Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

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Hin und her schwankend nahm der nordische Krieg zu Land und zu Wasser Fortgang. Den holsteinischen Grafen gelang's, erfolgreich gegen die Übermacht des Königs Widerstand zu leisten, der Hanse dagegen fiel nur wenig an Ruhm und Gewinn zu. Wohl rüstete sie eine an Zahl gewaltigere Flotte, denn je zuvor, über drittehalb Hundert große und kleine Schiffe mit zwölftausend Gewaffneten, die in die Meerenge zwischen Seeland und Schweden, von den Skandinavien ›Eyrarsund‹, von den Deutschen ›Noresund‹ benannt, einliefen, um die dänische Schiffsmacht zu vernichten und Kopenhagen zu erobern. Doch der Sund, der schon mehr als eine schwere hansische Niederlage gesehen, nahm auch diesmal wieder einen kläglichen Mißerfolg gewahr. König Erich hielt das Fahrwasser mit starken Bollwerken versperrt, hinter denen seine Flotte sich in Sicherung barg; vergeblich strengten die Hansen sich an, in das ›Ravenhol‹, den Ravelin, einzubrechen, suchten umsonst, aus zu weiter Entfernung mit ihren auf Flöße gesetzten zahlreichen Bombarden die feindlichen Fahrzeuge zu zerstören. Nach mancher Woche kehrten sie im Frühlingsanfang unverrichteter Sache an die deutsche Küste zurück, zertrennten sich, und jeder Geschwaderteil segelte seiner Heimatstadt zu. Der Mangel einheitlicher Leitung, eines straff zusammenfassenden, gebietenden Oberbefehls machte sich, wie schon gar manchmal, geltend; geheime Unterströmungen in dem großen Städtebund traten schädigend hinzu. Während des ganzen Krieges bereits hatte die Beteiligung Lübecks, des Oberhauptes, sich als eine schwächliche gezeigt, es stand im Verdacht, mehr zu hemmen als zu fördern, im Holstenland kam die Rede auf, die von Lübeck führten statt des Schwertes einen Badequast. Ob der Grund dafür in dänischem Gold oder Sonderzusagen des Königs zu suchen war, mochte dieser allein wissen, aber unverkennbar kam er seinem Ziel, das Angedenken Waldemars an der dudeschen Hanse zu rächen, seinen eigenen Haß an ihr zu befriedigen, näher. Triumphierend saß Erich von Pommern auf der Schloßburg seiner neu zur königlichen Residenz erwählten Stadt Kjöbenhavn, die allmählich aus einem Fischerdorf zum ›Kaufmannshafen‹, dem Hauptort des dänischen Reiches emporgewachsen war. Hier verbrachte er seine Zeit unter dem eifrigen Entwurf von Plänen, dem Empfang geheimer Botschaften und dem kaum oberflächlich bemäntelten schöner Frauen, an deren abendlichen Besuchen im Schloß seine Gemahlin nicht Anteil nahm. Doch er übte eine bezwingende Gewalt auf weibliche Sinne, der sich auch Philippa von England, trotzdem sie keinen Zutritt zu jenen Empfängen erhielt, nicht entziehen konnte. Die ihr zugefügte Schmach außer acht lassend, sann sie beständig nach Mitteln zur Gewinnung der Gunst ihres hohen Gemahls einher, die sie freilich durch ihre eigene Naturmitgift an Schönheit und einnehmendem Behaben so wenig wie durch königliche Schmückung ihrer schlanken Gestalt bei dem neuerungssüchtigen Nachkommen Waldemars Atterdag zu erringen vermochte. Aber als Tochter des Königs von England besaß sie noch eine andere Mitgift, reichhaltiges englisches Gold, und wie Erich jetzt von einem längeren Aufenthalt in Stockholm zurückkehrte, empfing Philippa ihn mit einer eigentümlichen, für ihre Nebenbuhlerinnen nicht herstellbaren Überraschung. Denn während seiner Abwesenheit hatte sie eine mächtige, mit zwölfhundert Kriegsleuten besetzte Flotte ausgerüstet und die Zahl der Schiffe genau nach derjenigen, den siebenundsiebzig, bemessen, mit denen die Hanse einstmals seinen Urältervater überzogen und zu Boden gestürzt hatte. Mit welchem Dank er ihr diese bedeutungsvoll sinnige Gabe gelohnt habe, entzog sich der Mitteilung durch Augenzeugen, doch sein ungewohntes Verhalten gegen sie wenigstens in den nächstfolgenden Tagen bewies zweifellos, daß sie diesmal auf ein wirksames Mittel geraten und einem in ihm brennenden Verlangen entgegengekommen sei.

An den mannigfachen Wechselfällen des nun bereits zwei Jahre andauernden Krieges nahm Jörg von der Lippe keinerlei Anteil, betrieb scheinbar in gleichmütiger und gleichgültiger Weise nur den Seehandel seines Vaters als Schiffsführer weiter. Ihn drängte nicht Ehrgeiz, sich in Kämpfen hervorzutun. die ihm keine Aussicht boten, den an der Küste von Jasmund mißratenen nächtlichen Anschlag besser zum Gelingen zu bringen, und auch nach dem Kreidehaus unter der Stubbenkammer spannte er nicht mehr bei heimlicher Nachtfahrt die Segel. Doch in ihm sah's anders aus, als sich's in seinem Tun und ruhigen Gesichtsausdruck kundgab. Er hatte vordem nicht nur über den Glauben seiner Mannschaft an Seeweiber gelacht, auch die Macht verspottet, die ein menschliches Wesen des andern Geschlechts über einen Mann gewinnen könne; nur Schwächlinge vermöge ein Weib mit Liebestorheit zu berücken. Aber wie seine sichere Vernunft in der Mondnacht am Hertha-See doch eine Weile lang zum Schwanken gekommen, war in noch stärkerem Maß seine andere Selbstzuversicht zu vollständigem Zusammenbruch geraten. Ob ihm der Sinn durch Zauberkünste oder vom Klopfen des Bluts in seinem eigenen Innern behext worden, er sah nichts mehr vor Augen, als das Antlitz Gesas, der jungen, hörte nur noch den Klang ihrer Stimme im Ohr, sie war das Denken seines Tages und das Traumbild seiner Nächte. Bertram Wigbolds Schilderung von ihr auf Nykjöbingschloß war zutreffend gewesen, etwas Wundervolles, dem nichts anderes gleichkam, hatte die Vereinigung ihrer Abkunft vom Blut der schönen Ingeborg und dem Claus Störtebekers vollbracht; sie regte den Eindruck, als ob Sonne und Mond an ihr geschaffen habe, das glanzpeilende Meer und der geheimnisvolle Laubwald um den dunklen Hertha-See. Und ob sie fraglos nichts von der mythischen Germanengöttin an diesem an sich trug, von der Tacitus berichtete, hatte der römische Geschichtschreiber sie doch in Einem für Jörg von der Lippe richtig gekennzeichnet: Wer sie mit Augen erblicke, sei dem Tode verfallen, dem Hinsterben an verzehrender Sehnsucht, wenn ihm nicht gelinge, sie als die Seinige in sein Haus zu führen. Daß sie dies nur als anvermählte Ehefrau betrete, hielt aber ihre Mutter untragbare Wacht, und Herrn Nikolaus' Augen waren wider weiblichen Zauber mit Diamanthärte gepanzert; ihm galt die Schönheit so wenig als die königliche Abstammung, für den Burgemeistersohn bedankten beide ihn gewichtlos gegen eine Tochter aus stralsundischem Patriziergeschlecht, Das wußte der Junge genau, daran war nicht zu rütteln; nur der gebundene skandinavische König hätte ihm als Brautwerber bei dem Alten dienen gekonnt, oder etwas Ungeheures mußte vom Himmel fallen, dessen Starrsinn zu übermeistern. Etwas Derartiges von oben herunterzureißen, war aber Jörg trotz seinen zwei kräftigen Armen und dem festen Willen außer stande, vermochte nichts weiter zu tun, als den Winter hindurch auf der Danziger Helling einen Schiffsbau zu betreiben, nicht vom Gelde seines Vaters, sondern aus dem Erlös für die in der Kreide der Stubbenkammer verborgene Hinterlassenschaft Claus Störtebekers. Die sah Gesa, die Mutter, als einen Brautschatz ihrer Tochter an, für diese aufgespart, daß sie, nicht mit leerer Hand kommend, ihn einem Freier zubringe, und die nächtliche Ratschlagung am Hertha-See war zum Schluß gelangt, das Vorhaben des jungen Schiffers damit zu ermöglichen. Sonderliche Zuversicht trug zwar die Hoffnung, die er auf seinen Koggenbau setzte, nicht in sich; im Osten gab's ein Spruchwort: »Wer kann gegen Gott und Groß-Nowgorod?« und wider dies letztere hätt' er's, wäre damit zu helfen gewesen, mutig auf einen Versuch ankommen lassen. Doch in seinem Innern klang das Wort in einer andern Fassung: »Wer kann gegen den Alten?« wenn er den Augen, der vorgeschobenen Unterlippe und der Stimme desselben gegenüberstand. Bei der Vorstellung kroch aller Willenstrotz des Jungen zu Kreuz, war kein Wolf oder Bär, sondern duckte sich scheu wie ein Hase beim Rüdengebell mit niedergebogenen Ohren in eine Bodenrille zusammen. Und so wußte Jörg von der Lippe keinen Rat, als sich, so viel sich's machen ließ, vor den gefürchteten Augen des Altburgemeisters geborgen zu halten und heimlich seine Veranstaltung auf der Helling von Danzig weiter zu betreiben.

Der Magister Bertram Wigbold war nach Stralsund zurückgekehrt, wo er, ohne guten Geschmack daran zu finden, an der Erinnerungskost zehrte, daß Erich von Pommern ihn an verhohlener Klugheit überboten hatte. Auf ein Haar wär's ihm obendrein dabei oben am Mast um den Hals gegangen; das beschwerte ihn indes in der Vorstellung nur wenig, es hätte ihm zu Recht drauf gestanden, und wenn er auch kein Seeräuber geworden, wie sein Bruder, trieb sich dessen furchtlos verwegenes Blut doch auch in seinen Adern um. Wahrheit aber war ihm auf Nykjöbingschloß vom Mund gekommen, daß er bei seiner Bemühung um Claus Störtebekers Enkelkind Hoffnung auf einen kleinen Lohn auch für sich setze, freilich nicht aus der Hand König Erichs, doch aus der Jörgs von der Lippe. Denn er fristete in der Tat sein Dasein unter kärglichsten Umständen, und das über ihn herausgerückte Alter ließ ihm etwas Verbesserung und Sicherung vor dem schlimmsten Darben als recht wünschenswert erscheinen. Dafür hatte der Fehlschlag am Jasmunder Strand zwar die Aussicht verdorben, doch sein Kopf drüben auf Falster etwas in sich aufgenommen und mit herübergebracht, das er eigentümlich eingehakt drin bewahrte. Zwei Gesichter aus der Bankettrunde im Schloß waren's, die der zwei Junker Hanns Moltke und Henning Manteuffel, besonders das des letzteren mit dem an der rechten Schläfe wunderlich über's Ohr niedergetrausten Haar, und ihm hielt sich daran geknüpft, in dem Aufenthalt der beiden am Hoflager des Königs habe etwas Verborgenes, der deutschen Hanse Geltendes gesteckt. Was dies sein möge, wußte der Magister sich allerdings nicht zu sagen, doch trug er ein Gefühl in sich, er werde ihnen noch einmal wieder begegnen, und im Gang des Winters zeigte sich, daß diese Mutmaßung ihn in der Tat nicht getäuscht hatte. Im Dämmern eines mit dichtem Schneegestöber über Stralsund einfallenden Märzabends führte der Zufall ihm nahe einen Wann vorüber, dessen Äußeres durchaus keine Ähnlichkeit mit einem jener beiden darbot, die lange Bärte und im Gesicht frech funkelnde Augen getragen hatten. Dieser war glatt geschoren, dabei lag ein halb blöder Ausdruck in seinem Blick, ein sich kümmerlich nährender kleiner Gewerbtreiber schien's zu sein. Nur sein ungewöhnlich, als halte es etwas verborgen, tief über die rechte Schläfe niederhängendes Kopfhaar ließ Wigbolds Augen stutzen, so daß er unvermerkt dem in der engen Wassergasse in die Metschankstube zum Kannenhals Eintretenden nachfolgte. Hier brachte er vom Wirt unauffällig in Erfahrung, ein ›Paternostermacher‹, ein Bernsteinsucher und -dreher sei's, der schon seit dem Winterbeginn in der Stadt dem Absatz seiner Waren nachgehe, Karsten Jesup heiße und abends gemeiniglich zu einem Trunk in der Schenke vorkehre. Das nutzte der Magister zu weiterer klug angestellter Beobachtung, aus der sich ihm bald als zweifellos ergab, er habe in dem Karsten Jesup den Junker Henning Manteuffel wieder angetroffen, und dieser trage sein Haar so absonders, weil ihm an der Seite das Ohr fehle, das ihm mutmaßlich einmal irgendwo am ›Kaak‹, dem Schandpranger, vom Büttel abgeschnitten worden sei.

Als Bertram Wigbold diese Erkenntnis aufgegangen, entwickelte er eine außerordentliche Befähigung zum Kundschaftern, heftete sich, ebenfalls seine äußere Erscheinung zur Unerkennbarkeit verändernd, an die Fersen des verdächtigen Gastes und Landsmanns Erichs von Pommern und entdeckte, daß jener seinen Bernsteinhandel nach Einbruch der Dunkelheit bei den wenigen, in der vom Päpstlichen Bannfluch betroffenen Stadt noch verbliebenen Pfaffen betrieb. Nicht minder jedoch in den Häusern der Ratsherren, die heimlich dem früheren Regiment und dem aus Stralsund vertriebenen kirchlichen Oberhaupt Kurt von Bonow anhingen, und daneben besuchte der Paternostermacher allnächtlich die Gildestuben mehrerer Zünfte, besonders die der Brauer, unter denen verhohlene Erbitterung über den Krieg herrschte, weil dieser ihnen die höchst einträgliche Bierausfuhr nach den skandinavischen Ländern aufgehoben. Durch eine Reihe von Wochen, bis zum Frühlingsanfang, setzte der Magister behutsam und schweigsam seine Ausspürung fort, aber dann im Maibeginn erbat er plötzlich einmal noch spät abends dringlich Vorlaß bei dem Altburgemeister Nikolaus von der Lippe, und das ihm verstattete Gehör zog jählings überraschende Folge nach sich. Denn um kaum eine Stunde nachher durchhellte vielfaches Fackelgeloder die nachtdunklen Straßen der Stadt, Hunderte von schwer gewaffneten Bürgern drangen da und dort in die Gildestuben ein, erbrachen die verschlossenen Türen vieler, auch mancher vornehmer Häuser und nahmen über hundert Ratsherren, Pfaffen und Zunfthäupter aus ihren Betten in Verhaft, um sie sonder Rücksicht auf Stand und Namen ohne Kleid und Schuh in den ›Turm‹ zu werfen. Befunde stellten klar heraus, daß für die nächstfolgende Nacht ein Aufruhr geplant worden, bei welchem dem draußen mit seinem mecklenburgischen Rittergefolge harrenden Kurt von Bonow die Tore geöffnet und das Stadtregiment niedergemacht werden sollte. Doch durch die noch rechtzeitige Auskundung Bertram Wigbolds und die blitzschnelle Entschlossenheit des Herrn Nikolaus war dies Vorhaben zum Gegenteil, dem Verderben der Aufrührer ausgeschlagen: nun suchte, wer von diesen noch zeitig erwachte, über die Stadtmauer davon zu kommen, aber nur wenigen gelang's, oder die ins Freie hinaus Geflüchteten ertranken draußen in den großen, überall Stralsund umgürtenden Teichwassern. Einer derer, die sich zu retten vermochten, war der Seeräuber Henning Manteuffel; er schwamm wie eine Ratte und entkam, bloß und nackt, ans andre Ufer, um seinem Genossen Hanns Moltke im Lager der Mecklenburger die unwillkommene Botschaft zu bringen, daß der Anschlag König Erichs gegen die Pfefferkrämer mißraten und sein reichlich ausgestreutes Gold nutzlos vergeudet worden sei. Der Magister Wigbold hatte sich an ihm eine Genugtuung für das auf Rügen verlorene Spiel verschafft und diesmal sich selbst einen wohlverdient nicht karg bemessenen, für seinen Lebensrest voll ausreichenden Lohn eingescheuert. Anderer Lohn ward dagegen schon am nächsten Tag einem halben Dutzend der Hauptverschwörer zu teil, denen die breite Schwertklinge des Meisters Hans' hurtig die Köpfe vom Rumpf abtrennte. Nikolaus von der Lippe hielt ein langwieriges Rechtsverfahren durchaus überflüssig, erachtete vielmehr eine derartige schleunige Vollstreckung als äußerst förderlich, sowohl für das allgemeine Beste, wie auch für eine nützliche Einwirkung auf eine mehr oder minder große Anzahl von Köpfen, die noch in der Stille ähnlichen Umsturzgedanken nachhängen mochten, und er machte sich nichts draus, daß bei der Hinrichtung der Boden des Alten Markts sich vor seinem Hause einmal wieder sehr lebhaft rot färbte. Sein Gemüt litt so wenig an empfindsamer Schwäche, wie das seiner Zeit überhaupt, der die von überwältigten Gegnern herrührende Blutfarbe nur eine erfreuliche Augenweide bereitete.

Das hatte sich am dritten Maitage zugetragen und infolge davon Stralsunds Bevölkerung sich erst spät über Mitternacht hinaus zur Ruhe gelegt. Doch in der Erwartung eines jetzt friedfertigen und ausgiebigen Schlafs sah sie sich übel enttäuscht, ward vielmehr bereits nach kurzen Stunden im ersten Morgengrau durch ein dumpf-verworrenes Getöse, dann lautes Alarmgeschrei, Hörnerrufe und das Krachen von Donnerbüchsen wieder aufgeschreckt. Von der Hafenmauer her scholl das wilde Gelärm, und als die hastig mit Waffen hinzustürzenden Bürger dorthin gelangten, trafen sie noch gerade rechtzeitig ein, um der kleinen Schar von Mauerwächtern Hilfe zu leisten, einen auf Leitern anstürmenden dichten Feindesschwarm von den obersten Sprossen in die Tiefe zurückzuwerfen. An der großen Ladebrücke entlang aber drängte sich Mast an Mast, Kastell an Kastell der siebenundsiebzig Schiffe, mit denen das Liebesverlangen der Königin Philippa um die Gunst ihres Gemahls geworben hatte; bei Nacht und Nebel war die Flotte unbemerkt durch den Gellen herangekommen, um endlich den Lieblingswunsch Erichs von Pommern aus Knabenzeit her zur Ausführung zu bringen. Heute trug er die sichere Zuversicht in sich, Stralsund zu einem Kohlenhaufen zu machen, aber er hatte mit dem für die Nacht festgesetzten Aufstand in der Stadt, dem gleichzeitigen Angriff Kurt von Bonows von der Landseite her gerechnet und von dem in letzter Stunde hereingebrochenen Mißgeschick der Anstiftung Henning Manteuffels auf der See keine Kunde erhalten. So drohte die Gefahr der Überrumpelung nur während der kurzen Zwischenzeit, bis die mannhaften Stadtbürger zahlreich genug zur Abwehr herbeigeeilt waren; dann blieb bald außer Zweifel, daß die Angreifer trotz ihrer großen Überzahl gegen die gewaltige Mauerstärke nichts auszurichten vermöchten. Zwar schleuderten von den Schiffskastellen die Bliden und Mangen einen Hagel von schweren Steinen, Fässern mit Brennstoffen und Tonnen mit dänischem Stinkpulver herüber, daß die Verteidiger sich die Nasen mit Tüchern verbinden mußten, doch im Erfolg ähnelte aller Kraftaufwand nur dem Kinderspiel, das Erich von Pommern einstmals am Strand bei Rügenwalde gegen die von ihm aus Tang aufgebaute Stadt Stralsund betrieben hatte. Barhaupt, vom wehenden weißen Haar umflattert, befeuerte der Altburgemeister mit Donnerstimme seine Leute, und den dänischen Wappnern blieb nichts, als von dem aussichtslosen Ansturm ablassend, in ohnmächtiger Wut alles, was ihre Hände an der Ladebrücke erreichen konnten, zu zerhauen und zerstückeln, das Sankt Jürgen-Kloster und die sonstigen Bauwerke draußen vor der Mauer auszuplündern und in Brand zu setzen. Dazu schrieen sie den Bürgern ein schon uraltes Schimpfwort ins Gesicht hinauf: »Tydske Garper!« nicht grade sinnvoll und zutreffend, denn das zweite Wort bedeutete ›Läuse‹, und mit solchen war das dänische Volk von jeher ausnehmend viel reichlicher begabt als das deutsche. So tobten die Abgewiesenen in machtlosem Grimm, wie einst die griechischen Helden um die Mauern Trojas, mit herausforderndem Maulwerk und Hohngeschrei bis gegen Mittag umher, dann ging ihnen allmählich die Zwecklosigkeit ihres Treibens auf, daß sie eigentlich sich selbst verspotteten, sie setzten Segel bei und verschwanden, da der Wind sie nicht in den Gellen zurückließ; bald durch den Strela-Sund nach Süden. Ein ungeheures Gelärme im Grund um nichts war's gewesen; die rauchenden Trümmer am Hafen entlang bezeugten wohl die Tatsächlichkeit des vergeblichen, wie ein Nachtspuk abgesunkenen Überfalls, indes der zugefügte Schaden hatte für die reiche Stadt Stralsund fraglos nur geringe Bedeutung. Doch Nikolaus von der Lippe stand noch auf der hohen Mauer, starrte mit weitaufgerissenen Augen hinter den davonziehenden Segeln drein und ballte ihnen eine Faust nach. An seine Seite war durch Zufall der Magister Wigbold geraten, dem vom Mund kam: »Die sind gut nach Haus geschickt und können sich am Noresund die Köpfe bepflastern lassen.« Abbrechend aber setzte er verwundert hinzu: »Was habet Ihr, Herr Burgemeister?«

Dessen breitmächtiges, sonst jederzeit eine wie steinerne Unbeweglichkeit wahrendes Gesicht zeigte einen fremdabsonderlichen Ausdruck, und wunderlich laut mit sich selbst redend, stieß er jetzt über die vorgeschobene Unterlippe: »Halt sie! Wer hält sie fest? Sie haben mich einen Lausekerl genannt – mit Eisen will ich ihnen das Maul zustopfen! Schick' mir den Teufel aus der Hölle her dazu und er soll dafür verlangen, was er will –«

Augenscheinlich hatte bei den wilden Vorgängen der beiden letzten Nächte und Tage die eiserne Kraft im Kopf des Herrn Nikolaus doch nicht standgehalten. Leiblich stand er hoch aufrecht da, aber sein Gehirn war von Erschöpfung überwältigt, und sein Mund sprach wirre Dinge vor sich hinaus.

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