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XIV

Vier Tagereisen von Japan entfernt, auf dem Weg nach Hawaii, brach an Bord Meuterei aus. Was Dr. Renault mit eigenen Augen sah und später erfuhr, ergab folgendes Bild:

Es geschah am hellichten Tag, während die Passagiere im Speisesaal beim Lunch saßen – wahrscheinlich hatten die Aufrührer sich ihrer versichern wollen, während sie alle an einem Ort beisammen waren. Dr. Renault hatte sich etwas verspätet und war auf dem Weg zum Speisesaal, als er Schüsse hörte, drei, vier schnell hintereinander, und dann noch einige mit kurzen Zwischenräumen. Die Explosion des rauchfreien Pulvers klang wie Peitschenknallen, und vom obersten Deck hörte er laute Kommandorufe.

Er eilte zu einer Stelle, von der er zur Kommandobrücke hinaufsehen konnte. Viele Menschen liefen dort durcheinander, und unterhalb der Kommandobrücke sah er an der Fassade einen Mann herabklettern, der sich geschickt mit Händen und Füßen an den schmalen Leisten und Vorsprüngen festhielt. Es war Steuermann Bruce. Als er das Deck des dritten Stockwerks bis auf einige Meter erreicht hatte, sprang er mit einem Bums herab. Von oben wurde von Personen, die sich über die Persenning beugten, auf ihn geschossen. In der äußersten Ecke der Kommandobrücke, ganz links, stand ein Mann, die Hände hoch, eine Gewehrmündung vor seiner Brust. Es war der Kapitän, der auf seiner eigenen Kommandobrücke zum Gefangenen gemacht worden war. Steuermann Bruce war in seiner Kajüte verschwunden, kam aber sogleich wieder heraus, mit einem Trommelrevolver bewaffnet. Sechs dröhnende Schüsse gab er auf die Kommandobrücke ab, der schwere Revolver sprang in seiner Hand und sandte Rauchwolken aus.

Nachdem er seinen letzten Schuß gelöst hatte, traten drei Männer auf ihn zu. Als der Steuermann sich zu ihnen umdrehte, sah Dr. Renault sein Gesicht, und nie würde er den glühenden Zorn und die tiefe Verachtung vergessen, die sich auf seinen Zügen malten. Er kochte vor Todesverachtung, seine blauen Augen loderten wie Flammen im Kopf. Als er die drei auf sich zukommen sah, schleuderte er ihnen den leeren Revolver mit voller Wucht entgegen. Der Vorderste duckte sich schnell, die Waffe traf den zweiten, der schlug beide Hände vors Gesicht und setzte sich aufs Deck. Der nächste aber ging geradewegs auf Bruce zu und schoß ihm eine Kugel ins Herz. Der Kopf des Steuermanns sank nach vorn, er war tot, bevor er umfiel, die lange Gestalt sank in sich zusammen, als habe sie keine Knochen, das Gesicht schlug auf das Deck. Der Mann aber, der auf ihn geschossen hatte, war Serge.

Die Reihenfolge von Ereignissen, die sich in wenigen Sekunden und an verschiedenen Orten abspielen, kann nur schwer festgestellt werden. Dr. Renault war Zeuge, wie mehrere Männer auf dem Promenadendeck den Liegestuhl, in dem die alte Generalin eingepackt lag, an beiden Enden ergriffen, hochhoben und mit ihm zu der Stelle liefen, wo die Glaswand aufhörte. Dort schwangen sie ihn über die Reling und warfen ihn ins Meer. Die alte, wehrlose Dame hatte keine Miene verzogen. Darauf liefen die Männer auf den General zu, hoben auch ihn mit Liegestuhl und allem hoch und liefen zur Reling. Er aber donnerte, Halt! Sie liefen weiter. In dem Augenblick aber, als sie ihn über die Reling schwangen, reckte er sich aus seinem Stuhl und lachte aus vollem Hals. Sie schwangen ihn ein paarmal, und dann flog der General mit schallendem Gelächter ins Meer. Das war doch endlich einmal ein guter Witz!

Als Dr. Renault, empört über den Anblick, herbeilaufen wollte, wurde auf ihn geschossen, etwas schwirrte an ihm vorbei, das wie ein Hammerschlag auf einen Stein gleich neben seinem Ohr klang. Er trat zur Seite, sah neben sich eine Tür mit einem Messingring, öffnete sie und trat ein. Es war der Schreibsalon mit den gedämpften Lampen auf den Schreibtischen und koketten apfelgrünen Möbeln. Er war leer.

Dr. Renault spähte durch Gänge und um Ecken und stellte fest, daß der Dampfer in den Händen der Besatzung sei. Vor den Türen zum Speisesaal standen Wachen mit Gewehren. Die Passagiere waren Gefangene.

Von weitem sah er Serge mit Gefolge auf dem Weg von einem Operationsfeld zum andern. Der Solist war wiederum ein ansehnliches Stück aufgerückt. Er ging hocherhobenen Hauptes, einen Ausdruck tödlicher Entschlossenheit in den bleichen Zügen. Es ließ sich nicht leugnen, er hatte etwas Aufrechtes, Herrscherhaftes, Haltung und eine wilde Mähne. Spielte er auch nur eine Rolle, so war das Stück, in dem er auftrat, doch entsetzliche Wirklichkeit geworden.

Dr. Renault sah ein, daß es für ihn in diesem Theater nichts zu tun gab, nicht einmal den Vorhang durfte er ziehen, wie der Dilettant im Faust. Er kehrte in seine Kabine zurück, setzte sich und lauschte auf Laute von draußen. Schüsse fielen nicht mehr, und die Maschine ging so ruhig wie immer. Hin- und Herlaufen auf Deck und den Gängen, und ab und zu hysterisches Geschrei berichteten noch von Unruhe an Bord, bald aber trat unheimliche Stille ein, als sei nichts geschehen, während tatsächlich alles von unten nach oben gekehrt war.

Während einer halben Stunde saß Dr. Renault an seinem Tisch, ohne sich zu rühren. Schmerz und Empörung überwältigten ihn, wenn er an den sinnlosen Tod des jungen, lebensfrohen Steuermanns Bruce dachte. Wie unerschrocken hatte er vor dem Feind gestanden, ohne Deckung, mit rotem Kopf, wie ein Schuljunge bei einer Schlägerei, während der andere mit dem käsefarbenen Gesicht sich im Schutz der Treppe Zeit ließ. Erst nachdem der Steuermann seinen Revolver entleert hatte, war er mit zehn Schüssen in dem seinen aus seinem Versteck hervorgekommen, den Kopf im Nacken, und hatte sein Opfer niedergestreckt. Nun trieb der große, vergnügte Steuermann, dessen rote Brauen vor Wohlwollen förmlich knisterten, der keinen Feind gehabt hatte, mausetot im Meer, die Hacken nach oben gekehrt, die weitaufgerissenen, glasigen Augen zur Tiefe gerichtet, eine Wasserleiche.

Mit Gewehrkolben wurde gegen Dr. Renaults Tür gedonnert, er erhob sich und griff nach der schweren Flintsteinaxt, die vor ihm auf dem Tisch lag. Einst hatte ein langarmiger, behaarter Urmensch sie in der Hand gehalten. Als die Tür aufsprang, stand er damit schlagbereit.

Herein trat Serge mit einem Browning bewaffnet, und hinter ihm tauchten drei große Heizer auf, mit Karabinern in den tätowierten Armen. Dem imponierenden Aufzug zum Trotz hätte Dr. Renault um ein Haar dem Missetäter mit seiner Axt den Schädel eingeschlagen und die Folgen auf sich genommen. Indessen ereignete sich etwas, das der Sache eine ganz neue Wendung gab. Hinter dem Rücken der Heizer sah Dr. Renault plötzlich Meister Franck, der sich reckte, als wünsche er, von ihm gesehen zu werden …

»Haben Sie Waffen?« fragte Serge herrisch und mit Stentorstimme. Er war wie berauscht von grenzenlosem Selbstbewußtsein, war der Herrscher. Den Kopf trug er stolz aufgerichtet, als sähe er sein Profil bereits auf den Münzen des Landes. So erhaben war er, daß Untertanen wie Dr. Renault überhaupt nicht für ihn existierten. Das Opfer war es nicht wert, daß die Augen des Herrschers auf ihm ruhten, es sollte sich wie eine Maus fühlen.

Nach Waffen befragt, streckte Dr. Renault ihm schweigend seine Flintsteinaxt entgegen.

Serge starrte sie an. Machte man sich über ihn lustig? In seinen Augen blitzte Mord.

»Er liefert gehorsam ab, was er an Waffen besitzt«, sagte Meister Franck begütigend und trat einige Schritte vor. Man wußte nicht, als er sein Gebiß entblößte, ob es ein Lächeln oder eine unangenehme Grimasse war. »Großen Schaden kann man mit dem Ding nicht anrichten! Schußwaffen oder Messer?« fragte er laut, als sei Dr. Renault schwerhörig oder schwer von Begriff.

Dr. Renault schüttelte nur stumm den Kopf.

»Durchsuchung überflüssig«, sagte Meister Franck. »Was soll ein Arzt mit Waffen?«

»Kajüte wird geräumt!« kommandierte Serge.

»Wäre es nicht besser, er bliebe hier?« meinte Meister Franck, indem er sich an Serge wandte. »Kamerad Renault gehört natürlich zur Mannschaft wie die übrigen Passagiere. Wir haben aber Verwendung für Ärzte an Bord, und er hat alle seine Instrumente und Bücher hier …«

»Weiter!« befahl Serge, und der Trupp begab sich zur nächsten Kajüte. Kurz darauf vernahm Dr. Renault aus der Nachbarkajüte, in der eine Dame wohnte, lautes Geschrei, und hörte, wie sie hinausgejagt und fortgeführt wurde. Dasselbe wiederholte sich noch mehrmals. Als der Trupp alle Kajüten durchsucht hatte, wurde es still.

Den Rest des Tages verbrachte Dr. Renault in seiner Kabine. Da sich nichts weiter ereignete, begann er zu arbeiten. In Kolombo und Hongkong hatte er sich Bücher verschafft, die er für sein Werk benötigte und bald war er in seine Arbeit vertieft, die ihn auf andere Gedanken brachte.

Abends lauschte er unwillkürlich auf das Signal zum Essen, aber natürlich vergebens. Er hatte keinen Lunch gegessen und ging hinaus, um sich umzusehen. Irgendwie und wo mußte es doch etwas zu essen geben.

Vorsichtig spähte er in den Speisesaal und sah, daß er von einer lauten, vergnügten Gesellschaft besetzt war, buschigen Köpfen um die Tische herum. Die Besatzung war dort eingezogen, Heizer, Kellner und Aufwartefrauen. Dort schien es an nichts zu fehlen.

Dr. Renault stieg in den Schiffsraum hinunter, suchte überall und fand schließlich die Passagiere, die auf dem Gang vor der großen Küchenkombüse Schlange standen; die Reihe war so lang, daß man das Ende nicht sehen konnte. Jeder hielt einen Blechnapf in der Hand, und von der Kombüse wurden die Portionen mit einem Suppenlöffel, klatsch! in den Napf gefüllt. Dann kam der nächste dran, es ging mit Dampf. Die Passagiere standen geduldig da, sehr verschieden bekleidet, und hielten ihren Blick über die Schulter des Vordermannes gerichtet, um zu sehen, ob sie nicht bald drankämen. Dr. Renault kannte einige von ihnen, wenige aber kannten ihn. Sie warfen ihm furchtsame Seitenblicke zu, in dem Glauben, er sei ein Vorgesetzter. Es war der Blick eines hungrigen Hundes, der sich seiner Schuld bewußt ist. Sie schienen alle nur von dem einen Wunsch beseelt zu sein, so schnell wie möglich dranzukommen. Dr. Renault nahm ganz hinten in der Schlange Aufstellung, bekam seinen Blechnapf ausgeliefert, und nach anderthalb Stunden Wartezeit erhielt er mit einem Klatsch seine Portion Haferbrei und einen halben Liter Milch. Nie hatte Haferbrei Dr. Renault besser geschmeckt; die Wartezeit war ihm nicht lang geworden. Er hatte sie dadurch verkürzt, daß er ein Problem in seinem Kopf wälzte. Endlich hatte er einmal Zeit – er, der nie Zeit gehabt hatte.

Später am Abend bekam er Besuch von Meister Franck. Hastig, leise trat er herein und saß ein paar Minuten in seiner Kabine.

»Ja, ich habe mich den Meuterern angeschlossen«, sagte er kaum hörbar und blickte vorsichtig umher. »Ich konnte es nicht ertragen, daß andere mit meiner Maschine umgingen. Auf diese Weise kann ich sie doch wenigstens überwachen.«

Er saß eine Weile schweigend mit vergrämtem Mund.

»Bruce …« stammelte er schließlich. Weiter kam er nicht. Es arbeitete in seiner Kehle, der Mund verzerrte sich, als sei er am Ersticken, die Schultern bebten. Er preßte sich die Hand vor den Mund, eine große schwielige Hand mit einem verkrüppelten Zeigefinger, aus den rotunterlaufenden Augen sprach Verzweiflung. Schließlich atmete er tief auf und faßte sich, saß aber völlig erschöpft da, während Tränen über seine Backen rollten.

»Den Radio-Telegraphisten haben sie auch erschossen«, flüsterte er nach einer Weile. »Das war das erste. Aber jetzt muß ich zur Heizerversammlung gehen. Ich komme wieder.«

Er ging, hastig und leise, wie er gekommen.

Dr. Renault ordnete seine Papiere und arbeitete weiter.


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