein großer Segen für die Jugend, daß sie so willig und gut zu schlafen versteht. Der Schlaf ist nicht nur dienlich zur Stärkung ermüdeter Glieder, auch als Tröstung für Leiden bleibt er unschätzbar. Und wie oft legt sich ein Jüngling, sein Kopfkissen mit Tränen befeuchtend, nieder: voll von schwermütigem Liebesgram seufzend, gleich einer alten Kirchturmsfahne im Abendwind – ehe noch fünf Minuten vergangen, schläft er wie ein Sack und verschläft neun Zehnteile alles Jammers. Wenn er erst so weit kommt, daß er nach einem Stündchen unruhigen Schlummers aufschrickt, völlig munter wird und dann die Sekunden zählt, bis nur wieder ein Tag anbrechen will ... dann steht es übel mit ihm.

Auf diese Weise vergingen unserem Freunde verschiedene Nächte – schlichen ihm dahin seit dem Erntefeste. Wolfgangs Leiche – Bärbel mit den Goldstücken in der Hand – Theodor auf dem Schlosse – Ottilie neben ihm – Onkel Nasus ein schwarzes Pflaster im Gesicht – Pastors Magd mit der Stallaterne – diese drei Paare tanzten, sobald er die Augen zu schließen versuchte, einen Walzer um ihn her, wozu er selbst auf Carinos Geige aufspielen mußte; dann wollten seine Finger nicht gehorchen, und das Bemühen, sie zu regen, weckte ihn aus schon begonnenem Schlafe immer wieder auf. Vergaß er sich und suchte er durch einen tiefgeschöpften, seufzerähnlichen Atemzug die Brust zu erleichtern, fragte die Großmutter aus ihrem Stübchen in die Kammer hinein: »Schläfst du, Anton?« Worauf er jedesmal, sie zufriedenstellend, erwiderte: »Ja, Großmutter, sehr gut.«

Wie ungeduldig heftete sich sein blaues Auge ans Fensterlein neben der Lagerstätte, die Nacht da draußen zu befragen, ob sie denn nicht bald dem lieben Tage Raum gönnen wollte, damit man zur Arbeit schreiten und sich an ihr zerstreuen könne. Denn bei Nacht durfte er nicht aufbleiben, das litt Mutter Goksch durchaus nicht.

Eine Nacht nun wollte gar kein Ende nehmen. Zweimal schon hatten finstere, quälende Träume, wie der Alp drückend, ihn erweckt, und noch keine Spur von Morgendämmerung! Da wendet er sich abermals nach dem kleinen Fenster hin und flüstert: »O, ihr goldenen Sterne, seid ihr denn eurer so viele Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf euch auch so vielerlei Menschen? Und machen sich die auch so vielerlei Kummer und Not? Dann weiß ich wirklich nicht, wem dies alles frommt! Weiß nicht, zu wessen Freude so viele leiden! Dann muß ich zweifeln an der Güte des Schöpfers. Ach, lieber Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gib mir meinen Frieden wieder und mein ruhiges Kinderglück! Verstoß mich nicht! Hörst du? Und wenn du mich hörst, gib mir jetzt gleich ein Zeichen!«

Kaum waren die letzten Silben dieses naiven Gebetes gesprochen, als Anton den Himmel und der Sterne hellen Schein nicht mehr sah; ein Vorhang schien das kleine Fenster zu verdunkeln. Bald entdeckte er ein menschliches Angesicht, das ihm die Aussicht raubte. Er erhob sich von seinem Lager, nahm eine kniende Stellung ein und sah nun deutlich, daß die Glasscheiben ihn von zwei Augen trennten, die feuriger glühten als Sterne. Sie konnten nur der braunen Bärbel gehören. »Öffne!« klang es durchs dünne, in Blei gefaßte Glas. Er gehorchte. Jetzt begann ein leiser Wortwechsel:

»Geld und Gold steckt er mir zu. Schön ist er auch. Du bist schöner, mir gefällst du besser. Willst mein Liebster sein, und ich schenk' dir seiniges Gold. Langer Samuel hat mich geprügelt, bin ich ihm davongelaufen, geh' nimmermehr zu ihm. Bin sein' Schwester nit. Dein Fensterl ist klein, kann ich schon durch; ich bin glatt wie Schlange. Laß mich zu dir!«

»Bärbel, das geht nicht. Meine Großmutter schläft drinnen und hört jeden Laut.«

»Komm' zu mir! Komm' heraus!«

»Ich darf nicht.«

»Du darfst, was du willst. Bist ja nit kleiner Bube! Schon ein junger Kerl bist du.«

»Ich liebe eine andere!«

»Und mich hast wollen küssen? Warum hast gezittert und mich umarmt im Garten bei Schloß? Lieb', wen du willst, aber geh' mit mir!«

»Niemals darf ich mit dir gehen, Bärbel. Ich hab's dem Toten versprochen.«

»Wem? Toten?«

»Dem schwarzen Wolfgang. Er leidet's nicht. Es war sein letztes Wort.«

»Hu! Dem Schwarzen? War wilde Teuxel!«

»Er steigt aus dem Grabe, hat er geschworen, als Gespenst und jagt uns auseinander.«

»Halt Maul! Mir furchtet! – Also nix is mit uns zwei?«

»Nichts, Bärbel, gar nichts. Ich darf nicht.«

»Auch gut. Aber großer Narr bist du, Toni, Jesus Maria, schrecklich großes Narr, daß du hast Wort gegeben an schwarzen Wolf. Bärbel nimmt jetzt jungen Herr aus der Stadt. Bärbel wird vornehmes Mensch, zieht auch in Stadt. Esel und Gansel in Schloß glauben, er schaut auf Baronmädel! Nix da! Auf mich schaut reicher Bub'! Muß tun, was Bärbel will. Ha, Bärbel is gar pfiffiges Weibsbild. Wird werden Frau Theodor, weil du sie nicht hast mögen. Adio, schönes Toni!«

Die letzten drei Worte sprach sie, obwohl bereits vom Kammerfenster verschwindend, so laut, daß der Schall derselben bis ins Nebenzimmer drang, und daß die Großmutter ängstlich rief: »Redest du im Schlafe, Anton?«

Dieser schloß den Fensterflügel langsam und vorsichtig und sagte dann: »Ich glaube, es war so was. Mir träumte gerade, ich wäre eine vornehme Dame.«

»Unsinn«, erwiderte die Alte zurück, »wie kann ein vernünftiger Mensch solche Torheiten träumen?« – Dann entschlief sie wieder.

Woran es lag, daß unser Freund auch schlief, nachdem nur etliche Minuten seit Bärbels Rückzug verlaufen waren, daß er freier atmete, daß er sich getröstet wähnte, wer mag es genügend erklären? Dennoch war es so. Er fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. Er vermochte, ohne Schmerz an Ottilie – er vermochte zu denken: sie ist es nicht, die den jungen Herrn in Liebenau zurückhält. Auch war er mit sich und seinem Benehmen gegen die Verführerin zufrieden. Er freute sich, dem schwarzen Wolfgang Wort gehalten zu haben. Er versenkte sich in mildere Träume, als die jüngst vergangenen Nächte ihm gegeben; ging träumend mit Tieletunke auf einer grünen Wiese spazieren; er und sie waren noch Kinder: ... und wie er sich bückte, ihr ein Vergißmeinnicht zu pflücken, dachte er noch im Halbschlafe: ich danke dir, lieber Gott, du hast mein Gebet bald erhört.


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