Egon Erwin Kisch
Geschichten aus sieben Ghettos
Egon Erwin Kisch

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Den Golem wiederzuerwecken

I

Er wohnte im Anbau der hölzernen Synagoge von Wola-Michowa, einem Nest in den Waldkarpaten, und dort lag, als wir in Reservestellung zurückgenommen wurden, unsere Kompanie. Aus und nach Wola-Michowa sprang das Trommelfeuer, der kleingewachsene Jude blieb und erduldete Einquartierungen von Russen, Deutschen und Österreichern; eine Ecke des Zimmers hatte er als Schlafstätte für sich, seine Frau und seinen elfjährigen Sohn hergerichtet und durch einen Vorhang aus zwei Zeltblättern vom übrigen Teil des Raumes abgetrennt.

Hinter dem Ofen lagen, durcheinandergeworfen, Bücher. Die vielen, vielen Soldaten, Offiziere auch, dürften oft lektürehungrig nach ihnen gegriffen haben, aber es waren durchwegs hebräische Drucke, und sie flogen rascher, als sie in die Hand genommen worden waren, auf den Haufen hinter dem Herd zurück. Ich mochte etwas länger in einem der Lederbände geblättert haben, und so entstand aus seiner Frage »Ihr könnt das lesen?« ein Gespräch.

Als der Name Prag fiel, schaute er überrascht auf, und es war an mir, wissen zu wollen, ob er die Stadt kenne. »Ob ich Prag kenne!« rühmte er sich mit verschmitzter Glückseligkeit, aber auf meine Frage, wann er dort gewesen sei, antwortete er: »Noch nie im Leben war ich dort.« – »Wie könnt Ihr also sagen, daß Ihr's kennt?« – »Ich hab's gelernt.« Und er holte aus der Unordnung beim Ofen einen veralteten deutschen Reiseführer von Prag hervor. »Ich hab's gelernt, ich kenn mich aus in der Stadt, vielleicht weiß ich mehr von Prag als ein Prager!« – »Weshalb interessiert Euch gerade diese Stadt?« – »Ich will einmal hinfahren. Prag ist eine schöne Stadt, eine fromme Kille.« Vorsichtig fügte er hinzu: »Kann sein, ich fahre auch anderswo hin . . .«

Später, wohl in der Hoffnung, einmal meine Einladung nach Prag annehmen zu können, gestand er mir: Vor allem interessiere ihn in Prag das Grab des Hohen Rabbi Löw und die Stätte, wo der Sage nach der Golem liege, die Lehmfigur, die einst der Hohe Rabbi Löw geformt und der er Leben eingehaucht hatte. »Wo liegt er denn?« Er machte Ausflüchte, das wisse er nicht genau, aber in Prag werde er's schon finden.

Eines Abends suchte ich mir den Reiseführer von Prag hinter dem Herd hervor; im Stadtplan fanden sich Bleistiftstriche, die die Altneusynagoge mit zwei Gäßchen der Judenstadt verbanden und von dort durch die Neustadt und die Vorstadt Žižkov zum Rand der Karte führten. Bei unserem nächsten Gespräch bemerkte ich, ich hätte einmal gehört, der Golem liege in der Altneusynagoge. Der kleine Jude nickte verneinend. »Ich weiß, warum Ihr das glaubt, Ihr kennt dieses Buch da, nicht wahr?« Nein, ich kannte den dunklen Lederband nicht, den er mit blinder Sicherheit aus dem Foliantenchaos herausgriff und mir vorzulesen begann.

In der Einleitung war ein Gutachten von Dr. A. Berliner, Dozenten am Berliner Rabbinerseminar, zitiert, dieses Buch sei ein Sammelsurium des Aberglaubens und sollte nicht gedruckt, sondern verbrannt werden, ein vernichtendes Urteil, dem der Herausgeber die Antwort entgegensetzt: »Verbrannt soll der werden, der an bewiesene Tatsachen nicht glaubt!«

Der Tempelbewohner von Wola-Michowa war ganz dieser editorialen Ansicht, er zweifelte nicht an der Richtigkeit der in diesem Buch enthaltenen Mitteilungen, wenn er sie auch für unvollständig hielt. Besaß er doch die Fortsetzung, eine handschriftliche Familienchronik, über die er allerdings mit mir erst sprach, als wir miteinander fast befreundet waren und ich ihm hoch und heilig geschworen hatte, nicht nach der Golemfigur zu forschen, bevor er zu mir nach Prag kommen werde. Den dunklen Lederband aber schenkte er mir.

Der Text des Titelblattes lautet: »Meisse punem (Seltsame Geschichten); da sind beschrieben die Maufsim (Wunder) von dem großen berühmten Welts-Gaon (Koryphäe), welcher genannt wird mit Namen Maharal Miprag – Secher zadik wekodosch liwrocho (das Andenken des Frommen und Heiligen sei gesegnet) –, die er vollbracht hat mit Hilfe von dem Golem; beloschen hakodosch we-iwri-deutsch (in hebräischer und jiddischer Sprache), Mouzi leor (verlegt) durch Hirsch Steinmetz in Frisztak, Druck von E. Salat in Lemberg, Bi'Sch'nas (im Jahre) 5671.

Das Buch erzählt, aus welchem Grunde und in welcher Weise nach einer auf dem Hradschin erfolgten Unterredung zwischen Kaiser Rudolf II. und dem Hohen Rabbi Löw dieser dem Golem die Lebenskraft wieder genommen habe. Eine Audienz des Rabbi Löw bei Rudolf II. ist historisch beglaubigt. »Heute am Sonntag, den 10. Adar des Jahres 5352 nach Erschaffung der Welt (23. Februar 1592) erging«, so verzeichnet Rabbi Isak Kohen in seinen Memoiren, »durch den Fürsten Berthier ein Befehl des Kaisers an Mordechai Meisel und Isak Weisl, daß sich mein Schwiegervater Rabbi Löwe in der Burg einfinden solle. Diesem Befehle gemäß begab er sich dahin, von seinem Bruder Rabbi Sinai und mir begleitet. Fürst Berthier führte meinen Schwiegervater in ein anderes Gemach, wo er ihm einen Ehrensitz anwies und ihm gegenüber Platz nahm. Der Fürst befragte ihn über die geheimnisvollen Dinge, sprach aber dabei so laut, daß wir alles hören konnten. Das laute Sprechen hatte seinen guten Grund, es geschah, damit der Kaiser, der hinter einem Vorhang stand, das ganze Gespräch hören könne. Plötzlich öffnete sich der Vorhang, die Majestät trat hervor, richtete an meinen Schwiegervater einige auf die Unterredung bezügliche Fragen und zog sich dann wieder hinter den Vorhang zurück. Den Gegenstand der Unterredung müssen wir aber, wie es bei königlichen Angelegenheiten üblich ist, geheimhalten.«

David Gans, Mathematiker, Historiograph und Freund des kaiserlichen Hofastronomen Tycho de Brahe, berichtet in seiner Chronik, daß Rabbi Löw zeit seines Lebens tiefstes Stillschweigen über den Besuch auf dem Prager Schloß beobachtet habe.

Ohne Zweifel wollte der in Astrologie und Alchimisterei tief versponnene Habsburger etwas über die kabbalistische Geheimwissenschaft erfahren. Daß Rabbi Löw, der Hohe, ihr huldige, war bekannt, und er selbst hat es zugegeben. »Wer diese meine Aussprüche versteht, weiß auch, wie sehr sie in der Weisheit der Kabbala begründet sind«, schreibt er in einer Polemik, und an anderer Stelle beginnt er mit den Worten: »Wenn man die Kabbala kennt, deren Lehren wahr sind . . .«

In dem angeführten Sagenbuch meines Wola-Michowaer Freundes wird nun als Todesanlaß des tönernen Homunkuliden eine nächtliche Audienz hingestellt, die der historisch beglaubigten um zwei Jahre voranging. Der Rabbi habe vom Kaiser die Zusage erlangt, von nun an dürfe niemand mehr die Beschuldigung des Ritualmords erheben und die Judengasse werde vor Ausschreitungen geschützt bleiben. In den darauffolgenden Ostertagen, 1590, kam es nicht mehr zu den alljährlich üblichen Exzessen gegen das Ghetto. Der Golem, vor allem zur Ausforschung von Verbrechen geschaffen, die man den Juden in die Schuhe schob, ward nun eine überflüssige Existenz und konnte beseitigt werden.

»Wieeso hat der Maharal newaar gewesen (vernichtet) den Jossile Golem«, wird ausführlich beschrieben. Der rabbinische Pygmalion beruft seinen Schwiegersohn Jakob Katz und seinen Schüler Jakob Sosson, den Leviten, zu sich, erklärt ihnen, man bedürfe des Lehmkolosses nicht mehr, und gibt dem Jossile Golem den Befehl, heute nacht nicht in der Gerichtsstube zu schlafen, sondern auf dem Dachboden der Altneusynagoge.

Es ist Lagbeomer, dreiunddreißigster der neunundvierzig Tage, die man zwischen Ostern und Pfingsten zählt. Um Mitternacht steigen die drei Männer auf den Dachstuhl. Bevor sie hinaufgehen, beginnt Jakob Katz (der Name »Katz« ist aus den Anfangsbuchstaben der Worte »Kohen zedek« gebildet und bezeichnet einen Abkömmling des palästinensischen Priesterstammes) einen Disput darüber, ob er als Kohen in die Nähe einer Leiche gehen dürfe; Rabbi Löw belehrt ihn, das Leben einer von Menschenhand aus Ton geformten Puppe sei kein Leben im göttlichen Sinne und ihr Tod kein Tod.

Ihr Tod kein Tod. Der christliche Romantiker Clemens Brentano, der Golemsage hingegeben, meint, nur das Wort erschaffe und belebe. Zerstöre man das Wort, so zerstöre man das Sein: »Der Meister braucht von dem Worte ›Anmauth‹ (Wahrheit), das er bei Erschaffung des Golems auf dessen Stirn geschrieben hat, nur die Silbe ›an‹ zu verlöschen, so daß das Wort ›Mauth‹ übrigbleibt, welches ›Tod‹ bedeutet; im selben Augenblick zerfällt der Golem in Lehm.«

So einfach ist aber die Sache nicht gewesen, wenn wir unserem Legendenbuch glauben sollen. Rabbi Löw, Jakob Sosson und Jakob Katz nehmen zu Häupten des schlafenden Golems Aufstellung – seinerzeit, als sie die Form, aus Lehm gebrannt, zum Leben erweckten, standen sie zu seinen Füßen. Ihre Blicke gegen seine Füße gewendet, beginnen sie die Zeremonie, umschreiten siebenmal den Körper, geheimnisvolle Formeln litaneiend. Während dieser Beschwörung steht Abraham Chajim, der alte Tempeldiener, mit zwei brennenden Kerzen an der Tür und sieht stumm zu. Bei der siebenten Um-Wandlung ist das Leben des Golems in den Tod umgewandelt, ein bekleideter Klumpen liegt da, verstummter Ton.

Der Magus ruft den Tempeldiener herbei, nimmt ihm die Kerzen aus der Hand, stellt sie zu Füßen der leblosen Figur nieder, zieht ihr die Kleider aus und wickelt sie in zwei Gebetmäntel. Acht Hände packen an, um den Lehmklotz unter einen Berg von hier aufgestapelten Büchern und Papieren zu schieben, so daß nichts, auch keine Zehenspitze, herauslugt. Die Kleider werden hinuntergetragen und verbrannt.

Am nächsten Tag wird ausgesprengt, Jossile Golem sei »brojges geworden«, in Zorn geraten, und nächtlicherweile entwichen, und zwei Wochen nach der Beschwörung dekretiert Rabbi Löw: Von nun an ist es niemandem erlaubt, den Dachboden der Synagoge zu betreten, Bücher und Schriften dürfen wegen Feuersgefahr nicht mehr dort aufbewahrt werden. »Aber einige kluge Leute«, so schließt das Buch, »haben gewußt, daß der Maharal Miprag das Verbot nur deshalb erlassen hat, damit man des oben liegenden Golem nicht gewahr werde.«

Bei dieser Stelle hatte mein galizischer Okkultist überlegen lächelnd den Kopf geschüttelt. In seiner handgeschriebenen Broschüre stand ja die Fortsetzung dieser Entzauberungsprozedur, er lächelte über die »klugen Leute«, die die Beerdigung auf dem Dach für das Ende der Geschichte vom Golem hielten.

Als ich ihn wiedersah, lächelte er nicht mehr. Das war zweieinhalb Jahre später in der Leopoldstadt Wiens, sein geringeltes Schläfenhaar war grau, war schütter geworden. Mit einer müden Geste wehrte er ab, als ich von seinem Geheimnis zu sprechen anfing. »Ich habe andere Sorgen.« Eine Granate hatte seinen Sohn im Tempelanbau von Wola-Michowa zerrissen, und kurz darauf war seiner Frau etwas Furchtbares geschehen, er sagte nicht, was es war. »Sie liegt im Allgemeinen Krankenhaus, und ich habe kein Geld.« Wir setzten uns in ein Lokal, er aß fast nichts, und kein Gespräch kam zustande, denn unsere gemeinsame Erinnerung knüpfte sich an einen Karpatenort, an den er nicht denken wollte. »Und der Golem?« – »Ich werde ihn nicht mehr suchen.« – »Soll ich ihn suchen?« – »Machen Sie, was Sie wollen.«

II

Die Sage, das Dachgestühl der Altneusynagoge sei die Gruft des Golems, hat sich durch die Jahrhunderte erhalten. Als die im Jahre 1718 von Maier Perls, Aktuar in Prag, erschienene Schrift »Megilath Jochasin«, die die Traditionen über die Wundertäterei des Hohen Rabbi Löw verzeichnet, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine neue Ausgabe erlebte, behauptete der Herausgeber, daß die Figur des Golems noch auf der Bodenkammer der Altneusynagoge liege. Der Lemberger Rabbiner Joseph Saul Nathanson wollte den Raum betreten, doch wurde ihm dies mit der Begründung verwehrt, das Verbot des Rabbi Löw bestehe noch immer streng zu Recht. Vor kurzem habe der Prager Oberrabbiner Ezechiel Landau nach langem Fasten in Gebetmantel und Gebetriemen das Dach bestiegen, während seine Schüler Psalmen singen mußten; nach geraumer Zeit sei Landau mit verstörtem Gesicht zurückgekehrt und habe verkündet: »Niemand wage es mehr, die letzte Ruhe des Golems zu stören.«

Meine ersten Versuche, mir von den Tempelfunktionären den Schlüssel zum Dachgeschoß zu verschaffen, stießen auf Ablehnung. Im Innern des Tempels führe keine Treppe hinauf, bloß durch Emporklettern der Außenmauer sei die Bodenkammer zu erreichen, was bei den Straßenpassanten Aufsehen hervorrufen würde. Überdies seien Unfälle vorgekommen, an die sich unliebsame Diskussionen knüpften. (Die Ruthsche »Kronika Král. Prahy« teilt Verbote mit, die lange vor des Rabbi Löw Zeit erlassen waren.) »Man erzählt sich, nach der Vernichtung von Jerusalem hätten Engel einen Teil des Tempels Salomonis nach Prag getragen und den Juden befohlen, niemals dieses Gebäude auszubessern und nichts an ihm zu ändern. Wer sich dessen unterfange, müsse allsogleich sterben. Und so kam es, daß einmal, als die Ältesten der Judengemeinde das Gebäude renovieren ließen, nicht nur der Baumeister mit seinen Gehilfen vom Dache stürzte, sondern auch die Auftraggeber starben, bevor noch die Arbeit recht begonnen war.«

Seitdem in den siebziger Jahren ein Rauchfangkehrer namens Vondrejc auf die Straße herabstürzte und tot liegenblieb, ist niemand oben gewesen. Vor dem Ringtheaterbrand hatten noch nicht einmal die Eisenklammern hinaufgeführt, sie wurden erst im Jahre 1880 auf Anordnung der Feuerpolizei angebracht.

Schließlich erwirkte ich mir vom Tempelvorstand die Erlaubnis, auf das Dach klettern zu dürfen. Morgens um acht Uhr kam ich hin. Herr Zwicker, seit achtunddreißig Jahren des Hauses redlicher Hüter, riet mir dringend ab und stellte auf meine Frage, ob er schon einmal oben war, die Gegenfrage, ob er denn meschugge sei. Mit achselzuckendem »Von mir aus« händigte er mir den Schlüssel ein.

Ich überkrieche das Gitter, das den kleinen, kahlen Vorgarten an der Niklasstraße umschließt, zog eine Leiter hinüber und legte sie unterhalb der Eisenklammern an, deren tiefste erst zwei Meter über der Erdhöhe eingerammt ist, damit kein Unberufener emporsteige. Die Blicke erstaunter Passanten im Rücken, kletterte ich achtzehn Eisensprossen hinauf, die oben eine starke Biegung nach links beschreiben, schwang mich in die Spitzbogennische und sperrte die stöhnende Eisentür auf. Ich stand inmitten einer spitzen Pyramide, deren Boden sich in massiven Wellen wölbt.

Die Basis der Synagoge liegt so tief unter dem Straßenniveau, daß du auch hier oben auf keiner besonderen relativen Höhe bist; du siehst dich der Uhr des jüdischen Rathauses gerade gegenüber, deren Zeiger sich von links nach rechts bewegen. Durch mehrere Dachfenster dringt Licht herein. Es fehlt also nicht nur das Bewußtsein der Höhe, es fehlt auch das mystische Düster, das dich zum Beispiel im Giebelgeschoß des Sankt-Veits-Doms beklemmend umfängt.

Und doch bist du oberhalb der Altneusynagoge nicht minder unter dem Eindruck der Jahrhunderte als oberhalb der Kathedrale. Während die steinernen Wölbungen von St. Veit auch an ihrer den Betern unsichtbaren Außenseite sorgsam vertüncht und zu glatten, einheitlich grauen, geometrisch regelmäßigen Wellen gefügt sind, greifen die Bogen hier zackig und grob ineinander, dir ist, als stündest du in einer Gebirgslandschaft, flache Berge vor und neben dir und Täler. Oben im christlichen Dom kannst du unter dem Gebälk das Kirchenschiff auf breiten, festen Stegen überqueren, kannst rings um das Schiff auf breiten, festen Stegen gehen. Hier aber ist nur ein morsches Brett vom Eingang nach vorn gelegt, du prüfst mit dem Fuß dessen Festigkeit und entschließt dich dann, den Rundgang lieber auf dem Rücken der Wölbungen zu machen oder auf den Sparren zu balancieren und dich an den Trämen und Pfetten festzuhalten, ob auch deine Hände noch so tief in Staubschichten fassen, ob auch dein Gesicht noch so oft in Spinnweben stößt.

Über die Breitseite spannte sich eine Eisenstrebe; eine Leiter, mit Eisenklammern befestigt, führt zum Schornstein. Ein altes Kaminrohr liegt auf dem Boden und das Gerippe eines Vogels, der hier einsam starb. Sonst siehst du nur Geröll und zerbrochene Ziegel. Schwämme wuchern in grotesken Formen, kopfabwärts hängt eine Fledermaus zwischen den Balken.

In den Senkungen der aneinanderstoßenden Wölbungen oberhalb der Widerlager ist der Schotter durch Kalkstaub und Feuchtigkeit zu einem Konglomerat geworden. Wenn darunter der Lehmskulptur des Rabbi Löw das Grab bereitet ist, niemals wird sie gefunden werden. Wollte man sie exhumieren, so stürzte der Tempel ein.

Wahrlich ein Raum, den Golem zu erschaffen und den Golem zu bestatten, wahrlich ein Raum für Mystagogen. Hier wäre ein Platz für das Laboratorium des Domherrn Claudius Frollo oder für das seines jüdischen Widerparts, des Rabbi Löw; hier wäre die rechte Schlafstube für das dumpfe Ungetüm, ob es nun Quasimodo oder Golem heißt, hier die geeignete Kulisse für eine Zusammenkunft des Königs von Frankreich mit dem Goldmacher in der Soutane, für den Kaiser von Deutschland mit dem Thaumaturgen im jüdischen Gebetmantel. Was ist denn Victor Hugos »Nôtre Dame de Paris« anderes als die Golemsage, erhoben aus der Gedrücktheit des Prager Ghettos in die Himmelshöhen der Pariser Domtürme, aus der Geistesrichtung des Baal Schem in die des Pelagius von Eclamum. König Ludwig XI. holte sich Rats von dem zaubereibeflissenen Domherrn, so wie sich Rudolf II. mit dem wunderkundigen Rabbi besprach. Esmeralda weckt in dem unförmigen Quasimodo die Liebe wie – eine Prager Judensage vermeldet es – des Rabbi blankes Töchterlein in Quasimodos Prager Ebenbild. Pogrompöbel stürmt das Prager Judenviertel, und die Pariser Frauenkirche wird von den Bewohnern des verrufenen »Wunderhofs« gestürmt, deren Häuptling sich »Mathias Hunyadi Spicali, Herzog von Ägypten und Böhmen« nennt.

Die Fledermaus beginnt zu schaukeln. Wenn Fledermäuse erwachen, sollen sie sich im Menschenhaar verfangen. Vom Golem ist nichts zu sehen.

Ich trete in die Nische hinaus, die rostige Tür hinter mir halb schließend, und schwinge mich auf die eisernen Sprossen, dann ziehe ich die Tür vollends zu, sperre ab und klettere hinunter. Die Zahl der Neugierigen hat sich erhöht.

Im Vorraum der Synagoge wasche ich mir im alten kupfernen Waschbecken die Hände. »No? Haben Sie den Golem gefunden?« forscht Herr Zwicker in einem Ton, in dem sich Neugierde mit jener Ironie mengt, die er »Nekome« nennen würde.

III

Die Kletterpartie aufs Dach der Altneusynagoge hat mir also keine Begegnung mit dem Golem vermittelt. Schon diese Tatsache hätte meinem Informator aus Wola-Michowa bestätigt, daß die Angaben im dunklen Lederband überholt seien.

Wohl habe am Lagbeomer der Hohe Rabbi Löw seinem modellierten Knecht das Leben wieder genommen und ihn unter der Makulatur in der Dachkammer begraben, »aber er ist nicht mehr dort, Ihr könnt mir's glauben. Er war schon nicht mehr oben, als der Maharal verboten hat hinaufzugehen. Abraham Chajim, der Schames, und sein Schwager haben ihn weggetragen. Schon in der nächsten Nacht, nachdem der Rabbi oben war . . .«

Bedeutungsvoll hatte mein Wola-Michowaer Gastfreund sein Kleinod hinter dem Herd hervorgeholt, das Manuskript von sechzehn Oktavseiten in hebräischem Kursiv, mit Tabellen in Quadratschrift. Von einem Weisen habe er es, von einem Weisen, mit dem er sich in Przemyśl angefreundet. Nur achtzig Gulden habe es gekostet. Meinem naiven Freund schienen die Papiere alle Geheimnisse des Seins zu enthalten, wenn er sie glättete, war es, als ob er sie streichle.

Armer, vertrauensseliger, abergläubischer Dorfjude! Nichts stand in deinen Skripten davon, daß eine Granate dein Kind zerreißen wird, daß deine Frau geschändet und vernichtet werden wird. Nicht stand darin, du werdest deine Wundergläubigkeit verlieren, aus deiner Heimat verjagt, verzweifelt in Wien umherirren. Wie gleichgültig war der Golem dir geworden, als ich dich am Praterstern nach ihm fragte. Und im Jahre 1915 in Wola-Michowa hattest du mir so stolz aus der Schrift den Weg erklärt, den der tote Golem genommen und dem du folgen wolltest, um den starken Knecht wiederzufinden und wiederzuerwecken, den Versuch des Tempeldieners Abraham Chajim vollendend.

In jenem Tempeldiener Abraham Chajim war gleich nach der Entzauberungsszene der Wunsch erwacht, des Meisters ausrangierten Automaten für sich zu verwenden. Seine Worte merkt ich und den Brauch, und mit Geistesstärke, denkt der Zauberschames, tu ich Wunder auch.

Seinen Schwager und Berufskollegen, Abraham Secharja, Tempeldiener der nahen Pinkasschul, weihte er in den Plan ein, und sein Schwiegersohn, Ascher Balbierer, der sich mit mysteriosophischen Dingen beschäftigte, sollte feststellen, in welcher Weise der Golem zum Leben zu erwecken wäre. Nach einigen Tagen gab Ascher Balbierer an, im Sohar die Beschwörungsformel gefunden zu haben. Zu nächtlicher Stunde gruben die drei Männer den Jossile Golem aus dem Schriftenberg und trugen ihn durch die Belelesgasse und die Schebkesgasse – sie wollten die belebte Breite Gasse vermeiden – in den Keller des Hauses in der Zeikerlgasse, das zum Teil dem Ascher Balbierer gehörte und wo er auch wohnte.

Dort unten beginnen sie die Wiedererweckung. Sie nehmen jene Position ein, die Chajim den drei Rabbinern abgeguckt hat, sie umwandeln den Golem, ohne ihn von einem Toten zu einem Lebenden umwandeln zu können. Siebenmal bewegen sie sich von seinen Füßen zu seinem Kopf. Ununterbrochen murmeln sie das hebräische »Walle, walle manche Strecke«, das Ascher Balbierer herausgefunden hat. Nichts wallt. Der Golem liegt da wie ein Klotz. Wie ein Klotz spottet er allen Wiederbelebungsversuchen. Ascher Balbierer tut erstaunt. »Das nenn ich tot sein!« Man versucht es von neuem. Nacht für Nacht.

Zu dieser Zeit brach in Prag die Pest aus, zwölfhundert Menschen starben. Als einziges Haus der Zeikerlgasse wurde das von Ascher Balbierer heimgesucht, die beiden ältesten seiner fünf Kinder wurden hingerafft. Seine Gattin, Frau Gele, hatte schon vorher gegen die Aufnahme des Golems gezetert, weil sie fürchtete, im Falle einer Entdeckung würde ihr Vater seine Stellung wegen Vertrauensmißbrauchs verlieren, ihr Gatte und ihr Onkel wegen Überschreitung des rabbinischen Verbots bestraft werden. Außerdem hegte sie wohl kein sonderliches Vertrauen in die kabbalistischen Zauberkünste ihres Mannes. Und nun erkrankten noch die Söhne! Frau Gele war überzeugt, kein anderer als der Golem habe ihr das Unglück ins Haus gebracht, und als die Kinder starben, war es entschieden: Er mußte fort.

Nachdem die beiden Leichen gewaschen und vor den Trauergästen in die Särge gebettet worden waren, wurde insgeheim eines der Kinder wieder herausgenommen und zu dem anderen gelegt. In dem zweiten Sarg aber brachte man nun den Golem unter. Ein Karren fuhr die drei Körper in der Richtung gegen Sonnenaufgang auf den Pestfriedhof vor die Stadt.

Hier haben Abraham Chajim und Abraham Secharja den Sarg mit dem Golem auf den Galgenberg hinaufgetragen, »der da gelegen ist eine Meile und zweihundert Klafter vom Neustädter Tor, auf der Wiener Landstraße, und haben ihn eingescharrt auf der Seite, die der Stadt zugekehrt ist, am Abend des fünften Adar«.

So schließt die Geschichte im Manuskriptum. Der Sinn der Golemsage, der Wille zur Macht und seine Überwindung, ist darin zur zweiten Potenz erhoben: Dem Magier, der die Adamsschöpfung nachahmt, folgt der Diener, dessen Streben es ist, seinerseits einen Diener zu haben, und der sich nun im Keller mit Abrakadabra lächerlich abquält, einem Lehmklumpen das »Stehe auf und wandle« beizubringen.

Der Meister hat seinen Frevel selbst beseitigt, der Lehrling wird durch Aberglauben an seinem abergläubischen Beginnen gehindert, er hält den irdenen Gast im Keller für den mordenden Tod und verscharrt ihn auf dem Galgenberg.

Seltsam aber an dieser gewollt-ungewollten Allegorie, an dieser handschriftlich verschleißten Mystagogennarretei ist es, daß alle ihre Orts- und Zeitangaben mit historisch erwiesenen Tatsachen genauer übereinstimmen als die des gedruckten Buches. Während der im Buch erwähnte Schwiegersohn des Rabbi Löw namens Katz nirgends beglaubigt ist, hat es einen Tempeldiener der Pinkassynagoge, Abraham Ben Secharja, wirklich gegeben; sein Grabstein auf dem alten Judenfriedhof berichtet, daß Secharja im Jahre 1602 starb und dreißig Jahre lang besagtes Amt bekleidet hat, also in der Zeit, in der die Sage spielt.

Auch die Angaben des Weges in die und von der Zeikerl(Zigeuner)-Gasse entsprechen lückenlos dem zeitgenössischen Plan Prags, »Prage Bohemica Metropolis Accuratissime expresse 1562«, dessen Original in Breslau erhalten ist. Zweieinhalb Kilometer von den Zinnen der Stadtmauer, vom Neutor entfernt, sehen wir auf der Karte den Galgenberg mit Rad und Galgen.

Dort draußen in Žižkov, auf dem niederen Sandsteinhügel, der »Židová pece«, Jüdischer Backofen, heißt, wurden jahrhundertelang die Armensünder vom Leben zum Tode gebracht. Der letzte hieß Wenzel Fiala, war ein junger Kellner und hatte seine Geliebte umgebracht; am 18. Juni 1866 fuhr er unter den Galgen. Zehntausende von Menschen starrten von Schaugerüsten und von den Anhöhen auf ihn, Würstelmänner, Bänkelsänger, Schaubudenbesitzer und fliegende Händler hatten bei diesem Volksfest vollauf zu tun, dem der Tag von Königgrätz folgte, Verwundetentransporte, Bismarck, der Sieger.

Kanonendonner von Königgrätz, 1866 . . . Im Kanonendonner von Uzok, 1915, hat mir mein Freund in Wola-Michowa erklärt, warum er im Plan von Prag den Bleistiftstrich in der Richtung gegen jenen Hügel gezogen hat, den ich eben betreten habe, eine Fährte aus Rudolfs II. okkultistisch gelaunter Zeit verfolgend.

Da stehe ich nun auf dem Platz, zu dem der letzte Weg des Golems geführt haben soll. Grab des Golems: ein kaum fünf Meter hoher Hügelzug, schüttere Grasbüschel.

Der Abend bricht an, schon sind die Fabriksirenen verschrillt, die Kuppeln der Wolschaner und Straschnitzer Friedhofskapellen lockern ihre Konturen, über dem Schlot der Kapselfabrik steht eine helle, erstarrte Rauchsäule wie das geblähte Tuch einer Standarte.

Um den Fußballplatz des SC Victoria läuft ein trainierender Leichtathlet, in den Schrebergärten, die sich bis zu den Hügeln drängen und deren Hütten armselig wie Bauernaborte sind, fangen Fabrikarbeiter jetzt für sich zu arbeiten an. Vor dem Haus der Schußwaffenüberprüfungskommission langweilt sich ein Wachtposten.

Unter mir sind Abraumplätze; zerbrochene Kochtöpfe und Waschbecken aus Blech, rostige Konservenbüchsen, unheilbar verbeulte Bratpfannen, Kasserollen, Topfdeckel und Reibeisen mit hypertrophischen Löchern lagern auf unregelmäßigen Haufen. Die Farben dieser Žižkover Dolomiten mischen sich mit Gummigut.

Verrußte Liebespaare suchen sich die engsten Mulden. Rachitische Kinder, zehnjährig, zwölfjährig, schleichen sich indianisch heran, um etwas vom Liebesverkehr zu lernen.

Die Hügel sind von Spaten unterwühlt; nur dünne Sandschichten, überhängend, bilden das Dach der Höhlen. Überall könnte man einen Sarg mit dem Golem hinlegen und den Überhang einstürzen lassen.

Ein dreijähriges Mädchen hat sich vom Abraum einen zinnernen Nachttopf geholt, um darin aus Sand einen guten Gugelhupf zu backen; die Mutter, die mit einem Soldaten etwas abseits sitzt, stößt den Napf mit dem Fuß fort und schlägt das weinende Kind; Mutters uniformierter Liebhaber lacht dazu.

Menschen gehen müde, gebeugt, blutleer aus den Betrieben in ihre Wohnungen hinter der Stadt, nach Hrdlorez, Maleschitz oder noch weiter.

Und über dem Grab des Golems stehend, weiß ich, warum es sein soll, daß der dem fremden Willen bedingungslos untertane und für fremden Nutzen arbeitende Roboter unwiederbringlich bestattet liege.

 


 


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