Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden
Wilhelm von Humboldt

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Der vereinsamte Weise. (1829-1835)

An die Tochter Adelheid.

Berlin, 17. April 1829.

Ich danke Dir herzlich, beste Adelheid, für Deine freundlichen Zeilen vom 13., durch die wir wissen, daß Ihr, liebste Kinder, glücklich bis Glogau gekommen seid.

Ich hätte Dir auf jeden Fall heute geschrieben, und es ist mir um so erfreulicher, einen so lieben und herzlichen Brief beantworten zu können. Du hast sehr recht, gutes Kind, wenn Du sagst, daß im Anblick der freien Natur und ihrem, von allen menschlichen Ereignissen unabhängigen regelmäßigen Wechsel etwas höchst, wenngleich wehmütig Beruhigendes liegt. Der einzig wahre Trost bei so unglücklichem, nie zu ersetzendem Verluste ist überhaupt nur der, im Geiste die enge Schranke der irdischen Wirklichkeit zu verlassen und an die Unendlichkeit anzuknüpfen, und dazu eröffnen sich zwei Wege. Die Seele der Entschlafenen ist der Bande ledig, die sie hier hemmen, und so wie man die Zuversicht in sich trägt, daß der Tod nicht eine Vernichtung des menschlichen Daseins ist, gibt er das sicherste Zeugnis von einem schöneren und höheren Jenseits. Was aber die irdische Hülle betrifft, so gehört sie der Natur an, und wie man die Natur im großen betrachtet, erscheint der Tod wieder als eine wohltätige und heilende Macht. Es kann im Vergänglichen nichts Bleibendes sein, und der Staub des einzelnen mischt sich mit dem Staube des Alls. Aber auch die Natur hat in der Saat, in den jährlichen Vorgängen die schönen Sinnbilder des Sprießens neuen Lebens aus vorhergehendem Untergang, und alles predigt dem Menschen, daß er in keinem Zustand unveränderlich veralten soll, daß aber aus jeder scheinbaren Vernichtung immer neues Leben hervorkeimt...

An Charlotte Diede.

Tegel, 18. Mai 1829.

... Ich schrieb Ihnen neulich von dem Tode eines vertrauten Freundes, in dem ich sehr viel verloren habe. Jetzt blühen nun schon Frühlingsblumen auf seinem Grabe, wie auf dem meiner Frau. So geht die Natur ihren ewigen Gang fort und kümmert sich nicht um den in ihrer Mitte vergänglichen Menschen. Mag auch das Schmerzhafteste und Zerreißendste begegnen, mag es sogar eine unmittelbare Folge ihrer eigenen gewöhnlichen Umwandlungen oder ihrer außerordentlichen Revolutionen sein: sie verfolgt ihre Bahn mit eiserner Gleichgültigkeit, mit scheinbarer Gefühllosigkeit. Diese Erscheinung hat, wenn man eben vom Schmerz über ein schon geschehenes Unglück oder von Furcht vor einem drohenden ergriffen ist, etwas wieder schmerzlich Ergreifendes, die innere Trauer Vermehrendes, etwas, das schaudern und starren macht. Aber so wie der Blick sich weiter wendet, so wie die Seele sich zu allgemeinen Betrachtungen sammelt, so wie also der Mensch zu der Besonnenheit und Ergebung zurückkehrt, die seiner wahrhaft würdig sind, dann ist gerade dieser ewige, wie an eherne Gesetze gefesselte Gang der Natur etwas unendlich Tröstendes und Beruhigendes. Es gibt denn doch auch hier schon etwas Festes, einen ruhenden Pol in der Flucht der Erscheinungen, wie es einmal in einem Schillerschen Gedichts sehr schön heißt. Der Mensch gehört zu einer großen, nie durch einzelnes gestörten noch störbaren Ordnung der Dinge; und da diese gewiß zu etwas Höherem und endlich zu einem Endpunkte führt, in dem alle Zweifel sich lösen, alle Schwierigkeiten sich ausgleichen, alle früher oft verwirrt und in Widerspruch klingende Töne sich in einen mächtigen Einklang vereinigen, so muß auch er mit eben dieser Ordnung zu dem gleichen Punkte gelangen. Der Charakter, den die Natur an sich trägt, ist auch immer ein so zarter, keine, auch die feinste Empfindung verletzender. Die Heiterkeit, die Freude, der Glanz, den sie über sich verbreitet, die Pracht und Herrlichkeit, in die sie sich kleidet, haben nie etwas Anmaßendes oder Zurückstoßendes. Wer auch noch so tief in Kummer und Gram versenkt ist, überläßt sich doch gern den Gefühlen, welche die tausendfältigen Blüten des sich verjüngenden Jahres, das fröhliche Zwitschern der Vögel, das prachtvolle Glänzen aller Gegenstände in vollen Strahlen der immer mehr Stärke gewinnenden Sonne erwecken. Der Schmerz nimmt die Farbe der Wehmut an, in welcher eine gewisse Süßigkeit und Heiterkeit selbst ihm gar nicht fremd sind. Sieht man endlich die Natur nicht wirklich als das All, als das die Geister- und Körperwelt vereinigende Ganze an, nimmt man sie nur als den Inbegriff der dem Schöpfer dienenden Materie und ihrer Kräfte, so gehört nicht der Mensch, sondern nur der Staub seiner irdischen Hülle ihr an. Er selbst, sein höheres und eigentümlicheres Wesen tritt aus ihren Schranken heraus und gesellt sich einer höheren Ordnung der Dinge bei. Sie sehen hieraus ungefähr, wie mich der zwar langsam erscheinende, aber schöne Frühling ergreift, wie ich ihn genieße, wie er sich mit meinen innersten Empfindungen mischt. Es gibt Ihnen zugleich ein Bild meines Inneren selbst. Mein Leben kann keine wahrhaft freudigen Eindrücke, nur wehmütige und traurige in diesem Augenblicke erfahren; und wenn ich »in diesem Augenblicke« sage, so tue ich das nur, weil ich nie gern etwas von der Zukunft sage, weil ich von aller Affektation immer frei gewesen bin, und wenn eine wahrhaft fröhliche Stimmung in mich zurückkehrte, ich es gar kein Hehl haben würde zu sagen und kein Bedenken, mich ihr zu überlassen. Eigentlich glaube ich aber allerdings, daß meine jetzige Stimmung auch meine künftige sein wird. Ich habe nie begriffen, wie die Zeit einen Schmerz um einen Verlust soll verringern können. Das Entbehren dauert durch alle Zeit fort, und die Linderung könnte nur darin liegen, daß sich die Erinnerung an den Verlust schwächte oder man sich gar im Gefühl des Alleinstehens enger an ein anderes Wesen anschlösse, was, hoffe ich, mir ewig fernbleiben wird, wie es jeder edlen Seele fernbleibt. Es ist mir aber auch sehr recht, daß es in mir bleibe, so wie es ist. Ich habe für mich das Glück nie in freudigen, das Unglück nie in schmerzhaften Empfindungen gesucht, das, was die Menschen gewöhnlich Glück und Unglück nennen, nie so angesehen, als hätte ich ein Recht zu klagen, wenn statt des Genusses des ersteren das letztere mich beträfe. Ich bin eine lange Reihe von Jahren an der Seite meiner Frau unendlich glücklich gewesen, großenteils allein und ganz durch sie und wenigstens so, daß sie und der Gedanke an sie sich in alles das mischte, was mich wahrhaft beglückte. Dies ganze Glück hat der Gang der Natur, die Fügung des Himmels mir entzogen und auf immer und ohne Möglichkeit der Rückkehr entzogen. Aber die Erinnerung an die Verlorene, das, was sie und das Leben mit ihr in mir gestiftet hat, kann mir kein Schicksal, ohne mich selbst zu zerstören, entreißen. Es gibt glücklicherweise etwas, das der Mensch festhalten kann, wenn er will, und über das kein Schicksal eine Macht hat. Kann ich mit dieser Erinnerung ungestört in Abgeschiedenheit und Einsamkeit fortleben, so klage ich nicht und bin nicht unglücklich. Denn man kann großen und tiefen Schmerz haben und sich doch darum nicht unglücklich fühlen, da man diesen Schmerz so mit dem eigensten Wesen verbunden empfindet, daß man ihn nicht trennen möchte von sich, sondern gerade indem man ihn innerlich nährt und hegt, seine wahre Bestimmung erfüllt. Die Vergangenheit und die Erinnerung haben eine unendliche Kraft, und wenn auch schmerzliche Sehnsucht daraus quillt, sich ihnen hinzugeben, so liegt darin doch ein unaussprechlich süßer Genuß. Man schließt sich in Gedanken ab mit dem Gegenstande, den man geliebt hat und der nicht mehr ist, man kann sich in Freiheit und Ruhe überall nach außen hin wenden, hilfreich und tätig sein; aber für sich fordert man nichts, da man alles hat, alles in sich schließt, was die Brust noch zu füllen vermag. Wenn man das verliert, was einem eigentlich das Prinzip des gedankenreichsten und schönsten Teils seiner selbst gewesen ist, so geht immer für einen eine neue Epoche des Lebens an. Ich empfinde keine Freude der Natur schwacher als sonst; nur die Menschen meide ich, weil die Einsamkeit mir inneres Bedürfnis ist.

An Karoline von Wolzogen.

Tegel, 18. Juli 1829.

Sie müssen mir nicht böse sein, liebste Freundin, daß ich Ihren liebevollen Brief vom 27. April erst heute beantworte. So unendlich gern ich mit denen, die übereinstimmend mit mir denken und fühlen, spreche, so wenig gereizt bin ich eigentlich zum Briefschreiben, und dann kommen eine Menge von Geschäften und Arbeiten an, die sich nicht zurückweisen lassen. So vergeht ein Tag nach dem anderen, ohne daß in irgendeiner Art etwas Bedeutendes geschieht ...

Ich bin durchaus entschlossen, von jetzt an mein inneres Sein keiner gesellschaftlichen Konvenienz mehr zu opfern, und meine Lage verstattet mir, es durchzusetzen. Meine Schwiegertochter ist mit ihren kleinen Jungen hier, Hedemanns kommen sehr oft, und sie bleibt oft Tage und Wochen ununterbrochen hier. In diesem kleinen Kreise verläuft mein Leben in freundlicher Ruhe und im Andenken an die Vergangenheit. Die große innere Angelegenheit des Menschen, ja man kann sagen, die größte innere Pflicht ist, sich in allen Wendungen des Schicksals mit seiner äußeren Lage ins Gleichgewicht zu setzen. Glück und Unglück sind doch nicht Dinge, auf die es im Leben eigentlich ankommt. Auch der Schmerz, und gerade er, hat eine hohe tröstende Kraft, ja eine unaussprechliche Süßigkeit, wenn er sich wie Efeu ums Herz rankt. Er hat, selbst wenn er untergräbt, sein eigen sprießendes Leben. In jedem Menschenschicksale, und wäre es scheinbar das traurigste, liegt ein Keim eigener geistiger Entfaltung und zugleich wieder innerer Befriedigung, wenn das Gemüt nur still und empfänglich genug ist, sich ganz in das zu versenken, was das Geschick Freudiges und Schmerzliches bringt. Jeder mag sich seinen Lebenszweck stecken, wie es ihm seine Muse gebietet, und ich möchte mit keinem darüber rechten. Aber der meinige, mein wahres, inneres Lebensprinzip ist immer das gewesen und wird es ewig bleiben: alles, was das Leben herbeiführt, alle menschlichen Schicksale, die mich treffen können, immer voll in mich aufzunehmen, sie mich ganz durchwirken zu lassen, sie in Einklang mit dem zu bringen, was unwandelbar in mir ist und in jedem sein muß, und so mit dem Gefühl von der Erde zu scheiden, alles, was sie mir darbot, genossen und gelitten, und mein Erdenschicksal erfüllt zu haben. Denn wie man auch hin und her nachdenken mag, so bleibt doch, sobald man den vergleichungsweise immer kleinlichen Tumult der Privat- und öffentlichen Begebenheiten verläßt, von der ganzen Menschengeschichte nichts übrig, als daß Millionen von Geschlechtern die Phasen ihres irdischen Daseins, wie die Raupe, die sich verpuppt, nacheinander vollenden. Die Natur um uns tut sichtlich dasselbe; der Planet, den wir bewohnen, und seine Bahn führt gewiß auch dahin. Es ist eine bewunderungswürdige und die Betrachtung großartig anziehende Anordnung, daß, indem das Wirken jedes einzelnen immer vorübergehend und kurzdauernd ist, es nun auch Mittel gibt, die das Wirken fortpflanzen und sogar gewissermaßen verewigen, und daß, indem das Schicksal des einzelnen lauter abgerissene Fäden bildet, wir wieder sehr lange und in sichtbarem, auch idealischem Zusammenhange durch große Teile der Erdgeschichte gehen, so daß sich daraus ein dem Ganzen des Menschengeschlechts und dem Planeten selbst angehörender Zusammenhang bildet. Der einzelne scheint nur für diesen Zusammenhang dagewesen zu sein, an dem er aber nicht weiter teilnimmt. Auf das Leben, das er geführt hat, übt dieser Zusammenhang allerdings großen Einfluß aus, indem er die Lage bestimmt, in der jeder Neugeborne in die Welt eintritt. Voll benutzt wird aber dieser Zusammenhang nur von dem, der ihn im Geist überschaut, und es leuchtet daher doch daraus hervor, daß in der Absicht der Weltordnung dennoch der Gedanke, was er erfaßt und hervorbringt, das Wichtigste ist. Der Gedanke aber ist nur im Individuum vorhanden, und so ist der letzte Zweck nur in diesem. Daraus fließt für mich die Überzeugung, daß, wenn der Mensch auch einmal da ist, bloß um das Erdenleben des Staubes, aus dem er gebildet ist, von dem Augenblicke des Werdens bis zum Vergehen zu durchlaufen, dann um auf jede Weise um sich her in Liebe und Pflicht so zu wirken, daß er bereit ist, in jedem Augenblick diesem Wirken sein Dasein zu opfern, sein letztes Ziel doch nur am Ende das ist: bereichert durch die geübte Kraft, mit allem aus dem Leben zu scheiden, was ihm das Leben gegeben hat. So stirbt er furchtlos und versöhnt ohne Erdensehnsucht, da ihm die Erde nur Stoff zu einer Bearbeitung darbot, mit ehrfurchtvoller Scheu, aber auch mit wißbegieriger Spannung auf die Zukunft gerichtet. Mit allem Lieben, was ihm vorangegangen ist, tritt er nun, was das seligste und einzig gewisse Gefühl in dem Augenblick ist, wo alles Dunkel und Rätsel ist, in gleiches Los. Sie, die er entbehren mußte, deckt die Erde, ihn wird sie decken; sie kann die Erde nicht gefangen halten, auch ihn wird sie nicht fesseln. Was er Teures zurückläßt, kommt ihm bald nach. Die kleinen Spannen irdischer Zeit verlieren in dem Augenblick, wo für ihn alles Zeitliche zusammensinkt, alles Maß. So ist alles harmonisch in ihm und geht in Ernst und süße Wehmut auf, die überhaupt das beglückende Gefühl alles Menschenschicksals, selbst der Freude ist. Wenn ich das alles immer sonst empfunden habe, so empfinde ich es jetzt doppelt. Ich bin ruhig und klar in mir, bedarf keines Trostes, eigentlich keines Menschen, kann mich nicht unglücklich nennen; aber ich sehne mich auch nach keiner Freude zurück, die mir nicht aus meinen inneren Gedanken und Beschäftigungen entspringt und aus den Empfindungen, die mich an das Verlorene und an die Vergangenheit knüpfen, und sehe die Erdendinge wie aus einem fernen Gesichtspunkte an. Denn eine große Wohltat, welche die Teuren, die wir verlieren, an uns noch im Tode und still in ihrem dunkeln Grabe ruhend üben, ist, daß sie uns immer mehr und mehr dem Hängen an der Welt und dem, was ihr angehört, entziehen. Auch im höchsten und zerreißendsten Schmerz ist es ein unrichtiger Ausdruck, daß man mit ihnen stirbt; aber sie ziehen uns, soweit es das Irdische erlaubt, mit sich in ein inneres, freier atmendes Leben empor. Darum heftet sich auch bis auf den letzten Atemzug dauernde Dankbarkeit an sie. Denn aller Friede, jede geheime und süße Empfindung, jedes erfreuende und erhebende Rück- und Vorwärtsdenken kommt mir noch immer von ihr und wird mir bis zum Ende von ihr kommen. Die meisten Menschen haben gar keinen Begriff von dem Glücke, das ein Gefühl zu geben vermag, wenn man es zum begleitenden des Lebens macht, wenn es so mit tausend Armen das Dasein umschlingt, sich mit allen gattet und wächst und überall das Leben erhöht. Jedes würdige und erhebende Gefühl gewinnt erst eigentlich recht durch die Dauer. In wenigen Tagen wird nun das Grabmal für die gute Li hier angefangen, und ich hoffe, wir bringen sie noch in diesem Jahre hier in unsere Nähe. Es ist ein überraschendes, aber schönes Wort Ihres Briefes, teure Freundin, daß auch vielleicht dem Toten noch die Nähe der Liebsten süß ist. Für unser Gefühl liegt eine große Wahrheit darin. Denn wir denken uns doch noch immer von den Toten unsichtbar umschwebt. Gibt es aber eine solche fortdauernde Gemeinschaft, so ist dem Abgeschiedenen nichts in uns verborgen. Er sieht unser ganzes Inneres, und darin liegt eine neue Beruhigung. Die schönsten Falten der Seele, die das Leben zart genug ist, ans Licht zu bringen, bewahren doch auch die teuersten, am meisten das ganze Wesen durchdringenden Gefühle. Wo der Mensch wahrhaft geliebt wird, glaubt er es nie in dem Grade zu sein, in dem er es ist. Die Liebe übersteigt immer den Glauben an sie...

An Charlotte Diede.

Tegel, 7. Dezember 1829.

Ich habe, liebe Charlotte, Ihren gütigen Brief vom 1. empfangen und beantworte ihn schneller, wenn auch nur kurz, als ich sonst pflege, um Sie über eine ganz unrichtige Sorge, die Sie sich machen, zu beruhigen. Wenn ich Ihnen schrieb, daß mir das Schreiben lästig ist, so ist das eine ganz natürliche Folge der Jahre. Allein ich bin weder krank noch altersschwach, und Sie brauchen sich nicht die mindeste Sorge um mich zu machen.

Auch auf Ihre Bitte, wie Sie es nennen, muß ich gleich antworten. Es tut nicht gut, daß so etwas lange ungewiß ist. Ich erkenne Ihre Gesinnungen vollkommen und ehre sie und danke Ihnen dafür. Deuten Sie mir nicht übel, was ich Ihnen sagen muß. Denken Sie aber nicht daran, hierher zu kommen oder um mich zu sein. Ich erkenne den Wert Ihres edlen Anerbietens; aber ich kann es nicht annehmen und bitte Sie inständigst, dessen, wie auch ich tun werde, nicht mehr zu erwähnen. Ich bedarf niemandes, meine Kinder sind aber, so oft ich will, um mich; die Gegenwart von jemand, der nicht zu meinem Familienkreis gehörte, würde mich in meinem ganzen Wesen stören. Ich führe ein glückliches Leben, so wie ich es nach meinem Verluste kann. Ich will gern für die, an denen ich teilnehme, tun, was in meinen Kräften ist; aber ich bin durchaus nicht in der Stimmung, etwas Persönliches von anderen zu empfangen. Ich kann und mag jetzt und auf immer nur allein sein. Mit meinen Kindern bin ich es, mit einem anderen könnte ich es nicht. Ich kann Ihnen versichern, daß ich dasselbe vor ein paar Monaten einer Frau geschrieben habe, die mir auch dies Anerbieten machte und eine Freundin meiner verstorbenen Frau und meiner ältesten Tochter ist. Ich erkenne gewiß, liebe Charlotte, den Wert Ihrer Empfindungen für mich, und nehme aufrichtigen Anteil an Ihrem Schicksal. Es macht mir Freude, etwas für Sie tun zu können, Ihnen zu schreiben, Ihre Briefe zu empfangen. So ist unser Verhältnis, wie es sein kann, wie es sein soll, wie es uns beiden wohltätig ist. Lassen Sie es so ruhig und ungestört bleiben, bis eine höhere Hand dem einen oder anderen von uns die Fesseln des Lebens löst. Briefe, aus denen, wie aus Ihren letzten, eine solche Unruhe blickt, beunruhigen mich wieder und rauben den schönen Genuß einer Freundschaft, die nur gemeinschaftliche Ideen umtauschen will und frei von allen leidenschaftlichen Empfindungen ist. Noch einmal, mißdeuten Sie meine Worte nicht und verkennen Sie nicht meine Teilnahme. Es gibt aber Dinge, die zu sehr die innere Ruhe angehen, als daß man sie nicht offen und gleich sagen müßte. Leben Sie herzlich wohl. Gewiß mit den aufrichtigsten und unveränderlichsten Gesinnungen der Ihrige H.

Tegel, 18. Dezember 1829.

Sie können gar nicht fühlen, liebe Charlotte, welche Freude Sie mir durch Ihr pünktliches Schreiben am 15. gemacht haben, und durch den ruhigen Ton Ihres gütigen lieben Briefes. Ich kann Ihnen nie genug dafür danken. Lassen Sie es sich nicht gereuen, jene beiden Briefe geschrieben zu haben. Sie haben mich allerdings sehr beunruhigt. Warum soll aber der Mensch nicht auch einmal beunruhigt werden? Man muß nicht immer auf Rosen liegen. Sehr wert werden mir immer diese Briefe bleiben wegen der Gesinnungen, die sich darin aussprechen. Seien Sie ruhig und gewinnen Sie die Heiterkeit wieder, die auch die Wehmut zuläßt. Ich verlasse Sie nie. Aber Sie müssen vertrauen und folgen. Vertrauen und unbedingter Gehorsam gegen mich werden Sie nie gereuen; wenn auch dann nicht immer geschieht, was Sie für gut halten, sondern Sie auch Ihren Willen gegen den meinigen aufgeben müssen. Leben Sie für heute wohl! Ich bin gesund, aber sehr beschäftigt. Ich will bestimmt, daß Sie diesen Brief mit umgehender Post beantworten sollen. Ihr H.

Ich wünsche, daß Sie sich künftig nicht mehr mit Anfangsbuchstaben, sondern ausgeschrieben entweder Charlotte oder Charlotte Hildebrand unterschreiben.

An Welcker.

Tegel, 29. Januar 1830.

... Das Grabmal meiner Frau ist nun auch im Herbst hier fertig geworden. Es besteht in einer 12 Fuß hohen, sehr schön polierten Granitsäule mit Sockel und jonischem Kapital von weißem Marmor. Die Säule steht auf einem Postamente, welches die Inschrift trägt, und dieses wieder auf vier Stufen. Postament und Stufen sind von grauem Marmor. Auf der Säule wird die Statue der Hoffnung im äginetischen Stile stehen, welche meine Frau vor langer Zeit selbst bei Thorwaldsen bestellt hatte, und die jetzt unterwegs ist. Ob ich aber die Statue selbst der Witterung aussetze oder eine Kopie davon machen lasse, ist noch nicht entschieden. Vor den Stufen des Grabmales ruht der Körper in der Erde an der Seite, wo man das Haus im Gesicht hat; die Umfassung ist auf der hinteren Hälfte ein steinerner Halbkreis, welcher zugleich eine Bank bildet, an den sich vorne ein eisernes Gitter in viereckiger Form anschließt. Das Ganze steht an einem Fleck, der auf der einen Seite von einer großen Eiche und dunklen Tannen beschattet ist, aber übrigens freie Aussicht auf das Feld und den See hat. Die Entfernung vom Hause ist zwar mäßig, aber doch so, wie die Stille eines Grabes sie fordert. Ich hoffe immer, daß Sie in diesem oder dem nächsten Jahre einmal herkommen und mich hier besuchen werden. Auch das Museum verdient die Reise; es wird am Ende des Sommers vollkommen imstande sein und enthält große Schätze, teils solche, die man nur bisher nicht kannte, teils zugekaufte.

Über das, was Sie mir gütigst geschickt haben, teuerster Freund, kann ich Ihnen heute nichts sagen, als Ihnen auf das herzlichste dafür danken. Ich erfahre leider, daß man nicht in dem Maße viel vor sich bringt, indem man viel Zeit hat. Aber es liegen mir eine Menge Privatgeschäfte zur Last. Ich arbeite jetzt langsamer, und alle Arbeiten über Sprachen haben das Unangenehme, daß man nicht unterlassen kann, in ein großes lexikalisches und grammatisches Detail einzugehen. Ich bin aber in diesem Augenblick bei einer Arbeit, die, wenn ich sie durchführen kann, wie es mein Plan ist, auf einmal alle Ideen, die ich über Sprache bisher gefaßt habe, aufhellen und klarer entwickeln wird – ja durch die ich mir schmeichle, die Kenntnis der Sprachbildung überhaupt um ein großes weiter zu bringen. Ich habe mich schon seit längerer Zeit mit den malayischen Sprachen beschäftigt, besitze dazu Hilfsmittel, die man teils nicht hatte, teils nicht benutzte, und glaube nun in diesen Sprachen und in ihrem Verhältnis auf der einen Seite zum Chinesischen, auf der anderen zum Sanskrit den Punkt gefunden zu haben, aus welchem sich die hauptsächlichsten Verschiedenheiten der Sprachbehandlung sowohl in Absicht der Grammatik als der Wortbildung übersehen lassen. Meine Arbeit wird zunächst im Einzelstoff nur die malayischen Sprachen betreffen, aber sich in Absicht der Sprachgrundsätze über alle südasiatischen verbreiten, überhaupt genieße ich des Vorteils, da ich immer mehr für mich gearbeitet als geschrieben habe, ziemlich den Bau aller derjenigen Sprachen zu kennen, über welche es Grammatiken gibt. Denn ich halte mich allerdings nur an die, bei welchen die Materialien ein Urteil über den wahren Organismus erlauben. Mit denen, von welchen man nur Wörter kennt, ist für die eigentliche Sprachforschung nur wenig zu machen.

An Gabriele.

Tegel, 2. Oktober 1830.

... Ich bin überhaupt unendlich mehr für die Töchter, man möchte noch so viele haben. Auf das Fortbestehen des Namens habe ich nie Wert gesetzt; mich gerade in einem Sohne wiederzufinden, hat mich auch nicht gereizt. Aber eine Tochter ist ein unendlich beglückendes Wesen. Man kann so ganz mit ihr fühlen und findet sich wieder von ihr begegnet. Wie ich das mit Euch jetzt empfinde, süße Gabriele, mit Dir und Deinen Schwestern, kann ich Euch nicht ausdrücken. Aber so wird es auch freilich wenig Vätern. Es ist das wieder ein Segen der lieben Mutter. Ihre Güte und ihr Sinn ruhen auf Euch, auf jeder anders, und wieder war sie anders als Ihr alle. Aber doch fühlt man sie und Euch so innig als eins. Das zu denken, den seinen Fäden nachzugehen, an denen sich das Schöne und Zarte so von Wesen zu Wesen fortspinnt, beschäftigt mich unendlich oft. Wenige Menschen gehen so reich ins Grab, wie ich einst tun werde, mit den Erinnerungen an die Mutter, mit Eurer Liebe und den Bildern, die ich von Euch in mir trage, und mit dem Bewußtsein, das alles wahrhaft genossen, immer gefühlt zu haben, daß darin, und nur darin, das eigentliche Leben liegt. Nie, von meiner frühen Jugend an, ist eine Zeit in mir gewesen, wo ich nicht dies Hängen am Nächsten und Liebsten, dies Suchen des in sich im Gemüt Verwandten für das gehalten hätte, was dem Menschen über alles gehen muß und mit dem sich nichts gleichstellen läßt. Ich bin seit etwa drei Wochen, liebe Gabriele, in einer noch eigeneren Stimmung als sonst, so versenkt in die Erinnerung der Vergangenheit des Lebens mit der Mutter, daß es eigentlich mein einziger Gedanke ist. Karoline hat Dir vielleicht geschrieben, daß sie die Briefe zwischen der Mutter und mir ordnet. Sie legt sie, soviel sie kann, jahrweise und bringt sie mir dann. So fing ich an, einige zu lesen, und nun kann ich mich nur immer mit Mühe davon losreißen. Es fehlt vieles, aber unglaublich viel hat sich erhalten. Noch der erste Brief, den sie mir im Sommer 1788 schrieb, ehe wir uns je gesehen hatten. Von welcher Schönheit auch diese frühen Briefe sind, welch ein Schatz von Gedanken darin enthalten ist, welch ein unendlich reiches Gemüt, welch eine Fülle der Liebe sich darin ausspricht, das ahnt man gar nicht, ehe man diese Briefe liest. Und das Göttliche, das die Mutter so auszeichnete: der höchste und freieste Aufschwung der inneren Empfindung und die größte Einfachheit und Natürlichkeit da, wo der Mensch die Außenwelt berührt. Die Mutter trug nie etwas Exzentrisches ins Leben über und schloß immer das Seltenste und Ungewöhnlichste in sich. Es tut mir jetzt so unendlich leid, diese Briefe nicht, als sie noch lebte, wiedergelesen zu haben, um mit ihr selbst darüber reden zu können. Ach, wenn man sich liebt, sieht und spricht man sich immer noch viel zu wenig. Die Mutter und ich haben so viel, so glücklich ohne allen Anstoß, größtenteils so einsam und in so freien Verhältnissen zusammengelebt, haben uns gegenseitig so tief gekannt, und doch überfällt es mich oft so wehmütig, daß ich sie noch viel mehr hätte sehen, mich viel mehr mit ihr beschäftigen können. Ach, überhaupt wecken diese Briefe noch mehr die unendliche Sehnsucht nach dem Wiedersehen; und was sich so nahe gewesen ist, sich so als eins gefühlt hat, das muß sich wiederfinden. Das Gefühl selbst gibt die Gewißheit. Auch darüber ist eine so wunderschöne Stelle in einem ihrer Briefe vor unserer Verheiratung. Sie spricht davon, daß man im Nachdenken über sich und sein Schicksal so oft in ungewissen Zweifeln umhergeworfen würde. Dann heißt es: »Aber auf der lichten Höhe der Empfindung begegnet die ewige Wahrheit dem suchenden Blick und zerreißt die verhüllenden Schleier.« Und das ist an sich und war besonders in ihr so wahr. Alles entsprang in ihr aus dem Gefühl, weil sie immer und mit der ganzen Fülle ihres Wesens jeden Gegenstand ergriff. Es wird Dir wunderbar erscheinen, liebe Tochter, daß gerade jetzt, wo ich dem äußeren Treiben am fernsten stehe, ich wieder in Geschäfte gekommen bin. Wenn wir zusammenkommen, werde ich Dir und Bülow erklären, wie das gekommen ist. Aber das wird mich nicht abführen. Der Staatsrat ist ein kleines Geschäft, dem ich aber gewachsen bin, da mich meine Stimmung nicht an Arbeit und nützlicher Tätigkeit hindert. Ich bleibe dabei doch den Winter in Tegel bei dem lieben Grabe und gehe durchaus in keine Gesellschaft. Viele Leute denken freilich, daß mich der Staatsrat wieder hineinführen wird; aber ich glaube das nicht. Es begegnet dem Menschen selten etwas, ehe es nicht in seinem Innern vorher sich bewegt hat. Nun aber kann kein Mensch ferner von Ehrgeiz in allen weltlichen Dingen sein als ich jetzt. Selbst der Orden hat mich gefreut: erstlich weil die gute Mutter schon immer einen Betrieb darauf hatte, daß ich diesen bekäme, und dann eben darum, weil es allem möglichen Ehrgeiz ein Ende macht, da ich nun, was in meinem Kreise liegt, erreicht habe. Aber noch eine Rolle spielen, viel ausführen zu wollen, ist mir ebenso fern. Ich überlasse das gern anderen. Ich habe nie viel davon gehalten, nur benutzt, was die Gelegenheit gab. Wie es aber auch werde, denn die Zeit ist sonderbar, so verlasse ich meine Einsamkeit und womöglich auch meine Tegelsche, nicht. Mit den Menschen anders, als wie einzeln und in Geschäften zu reden, lasse ich mich nicht ein. Grüße Bülow herzlich von mir und sage ihm alles, was ich für ihn empfinde. Umarme die Kinder tausendmal. In einem besonderen Paket schicke ich Dir meine Rezension der Goetheschen Italienischen Reise. Ich spreche darin viel von Rom und habe es ganz im Andenken an die liebe Mutter getan. Ich habe die Arbeit in Gastein gemacht.

Mit inniger Liebe Dein treuer Vater H.

An Karoline von Wolzogen.

Tegel, 27. Oktober 1830.

... Es gibt eine geistige Individualität, zu der aber nicht jeder gelangt, und diese eigentümliche Geistesgestaltung ist ewig und unvergänglich. Was sich nicht so zu gestalten vermag, das mag wohl in das allgemeine natürliche Leben zurückkehren. Das an sich Wichtige ist die individuelle Gestaltung. Die Begebenheiten und Umwälzungen der Welt geschehen und sinken, gehen auf und ab. Dagegen ein einzelnes Wesen, in dem sich eine eigentümliche, schöne Geistigkeit entwickelt – wie unmittelbar, wie unabhängig von irdischen Schranken –, ist das Ausströmen des segensvoll belebenden Hauches.

Tegel, 29. Dezember 1830 und 4. Februar 1831.

Ich habe erst vor wenigen Tagen, teuerste Freundin, Ihr Leben Schillers bekommen. Aber welchen Genuß haben Sie dadurch allen, die irgend Sinn und Gefühl haben, bereitet! Doch ich glaube, daß es unter den Lebenden niemand gibt, für den diese Blätter so geschrieben sind als für mich. Schillers schönste, zarteste Eigentümlichkeit hat außer Ihnen und der guten Li niemand so gesehen und erkannt als ich. Man mußte ihn in jener Zeit sehen, wo er offenbar in der Blüte aller seiner großen Eigenschaften war und die später alles Höchste in ihm entwickelt hat. Diese Zeit war sichtbar das Jahr vor seiner Verheiratung. Man mußte auch Liebe und Sinn haben, in ihn einzugehen. Das alles war recht und vollkommen nur in unserem kleinen Kreise. Es gibt nichts so rein und tief Empfundenes, in unendlich vielen Stellen so wahr und groß Gedachtes und durchaus auch in unbedeutenden Erzählungen so unnachahmlich schön Geschriebenes als die Stellen, mit welchen Sie nur zu selten und kurz die Schillerschen Briefe unterbrechen. Außer jeder voll befriedigten Forderung, die man an ein schönes Schreiben machen kann, außer der beständigen zarten Verschmelzung der Gedanken mit dem Gefühl ist über diese Schilderungen noch die weiter nicht zu erklärende Grazie ausgegossen, die kein Mann erreicht und die allein der schönen Weiblichkeit angehört. – Oft ist mir, als machte das Glück stumm und als müßte die Seele erst zerrissen sein, ehe sich ihr Inneres in Worten erschließt...


Ich war gestern an Ihrem Geburtstage, liebste Freundin, in Berlin und schob es mit Fleiß auf, Ihnen zu schreiben, bis ich in meine einsame Ruhe hier zurückgekehrt wäre. Ihr Bild, das nun auf das innigste mit dem Andenken an meine liebste Vergangenheit verwebt ist, war mir gestern doppelt lebendig gegenwärtig. Möge das Schicksal Ihnen noch recht schöne Jahre der Gesundheit, des inneren Friedens und des geistigen Genusses gewähren, den Sie sich so sehr zu verschaffen imstande sind. Daß Sie dann auch mir Ihr liebevolles Andenken erhalten werden, sagt mir die Erinnerung an die glückliche Zeit, die wir miteinander verlebten. Ich habe nun auch Ihren zweiten Teil gelesen und lese ihn gewiß noch oft wieder. Ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie Ihnen die Darstellungen gelungen sind. Jede Form des Stils, den die so oft wechselnden Gegenstände forderten, ist immer gleich vollendet und meisterhaft. Der tiefe und wahrhaft großartige Sinn, und der doch wieder, da er sich mit dem Gefühl und der Phantasie verbindet, allgemein klar und zugänglich ist, mit dem Sie die Menschen und die Ereignisse ansehen, der ist auch das Element, in dem sich alle Schilderungen und Urteile Ihres Briefes bewegten, der dem Gesagten eine solche Wahrheit und der Sprache einen solchen Zauber leiht. In Ihnen und der Li, das ist meine tiefgewurzelte Überzeugung, ist das Wesen schöner und tiefer Weiblichkeit in einer ganz neuen und eignen Gestalt zur Erscheinung gekommen, die aber, wenigstens in dieser Vollendung, auch wieder mit ihnen untergeht. Daß mir das Glück geworden ist, dieser Erscheinung so nahe zu stehen, sie so aufzufassen, halte ich für den größten Vorzug meines Lebens – ja ich sage noch mehr, auch für mein eigentümlichstes Verdienst, für das, was kein anderer so vermocht hätte. Das immer selbst schaffende Genie hat nicht die Weile des ruhigen Auffassens. Auch gehört zum Empfinden schöner Weiblichkeit eine eigentümliche Liebe, den Stoff mit allen seinen Besonderheiten in dem ganzen unentweihten Hauch seiner Zartheit zu ehren. In dem rechten Empfinden edler Weiblichkeit liegt aber das Erkennen alles Schönen in der Menschheit und der Natur. Ja, das entschleierte Wesen alles seelenvollen Lebens, so weit es auf Erden wahrnehmbar ist, liegt da vor dem Blick, der es zu fassen vermag. Im Manne treten einzelne Seiten stärker hervor, aber das Ganze ist mit Fremdartigem vermischt. Daß Sie von der Li, wie liebevoll Sie ihrer erwähnen, keine Schilderung gemacht haben, wie von anderen, das habe ich begriffen und dankbar gewürdigt. Was Sie von mir sagen, hat mir eine große Freude gemacht. Durch keines Menschen Stimme gehe ich so gerne auf eine spätere Zeit über als durch die Ihrige!

Mit inniger Verehrung und Freundschaft der Ihrige H.

An Frau Körner.

Tegel, 19. Mai 1831.

Ich vermag Ihnen nicht zu sagen, verehrteste Freundin, wie tief und schmerzlich mich die Nachricht der Trauer erschüttert hat, in die Sie so plötzlich und unvorbereitet versetzt worden sind. Ich weiß aus eigener zweijähriger Erfahrung und habe immer aus meinem innersten Gefühle gewußt, daß solche Verluste keine Trostgründe zulassen. Ununterbrochenes Fortleben in dem teuren Angedenken ist das einzige, was, indem es die Wehmut vermehrt, dem Herzen Ruhe und Frieden gewährt – möge Ihnen bald die Stimmung werden, dies recht lebhaft zu empfinden! Der Dahingegangene hat ein in jeder Art edles und schönes Leben beschlossen; es war auch ein sehr glückliches, am meisten durch das Zusammenleben mit Ihnen, das Sie beide ungestört und ununterbrochen genossen, durch den Ruhm Ihres Sohnes, der der Bitterkeit des Schmerzes um ihn etwas Höheres beimischte, dann aber auch durch seine Freundschaft mit Schiller, durch seinen tätigen und lebendigen Anteil an dem Geistesgroßen und Schönen, das seine Zeit hervorbrachte. So wird sein Andenken fortleben, und so muß es auch Ihnen heiterer und lichtvoller vor der Seele stehen, wenn Sie sich ihn mit den vor ihm dahingegangenen Seinigen vereint denken. In mir wird es nie verlöschen; ich fühle mit unbeschreiblicher Wehmut, daß wieder einer der wenigen dahin ist, die noch aus der unvergeßlichsten Zeit meines Lebens übrig waren, mit denen mich die regste Übereinstimmung in Meinung und Gesinnung verband und die mir immer die freundschaftlichste und liebevollste Teilnahme schenkten.

An Goethe.

Tegel, 6. Januar 1832.

... Es hat mich unendlich gefreut, aus Ihrem Briefe zu sehen, daß Sie gesund, heiter mit Ideen beschäftigt und rüstig zu jeder schönsten und gelingenden Hervorbringung sind. Auch ich bin wohl und mehr als je zur Arbeit aufgelegt. Viel davon schreibe ich allerdings der Nordsee (denn für die baltische Schwester habe ich nur geringen Respekt) zu. Indes ist es mir auch, als wäre ich mehr, als je der Fall war, auf den Punkt gekommen, auf dem sich alle meine früheren Arbeiten und Studien in eins zusammenziehen. Ich sehe dies als eine Mahnung an, der Dauer der Folgezeit nicht zu viel zu vertrauen, sondern die Gegenwart zu benutzen, das, was ich wohl fühle, was aber noch unentwickelt und zum Teil unerwiesen in mir liegt, dargestellt und ausgeführt zugleich mit mir davonzutragen und hinter mir zurückzulassen. Denn beides verbindet sich immer in meiner Vorstellung. Man besitzt in Ideen nur ganz, was man außer sich dargestellt in andere übergehen lassen kann; und wie dunkel auch alles Jenseitige ist, so kann ich es nicht für gleichgültig halten, ob man vor dem Dahingehen zur wahren Klarheit des im langen Leben in Ideen Erstrebten gelangt oder nicht! So weit kann sich die eigene Art nicht verlieren, und da es einmal in der Welt zwei Richtungen gibt, die, wie Aufzug und Einschlag das geschichtliche Gewebe bilden, das immer abbrechende Leben der Individuen und ihre Entwicklung, und die Kette des durch ihre Hilfe vom Schicksal zusammenhängend Bewirkten, so kann ich mir einmal nicht helfen, das Einzelartige für die Hauptsache anzusehen, von welcher der Weltgang eine gewissermaßen notwendige Folge ist. Die Klarheit vor mir selbst bleibt mir daher, wenn ich nicht glaube, viel zu versäumen zu haben, das dringendste Motiv zur unausgesetzten Arbeit, und ich fühle mich glücklich, daß diese sich jetzt in mir in festeren Richtungen bewegt.

Die Stelle Ihres Briefes über den Faust hat mich aufs höchste interessiert. Ich schicke Ihnen dieselbe in Abschrift zurück, weil Sie gewiß keine behalten haben und die Sache zu wichtig ist, um nicht künftig darauf zurückzukommen. Versuchen Sie doch einmal, ob Sie (da dies in der Stelle mir dunkel bleibtGoethe schrieb 1. Dezember 1831: »Durch eine geheime psychologische Wendung, welche vielleicht studiert zu werden verdient, glaube ich mich zu einer Art von Produktion erhoben zu haben, welche bei völligem Bewußtsein dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht jemals in diesem Flusse wieder schwimmen zu können, ja was Aristoteles und andere Prosaisten einer Art von Wahnsinn zuschreiben würden.« aus Ihrer Erinnerung entnehmen können, ob Ihnen jene Art der Produktion mit völligem Bewußtsein wohl immer beigewohnt hat, oder ob Sie dasselbe als erst in einer gewissen Epoche eingetreten betrachten. Ich möchte, wenn auch natürlich im Grade Verschiedenheiten gewesen sein mögen, an das erstere glauben. Der aristotelische Ausdruck wenigstens, wenn man ihn auch noch so sehr als ein bloßes Extrem ansieht, hat gewiß niemals auf Sie gepaßt und paßt auf keines Ihrer Werke, auch nicht auf den Werther und den Götz. Ihre Dichtung stammte von jeher aus Ihrer ganzen Natur- und Weltansicht. Daß diese in Ihnen nur eine dichterische sein konnte, und daß Ihre Dichtung durch den ganzen Natur- und Weltzusammenhang bedingt sein mußte, darin liegt Ihre Einzigart. Ich möchte daher Ihre Dichtung eine solche nennen, die sich verhältnismäßig nur langsam aus dem mächtigen Stoffe entwickeln konnte, und die Sie in keiner Periode Ihres Lebens unterlassen konnten, sich möglicherweise verständlich zu machen. Denn wenn Sie auch nicht dies Streben auf Ihre Dichtung selbst richteten, so mußten Sie dasselbe doch, durch Ihre Natur selbst gezwungen, auf das noch tiefere und ungeheuere Element richten, welches Ihrer Dichtung in Ihnen zugrunde lag. Sie sehen, liebster Freund, daß ich hier ganz eigentlich von dem Wesen der Dichtungskraft, nicht von der obgleich allerdings auch davon abhängigen Form der Dichtungswerke rede. Das klarere Bewußtsein über diese könnte allerdings und ist wohl unbezweifelter Weise später eingetreten, obgleich auch das vielleicht anders sein könnte. Denn es hat mir in jener glücklichen Zeit, wo ich mit Ihnen und Schiller zusammenlebte, immer geschienen, daß Sie um kein Haar weniger (wenn Sie mir den Ausdruck erlauben) eine philosophierende und grübelnde Natur waren als er. Nur war er zugleich mehr eine dialektische, da es gerade in der Ihrigen liegt, nichts durch Dialektik für abgemacht zu halten. Wenn also sich in ihm Meinung, Maxime, Grundsatz, Theorie überhaupt schnell gestaltete und in Wort überging, auch wieder in anderer Zeit umgestaltete, so fanden Sie bei dem gleichen Bestreben sich mehr gehemmt, weil Sie allerdings etwas anderes und schwerer zu Erreichendes, ja eigentlich wohl nicht anders als in ewiger Annäherung zu Erreichendes forderten.

Was ich hier sage, schwebte mir schon, als ich die Anzeige Ihrer italienischen ReiseÜber Goethes zweiten römischen Aufenthalt, in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1830. Vgl. unsern Schriftenband! in Gastein machte, vor. Es wird einem aber so wunderlich zumute, wenn man einen in sich einzigen Mann und für den man alle Gefühle der Verehrung und Liebe in sich trägt, vor dem Publikum gewissermaßen zergliedern soll. Ich hielt mich daher billigerweise in gemessenen Schranken; sonst hätte ich sehr gern damals auch ausgeführt, wie gerade die Stärke, das Gewaltige und die leidenschaftliche Glut Ihrer Dichtung aus dem stammt, was ich soeben ein langsames Hervorbrechen nannte. Sie müssen es mir schon verzeihen, teurer Freund, wenn ich auch vielleicht für einen Brief zu weit in Erklärungen und Spaltungen dessen eingehe, was sich eigentlich nicht erklären und spalten läßt. Aber die geistige Natur der Menschen oder der höheren Geschöpfe als sie, wenn es solche gibt, ist meiner Überzeugung nach die einzige Seele in der Welt, es möge nun jede einzelne für sich ein Ganzes oder nur ein Bruchstück von einer unendlichen sein, von dieser ausgehen und in diese zurückkehren; und da kann man nun der Versuchung nicht widerstehen, ewig wieder darauf zurückzukommen, über eine solche, wie die Ihrige, nachzudenken.

Was Ihre Werke an Fortsetzungen des Faust enthalten, habe ich natürlich oft und mit dem größten Genusse gelesen, auch oft versucht, mir es als ein Ganzes vorzustellen. Es bleiben aber da natürlich noch viele Lücken, und man gerät wohl auf irrige Ausfüllungen. Schon das steigert das Verlangen, den Knoten von Ihnen selbst gelöst zu sehen, und es ist schon darum Ihre Maßregel des Versiegelns ein wahrhaft grausames Beginnen. Ich weiß auch nicht einmal, ob es dem Zwecke entspricht, den Sie dabei zu haben scheinen: nicht mehr in Versuchung zu geraten, weiter daran zu arbeiten. Solch ein versiegeltes Manuskript gleicht einem Testamente, das man immer zurücknehmen kann; dagegen stellt nichts ein eigenes Produkt den Verfasser so außer sich und reißt es von ihm los, als der Druck. Wenn ich Sie recht verstehe, daß Sie es wirklich nicht erleben wollen, den Faust zusammengedruckt zu sehen, so beschwöre ich Sie wirklich, diesen Vorsatz wieder aufzugeben. Berauben Sie sich selbst nicht des Genusses, denn ein solcher ist es doch, eine Dichtung hinzustellen, die schon so tief empfunden worden ist und nun in einem noch höheren Sinne aufgenommen werden muß; berauben Sie aber vorzüglich die nicht der Freude, das Ganze zu kennen, die den Gedanken nicht ertragen mögen, Sie zu überleben ...

An Gabriele.

Tegel, 14. Januar 1832.

... Die Liebe wächst in stiller Geistesbeschäftigung und wendet in ihr alles sich zu. Darum ist, worüber ich mich schon oft in früher Jugend gestritten habe, das Leben der Frauen so viel höher und edler. Sie knüpfen einfach die stärksten und zartesten Fäden des Lebens zusammen, und weiter kann es der Mann doch auch mit allen seinen Umwegen nicht bringen; er gelangt aber nur selten dahin. Bei dem Lesen der Briefe der Mutter fällt es mir oft bis in Kleinigkeiten auf, wie unendlich sie auf uns alle gewirkt hat, und wie sie schon darum und dadurch gleichsam immer mit uns fortlebt. In mir besonders kann ich in ganz bestimmten Epochen nachgehen, wie sie alles in mir entwickelt hat, worauf ich noch heute Wert setze, und was ohne sie mir ewig verschlossen geblieben wäre. Und doch ging sie kaum einmal bei Euch gerade auf Lehren und Bilden aus. Aber ihr Wesen selbst hatte eine stillwirkende Kraft. Jedes tiefere menschliche Gefühl wurde einem an ihr klar, und man empfand deutlich, daß man es so vorher nicht gekannt hatte. Darum, wenn sie uns Unendliches durch ihren Tod entrissen hat, so hat sie uns auch Unendliches gelassen. Denn man kann, auch die Süßigkeit der Erinnerung gar nicht gerechnet, selbst in Ideen ewig in ihr leben und erschöpft ihr einziges Wesen nie.

An Rennenkampff.

Tegel, 20. März 1832.

... Ich finde in den Briefen meiner verstorbenen Frau immer mit lebhafter Freude Ihren Namen erwähnt, und immer kehrt mir dabei der Gedanke zurück, wie glücklich es sie gemacht haben würde, Sie, teuerster Freund, mit mir in Oldenburg in Ihrer Häuslichkeit zu sehen. Große Freude hat es uns gemacht, daß Sie alle dort auch von der geringsten Besorgnis der Cholera frei geblieben und höchstens durch die trüben Vorbereitungsanstalten dazu belästigt worden sind. Wir haben auch nur leichtes Ungemach dadurch erfahren, und im ganzen sind für die Bevölkerung Berlins die Opfer nur in mäßiger Zahl gefallen. Ich habe den Winter, denn wir sind ja morgen schon am Anfang des Frühlings, still und ruhig zugebracht, und diese Entfernung von allem, was in der Welt vorgeht, tut mir sehr wohl. Ich will damit nicht eben einen großen Tadel gegen die Ereignisse des Tages aussprechen. Sie sind allerdings weder erfreulich noch lobenswürdig. Andere Zeiten sind aber nicht besser gewesen, und es wird sich auch aus diesen Gutes und Kräftiges entwickeln. Was ich meine, geht nur mich an; ich habe zwar schon in meiner Jugend die Zurückgezogenheit geliebt und gesucht; aber die letzten Jahre des Lebens haben darin ein besonderes Vorrecht, und wer einmal vorherrschende Neigung zu einsamer Selbstbeschäftigung hat, der überläßt sich in ihnen doppelt gern diesem Hange. Der Mensch hat, wenn er an dieser Stufe steht, eigentlich nichts anderes zu tun, als sich in dem zu sammeln, was er sich in den langen Jahren seiner irdischen Laufbahn angeeignet hat. Er muß im Augenblicke, wo er sie verlassen wird, wenigstens in der inneren Gestaltung dastehen, in der das Beste ausgeprägt ist, das er zu erreichen vermocht hat. Denn die Bahn, die er ferner zu betreten hat, ist dunkel und ungewiß, und das sicherste Vertrauen auf derselben muß immer auf der geistigen Kraft beruhen, die er mit sich fortnimmt. Es ist auch eine wichtige und erfreuliche Arbeit, alles, was man dem Leben verdankt, so zu sichten, daß nur das wirklich und echt Wesentliche davon übrig bleibt. Alles wissenschaftliche Treiben hier, um gar nicht einmal von dem Handeln zu sprechen, hat immer noch soviele bloß den Augenblick, die Person oder besondere Verhältnisse betreffende Beziehungen, von denen man es befreien muß, wenn man es in seiner wahren unentstellten Gestalt sehen will. Eine sich nie erschöpfende und unendlich süße Beschäftigung ist es endlich, sich das Bild der vorzüglichen Menschen, denen man im Leben begegnet ist, anschaulich zu machen, sie miteinander in Gedanken zu vergleichen und dadurch dem undurchdringlichen Geheimnis der Wesenheit wenigstens näherzutreten. Sie sehen hieraus, teuerster Freund, wie ich meine Muse ausfülle. Ich habe seit Norderney sehr angestrengt gearbeitet. Ich hatte noch einiges zu vollenden, was vieles kleinliches Nachsuchen erforderte und wovon ich mich gerne losmachen mochte. Denn auch das Wissen gehört zu den Schlacken der Erkenntnis.

An Charlotte Diede.

Tegel, 6. Oktober 1833.

... Was Sie mir über Herder und Goethe sagen, hat mich zu allerlei Betrachtungen geführt. Ich begreife, daß, nach Ihrer Art zu empfinden, Herder Ihnen mehr zusagt. Allgemein würde die Empfindung nicht sein, und daß Goethe nur für Glückliche gedichtet habe, ist, wenn ich es gerade heraussagen soll, ein einseitiges und darum schiefes Urteil, auch ein viel zu dreist gewagtes; man kann über die Empfindungen anderer nicht so scharf absprechen. Beschränken Sie es auf sich und auf andere, deren Gemütsart Ihnen genau bekannt ist, so stimme ich Ihnen gänzlich bei. Was mir aber bei dieser Stelle Ihres Briefes besonders aufgefallen ist, ist, daß sie mir wieder recht klar bewiesen hat, daß es zwei ganz verschiedene Arten gibt, sich einem Buche zu nahen: eine mit einer bestimmten Absicht verbundene und ganz nahe auf den Lesenden selbst bezogene, und eine freiere, die mehr und näher auf den Verfasser und sein Werk geht. Jeder Mensch liest nach Verschiedenheit der Stimmungen und der Momente mehr auf die eine oder die andere Weise; denn rein und gänzlich geschieden sind beide natürlich nie. Die eine wendet man an, wenn man von einem Buche verlangt, daß es belehren, trösten oder unterhalten soll. Die andere Methode ist einem Spaziergange in Gottes freier Natur zu vergleichen. Man sucht und verlangt nichts Bestimmtes, man wird durch das Werk angezogen; man will sehen, wie sich eine poetische Erfindung entfaltet, man will dem Gange eines Räsonnements folgen. Belehrung, Trost, Unterhaltung findet sich hernach ebenso und noch in höherem Maße ein; aber man hat sie nicht gesucht, man ist nicht von seiner beschränkten Stimmung aus zu dem Buche übergegangen, sondern das Buch hat frei und ungerufen die ihm entsprechende selbst hervorgerufen. Das Urteil ist also auf jede Weise freier, und da es von augenblicklicher Stimmung unabhängiger bleibt, zuverlässiger. Ein Verfasser muß es vorziehen, so gelesen und geprüft zu werden. Herder kann übrigens jede Art der Beurteilung mit Ruhe erwarten. Er ist eine der schönsten geistigen Erscheinungen, die unsere Zeit aufzuweisen hat. Seine kleinen lyrischen Gedichte sind voll tiefen Sinnes und in der Zartheit der Sprache und der Anmut der Bilder die Lieblichkeit selbst. Besonders weiß er das Geistige unnachahmlich schön bald mit einem wohlgewählten Bilde, bald mit einem sinnigen Wort in eine körperliche Hülle einzuschließen und ebenso die sinnliche Gestalt geistig zu durchdringen. In diesem symbolischen Verknüpfen des Sinnlichen mit dem Geistigen gefiel er sich auch selbst am meisten; bisweilen, obgleich selten, treibt er es bis ins Spielende. Eine seiner großen Eigenschaften war es auch, fremde Eigentümlichkeiten mit bewundernswürdiger Feinheit und Treue aufzufassen. Dies zeigt sich in seinen Volksliedern und in der Geschichte der Menschheit. Ich erinnere mich zum Beispiel aus der letzteren der meisterhaften Schilderung der Araber. Herder stand in Umfang des Geistes und des Dichtungvermögens gewiß Goethe und Schiller nach; allein es war in ihm eine Verschmelzung des Geistes mit der Phantasie, durch die er hervorbrachte, was ihnen nie gelungen sein würde. Diese Eigentümlichkeit führte ihn besonders zu großen und lieblichen – denn diese beiden Eigenschaften waren immer unzertrennlich in ihm und allem, was er hervorbrachte, verbunden – Ansichten über den Menschen, seine Schicksale und seine Bestimmung. Da er eine ausgebreitete Belesenheit besaß, so befruchtete er seine philosophischen Ansichten durch diese und gewann dadurch den Reichtum von Tatsachen für seine allegorischen und historischen Ausführungen. Er gehört, wenn man ihn im ganzen betrachtet, zu den wundervoll organisierten Naturen. Er war Philosoph, Dichter und Gelehrter; aber in keiner einzelnen dieser Richtungen wahrhaft groß. Dies lag auch nicht an zufälligen Ursachen, an Mangel gehöriger Übung. Hätte er einen dieser Zweige allein ausbilden wollen, so würde es ihm nicht gelungen sein. Seine Natur trieb ihn notwendig zu einer Verbindung von allen zugleich hin, und zwar zu wahrer Verschmelzung, wo jede dieser Richtungen, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verlassen, doch in die der anderen einging – und da doch dichtende Einbildungskraft seine vorherrschende Eigenschaft war, so trug das Ganze, indem es die innigsten Gefühle weckte, immer einen doppelt stark anziehenden Glanz an sich. Diese Eigentümlichkeit bringt es aber freilich auch mit sich, daß die Herderschen Erwägungen und Behauptungen nicht immer die eigentlich gediegene Überzeugung hervorbringen, ja daß man nicht einmal das recht sichere Gefühl hat, daß es seine eigene recht feste Überzeugung war, die er aussprach. Beredsamkeit und Phantasie liehen leicht allem eine willkürliche Gestalt. Von der Außenwelt entlehnte er nicht viel. Sein Aufenthalt in Italien hat ihn fast um nichts bereichert, da Goethen der seinige so viele und schöne Früchte getragen hat. Herders Predigten waren unendlich anziehend. Man fand sie immer zu kurz und hätte ihnen die doppelte Länge gewünscht. Aber eigentlich erbaulich waren die, welche ich gehört habe, nicht, sie drangen wenig ins Herz. Wenn er jetzt wüßte, daß ich soviel mit unleserlich kleinen Buchstaben über ihn schreibe, würde er sich gewiß wundern, und ich wundere mich über mich selbst. Ich tue es einzig, weil ich denke, daß es Ihnen Freude macht. Sagen Sie es mir aber auch, wenn Sie mich nicht mehr lesen können...

Tegel, 12. Februar 1834.

... Da ich von der Zeit rede, so fällt mir ein, daß wir, glaube ich, noch niemals in unserer Korrespondenz den großen Kometen berührt haben, der im Herbste des künftigen Jahres wiederkehren muß. Er ist einer der mit Sicherheit berechneten. Erscheinen wird er also gewiß; ob aber mit gleichgroßem Schweif, ist eher eine Frage. Man will schon das letztemal seines Erscheinens eine Verringerung der Länge des Schweifes gegen das vorletzte Mal bemerkt haben, und es scheint sehr wohl möglich, daß diese wunderbaren Weltkörper während ihres Laufes Partikeln des lockersten Teils ihrer Materie verlieren. Denn ihr Körper ist von so loser Zusammenfügung, daß man mit stark vergrößernden Fernrohren nicht bloß durch den Schweif, sondern auch durch den Kopf oder Kern, wie man es nennen soll, hindurch gerade dahinterstehende Fixsterne deutlich und bestimmt erkennen kann. So nahe auch dies himmlische Ereignis zu sein scheint, so kann sich doch jeder mit Recht fragen, ob er es erleben wird; und ob ich mich gleich nicht grämen würde, wenn es von mir ungesehen bliebe, so ist, wenn ich einmal lebe, meine Neugier doch sehr darauf gespannt. Die Himmelskörper, die uns nur in langen Zwischenräumen von Jahren und dann auf kurze Zeit erscheinen, geben einen noch sinnlicheren Begriff der wahren Unbegreiflichkeit der Größe des Weltganzen. Man fühlt noch anschaulicher, daß es Ursachen geben muß, von deren Natur wir nicht einmal eine Vorstellung haben, welche diese Körper zwingen, so ungeheuer sich entfernende Bahnen in solcher Schnelligkeit zu durchlaufen. Auf alle diese Fragen ist keine befriedigende Antwort zu geben; man kann sich aber die Ahnung nicht nehmen, daß der Zustand nach dem Tode Aufschluß darüber geben wird, und so knüpft sich das Interesse an der Lösung dieser Rätsel für uns an etwas Überirdisches an.

Berlin hat in diesen Tagen einen Verlust erlitten, den man mit Wahrheit einen gleich großen für die Religion und die Philosophie überhaupt nennen kann. Schleiermacher ist nach einem kurzen Krankenlager an einer Lungenentzündung gestorben. Es wäre möglich, daß Ihnen der Mann dem Namen nach nicht unbekannt wäre, da immer von ihm geredet wurde, man oft in Zeitungen von ihm las, er viel in Deutschland gereist war und mehrere religiöse und moralische Schriften herausgegeben hat, die gar nicht bloß theologische sind. Indes war von Schleiermacher in ohne Vergleich höherem Grade wahr, was man von den meisten sehr vorzüglichen Menschen sagen kann; daß ihr Sprechen ihr Schreiben übertrifft. Wer also auch alle seine zahlreichen Schriften noch so fleißig gelesen, aber seinen mündlichen Vortrag nie gehört hätte, dem bliebe dennoch das seltenste Talent und die merkwürdigste Charakterseite des Mannes unbekannt. Seine Stärke war seine tief zum Herzen dringende Rede im Predigen und bei allen geistlichen Verrichtungen. Man hätte unrecht, das Beredsamkeit zu nennen, da es völlig frei von aller Kunst war; es war die überzeugende, eindringende und hinreißende Ergießung eines Gefühls, das nicht sowohl von dem seltensten Geiste erleuchtet wurde, als vielmehr ihm von selbst gleichgestimmt zur Seite ging. Schleiermacher hatte von Natur ein kindlich einfach gläubiges Gemüt, sein Glaube entsprang ganz eigentlich aus dem Herzen. Daneben hatte er doch aber auch einen durchaus entschiedenen Hang zur Spekulation; er bekleidete auch, und mit ganz gleichem Beifall und Glück, ein philosophisches Lehramt neben dem theologischen an der Universität in Berlin, und seine Sittenlehre, ein ganz philosophisches Werk, steht in der genauesten Verbindung mit seiner Dogmatik. Spekulation und Glaube werden oft als einander feindselig gegenüberstehend angesehen; aber diesem Manne war es gerade eigentümlich, sie auf das innigste miteinander zu verknüpfen, ohne weder der Freiheit und Tiefe der einen noch der Einfachheit des anderen Eintrag zu tun. In einer Äußerung, die er am Tage vor seinem Hinscheiden gemacht, hat er gleichsam das letzte Zeugnis davon abgelegt. Er hat nämlich seiner Frau, die von sehr ausgezeichnetem Geist und Charakter ist, gesagt, daß seine Besinnungskraft für allen äußeren Zusammenhang der Dinge sehr dunkel zu werden anfange, daß aber in seinem inneren Ideenzusammenhange eine vollkommene Klarheit herrsche, und daß er sich besonders freue, auch jetzt seine tiefsten Spekulationen in dem reinsten Einklange mit seinem Glauben zu finden. In dieser schön harmonischen Seelenstimmung ist er auch gestorben.

Tegel, 18. Juli 1834.

... Sie erwähnen in Ihrem letzten Briefe der Beschwerden des Alters. Sie sind allerdings, einzelne Fälle abgerechnet, wo sich die Kräfte spät in Rüstigkeit erhalten, sehr groß. Sie werden es besonders dadurch, daß sie in jedem Moment des Lebens wiederkehren und das Leben ganz eigentlich begleiten. Die gehemmte oder wenigstens durch Langsamkeit sehr erschwerte Tätigkeit ist, meiner Empfindung nach, das drückendste. Dann die Unbehülflichkeit, daß man viele Sachen gar nicht oder nicht ohne große Beschwerlichkeit sich selbst und allein machen kann. Wenn einem auch dann die Wahl bleibt, sich helfen zu lassen oder die Sache langsam und mühevoll selbst zu machen, so ziehe ich in der Regel das letztere vor, da mir das Gefühl der Abhängigkeit von fremder Hilfe sehr widrig und unangenehm ist. Indem ich aber so alle Unbequemlichkeiten, die zu wahren Leiden anwachsen können, zugebe und zum großen Teile an mir selbst empfinde, kann ich doch dem Alter nicht abhold sein und keine Klage darüber führen. Es gehört zur Vollendung des menschlichen Lebens, ein solches Heruntergehen der Kräfte zu empfinden; das menschliche Leben als ein Ganzes, sich aus sich selbst Entwickelndes durchzumachen, hat in sich etwas Beruhigendes, weil es den Menschen in Einklang mit der Natur zeigt. Die innere Stimmung ändert sich auch von selbst so um, daß man die äußere Unbequemlichkeit leichter trägt. Man ist geduldiger, fühlt, daß über den Lauf der Natur keine Klage ziemt, und hat viel lebhafter das Gefühl, daß man durch innere gleichmütige und sanfte Ruhe über alles Äußere einen mildernden Schimmer wirft. Es ist sichtbar ein Vorzug des Alters, den Dingen der Welt ihre materielle Schärfe und Schwere zu nehmen und sie mehr in das innere Licht der Gedanken zu stellen, wo man sie in größerer, immer beruhigender Allgemeinheit übersieht.

...Sie fragen mich nach Frau von Varnhagen, deren Briefe unter dem Namen Rahel von ihrem Manne herausgegeben worden sind. Ich habe sie allerdings viel gekannt, von der Zeit an, wo sie noch ein ganz junges Mädchen war, ein paar Jahre, ehe ich auf die Universität ging, nämlich nach Göttingen. So oft ich seitdem in Berlin war, habe ich sie viel und regelmäßig gesehen. Auch als ich mich mit meiner Familie in Paris aufhielt, war sie mehrere Monate dort, und es fiel nicht leicht ein Tag aus, wo wir uns nicht gesehen hätten. Man suchte sie gern auf, nicht bloß weil sie wirklich von sehr liebenswürdigem Charakter war, sondern weil man fast mit Gewißheit darauf rechnen konnte, nie von ihr zu gehen, ohne nicht etwas von ihr gehört zu haben und mit hinwegzunehmen, das Stoff zu weiterem ernstem, oft tiefem Nachdenken gab oder das Gefühl lebendig anregte. Sie war durchaus nicht, was man eine gelehrte Frau nennt, obgleich sie recht viel wußte. Sie verdankte ihre geistige Ausbildung ganz sich selbst. Man kann nicht einmal sagen, daß der Umgang mit geistvollen Männern irgend wesentlich dazu beitrug. Denn teils ward ihr dieser nicht früh, sondern erst, als sie sich schon selbst die hauptsächlichsten, sie durch das Leben leitenden Ansichten aus ihrem Innern herausgebildet hatte, teils hatten alle ihre Gedanken und selbst die Form ihrer Empfindungen ein so unverkennbares Gepräge der Originalität an sich, daß es unmöglich wurde, dabei an irgend bedeutenden fremden Einfluß zu denken. Sie ging auch viel mit uninteressanten Menschen um. Dies entstand aus Zufälligkeiten ihrer äußeren Lage. Da sie aber eine große Lebendigkeit besaß und gern mit Menschen lebte, so vermied sie es auch weniger sorgfältig, als es sonst geistreiche Personen wohl zu tun pflegen. Es war ihr ein eigenes Talent gleichsam angeboren, auch dem unbedeutend Scheinenden eine bessere und anziehende Seite abzugewinnen. Jede Menschenweise flößte ihr schon als solche ein gewisses Interesse ein, da sie sie zum Gegenstand ihrer Betrachtung machte, und sich auch wirklich in jeder eine bessere und dadurch anziehende Eigenschaft herausfinden läßt. Die Varnhagen ging von jedem Punkt des täglichen Lebens gern zu innerem, tieferem Nachsinnen über; sie schöpfte selbst vorzugsweise gern ihren Stoff zu diesem aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Sie empfand und nahm auch die Erscheinungen des Lebens immer in ihrer vollen Wahrheit auf. Überhaupt war Wahrheit ein auszeichnender Zug in ihrem intellektuellen und sittlichen Wesen. Sie kannte darin keine weichliche Selbstschonung, weder um sich etwaige Schuld zu verbergen oder sie zu verkleinern, noch um in Wunden, die ihr das Schicksal schlug, mit tiefer Selbstprüfung einzugehen. Sie überließ sich aber auch keinen Selbsttäuschungen, keinen trügerischen Hoffnungen, sondern suchte überall nur die reine und nackte Wahrheit auf, wenn sie auch noch so unerfreulich oder selbst bitter sein mochte ...

... Ich mußte neulich über Frau von Varnhagen abbrechen, ehe ich alles gesagt hatte. Der Mann der Verstorbenen gab zuerst einen dicken Band von Briefen bloß als Geschenk für Freunde und Bekannte heraus. Diese Ausgabe besitzen bloß diejenigen, die sie zum Geschenk erhalten haben, und sie ist nicht käuflich im Buchhandel. Später aber hat Varnhagen eine zweite vermehrte Ausgabe in drei kleinen Teilen veranstaltet, die allgemein verkauft wird. Ich zweifle nicht, daß Sie diese in Kassel selbst bei Bekannten nicht finden sollten. Ich glaube aber kaum, daß Sie die Geduld haben würden, die drei Teile durchzulesen. Sehr vieles würde Ihnen gefallen, Sie anziehen, fesseln. Allein mit der ganzen Wesensart dürften Sie, wie ich Sie kenne, schwerlich übereinstimmen. In einem Punkte gehen Sie beide nun schon ganz auseinander. Frau von Varnhagen vergöttert wahrhaft Goethe, und es ist nichts, was sie nicht groß und schön an ihm fände; Sie dagegen hegen, ob Sie ihn gleich auch bewundern und lieben, doch zugleich Vorurteile gegen ihn, die meiner Überzeugung nach auch ungerecht sind. Sie gehen also, wie ich glaube, beide, jede in einem verschiedenen Extreme, zu weit. Indes macht das einen Unterschied, daß sie Goethe persönlich kannte, wodurch sich leicht eine nicht immer unparteiische Vorliebe bildet. Ob Sie mit der Art von Religiosität, die sich in den Briefen ausspricht, zufrieden sein würden, ist auch sehr die Frage. Ich glaube es nicht...

An Charlotte Diede.Humboldts letzter Brief an Charlotte.

Tegel, im März 1835.

Ich erfahre immer bloß durch Sie, liebe Charlotte, was man in den Zeitungen von mir sagt. Diesmal enthält es bloß Wahrheit, insofern es von meiner Gesundheit handelt. Bis jetzt hat mir der sonderbare Winter keinerlei Unbequemlichkeit zugefügt. Doch hält man ihn allgemein für ungesund, und wirklich sind sehr viele Menschen krank, wenn auch nicht gefährlich. Es sind meistenteils Erkältungen. Diesen entgehe ich, glaube ich, durch die kalten Begießungen, die ich mir unausgesetzt alle Morgen und alle Abende machen lasse. Sie geben den Nerven einen Ton, der sie fähig macht, den Veränderungen der Luft zu widerstehen, und härten die Haut dagegen so ab, daß ich, wenn es nur nicht regnet oder schneit, bei jedem Wetter spazieren gehe, und da ich leicht ermüde, auch im Freien sitze. Wie aber die Leute darauf kommen, so oft und ohne äußere Veranlassung in Zeitungen von mir zu reden! Es beweist recht, wie das Privatgeklatsche zur öffentlichen Sache geworden ist, da man nicht die Naivität haben muß zu glauben, daß es aus wahrem Anteil geschehe. Es ist die Sucht, Neuigkeiten mitzuteilen, welcher Art sie auch sein mögen. Ich erinnere mich oft bei solchen öffentlichen Erwähnungen, wie auffallend mir der erste Gedanke daran war. Als ich noch in Göttingen studierte, schrieb mir eine Frau, mit der ich in Briefwechsel stand; jetzt schreibe ich ihr so oft, es werde aber eine Zeit kommen, wo sie nur in Zeitungen von mir lesen würde. Es kam mir damals ganz fabelhaft und abenteuerlich vor, daß mein Name in Zeitungen sollte genannt werden. Man mischte damals noch nicht so häufig Privatverhältnisse den allgemein die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Ereignissen bei. Wenn Sie von Goethes nachgelassenen Schriften nur vier Bände gesehen haben, so fehlen Ihnen elf. Es sind fünfzehn neue Bände seit seinem Tode der damals schon vollendeten Ausgabe der vierzig Bände hinzugekommen. Die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte rate ich Ihnen sehr zu lesen, wenn Sie Gelegenheit haben, das Buch zu bekommen. Sie ist an sich hübsch und anziehend und umfaßt gerade die Zeit, wo E. mit Goethe häufig in Offenbach zusammentraf, so daß Sie an dieser Epoche ein doppeltes Interesse finden würden, da Sie E. oft von dieser Zeit sprechen hörten und Ihre Erinnerungen jener Gespräche mit den Goethischen Erzählungen vergleichen können. Da er seine Lebenserzählungen selbst geradezu Wahrheit und Dichtung nennt, so mag er sich dabei große Freiheit erlaubt haben. Ich glaube nicht, daß die nachgelassenen Schriften sonst etwas enthalten, das Ihnen nützlich oder angenehm zu lesen sein könnte. Daß Sie das Optische und Naturhistorische nicht zu lesen versuchen, daran tun Sie vollkommen recht; Sie würden von dieser Lektüre weder augenblickliche Befriedigung noch irgend ernsthaften Gewinn gezogen haben. Sie werden vielleicht in den Zeitungen ein Buch angekündigt gefunden haben, welches den Titel führt: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Wenn Ihnen dies zufällig in die Hände kommt, so rate ich Ihnen, es zu durchlaufen. Sie werden in manchem darin Unterhaltung finden und es wird Ihnen nicht entgehen, daß, wenn die Verfasserin auch einen wunderlichen Charakter hat, man ihr doch sehr viel Geist und Talent nicht absprechen kann. Sie ist eine verwitwete Frau von Arnim und ist unter dem Namen Bettina Arnim bekannt. Sie ist eine Enkelin der als Schriftstellerin bekannten Frau von Laroche und ihre Mutter war die Brentano, die auch in Goethes Leben vorkommt und die mehrere Kinder hinterlassen hat. Die Arnim lebt in Berlin, da ihr verstorbener Mann Güter hier besaß. In ihrer ersten Jugend ging sie viel in Frankfurt am Main mit Goethes Mutter um, die sie sehr liebgewonnen zu haben scheint. Dadurch entstand die Bekanntschaft mit Goethe selbst, anfangs nur durch Briefe, nachher persönlich. Sie hat nun zwei Bände Briefwechsel, teils mit Goethe, teils mit seiner Mutter, und einen Band Tagebuch drucken lassen. Das Hauptthema ist ihre leidenschaftliche Liebe zu Goethe. Nebenher kommen aber andere Erzählungen eigener und fremder Lebensereignisse, Betrachtungen und Vernünfteleien darin vor. Von Goethe enthalten diese Bände nur etwa dreißig Briefe, von welchen einige nur wenige Zeilen enthalten; lang ist keiner. Eigentlich erwiderte Liebe geht aus den Goetheschen Schriften an die Bettina gar nicht hervor, aber große Anerkennung ihres auch wirklich seltenen Geistes und ihrer wunderbaren Ursprünglichkeit. Der Briefwechsel fällt in das Jahr 1807 und in die zunächst darauf folgenden, wo die Verfasserin zwar gar kein Kind, sondern schon ganz erwachsen, aber allerdings sehr jung war. Seltsamerweise ist das Buch dem Fürsten Pückler zugeeignet. Da aber alles an dem Buche und sogar an der Verfasserin selbst seltsam ist, so darf man sich auch darüber nicht wundern. Im ganzen macht das Buch viel Aufsehen und findet viel Beifall, obgleich auch das wirklich Schöne und Geniale immer wieder mit Stellen untermischt ist, die gewiß allgemein mißfallen und wirklich mißfallen müssen. Es ist kein genug durchgehender Ernst und zuviel Selbstgefälligkeit in dem Buche. Mehrere Dinge sind offenbar ganz erfunden oder doch übertrieben, so das oft beschriebene Klettern auf Bäume, Mauern usf., das Springen auf dem Rhein von einer schwimmenden Eisscholle zur anderen, das Waten im Main und andere ähnliche Dinge. Überhaupt ist zu bedauern, daß sich unter der wahren und schönen Originalität zu häufig Züge ganz sonderbarer und uninteressanter befinden. Man weiß diesen Dingen kaum einen Namen zu geben. Es sind Ausbrüche durchaus unnützen Mutwillens, wahre Possen, kinderhafte Unarten, über die man einen Augenblick unwillkürlich lacht, bisweilen aber nicht einmal dazu Veranlassung findet. Was auch dem Buche viel Gunst zuwendet, ist die sittlich ganz unsträfliche, tadellose Aufführung der Verfasserin. Weder vor noch während ihrer Ehe noch jetzt hat sie in dieser Hinsicht der leiseste Vorwurf getroffen. Demungeachtet war sie in ihrer Jugend sowohl von Zügen als von Gestalt höchst anziehend und einnehmend. Über Goethes Mutter enthält das Buch viele und hübsche Einzelzüge. Sie war, wie es scheint, nicht gerade sehr bedeutend weder von Geist, noch von Charakter. Aber ihre Lebendigkeit, ihre Lust an Menschen und selbst an Vergnügen, besonders aber eine gewisse originelle Laune mögen doch auf den Sohn eingewirkt haben. Das Arnimsche Buch liefert sehr hübsche Briefe von ihr. Eine der belangreichsten Erzählungen in dem ganzen Buch ist die des Todes eines Fräuleins von Günderode, von der Sie gewiß schon gehört haben. Sie brachte sich selbst ums Leben. Eine unglückliche Liebe führte sie zu diesem unglücklichen und gewaltsamen Entschluß. Mit unveränderlicher inniger Teilnahme der Ihrige H.


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