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10.
Im sonnigen Süden

Fern in den sonnigen Süden, dort wo längs des Golfs von Genua sich die Riviera hinzieht, wo Hunderte jährlich sich Kraft und Genesung für allerlei Schäden des Leibes und der Seele holen, wo die Sonne goldener scheint, die Vöglein lauter singen, wo die Blumen glühender leuchten, herrlicher duften, wo die ganze reiche, lachende Natur ein Loblied scheint auf Gottes Vaterhuld und Güte – dorthin hatte Doktor Eriksen sich und sein Grasmückchen mit dem armen wunden Herzen gerettet.

Dort oben im Norden, in der Heimat brausten die Herbststürme jetzt schon über das kleine Grab.

Bei der Mutter hatten sie Alf-Bübchen gebettet und dort ruhte der kleine Mann, wohl geborgen vor allem Leid des Lebens.

Sie hatten ihn alle zu Grabe geleitet, die fernen Brüder, die herzueilten, Gerhard, der Vater und Mütterchen Sylvia.

Unter Blumen verschwand der kleine Sarg, Blumen füllten die finstere Gruft – unter Blumen ruhte Alf-Bübchen gebettet.

Er hatte Blumen bekommen, gleich Mariechens Brüderchen, wie er es sich gewünscht hatte, und nun spielte Alf-Bübchen wohl auch mit den Englein oben.

Die Teilnahme an dem Schweren, das den hochverehrten Arzt und Helfer getroffen hatte, war eine allgemeine, eine überwältigende gewesen.

Mit Alf-Bübchens Heimgang schien der grimme Feind seine Wut erschöpft zu haben. Klein Alf-Bübchen war so ziemlich das letzte Opfer, das er forderte.

Sylvia hatte mit Vater und Brüdern an dem offenen Grab des Lieblings gestanden, ernst und still, voll Fassung.

Die Ihren hatten um sie gebangt, hatten sie abhalten wollen von dem schweren Gang.

»Ich muß Mutters Vermächtnis zurück in ihre Hände legen,« hatte sie leise und fest gesagt.

Und sie hatten sie gewähren lassen.

Wieder daheim freilich, als sie die Öde des Hauses umfing, wo jeder Winkel von Alf-Bübchen redete, jeder Raum um den Kleinen zu trauern schien – daheim war dann Sylvia zusammengebrochen.

Lange, lange Wochen lag sie dahingestreckt. Weder Vater noch Bruder wußten der Krankheit einen Namen zu geben. Es war, wie wenn der Sturm ein zartes Reislein knickt, einen schwankenden Blütenschaft zu Boden legt – der Schicksalssturm hatte sie niedergeworfen.

Still und geduldig lag sie da, still und geduldig tat sie, was die Lieben ihr geboten. Sie aß, was man ihr brachte, sie schluckte, was Vater und Bruder verordneten, mochte der Trank süß oder bitter sein. In weite Fernen irrte ihr Blick, und wenn er die angstvollen Mienen der Ihren streifte, so fand der arme schmerzverzogene Mund wohl etwas, das wie der Schatten eines Lächelns drüber hin huschte, aber gleich danach war der irrende Blick, der schweifende Geist schon wieder weit, weit entrückt.

Das konnte so nicht weiter gehen, Vater und Bruder sagten es sich mit Beben.

Und Altchen, der Vater und Gerhard hielten Rat – Achim und Dieter, Jörg und Heinz waren längst wieder abgereist – und das Komplott, das sie schmiedeten, hatte Doktor Eriksen und sein Grasmückchen nach dem Süden geführt.

Altchen nahm es auf sich, Sylvia für den Plan zu gewinnen.

Wie häufig des Tags saß sie an Sylvias Lager.

Lange hatten die beiden geschwiegen, und Sylvia lag wie gewöhnlich, den müden, todtraurigen Blick zu Himmelsfernen gehoben.

»Kind,« sagte die Greisin milde, »willst du nicht wieder ganz zu uns zurückkommen?«

Ungewiß, flehend wandten sich Sylvias Augen ihr zu.

»Laß mich nur ein kleines Weilchen noch, Altchen, die da oben –« die leise Stimme brach.

»Weißt du, wie ein Grab zu uns reden soll, wenn es richtig redet, Kind? Sieh um dich und tu denen, die dir geblieben sind, Liebes. Wirst du die Mahnung verstehen, Sylvia?«

Es klang tief ernst.

Sylvia haschte nach Altchens Hand und sah sinnend in das liebe, stille Antlitz.

»Sylvia, der Vater braucht dich. Siehst du nicht, daß er der Last fast erliegt?«

Da war Sylvia wachgerüttelt und sah mit sehenden Augen um sich. Die alte sorgende Sylvia – Mütterchen Sylvia – war erwacht.

 

Der Frühlingswind der Liebe taute das starre Wintereis des Schmerzes, und dieser linde Liebeshauch hatte Vater und Tochter nach Süden geweht.

Der Vater war seinem Kinde zuliebe gegangen, das er allein niemals von Hause fortgebracht hätte. Gerhard vertrat ihn daheim, er konnte mit Ruhe das Opfer bringen.

Und Sylvia – Sylvia glaubte, einzig des Vaters wegen hier zu sein, der nach der furchtbar schweren Zeit eine Erholung brauchte. Das rüttelte sie auf aus ihrem brütenden Schmerze. Um des Vaters willen zwang sie den alten Frohmut oder doch einen Anklang daran zurück. Und indem sie dem Vater zur Genesung von dem tiefen Schmerze helfen wollte, kehrte ihr selber Linderung für das herbe Leid im Herzen ein.

In einem kleinen weltabgelegenen Dörfchen da unten an der blauen See hatten sie ihr Heim gefunden.

Sylvia hatte gebeten, den geräuschvollen Modebädern fern zu bleiben, und Doktor Eriksen hatte nur zu gern des Grasmückchens Wunsch erfüllt.

Er wollte des Kindes Schmerz ja nicht ersticken und betäuben im Hasten und Treiben der Welt. Auswachsen sollte er sich sachte und still hier in der lachenden, schönen Natur, bis er den Stachel allmählich verloren hatte.

Doktor Eriksen kannte die segnende Heilkraft, die das zerschlagene Herz aus dem Versenken in des Herrn Wunderwelt zieht.

Und in des Herrn wundervollste Welt waren sie hier so recht mitten hineingeraten.

Ihre kleine Osteria mit der rosenumrankten Loggia lag dicht an der Bucht. Stundenweit schweifte das Auge über blaue, glänzende Wogen. Nie war die See einförmig, stets belebt, stets wechselnd. Stolze Schiffe durchfurchten sie, Segelboote, wie Schwäne anzusehen, glitten drüber hin. Jetzt war sie eben, ruhig, wie flüssiges, geschmolzenes Metall glänzend und schimmernd, jetzt kräuselten sich kleine silberne Schaumwellchen drüber hin. Und dann fuhr der Sturm hinein mit gewaltiger Faust, und die See schwoll und stieg und bäumte sich in ohnmächtiger Wut unter dem wuchtigen Griff.

Stundenlang konnte Sylvia auf ihrem bequemen Lager in der Loggia liegen und diese Wechselbilder an sich vorüberziehen lassen.

Und diese Vegetation, die Üppigkeit in allem, was die Natur schaffte! Diese Blütenpracht, dieser Segen!

Und die Menschen! Sylvia konnte sich nicht sattsehen an ihren Hausbewohnern. Von der freundlichen Wirtin an, die dem Signor Dottore und der Signorina tat, was sie ihnen an den Augen absehen konnte, bis herab zum jüngsten Bambino. Diese Lebhaftigkeit, dieser Frohsinn, diese sprühende Lebenslust!

Blitzende Augen, blinkende Zähne, glührote Lippen! Was tat's, daß es auch Schmutz daneben gab, viel Schmutz sogar, man sah drüber weg. Wo kleine braune Schmutzhände Blüten und Früchte boten, da sah man eben nur die leuchtenden Blumen, die köstlichen Früchte. Man griff danach mit einem Blick in die strahlenden Augen, auf die lachenden, plaudernden Lippen. Was war dagegen das bißchen Schmutz?

Sylvia wenigstens hatte solche Glücksnatur mitbekommen. Sie hatte nie den Schmutz auf der Straße gesehen, immer nur die Sonne, die vom Himmel lachte.

Die Nachrichten von daheim lauteten stets befriedigend. Altchen hauste mit Gerhard, woran beide großes Gefallen zu finden schienen. Gerhard berichtete eingehend über die Praxis und erbat des Vaters Rat bei dem und jenem.

Leutnant Achim und Leutnant Dieter schritten vorwärts auf ihrer militärischen Laufbahn, und über Jörg und Heinz hörte man nur Gutes.

Wenn alles im selben ruhigen Geleise fortging, wollten die beiden Reisenden den ganzen Winter über bleiben und erst im Frühling mit den Zugvögeln heimwärts ziehen. –

»Väterchen!«

»Grasmückchen?«

»Ein Ei mußt du mindestens noch essen. Signora Barberini schilt sonst oder weint sich die kohlschwarzen Augen aus. Und das willst du doch nicht verantworten, was?«

»I wo, Grasmückchen, ich liege doch nicht auf Mast hier.«

»Sei gut, Väterchen!«

»Iß selber!«

»Willst du 'nen Dickwanst aus mir machen? Sieh mal die Backen!«

Und Sylvia blies die Backen auf, und bei aller Anstrengung kam doch nur ein leidlich gefülltes Oval zustande.

»So'n Grasmückchen, so'n Knochenmännchen. Flink, das Ei gegessen! Jetzt redet der Arzt.«

Und Doktor Eriksen legte sein Gesicht in sehr strenge Falten. Und das Grasmückchen lachte ganz leise und zwitschernd.

»So'n Tyrann, dieser Arzt!«

Aber das Ei wurde gegessen.

Und wie beim Frühstück, wiederholten sich solche Szenen beim Mittag- und Abendessen.

Das Grasmückchen muckte nicht und schluckte, was der Vater befahl.

Und wie das Grasmückchen wieder lachen gelernt hatte, wenn auch nur ganz leise und gedämpft, so rundeten sich auch allmählich wieder die armen schmalen Wangen, rundeten und röteten sich. In die Augen trat etwas vom alten Glanz, in der Stimme klang hie und da der alte frohe Ton an.

Und der Vater sah es, beobachtete die leise Wandlung, und sie übte auch auf ihn ihre Wirkung.

Die beiden genasen allmählich aneinander.

Lange schon lag Sylvia nicht mehr stundenlang in der Loggia und starrte träumend auf die wogende blaue See.

Jetzt durchstreifte sie die Umgebung, und wenn Väterchen einmal nicht von den Büchern fortzubringen war, ging sie allein oder nahm sich den Beppo oder den Giuseppe mit.

Die Unterhaltung war dann freilich sehr einseitig. Sylvia beherrschte Italienisch nur brockenweise, und dem Beppo war Deutsch überhaupt » Inglese«. » Inglese« war für ihn der Sammelbegriff von allem Fremden. Ob die Reisenden von Rußlands Steppen kamen, über den Ozean, vom Nil, von der Seine, der Themse, dem Rhein – » Inglese«! Ob sie Malaiisch, Arabisch, Hindustanisch, Türkisch oder Griechisch redeten – » Inglese«! Ob sie Kaftane trugen, Fräcke, Gehröcke, Zylinder, Kappen, Strohhüte – » Inglese«!

Beppos Wörterbuch wäre in dieser Hinsicht erstaunlich einfach zu schreiben gewesen.

.

Dafür war Beppos Vorrat an bezeichnenden Gesten umso reichhaltiger, und der ersetzte ihm die künstlichsten Redewendungen.

Er trabte neben Sylvia her. Das rote Hemdchen war ihm halb von der Schulter geglitten, die strumpf- und schuhlosen Beinchen steckten in unglaublichen Höschen. Dem dunklen Lockengewirr war irgendwie irgendwas aufgestülpt, und drunter blitzten die Schelmenaugen in der Sonne.

» Mare!« sagte er und wies mit beiden Ärmchen nach der See und wies mit dem Köpfchen hin und zeigte die Zähne.

Sylvia nickte.

Daß mare die See sei, wußte sie.

» Mare!« sagte sie drum verständnisinnig und nickte.

Das war's aber nicht, was Beppo wollte.

» Barchetta!« brüllte er mit aller Kraft seiner Lungen.

Er glaubte durch Schreien deutlicher zu werden.

Zugleich warf er sich zu Boden, ruderte mit den Armen und schob sich kriechend vorwärts, und dann war er wieder auf den Beinen und lachte Sylvia ins Gesicht.

» Barchetta!« schrie er noch einmal.

Was er damit wollte?

Sylvia schüttelte den Kopf, lachte, zuckte die Achseln.

Wieder lag der Kleine auf dem Bauch, ruderte diesmal mit Armen und Beinen, schob sich vorwärts, warf sich auf die Seite, rechts, links und glitt dann wieder ein Stückchen nach vorn.

Es sah so possierlich aus, Sylvia konnte nur lachen.

Da war Beppo auch schon wieder aufgesprungen und hatte Sylvia am Kleid gepackt.

Ein Strom von Worten überkugelte sich aus seinem Munde, er fuchtelte mit den Armen, nickte mit dem Kopfe, zerrte an Sylvias Rock und wies nach dem Meer.

Zugleich setzte er sich in Trab, hielt Sylvia immer dabei gepackt, und sie flog neben ihm her durch die goldene Sonnenpracht der See zu.

Doktor Eriksen sah ihnen nach, atmete tief auf, sagte »Gott sei Dank!« und vertiefte sich nun erst recht in sein Buch.

Sylvia und Beppo waren am Strande. Sylvias Haar war gelöst, ihr Hut auf die Seite geschoben. Sie atmete laut und tief, und ihr Gesicht glühte, ihre Augen leuchteten.

Ja, so ein Lauf in der frischen Luft, der rüttelt alles im Menschen auf, was träge werden und nicht Widerhall geben will, wo Jugendlust und Lebenslust anpochen.

Am Strande unten lag ein Segelboot, und in dem Segelboot lag Giuseppe, der ältere Bruder.

Als die beiden herangetrabt kamen, richtete er sich auf, sprang heraus, griff nach Sylvias Hand und zog sie hinter sich ins Boot.

Mit einem Male war Sylvia die Bedeutung von Beppos »Barchetta« klar.

Sie sträubte sich nicht. Die See lag so weit und so ruhig, so verlockend vor ihnen.

Und Giuseppe entfaltete die Segel, eine leichte, kleine Brise schwellte sie. Beppo griff nach dem Ruder, und schon glitt das Boot über die blaue, wogende Flut.

Sylvia ließ sich von dem weichen Lüftchen umkosen. Sie hielt die Hand ins Wasser, lau spülte das drüber hin. Droben am tiefblauen Himmel zogen weiße lichte Wölkchen mit ihnen um die Wette, und über allem lachte, leuchtete, blitzte, funkelte, strahlte, glühte die Sonne.

Wo konnten da Schatten standhalten? In Sylvia wurde es lichter und lichter. Der dumpfe, bohrende Schmerz löste sich in Wehmut, die zehrende Sehnsucht in stille Ergebung.

Mit leisem Finger pochte das Leben, pochten Jugend und Frohsinn wieder an die junge Brust.

Und diese Fahrt blieb nicht die einzige. Sylvia lernte von Giuseppe und Beppo alle Griffe beim Entfalten und Raffen der Segel, sie lernte mit den Rudern umgehen, verstand das Steuern gleich der ältesten, gewiegtesten Teerjacke.

In der Folge vertraute Väterchen sich des Grasmückchens kunstgeübten Schifferhänden an, wenn Giuseppe und Beppo nicht da waren. Diese Segelfahrten wurden den beiden eine liebe, schöne Gewohnheit.

 

Weihnachten war da. Weihnachten in der Fremde.

Dem Grasmückchen war das Herz doch gar schwer bei dem Gedanken, das sah der Vater wohl.

Er und das Kind waren nach Nizza gefahren, Einkäufe zu machen für die Lieben daheim.

In Sylvia waren nun doch Heimweh und Schmerz wieder heftig erwacht.

»Laß uns heim, Vaterherz! Wir hier allein, sie dort! Wer weiß, wie lange Altchen uns bleibt. – Laß uns heim zu unseren Gräbern – zu Altchen! Zu meinen Jungen!« Flehend sah sie den Vater an.

Wie gerne hätte der eingestimmt! Aber er sagte nur leise und fest: »Wir bleiben, Grasmückchen.«

Da hatte Sylvia nichts mehr gesagt, hatte nur die Arme um den Vater gelegt und den Kopf an seiner Schulter geborgen.

Sie waren also geblieben.

Statt ihrer waren Briefe hin und her gegangen, gar viele und alle voll der herzlichsten Liebe, der heißesten Sehnsucht.

Die Jungen kamen nicht heim. Auch Altchen und Gerhard blieben allein. So stille Weihnacht hatte das alte, liebe Haus im Norden da oben lange, lange nicht mehr geschaut.

Auch Vater hatte seine Heimlichkeiten gehabt.

Es war Sylvia aufgefallen, daß er mehrere Briefe Gerhards, statt sie ihr wie sonst zu geben, selbst vorgelesen und dabei offenbar Stellen übergangen hatte.

Ein paarmal war er ins Stocken und Räuspern geraten, ehe es flott wieder weiter ging. Aber Weihnachten war ja vor der Tür. Das erklärte alles. Sylvia fragte nicht weiter.

Und nun war Weihnachten wirklich da.

Heiligabend. Weihnacht im Süden!

»Mir ist gar nicht weihnachtlich zu Sinn,« seufzte Sylvia, die neben dem Vater in der Loggia saß und in die sinkende Sonne starrte. »Diese Wärme noch, die grüne Natur draußen. Schön ist's ja, aber mir fehlt Schnee, Frost, die deutsche Fichte. Ohne Schnee, ohne Kälte keine Weihnacht.«

»Also Beben und Zähneklappern gehört dazu, sieh mal an,« meinte Doktor Eriksen lustig. »Na, wart' mal, wer weiß, ob du's vor dem Abend nicht doch noch damit zu tun kriegst.«

»Wieso? Wie ist das zu verstehen, Väterchen?«

Fragend sah Sylvia ihn an.

»Na, ich meine nur so!« –

Rotgolden versank die Sonne am Horizont, grau dämmerte der Abend herein.

»Jetzt läuten daheim die Christglocken, Väterchen,« sagte Sylvia leise. »Und die Klänge ziehen über das liebe Haus, und sie ziehen hinaus, wo Mutter und Alf-Bübchen ruhen und –«

Tiefe Stille.

Die beiden rückten noch näher zusammen.

»Weißt du noch voriges Jahr unser Weihnachtsengelein?«

Ob er's wußte!

Deutlich sah er die lichte kleine Gestalt vor sich. In der Erinnerung war ihm, als sei ihr der Stempel der Verklärung da schon deutlich aufgeprägt gewesen. Und in unbegreiflicher, aber barmherziger Blindheit hatten sie dessen nicht geachtet.

In tiefes Sinnen verloren starrten die beiden vor sich hin.

Dunkler wurde es und dunkler, und oben am Firmament blitzte Stern auf um Stern.

Weit, weit hinten über der Bucht, da wo Himmel und Meer sich einen, tauchte der Mond auf, voll und klar. Und er hob sich und stieg, höher und höher. In breitem Streif floß sein Silberlicht über die Wogen. Es war, als wolle er Brücken bauen zwischen Erde und Himmel.

Friedevoller Zauber lag über der ganzen Natur, friedvoller Zauber drang in die Menschenherzen.

Fester schlang Doktor Eriksen den Arm um sein Kind, dichter schmiegte Sylvia sich an den Vater.

»Guten Abend,« sagte da eine leise, tiefe Stimme. »Darf ein müder Wanderer hier Rast halten?«

Im ungewissen Mondenlicht stand eine hohe Gestalt auf den Stufen, die zur Loggia heraufführten, den Hut in der Hand.

Die Gesichtszüge waren nicht zu unterscheiden. Aber die Stimme – diese Stimme!

Sylvia stockte plötzlich der Herzschlag, und sie preßte beide Hände gegen die Brust.

Doktor Eriksen war aufgesprungen und hatte dem Ankömmling beide Hände entgegengestreckt.

»Seien Sie mir herzlichst willkommen. Wie das wohltat, deutsche Laute zu hören.«

Und dann schüttelten beide Männer sich lange und wortlos die Hände.

Sylvia sah zu wie im Traum. Ein paarmal atmete sie tief auf, und ein paarmal strich sie sich mit unsicherer Hand übers Gesicht.

Nein, sie wachte.

Wirklichkeit war es, kein Traum.

Dann fühlte sie ihre Hände gefaßt – sie mußte sie doch wohl geboten haben – fühlte sie gepreßt, heiß, stürmisch. Und sie sah in ein paar dunkle, gute Augen, die sie kannte, die sie auch im Dämmerlicht des Mondes kannte, sah in Wolf Brandts Augen.

Und diese Augen leuchteten und strahlten ihr entgegen, daß sie trotz des dämpfenden, mildernden Mondenscheins die ihren wie geblendet schließen mußte.

Sekundenlange Pause.

Dann stürzte alles, was sie hatte erleben müssen, seit Wolf Brandt damals gegangen war, mit Wucht über Sylvia herein.

Sie hob den Blick.

»Alf-Bübchen!« sagte sie, und dann versagte die Stimme.

Wolf Brandt faßte ihre beiden Hände noch fester.

»Ich weiß,« sagte er schlicht. »Ich habe mit Ihnen gelitten und traure mit Ihnen.«

Doktor Eriksen war ins Zimmer gegangen. Drinnen blitzte die Lampe aus. Und dann Kerzenschein, es sah immer festlicher aus.

Die beiden draußen in ihrem Sinnen hatten dessen nicht geachtet.

Jetzt wurden beide Türen weit geöffnet. Voll fiel der Schein über die draußen Stehenden.

»Darf ich bitten,« sagte Doktor Eriksens frische Stimme, »Christkindlein aus dem Norden oben dringt auf sein Recht.«

»Väterchen,« Sylvia trat zu ihm hin, wie leiser Vorwurf lag's in der Stimme, »wir wollten doch den Tag ganz stille –«

»Wohl, Grasmückchen, ganz stille wollen wir uns dessen freuen, was uns an Liebe noch geblieben ist, nicht?«

Sie nickte ihm leise zu und trat über die Schwelle.

Drinnen war der reine Frühlingsgarten.

Signora Barberini, Giuseppe und Beppo hatten von Blühendem herzugeschleppt, was sich irgend auftreiben ließ. In Vasen, in Flaschen, in irdenen Töpfen blühte, leuchtete, duftete es. Pinien- und Lorbeerzweige dazwischen, überall, wo sie sich anbringen ließen. Und Kerzen, Kerzen wo irgend möglich.

Es sah so festlich schön aus und doch so anders als Weihnacht daheim, wohltuend eben in dieser Verschiedenheit, da es trübe Erinnerungen nicht weckte.

Inmitten des Zimmers, unter der mit Grün geschmückten Lampe, stand ein Tisch, und drauf lagen, von Blumen fast verdeckt, Päcke, die die Gaben der Lieben daheim bargen.

Sylvia stand vor dem Tisch, Träne um Träne lief ihr über das glühende Gesicht, aber die Augen leuchteten in stillem, freudigem Schein, als sie die Aufschriften der Päcke las, die Handschrift der Lieben sah.

»Von Altchen,« sagte sie, »von Gerhard. Das ist mein alter Achim, ach und hier Jörg und Heinz. Sieh nur, Vater, die Jungen! ›An das Sylve-Mütterchen in der Osteria Barberini‹ haben sie adressiert. Wie lange, wie lange bin ich so nicht mehr geheißen worden. Wie das wohltut!«

Immer heller wurden ihre Augen.

»Hier ist auch ein Pack für Sie Herr Brandt. Mir scheint, so ganz zufällig ist der müde Wanderer doch nicht vor die Tür unserer Osteria gekommen.«

Sie sah ihn schelmisch an.

Er lachte.

»Ich gestehe, Gerhard spielte ein wenig den Wegweiser. Sie werden ihm hoffentlich nicht drum zürnen?«

Sie senkte das heiße Gesichtchen.

»Ich sage wie Väterchen: Deutsche Laute hören, tut wohl in der Fremde.«

»Jetzt aber ausgepackt, Grasmückchen. Siehst du mir denn nicht an, daß ich vor Ungeduld fast vergehe?«

Drollig aufgeregt trippelte Doktor Eriksen von einem Bein aufs andere.

»Flink, da ist mein Taschenmesser! Aufgeschnitten! Mit dem langweiligen Aufknoten! Vorwärts, Grasmückchen!«

»Geduld, Vaterherz, Ordnung muß sein. Frag du mal, wo eine ordentliche Hausfrau eine Schnur durchschneidet? Nur immer hübsch Geduld!«

Schelmisch nickte sie ihm zu und nestelte mit spitzen Fingern an der verknoteten Schnur herum.

»So 'n Grasmückchen! So 'n Pedant!«

Er griff nach dem nächsten Pack und fingerte unter Brummen dran herum. Aber er knotete emsig drauf log, das Taschenmesser hatte er eingesteckt.

Auch Wolf Brandt half eifrig, und endlich lagen alle Schätze unverhüllt da.

Sylvia bewunderte, lachte und weinte immer abwechselnd.

Als dann alles ausgepackt und gehörig bewundert war, wurde der Tisch leer geräumt, und Signora Barberini brachte eine Erfrischung.

Nun mußte Wolf Brandt erzählen.

Das Reisejahr war ihm vorzüglich bekommen. Er sah gesund und froh und sehr männlich aus. Die blasse Stubenfarbe hatte einem Wetterbraun Platz gemacht.

Er hatte offenbar alles richtig gesehen, genutzt und genossen. Lebhaft und anschaulich schilderte er.

In Wien waren sie lange gewesen.

Dann war Italien gekommen, Kairo, die Nilfahrt.

Jetzt waren sie auf dem Rückwege durch Italien, nun kam noch Paris und London.

»Mein Zögling ist klug, angenehm und liebenswürdig, empfänglich für alles Gute und Schöne. Es war ein Genuß, ihn zur Seite zu haben. Trotz alledem aber sehne ich mich nach einer geregelten Tätigkeit, und ich habe mich bereits in den Staatsdienst gemeldet. Wenn ich Glück habe, darf ich vielleicht auf eine Anstellung im Frühjahr rechnen. Die Aussichten für die Philologen scheinen günstig zu sein.«

Träumend hatte ihm Sylvia zugehört.

»Und wie kommen sie hierher?«

»Gerhard,« sagte er statt aller Erklärung. »Er hätte gerne verläßliche Nachricht von den Lieben gehabt. Ich sollte mich durch Augenschein überzeugen. Er redete mir zu, und ich – ich konnte nicht widerstehen.«

Nur ganz leise klang das letzte.

Sylvia hatte das Gesicht abgewendet. Man wußte nicht, ob sie gehört hatte.

»Wie lange können Sie bleiben?«

Doktor Eriksen fragte es.

»Zwei Tage. Baron Kurt ist in Nizza bei Verwandten. Ich kann ihn unbedenklich für so lange seinem Schicksal überlassen.«

»Das ist schön. Darüber freuen wir uns sehr. Was, Grasmückchen?«

Das Grasmückchen nickte nur leise. – – –

Zwei wundervolle Tage folgten für die Zugvögel aus dem Norden in der kleinen Osteria.

War Sylvia zuvor schon aufgelebt gewesen, so fiel es in diesen Tagen doch noch wie ein Schatten von ihr ab. Ganz die alte, strahlend glückliche Sylvia kam zum Vorschein.

»Weißt du, Väterchen, man merkt doch erst, wie sehr man mit der Heimat verknüpft ist, wenn man fern davon jemand trifft, mit dem man darüber reden kann,« sagte sie strahlend zum Vater.

Und der sah ihr in die leuchtenden Augen, lächelte neckisch – zärtlich, strich ihr über den Scheitel, aber er unterdrückte die Frage, die ihm aus der Zunge schwebte: ob die Tatsache allein, jemand von daheim getroffen zu haben, genüge, ob nicht das Individuum mitspreche. Wäre das Grasmückchen ebenso strahlend gewesen, wenn der gute, alte Professor Holle gekommen wäre statt Wolf Brandt?

Der Vater also streichelte nur sein Grasmückchen, lächelte und sagte nichts, oder er brummte etwas in den Bart, das heißen konnte, was man just heraus hörte.

Und das Grasmückchen hob sich auf die Zehenspitzen, faßte mit den Händen nach Vaters Bart, zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn so recht innig und zärtlich mitten auf den bärtigen Mund. Nun rieb es das weiche Gesichtchen an den stacheligen Wangen.

»Puh,« sagte es, »so ein borstiges Väterchen!«

Und es lachte so leise und zwitschernd, so weich und herzlich, wie es nur in den ungetrübten Glückstagen, die so weit dahinten zu liegen schienen, gelacht hatte.

»Mein Grasmückchen,« sagte Väterchen leise und sonst nichts.

Auch die Sonne schien diese zwei Tage ganz besonders verherrlichen zu wollen.

In golden klarer Pracht leuchtete sie vom Himmel nieder. Selbst für die Riviera war dies ein ungewöhnlich mildes, wunderbares Weihnachtswetter. Noch nie war die See so blau gewesen, hatten die Vögel so jubiliert, die Blumen so geduftet, die Sträucher so gegrünt. Nie hatte die linde, würzige Luft alles so umkost und umschmeichelt.

Oder bildete Sylvia sich das alles nur ein?

Am ersten Tag hatten Vater und Tochter dem lieben Gast die ganze Umgebung des kleinen friedlichen Dörfleins gezeigt, das ihnen hier in der Fremde zum Heim geworden war.

Jeden Lieblingsweg hatte er begehen, jedes Lieblingsplätzchen besuchen müssen.

»Damit sie Gerhard berichten können,« hatte Sylvia jedesmal schelmisch gesagt, und er hatte leise vor sich hin gelacht.

So war der Tag hingegangen, »hingeflogen«, wie Sylvia erklärte, und der Abend fand sie in der Loggia, wo sie das allmähliche Aufblitzen der Sterne belauschten und den Mond in seiner Pracht heraufziehen sahen.

»Morgen müssen wir auf die See, Väterchen. Herr Brandt muß doch unsere Geschicklichkeit als Bootsführer bestaunen, was?«

»Deine, Grasmückchen, willst du sagen. Ich habe mich bis jetzt nur zum Zuschauen und Treibenlassen aufgerafft und denke, meine maritime Laufbahn auch so zu beschließen.«

»So 'n faules Väterchen,« sagte Grasmückchen mißbilligend.

Am andern Tag aber, als die Segelpartie vor sich gehen sollte, erklärte Doktor Eriksen plötzlich, Briefe schreiben zu müssen.

»Laßt euch aber nicht stören, bitte. Dem Grasmückchen ist's für seine Tätigkeit da draußen ja bloß um den nötigen Ballast zu tun. Den kann ein Doktor so gut abgeben wie der andere, einerlei ob phil. oder med. Was, Grasmückchen?«

Dem Grasmückchen war ein Schatten über das Sonnengesicht geglitten.

»Väterchen, komm mit!«

»Ich kann nicht, Kind, ich muß schreiben. Daß du mir unsern Gast heil heimbringst! Flink, Grasmückchen!«

Da war das Grasmückchen davongeeilt, Wolf Brandt hinterher, und als die beiden am Strande ins Boot stiegen, hatten sie recht heiße Gesichter. Die Sonne des Südens schien eben ganz besonders warm.

Geschickt hatte Sylvia die Segel entfaltet, Wolf Brandt ihr recht ungeschickt dabei geholfen.

Eine leichte Brise hob sich, fiel hinein, schwellte sie, sachte glitt das Boot durch die Wellen.

Sylvia jubelte.

»Schöner hätte es sich gar nicht fügen können. Nun bekommen Sie doch einen richtigen Begriff vom Segeln. Ist's nicht herrlich?«

Leuchtenden Blicks sah sie ihn an, und er gab den Blick zurück.

Da gab's plötzlich ganz erstaunlich viel an den Segeln zu tun, so daß Sylvia gar nicht wieder zur Ruhe kam.

»Muß das so sein?« fragte Wolf Brandt nach einer Pause.

Sylvia sah ihn verständnislos an.

»Dies ewige Hantieren, meine ich. Lassen Sie uns doch mal einfach treiben, so wie Wellen und Wind es bestimmen. Es liegt so was Beruhigendes drin, sich einmal bloß treiben lassen zu dürfen.«

»Herr Philologe!« drohte Sylvia neckend.

»Gerade deshalb! Einmal möcht' ich bloß Mensch sein.«

»Na, dann seien wir Mensch!«

Lachend ließ Sylvia das Steuer fahren und rückte sich bequem auf ihrem Sitz zurecht.

Träumend sahen sie in die Luft, ins Wasser, träumend zogen die Gedanken hin, her, vom Gewesenen zum Gegenwärtigen, zum Kommenden.

.

Ein paarmal kreuzten sich die Blicke – trafen sich – flohen sich. Ob sie das Ergebnis der Gedanken bildeten? Ob auch die dieselben waren?

Es schien so.

Denn als Wolf Brandt nun zu reden begann, bezog Sylvias Gesichtchen sich mit lichter Glut.

Sie mußte doch eine Ahnung haben von dem, was er sagen würde.

Er redete lange, ernst und eindringlich.

Ein paarmal kam es wie leiser Einwand von Sylvias Lippen, den er offenbar alsbald zu entkräften wußte.

Denn obgleich Sylvias Gesichtchen immer heißer wurde, obgleich die Augen sich mit Tränen füllten und die Hände sich wie Halt und Schutz suchend aneinander klammerten, das Köpfchen immer tiefer sank, so schien sie sich doch in ihren Einwänden mehr und mehr zu erschöpfen.

Ja, als er dann tief atmend schwieg und sie nur flehend ansah, da fielen ein paar leise Worte von ihren Lippen, die ihn sichtlich elektrisierten.

Er wollte aufspringen, aber da geriet das Boot so ins Schwanken, daß er sich sehr vernünftig wieder hinsetzen mußte und nur die Hand hinüberbieten konnte, in die sie schweigend die ihre legte.

Und was die beiden zuvor geredet hatten und jetzt noch redeten, das verschlangen Wellen und Wind, so daß kein menschliches Ohr es hören, folglich auch keine Feder es wieder erzählen konnte.

Leise, leise durchschnitt das Boot die blauen Wellen, linde und sacht trug es die beiden jungen Menschenkinder einem neuen Leben entgegen. Es war, als ob es eine Ahnung davon habe, welch Glück da plötzlich zwischen den schwanken Brettern Einzug gehalten hatte, und als ob es dies Glück nicht behutsam und vorsichtig genug an den sicheren Strand fördern könne.

Daheim war Doktor Eriksen wieder und wieder an die Brüstung der Loggia getreten und hatte hinausgespäht auf die See.

Aus dem Briefeschreiben war offenbar nicht viel geworden. Zuweilen lassen sich die besten Vorsätze mit dem besten Willen nicht ausführen.

Auf dem Tisch lagen freilich die Schreibmappe und ein Briefbogen darauf. Aber der war noch weiß bis auf ein paar Worte und die lauteten: »Lieber Gerhard!«

Weiter war Doktor Eriksen nicht gekommen.

Wie gesagt, wieder und wieder stand er und spähte aufs Meer hinaus.

Unruhig schritt er auf und ab, er fuchtelte mit den Händen, nickte mit dem Kopfe, murmelte Unzusammenhängendes, und dann sah er wieder angestrengt ins Weite.

Er war sehr erregt.

Jetzt sah er ein weißes Segel dem Strand zu halten. Wie ein winziges Pünktchen erst, dann größer und größer. Jetzt tauchte es schon ganz nahe auf, und jetzt – jetzt legte das Boot an.

Zwei Gestalten sprangen auf das Ufer.

»Da sind sie!«

Und noch angestrengter als zuvor nach dem Boote spähte nun Doktor Eriksen nach den beiden hin.

Seite an Seite kamen sie näher.

Doktor Eriksen trat in den Hintergrund der Loggia. Unbemerkt wollte er in den Mienen der beiden, die da kamen, lesen können.

Sie kamen näher und näher. Kein Zug der Gesichter entging dem Doktor.

»Gott sei Dank!« sagte er plötzlich und legte die Hände zusammen. »Gott sei Dank, alles in Ordnung, Der Herr segne mein Grasmückchen!«

Es klang wie ein Gebet.

Und gleich darauf saß der Doktor vor seinem Briefbogen, und die Feder glitt in fliegender Hast darüber hin.

Als habe er stundenlang so gesessen, sah es aus.

Er war sehr vertieft.

Er blickte auch kaum auf, als er Schritte vom Garten her auf der Treppe der Loggia hörte.

Erst als die Schritte dicht vor ihm zum Halt kamen, hob er den Kopf.

Wolf Brandt stand allein da.

»Wo ist das Grasmückchen?«

»Ins Haus gegangen.«

»So, so, hinten herum? Sieh mal an. Ist doch sonst nicht seine Art. Hm, hm!«

»Herr Doktor. Ihre Tochter – ich – sie – ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Anscheinend sehr vertieft in seine Beschäftigung, hielt der Doktor den Kopf gesenkt. Ein pfiffiges Schmunzeln spielte um seine Lippen.

»Könnte ich nicht noch erst –«

»Herr Doktor!«

Es lag ein solcher Ton in den Worten Brandts, daß Doktor Eriksen seine Neckerei nicht weiter fortsetzen konnte.

Er hob den Blick und streckte dem anderen die Hand hin.

»Nun, dann schießen Sie los. Ich weiß, Sie wollen mich um etwas bitten, wollen mir etwas fortnehmen – mein Liebstes, Doktor – aber ich – Ihnen –« Die Stimme wollte nicht weiter. »Was sagt denn das Grasmückchen?«

Er wischte sich über die Augen.

»Fräulein Sylvia hat mich an Sie gewiesen, doch ich glaube – ich hoffe –« Wolf Brandt verstummte, aber ein warmer Schein brach aus seinen Augen und ergänzte den abgebrochenen Satz.

»Das Grasmückchen! Sieh, sieh, das Grasmückchen!«

Es klang fast wie träumend.

»Vor länger als Jahresfrist habe ich schon einmal gefragt,« sagte jetzt Wolf Brandt sehr leise. »Da hat Fräulein Sylvia mich fortgeschickt, weil ihre Pflicht daheim lag, wie sie sagte. Seitdem hat sich ja manches geändert. Alf-Bübchen, der am meisten Mütterchen Sylvias bedurft hätte, ist in sicherer Hut geborgen. Jörg und Heinz aber brauchen eine feste Hand, die ich bieten könnte, in dessen Beruf stramme Zucht einschlägt. Achim, Dieter, Gerhard sind auf sicherer Bahn – Fräulein Sylvias Pflichten haben sich vereinfacht. Da dachte ich –«

Längere Pause. Dann mit einem unsicheren Blick in Doktor Eriksens Gesicht: »Sie freilich – Sie – da ist's, wo die Schwierigkeit einsetzt. Kaum wage ich, solches Opfer – Sie sind der Vater –«

»Eben darum!«

So schlicht war's gesagt. Es ließ auch nicht den geringsten Zweifel zu, daß es heißen sollte: eben darum kann ich ein Opfer bringen. Und genau so schlicht und einfach, so selbstverständlich reichte nun Doktor Eriksen dem anderen beide Hände entgegen.

»Sie sind mir ein lieber Sohn, Wolf, machen Sie mein Grasmückchen glücklich.«

»Dazu helfe mir Gott!«

Das klang wie ein Schwur.

Eine lange, lange Pause.

Dann sagte Wolf Brandt: »Fräulein Sylv– Sylvia hat mich gebeten, auch wenn Ihre Entscheidung günstig ausfiele, jetzt noch alles ruhen zu lassen. Der Schmerz um Alf-Bübchen ist noch zu neu. Ich zögerte ja zuerst selbst, ob ich trotzdem – aber Gerhard meinte – und ich – ich mußte Gewißheit haben – und Sylv– Fräulein Sylvia zürnt mir deshalb nicht. Jetzt ziehe ich gern meines Wegs und warte – warte, bis ich gerufen werde. Ich –«

Er verstummte. Sylvia war unter die Tür getreten. Zögernd stand sie da. Sie sah die beiden Hand in Hand. Da flog sie mit ausgebreiteten Armen auf den Vater zu und barg das Gesicht an seiner Brust.

»Ich konnte nicht anders, Vaterherz,« flüsterte sie. Und es lag wie Jubeln und Schluchzen zugleich in dem Ton.

»Grasmückchen,« sagte der Vater leise, »mein Grasmückchen, Gott segne dich!«

Und das war alles, was über die Angelegenheit gesagt wurde.

Alf-Bübchens kleiner Grabhügel lag noch zu frisch aufgeworfen, als daß das Glück schon hätte drüber wegschreiten können. Aber es lugte schon drüber her.

Anderen Morgens ging Wolf Brandt.

Seine und Sylvias Hand lagen fest ineinander.

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen daheim!« So schieden sie.


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