Walther Kabel
Die Antenne im fünften Stock
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1. Kapitel.
Auf Welle 900 . . .

Sieglinde von Lauken trat vom Fenster zurück, ließ den gelben Vorhang fallen und ging ins Nebenzimmer, wo die verwitwete Exzellenz von Lauken, eine Brille auf der spitzen, kampflustigen Nase, an einer Filet-Antik-Decke eifrigst stichelte und gerade das Muster abzählte.

Sieglinde sagte atemlos:

»Mama, sie haben sie wieder herausgestreckt . . . Mit dem Operngucker sieht man's ganz deutlich . . .«

Die Mama rief unwillig:

»Still, Sigi . . . Ich zähle . . .«

Die aschblonde Sigi schaute nach der Stutzuhr auf dem Damenschreibtisch . . .

Dachte: »Wieder genau halb zwölf . . . Das fünftemal also . . .

Ihre Exzellenz war jetzt mit dem Zählen fertig.

»Also, was sagtest Du, Kind?« meinte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.

»Die Antenne ist wieder herausgeschoben worden, Mama . . .«

Exzellenz zuckte die mageren Schultern . . .

»Was geht Dich das an, Sigi! Wenn die Leute dort oben in der aufgestockten Wohnung Schwarzhörer sind, – mögen sie! Das muß jeder mit sich selbst abmachen. Eine Gemeinheit bleibt es stets, die Funkgesellschaft um die zwei Mark monatlich zu betrügen . . .«

Sigi setzte sich in die Sofaecke.

Ihr rundes frisches Gesicht war sehr nachdenklich.

»Das sind keine Schwarzhörer, Mama . . . Die Leute haben ein Auto, haben echte Kelims an den Fenstern. Die Dame trägt einen Pelz, der mindestens zweitausend Mark wert ist . . .«

»Der reine Steckbrief, Sigi!« Und jetzt schaute die Exzellenz auf und warf ihrer Einzigen einen bitterbösen Blick zu . . .

»Schreibe lieber die Doktorarbeit zu Ende ab,« fuhr sie wirklich ärgerlich fort. »Jeden Abend vertrödelst Du eine halbe Stunde damit, diese Leute zu beobachten. Ich begreife Dich nicht!«

»Die Abschrift ist fertig, Mama. Es ist wirklich schade, daß man mit Dir so gar nichts durchsprechen kann . . . – Verzeih – ich meine Dinge, die interessant sind . . .«

»Also eine Antenne!« spöttelte Frau von Lauken – aber sie lächelte schon. »Du bist mit Deinen dreiundzwanzig Jahren noch immer . . .«

. . . unverheiratet – – leider!« ergänzte Sigi mit komischem Seufzer.

»Hm – ich wollte sagen: ein rechter Kindskopf! Und das stimmt . . .

»So?! – Hör mal, Mutti, wenn also ein junges Mädchen Augen hat, die mehr sehen als nur Putz, Tand und die tägliche Misere, – dann soll sie ein Kindskopf sein?! Und wenn ein Mädchen wie ich sich über Dinge Gedanken macht, die offenbar das Tageslicht scheuen, dann – dann . . .«

Exzellenz warf belustigt hin: »Herrgott, Sigi, dann sprich Dir also Deine Vermutungen von der Seele . . . Seit Tagen quälst Du mich damit . . .«

Sieglinde hatte das Kinn in die schmale Hand gestützt. Die Fingerspitzen zeigten einige lila Stellen von dem Farbband der Schreibmaschine . . .

»Also, Mama: das sind niemals Schwarzhörer . . .«

»Was Du beweisen mußt . . .«

»Die Leute stecken die beiden dünnen Eisenstangen, zwischen denen ihre Dreidrahtantenne gespannt ist, immer erst gegen halb zwölf abends heraus. Die Antenne bleibt so eine Stunde etwa hängen . . . Dann wird sie wieder eingeholt, stets bei verdunkelten Fenstern . . .«

»Nun ja – mag sein . . . Sie werden eben englische Sender hören wollen . . .«

»Aber die Leute sind doch wohlhabend, Mama . . . Da könnten sie die Antenne ruhig auch über Tag an den Fenstern belassen und die zwei Mark bezahlen . . .«

Exzellenz gähnte und blickte nach der Stutzuhr hin. Punkt zwölf gingen Laukens zu Bett.

»Noch zehn Minuten,« murmelte die hagere Dame und gähnte wieder . . .

Sigi rief: »Mutti, mit Dir ist's zum Verzweifeln! – Ich bleibe heute auf . . . Ich . . .«

»Unsinn, Kind! Ich denke, wir müssen schwer genug arbeiten . . . Da soll man den Nachtschlaf nicht derartiger Nebensächlichkeiten wegen verkürzen . . .«

Sie stichelte eifrig. »Wenn Du nur bald wieder eine Abschrift bekämest, Sigi . . . Das Frühjahr steht vor der Tür, und Du mußt unbedingt ein neues Kostüm haben . . . Vorgestern sah Dich Regierungsrat Sommer so – so mitleidig an . . . Er merkte wohl, daß Dein Wintermantel gewendet ist . . .«

»Ach – – Sommer!!« Und Sigi beschrieb mit der Hand einen Bogen durch die Luft . . .

»So . . . schnuppe ist er mir, Mutti!« bekräftigte sie nochmals . . .

»Auf wen wartest Du eigentlich?!« Exzellenz erregte sich leicht . . . Ihre Stimme klang scharf . . . »Wenn Sommer um Dich anhält, wirst Du seinen Antrag annehmen . . .

Sigis graublaue Augen flimmerten plötzlich. Um den vollen Mund erschien ein Zug von unbeugsamer Willensstärke . . .

»Wenn er um mich anhält, Mama, werde ich ihn fragen, wieviel ihm die Senta Malten, der Filmstar, jährlich kostet und ob er wirklich nebenher noch eine Frau ernähren kann – trotz seiner Millionen!«

Exzellenz ließ die Stickerei sinken . . .

Schob die Brille hoch . . .

»Sieglinde, das ist die Sprache der Straße . . .!!«

»Das ist die Wahrheit, Mama . . . – Ich bedanke mich bestens für diesen welken Sommer . . . Ich – brauche Mai, Frühling, Frische!«

»Um Gott, – – woher hast Du diese . . .«

»Aus mir selbst, Mama. – Entschuldige, daß ich Dich unterbrach. – Die heutige Zeit ist anders als vor zwölf Jahren. Damals hätte niemand Dir voraussagen dürfen, daß Du einmal für Geschäfte Decken sticken würdest und daß Deine Tochter – Klapperschlange spielen müßte . . . Nehmen wir die Dinge wie sie sind, Mama . . . Und mit den Redensarten von Dazumal aus Marlittschen Romanen gibt sich niemand mehr ab.«

»Leider – – leider! Damals gab es noch Ideale . . .«

»Von denen die Hälfte – falsch war . . .«

»Vielleicht! Immerhin blieb noch die andere Hälfte übrig . . . Und die genügte, andere Menschen zu erziehen . . .«

»Ganz recht . . .« – Sigi war zerstreut. Ihre Gedanken weilten schon wieder drüben im fünften Stock.«

Oh – wenn die Mama geahnt hätte . . .!

Und – – Sigi lächelte spitzbübisch . . .

Exzellenz packte ihre Arbeit zusammen . . . Ihr Gesicht war bekümmert.

»Ach, Sigi, – ich werde doch erst übermorgen fertig,« meinte sie ganz kläglich. »Wieviel Wirtschaftsgeld haben wir eigentlich noch . . .

»Eine Mark und dreißig Pfennig . . .«

Dann haschte Sigi aber nach den Händen der Mutter und fügte lachend hinzu:

»Heute haben wir so viel . . . Morgen bekomme ich für die Abschrift achtzehn Mark und fünfundsiebzig Pfennig. Ich habe es schon ausgerechnet . . .«

»Gott sei Dank!« Und Frau von Lauken nickte ihrer Tochter freudig zu. Der Blick wurde zärtlich und gütig. »Bist ja doch mein wackeres Mädel, Du – Du Kindskopf . . .«

»Trotz der Antenne . . .!! – O Mutti, ich bin ganz etwas anderes . . . – eine Heuchlerin!«

»Du – – Heuchlerin?! Mit Deinem vorlauten Mundwerk . . .!« Exzellenz lachte und erhob sich, begann dann die Betten für sich und Sigi auf den beiden Diwanen herzurichten, die jeder in einem der Zimmer standen. Die anderen drei Räume der Wohnung hatte Exzellenz vermietet.

Sigi half der Mutter.

Und zehn Minuten nach Mitternacht war sie im sogenannten Salon allein, und das war das Erkerzimmer, in dem Mutter und Kind jeden Abend so fleißig schafften.

Das junge Mädchen schaltete das Licht aus und zog dann den gelben Vorhang des mittleren Fensters beiseite, nahm den Operngucker und setzte sich in den einen Korbsessel.

Die Laukensche Wohnung lag im vierten Stock. Sigi brauchte das Fernglas also nur ganz wenig nach oben zu richten, um dort jenseits der Luitpoldstraße die sechs Fenster der aufgestockten Wohnung beobachten zu können . . .

Auch heute waren alle diese sechs Fenster dunkel . . .

Und doch war wieder, nur für ein scharfes Auge zu entdecken, die Antenne zwischen den beiden äußeren Fenstern ausgespannt – an sehr langen dünnen Stäben, die aus Eisen bestehen mußten . . . Jedenfalls hing die Antenne ganz wenig über der Höhe des Dachrandes.

Sigi beobachtete . . .

Und – heute stellte sie etwas Neues fest: dort, wo die Mittelableitung der Antenne in das dritte Fenster schräg hineinlief, war links ein winziger heller Strich zu sehen!

Es brannte dort doch Licht! Das Fenster oder die Fenster waren nur dicht verhängt . . .!

Da kam Sigi mit einem Male ein besonderer Gedanke . . .

Sie selbst besaß einen Detektorapparat, ein ganz billiges Fabrikat mit auswechselbarer Honigwabenspule und einem Drehkondensator. Und hier im Erkerzimmer war eine Antenne an den Wänden gespannt – aus weißbesponnenem Draht, damit die Drähte nicht auffielen . . .

Ein Gedanke . . .

Und Sigi setzte ihn sofort in die Tat um . . .

Zog den Fenstervorhang zu, machte Licht, holte den Apparat aus dem Schranke und stellte ihn auf den Schreibtisch, rückte die Klappermaschine beiseite und stöpselte Antenne, Erde und den Hörer ein, setzte sich und stülpte den Hörer über . . .

Dann stellte sie den Detektor ein. Das war so ein ganz billiger Hebeldetektor. Aber das Bleiglanzkristall war tadellos, gab an jeder Stelle an . . .

Sieglinde hörte zunächst nur Luftgeräusche und die Niederfrequenzstörungen der in der nahen Martin-Luther-Straße vorbeiratternden Elektrischen . . .

Sie drehte den Kondensator von null bis hundertachtzig . . .

Geräusche . . .

Sie wartete – hoffte . . .

Vielleicht traf ihre Vermutung wirklich zu und die Antenne drüben war an einen Sender angeschlossen . . .

Wenn's so war, mußte sie hier so nahe der Sendeantenne unbedingt hören, was die Leute drüben in die Nacht hinausfunkten . . .

Fünf Minuten vergingen . . .

Nichts . . .

Geräusche . . .

Da nahm Sigi eine andere Honigwabenspule mit hundert Windungen und stöpselte sie an Stelle der Fünfziger, die nur für Wellen bis sechshundert Meter reichte, in die betreffenden Buchsen ein . . .

Drehte wieder den Kondensator und – stoppte bei 130 Grad . . .

Sie – hörte etwas . . .

Sie erschrak fast, so deutlich klang die Stimme, die da wirr durcheinander einzelne Buchstaben sprach . . .

A Z K E – Pause – B D A J L E – Pause – und so weiter . . .

Sie überlegte . . .

Nein – das konnte kein Versuchssender eines Radioamateurs sein, denn für diese waren nur die kurzen Wellen bis zweihundert hinauf freigegeben . . .

Und die Welle, auf der diese Buchstaben ihren Detektorapparat erreichten, war nach Spulengröße und Kondensatorstellung mindestens neunhundert . . .

Auch ein Versuchssender der Telefunken-, der Lorenz-Aktiengesellschaft oder der Reichspost kam nicht in Frage.

Also – es konnte nur die Antenne von drüben sein, die diese Buchstaben ausstrahlte . . .

Und immer noch sprach die tiefe, volle Männerstimme nichts als Buchstaben – scheinbar sinnlos durcheinander.

Immer noch . . .

Unwillkürlich griff Sigi nach Papier und Bleistift, schrieb nieder, was sie hörte . . .

Und – – fuhr plötzlich halb empor . . .

Erblaßte . . .

Stierte auf den schwarzen unheimlichen Zauberkasten.

Und – sank wieder in den Schreibsessel zurück – halb ohnmächtig . . .

Da verstummte plötzlich die Trägerwelle des Senders.

Im Telephon war nichts mehr zu hören . . .

Sigi zitterte . . .

Zitternd nahm sie den Hörer ab, schaute sich verstört um . . .

Hatte sie – geträumt . . .?!

Nein – – nein, – klar und scharf hatte sie alles verstanden . . .

Nicht nur Buchstaben zuletzt . . .

Fröstelnd entkleidete sie sich . . .

An Einschlafen war vorläufig nicht zu denken . . .

Wenn . . . wenn er – er es war, dem diese wahnwitzige Drohung gegolten hatte . . .!! –

Endlich der mitleidige Schlaf . . .

Aber wilde Träume schreckten Sigi Lauken immer wieder auf . . .

In diesen Träumen spielte der Herr von drüben eine Hauptrolle . . . nicht die Antenne von drüben . . .

 


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