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Wohin?

Es war ein verdrießlicher, zorniger Wind, der über die erstarrten, vom Märzschnee verwehten Felder daherfuhr. Und er war es nicht ohne Grund.

Bisher hatte er in Oleandergebüschen und Palmen der Riviera mit der eleganten Welt Ballgespräche getauscht, zu jedem Kompliment der internationalen Salon- und Bädervagabunden gelacht und der Höflichkeit tuschelnder Oliven durch leises, beifälliges Schütteln ihrer langen, glatten, geschmeidigen Zweige nachgeholfen. An strahlenden, wolkenlosen Tagen hatte er den Duft der Blüten geschlürft und ihren Staub in die Blumenkelche gesenkt, um die Nächte am bläulichen Gestade des in glitzernder Herrlichkeit verdämmernden Meeres zu verschlafen, die frischen Morgenstunden am Strande mit den weißmähnigen, unermüdlich waschenden Wogen zu verplaudern.

Und plötzlich hatte ihn der Armeebefehl der obersten Wetterleitung nach dem rauhen Norden geworfen. Es galt, ein großes Minimum, das über die Wellenberge des Atlantischen Ozeans den europäischen Küsten in der Richtung auf die Insel Sylt zuschritt, auszugleichen. Diesmal mußte die Reserve des Südens aufgeboten werden, und der verzogene Liebling sollte gemeinsame Sache machen mit den rauhen Gesellen, die bis Norwegens Felsenküste hinauf den Eissport treiben, mit tränenverschleierten Winden aus den nördlichen Niederungen, mit kalten Berglüften, die nicht müde werden, ihre unergründlichen Schneeschläuche auf Stadt und Land auszuschütten.

Jetzt verstehen wir die verdrossene Stimmung des Südwest, als er in behender Kurve über das Holstenland in den Strudel hinabglitt. Türen schlug er kräftig zu, die er offen fand, und riß andere sperrangelweit auf, die nicht fest eingeklinkt waren. Aus großen, morschen, gefrorenen Pappeln brach er dicke Äste und warf sie über harte Steinwälle und auf weichen Mist. Die erfrorenen Backen legte er auf qualmende Schornsteine und blies und heulte hinab, daß beizender Qualm Küche und Stube erfüllte.

Aber ein milder Wind war er doch. Die gepulverten Kristalle des gefrorenen Schnees verwandelten sich unter feinem Hauche in klebrige Massen von zweifelhafter Reinlichkeit. Und während sie zerflossen, wurden sie von lärmenden Knaben, die in Holzpantoffeln schlarrten, zu Wurfgeschossen auf nasser, schlampiger Eisdecke verwendet. Zum letztenmal in diesem Winter flogen Schneebälle hin und wider.

Wo aber die Nachbarn sich den Tagesgruß boten, erklang das trostreiche Wort: »Gottlob, das Wetter ändert sich; der Frühling ist da!«

*

Dämmerung lag auf der Landschaft, als unser Südwest über einen langgestreckten Höhenrücken in die Ebene hinabfegte. Aus halber Vogelansicht überblickte er den wunderlichen Bau eines Bauerngehöfts, das mit vielen An- und Kreuzbauten und Giebeln in einem Kranz von Büschen und Bäumen, wie im warmen Nest eingelullt, dalag. Der grauweiße Rauhreif, der die Bäume bedeckte, hing an den Kronen und glitzerte im verglühenden Abend, Zumal an der Ulme hoben sich die geschmeidigen Büschel, die zierlich über der Dachfirst hingen, anmutig ab.

Er nahm sich vor, den Rauhreif von der Ulme gegen die Fensterläden zu werfen, in Schornsteinen zu rumoren, aus den Erkern zu klagen und um die Ecken zu heulen, und, sieh da! – schon geschah es. In dem weitläufigen Strohdach hinter Ecken und in Erkern bliesen die Geister der Windsbraut ihr bekanntes wildes, melancholisches Lied.

Sie setzte gerade ein, die Musik, als die Frau Katrien die zarte Sorglosigkeit ihres kleinen Zwillingspaares, Hans Boie und Luise, ins warme Wandbett wegstopfte.

Anfangs hatte das kleine Paar die Decke zurückgeschlagen, die vier nackten Beinchen Reih und Glied aufgestemmt und sich an dem schaukelnden Hin und Her zwar ohne ausreichenden Grund, aber kindlich ergötzt. Nun machte die Mutter diesem Spiel ein Ende; die warme Decke wurde über die schuldlose Nacktheit bis unter die Arme der Nestlinge emporgezogen, und es ging – wie immer – zur Verrichtung des Abendgebetes an den lieben Gott.

Der liebe Gott! Sie kannten ihn seit einiger Zeit. Er war ihnen von der Mutter als allmächtiger und allgütiger Schöpfer und Erhalter aller Dinge – Hans Boie und Luise eingeschlossen – vorgestellt, und jeden Abend verrichteten sie mit gefalteten Händchen ihre Andacht:

Ich bin klein;
Mein Herz ist rein.
In meinem Herzen wohnst du,
O Gott, allein.

Die Frau Katrien hatte beschlossen, es diesmal mit einem anderen Gebet zu versuchen, denn Hans Boie hatte sie gestern arg ins Gedränge gebracht. Er hatte gefragt, wie der große Gott in seinem kleinen Herzen wohnen könne und zugleich in Luisens, worauf Katrien geantwortet: der liebe Gott sei eben überall, er sei allgegenwärtig. Und Hans Boie hatte dann von allen Sachen, die er liebte und kannte, gesprochen, von seinem grünen, hohlen Pferd, von der Haferkiste und Pferderaufe, ob auch dort der liebe Gott sei, was Katrien bejaht hatte. Dann war Hans Boie auf sein Karussell gekommen, es seien nur Räder und Zacken drin, dort könne doch der liebe Gott nicht sein. Was sollte sie dem Kinde auf solche Fragen antworten? Und ein Glück war es gewesen, daß, der Unbegreiflichkeit der Allgegenwart ungeachtet, der süße, tiefe Schlaf der Jugend dem kleinen Schwätzer den losen Mund zuletzt geschlossen hatte.

An diesem Abend war Frau Katrien besonders religiös gestimmt. Die Feierlichkeit, womit der Südwest in der Ulme rauschte, klang wie der Anspruch des lieben, nunmehr deutlich dräuenden Gottes auf besonders festliche Bewirtung. Und das mochte wohl die Veranlassung sein, daß Frau Katrien der kindlichen Andacht die Beziehung auf einen Glaubensartikel der Kirche zugesellte:

Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das sei mein Schmuck und Ehrenkleid!
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn wir dereinst gen Himmel gehn.

So beteten die gelehrigen Kinder mit vieler Mühe, eins nach dem andern, nach dem Munde der Mutter.

»So, nun schlaft artig ein.«

Die Mutter wollte schnell weg, aber aus dem Wandbett quoll es hervor: »Gehn wir bald gen Himmel, Mutter?«

»Wenn wir tot sind, Lieschen, dann kommen wir vor Gottes Thron.«

»Aber Gott ist ja in Hans sein Karussell.«

»Ja, liebes Kind, aber im Himmel wohnt er.«

»Wohnt er nicht in meinem Herzen?« fiel Hans Boie ein.

Auf eine weitere Verhandlung mit dem Zweifler ließ sich die Mutter nicht ein. »Ja, mein Sohn, nun schlaft ein!«

Aber so leichten Kaufs kam sie nicht davon.

»Mutter, wenn wir gen Himmel gehn«, fragte Luise, »nicht wahr, dann sind wir schmuck angezogen im Ehrenkleid?«

Die Mutter lachte. »Ja, Kind.«

»Nicht wahr, eine Haube von weißem Battist mit breitem Band?«

»Jawohl, Kinder; nun schlaft ein!«

Das taten sie auch. Der Sturmwind flötete ihnen ein Schlummerlied, das dumpfe Gemurmel des Gesprächs, das um den warmen Ofen der Stube geführt wurde, gab sattere Tonfarben.

Hans Boie nahm die Vorstellung seines Schwesterchens von der seidenen Haube mit den breiten Bändern und der weißen Spitzenmulde, worin der Haarzopf ruhte, in den geträumten Himmelssaal mit hinüber, aber die Bänder erhielten eine blutrote Farbe, und die so gestaltete Haube setzte er dem lieben Gott auf das runde, gutmütige, freundliche Gesicht. Der liebe Gott trug auch einen mit Seide durchwebten Frauenrock und eine Weste von schwarzem Lasting. Ja, er erkannte in ihm seine Anna Mersch, die immer so schmuck aussah, wenn sie aus Dithmarschen herüberkam. Aber jetzt machte sie ein komisches Gesicht, tat wichtig und pfiff und flötete wie der Südwest draußen, und blies mit vollen Backen. Aber selbst im Traum fielen dem Hänschen die Bonbons ein, die Tante mitzubringen pflegte. Und richtig, der Tantengott hatte einen ganzen Sack voll mitgebracht, denn er warf Hände voll davon den Kindern in den Schoß, daß süße Zuckererbsen den Estrich des Himmelssaals – es prasselte wie Rauhreif gegen die Fensterläden – weiß bedeckten.

Es folgte ein tiefer Schlaf, von dem kein Traum mehr Eindrücke in seiner jungen Seele zurückließ. Nur einmal wurde das junge Leben, das sich in süßer Bewußtlosigkeit zu seiner Quelle zurückgewendet hatte, mit der Wirklichkeit durch den Schall von Rufen, die halb von Schrecken, halb von Befehl getragen waren, verknüpft. Zugleich erbebte das warme Bett unter ihm von den Schwingungen eines gewaltigen, dumpfen Falls.

Am folgenden Morgen plantschte man bei mäßig bewegter, milder Luft durch Eis und Schneewasser, nur hinter Knicken und in den Rillen der Abzugsgräben zeigten sich schmutzigweiße Streifen.

Die Erwachsenen hatten eine Nacht voll Gefahren und Schrecken hinter sich. Der stürmische Fremdling aus dem Süden hatte um ein Haar das Dach des Hauses abgehoben, und nur der Taktkraft kühner Männer, die sich im nächtlichen Sturm hinaufgewagt hatten, war die Abwendung des Unglücks zu verdanken.

Hans Boie bemerkte vier eiserne, mit großen Steinen beschwerte, durch gewundene Weiden mit dem Lattenwerk verbundene Eggen auf den gefährdeten Stellen, zum Teil dicht unter dem hohen Dachfirst. Aber den gewaltigsten Eindruck brachte der Zusammenbruch der hohen und schönen, wenn auch alten und morschen Ulme auf sein Gemüt hervor. In der Aushöhlung ihres im Fall zweimal durchbrochenen und teilweise geborstenen Stammes stand der Knabe aufrecht und vermochte mit seinen Händchen die Höhe ihres inneren Gewölbes nicht zu erreichen. Die ungeheure Masse des Baumes: gebrochene mannsdicke Äste, ein Wust von Zweigen, weit umhergeworfene Splitter bedeckten die Fahrstraße in der Länge des Hauses. Nach seinem Sturz erst würdigte man die Größe des Kolosses. Ein Glück, daß er in der Längsrichtung des Hauses gefallen, anderenfalls hätte er das Dach der Wohnung eingedrückt.

Und zum ersten mal dämmerte im ahnungslosen Kindergemüt die Sorge auf, das Gefühl der Abhängigkeit von dunklen, unheimlichen Mächten. Zum ersten mal besann Hans Boie sich im ernsthaften Gebrauchsfall auf die Generalarznei aller kranken Seelen, auf die ihm von den Eltern angepriesene Zuflucht zum lieben Gott in allen Nöten. Zum ersten mal blickte sein Auge in einer Art Andacht zum Himmel auf in der Beseelung eines Gefühls, das von der bisher geübten Lippenandacht verschieden war. Also das hatte der liebe Gott getan – nun war es klar, daß er allmächtig war, wie die Mutter behauptete, denn kein anderer hätte das gekonnt. Aber er hatte auch ein Unglück verhütet, denn er war allgütig.

Bisher, d.h. in den vierzig Monaten, wo er Erdenbürger war, hatte er das einsame, weltabgeschiedene Fleckchen, wohin der Weltgeist sein Seelchen geworfen, nicht verlassen. Dies Fleckchen war seine Welt, seine nicht einmal ausgemessene, enge Welt. Bis zur schwarzen Heckpforte am alten Stall nach rechts, wo man aus dem Gebüsch hervorlugt, die stillen Gartenwege zur Linken des Hauses hinauf, wo man die braune Heide hinan sah – soweit kannte er sich gut aus, weiter nicht. Die Himmelskuppel hielt er für eine Metallglocke in der Art, wie sie auf dem Ofen der väterlichen Wohnstube stand, nur daß diese aus gelbem Messing, die Himmelsglocke aus grauem Metall gearbeitet war. Wie weit es vom Hecktor rechts und vom Gartentor links noch bis zur Himmelswand sei, das sah er heute zum ersten mal. Zum ersten mal gewahrte er die Größe und Weite des Himmelsgewölbes, das sich über ihm zur höchsten Höhe erhob. An der festen Decke schoben Wolken hin und her, aber über und hinter dieser Decke wohnte der allmächtige, der allgütige, der liebe Gott.

Und horch! Was ist das? ... Gesang?

Aus der Haustür, wo soeben ein alter Mann verschwunden war, wogte es zu ihm her. Ja, es war Gesang, aber Gesang, wie von ihm noch nicht gehört – langsame, feierliche Rhythmen. Die zitternde alte Stimme, die einen Choral ableierte, stahl sich unserm Naturkinde schmeichelnd in die junge Seele. Auch in diesem Gesang war von Ihm die Rede, der seine Seele erfüllte, von dem lieben Gott. So viel verstand er: es handelte sich um die Freude, die der Selige dereinst bei Gott im Himmel genießt.

Der Gesang verstummte, die Haustür öffnete sich, der Sänger erschien – ein alter kümmerlicher Bettler, der vor den Stubentüren um Brot bat und dafür einige Gesangverse meckerte, worin er den milden Geber auf die Belohnung solch guter Tat im Himmel vertröstete. Er stapfte mühsam durch die Baumtrümmer, die die Tür fast versperrten, ganz in derselben Weise, wie er sich kurz vorher den Weg erkämpft hatte. Zu seinem Erstaunen nahm Hans Boie wahr, daß er nicht dorthin zurückkehrte, woher er gekommen war, sondern das Haus in entgegengesetzter Richtung verließ. Bisher hatte er das elterliche Haus, wenn auch nicht für die einzige Wohnung die Welt, so doch für ihren Mittelpunkt gehalten. Daß jemand über diesen Mittelpunkt hinweg gehen könne, weiter ... weiter, das hatte er nicht für möglich gehalten.

Weiter? Wohin?

Und zum ersten mal hielt der Kleine Umschau in seiner engen, seiner großen Welt. Er umkreiste den väterlichen Hof, überall steckte er das Köpfchen aus dem Gebüsch; er watete durch Wasser und Schmutz, überall sah er über Äcker, Wiesen und Felder, die sich in blauer, dämmernder Ferne verloren, über graue, düstere Moore. Und überall war es weit bis zur Himmelswand.

Nur hinter dem Garten, wo es sanft zur Höhe geht, die Heide hinan, war der Himmel ganz nahe. Hinter der Höhe stand der Himmel auf der Erde, dahin konnte er leicht gehen, zum lieben Gott, und wenn er sein Ohr an die Himmelswand legte, so vernahm er vielleicht den Gesang der Seligen, viel schöner als den, dessen Klange er in seinem Herzen bewegte. Und sieh, er täuschte sich nicht, der Tantengott mit der Düte guckte über den Berg! Hin! Hin!

»Ich will mit, wo willst du hin?«

Es war sein Schwesterchen, das mit kleingroßen Schritten ihm nach durch die Heide kroch.

»Gen Himmel, zum lieben Gott!«

Und die Kinder arbeiteten durch die Heide.

Den ganzen Tag waren die Eltern in banger Sorge. Erst gegen Abend wurde man der Himmelsstürmer habhaft. Sie saßen im Eichengestrüpp, auf weitem, wildem Vierth – kalt, naß, schmutzig, weinend. Der Himmel war so weit wie nur je über die Heide geflohen. Dessen Gewölbe hatte Hans Boie auf dem Scheitel vor sich her getragen.

Die Himmelfahrt war von den Kindern aufgegeben, und an der Heimfahrt verzweifelte ihr hilflos weiches Gemüt.

Frau Katrien beließ es vor der Hand bei dem kindlichen Gebet: ›Ich bin klein ...‹

*

Ein Dutzend Jahre war vorüber. Hans Boie, halb erwachsen, stand vor der Einsegnung, wahrend Luise als Konfirmierte den ersten Tanz schon hinter sich hatte und allgemach von den Brautwerbern als geeigneter Heiratsgegenstand in den Listen vorgemerkt wurde.

Luise bewahrte die Himmelfahrt als dunkle Erinnerung an einen ersten vor Schmutz und Nässe verunglückten Spaziergang. Das Ziel war ihr niemals klar gewesen, oder doch in Vergessenheit geraten. Sie interessierte sich überhaupt nicht für all die wunderlichen Fragen, womit Hans Boie sich quälte, wenigstens nicht in dem Maße wie dieser. So nahm sie auch im Schulbesuch die Lehren der christlichen Religion ohne wärmeren Herzensanteil hin, als unantastbare Wahrheit, womit sich jeder abfinden müsse, die ein Grübeln daher nicht verlohne. Aus der Allgüte des Schöpfers in Verbindung mit dem für die Menschheit diesem allgütigen Gott dargebrachten Generalopfer des Erlösers entnahm sie die Zuversicht, daß ihr die ewige Seligkeit dereinst nicht entgehen werde, und selbst wenn ihr Verhalten mit den strengen Religionsvorschriften nicht ganz in Einklang stand, so befürchtete sie davon keinen Schaden für ihr ewiges Heil. Denn sie war zu jeder Zeit bereit wie fähig, als reuige, gläubige und bußfertige Sünderin die Vergebung von dem dreieinigen Gott zu erflehen, mit der Überzeugung der Gewährung. An Weiteres dachte sie nicht. Und selbst diese Gedanken lagen in ihrer Seele im Halbschlummer. Sie befand sich – so wollen wir es bei dem weiblichen Geschlecht – im Besitz einer Sorglosigkeit, die man mit der ruhigen Zuversicht bei Leitung eines geschäftlichen Unternehmens vergleichen könnte, wenn sie für widrige Geschäftslagen eine große Extrareserve hat.

Wie anders Hans Boie! Wenn die Religiosität eines Menschen in dem ehrlichen Nachdenken darüber, was unserer Einsicht verschlossen ist, besteht, so konnte ihm die Bezeichnung eines von ihr erfüllten Knaben nicht versagt werden.

Im zarten Alter geleitete ihn noch die liebliche Traumvorstellung ins Leben hinein. Das Gütige, Mütterliche, Vorsorgliche der Gottheit fand in dem Weiblichen einen greifbaren, angenehmen Ausdruck.

Aber dann stutzte er bei der Lehre, daß Gott an keinen Ort gebunden sei, an keinen Raum, an keine Form und Gestalt, und ein Gefühl der Befremdung überschlich ihn. Aber auch in diesem Fall verlangte die Phantasie ihr Recht. Irgend eine Gestalt mußte der liebe Gott haben. Die Form einer ungeheuren Kugel vermittelte noch am ehesten das Unpersönliche. Aber, wenn Gott handelnd auftrat, unterstellte er doch wieder die ins Ungeheure vergrößerte Figur eines menschlichen Wesens, dem der Himmel zum Stuhl, die Erde zum Schemel seiner Füße diente. Und endlich fand seine glaubensstarke Phantasie an dem das ganze Weltall erfüllenden Gott wie an der allumfassenden Liebe des Erlösers ein leidenschaftliches, schwärmerisches Wohlgefallen.

Er war bereit, diese Lehre mit dem Tod zu besiegeln. Vielleicht würdigte ihn der liebe Gott noch dieser Gnade. Die Reihe der Blutzeugen durchlief sein lebhafter Geist. Der war gekreuzigt, der war gesteinigt und der in Öl gesotten, der mit feinen Sägen zerschnitten. Gleichviel, wie sie starben: es geschah wegen Christi Lehre. Wie Feuer wollte auch er dereinst ausgehen von Zion und seine Wehe ausrufen über die Gottlosen unserer Zeit, freudig ertragen Schmerz und Verfolgung, Hohn und Spott, Kreuz und Plage.

Aber im Laufe der Jahre erwachten die Zweifel. Aus Büchern, aus Gesprächen wuchsen sie empor. Und es wagten sich allergeheimste Gedanken hervor. Der fremdartige Eindruck, den die Phantasie der christlichen Dogmatik in ihm hervorgerufen, machte sich geltend. Glaubte er sich auch stark im Bewußtsein der Überzeugung, so fiel doch die Lehre, daß man den Qualen der ewigen Verdammnis nur durch den Glauben, nicht durch Werke entgehen könne, wie Reif auf den Frohsinn seines Bekenntnisses. Die Vorstellung ererbter Schuld, die der Erlöser mit seinem Blut abbüßen mußte, ging ihm nicht ein. Und es erhoben sich verfängliche Fragen, kamen allerlei Warum? Warum so und nicht so? Wenn Gott allwissend war, so sah er den ganzen Verlauf des Sündenfalls und seiner Folgen voraus. Weshalb ließ seine Allmacht das zu? Hat die Prüfung und die Versuchung durch einen Allwissenden und Allmächtigen, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche, überhaupt einen Sinn? Wenn er uns in seiner Allmacht schuf, schuf er nicht auch unsere Schuld? Ist mit der Allmacht Gottes, als unbegrenzter Freiheit, der freie Wille anderer, vernünftiger Wesen zu vereinigen? Alte Betrachtungen, verjährte Zweifel, ihm aber waren sie neu; der Kampf, den so viele durchgekämpft haben, blieb ihm nicht erspart.

In der Schule war Luthers Katechismus zum so und sovielten mal abgehört. Dies geschah jeden Sonnabend vormittag, wenn schon der Duft kommender Freiheit auf der Schulbank lag; jede Woche ein Hauptstück.

Von dem zweiten hatte Sievert Paulsen die unbegriffenen, harten, dogmatischen Sätze von der Erlösung, denen das Begriffsvermögen eines Kindes wie harter Stahlpanzer widersteht, hergestottert.

»Niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten.« Und vor Hans Boie stieg der in den Eingeweiden der Erde eingebettete Vorhof der Hölle herauf, das unübersehbare Meer verstorbener Seelen in düsterer Reflexbeleuchtung qualmiger, flackernder Höllenglut. Und in ihrer Mitte die Lichtgestalt des Gekreuzigten, Nägelmale an Händen und Füßen, den Speerstich am geheiligten, gemarterten Leib. Seine Lippen verkündeten den aufhorchenden verflossenen, verstorbenen Geschlechtern die frohe Botschaft von der Erlösung.

Aber über diesem Bild der kritische Zweifel. Unter solchen Umständen – freilich. Den verflossenen Geschlechtern sei das Glauben so viel leichter gemacht worden. Und ...

»Hans Boie, weiter!« befahl der Lehrer.

Der Knabe erhob sich, wußte aber nicht, wovon die Rede war.

»Du träumst mal wieder. Es folgt der dritte Artikel: ›Von der Heiligung‹«, verwies Persetter.

»Ich glaube«, sagte Hans Boie her, »an den heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeine der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen!– Was ist das?«

Und nun begann der Schüler die scharf zugespitzte Erklärung des starkgläubigen Martin Luther. Hans Boie versicherte, er glaube, daß er nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, seinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen könne, vielmehr der heilige Geist ihn durch das Evangelium berufe, mit seinen Gaben erleuchte, im rechten Glauben heilige und erhalte; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berufe, heilige ...

So weit war es einigermaßen glatt gegangen. Nun aber begann die Verwirrung, Verwicklung. Bei ihm hatte die Lehre von der Heiligung niemals gesessen. Das Gehirn war ordnungsmäßig, aber die Heiligung wurde von ihm abgelehnt. Und die Heiligung und die Erleuchtung der ganzen Christenheit auf Erden im Gegensatz zu der Heiligung des einzelnen gläubigen Christen hatte nicht einmal das Gedächtnis erfaßt. Durch den Gleichklang der beiden Wörter ›geheiliget‹ und ›heiliget‹ verführt, bewegte Hans Boie sich im Kreise – – sammelt, erleuchtet, heiliget – – geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berufet, sammelt, erleuchtet, heiliget – geheiligt und erhalten ... Er war im Irrgarten, und es gab keinen Ausweg.

Betrübnis legte sich auf die Züge des Lehrers. »Hans Boie, der liebe Gott hat dich mit gutem Gedächtnis und guter Auffassung ausgestattet. Auch bist du fleißig und lernbegierig, und doch nehme ich zu meiner großen Betrübnis wahr, daß die Glaubensartikel dir weniger zu eigen sind als deinen Mitschülern. Wie ist das zu erklären?«

Hans Boie schwieg; aber nicht mit dem Antlitz eines betroffenen Sünders. In diesem Augenblick regten sich die Zweifel mit verstärkter Gewalt. Seine Lippen schürzten sich, ihm selber unbewußt, in leichtem Spott.

»Du lächelst?« ereiferte sich der Lehrer; »weshalb lachst du? Denk an die Strafen der Spötter und Gottlosen! Glaubst du nicht an die Sätze unserer Kirche?«

Und das Unerhörte geschah. Dem Schüler entfuhr das gelassene Wort: »Nein!«

»Was, du glaubst nicht?« kreischte voller Entsetzen der Lehrer; »du glaubst nicht an Gott und seine Lehren?«

Gelassenheit kam über Hans Boie. Hatte er bis dahin in unbewußter Voreiligkeit gesprochen, plötzlich erwuchs ihm der Mut, seinen Standpunkt zu wahren.

»Ich glaube an Gott«, antwortete er getrost, »aber von seinem Wesen kann ich mir keine Vorstellung machen. Die Dreieinigkeit kann ich nicht verstehen und nicht glauben, nicht die Erbsünde, nicht die Notwendigkeit der Erlösung. Wenn dieser Glaube zur Seligkeit, auch wenn man Gott gehorsam sein will, erforderlich ist, dann ...«

Hans Boie stockte. »Aber«, fuhr er fort, »deshalb kann ich auch nicht glauben, daß es notwendig ist. Ich kann und mag diese Artikel nicht lernen, weil ich sie nicht verstehe.«

Der Zorn des Lehrers spottete aller Beschreibung. »Du Knabe«, fuhr er auf, »willst nur glauben, was du in deiner Einfalt, die du für Weisheit hältst, zu fassen vermagst? Willst nur glauben, was du begreifst? Der heilige Augustin beugte sein Haupt vor Gott. Aber du nichtsnutziger Knabe wagst es, deinen Vorwitz an den ewigen Wahrheiten zu messen?«

Allmählich verging der Zorn, und die Trauer kam. »Welch gottlose Worte mußte ich hören! Bitte den lieben Gott, daß er dich nicht verlasse, wie auch ich für dich, armen Knaben, zu meinem Herrn Jesu Christo, dessen Blut uns alle versöhnt, beten werde! O du grundgütiger Gott, schreibe die Worte nicht in sein Schuldbuch, wonach du dereinst Rechenschaft fordern wirst für jedes unnütze Wort, schreibe sie da nicht hinein!«

Er überbrachte persönlich den Eltern die Nachricht von dem Vorfall. Der Vater nahm sie mit ruhiger Herbe auf.

»Das sind Flegeleien, die mit der Jugend vergehen«, behauptete er. »Ich will ihm diese Nacht ein stilles Plätzchen anweisen. Da mag er seine Torheit überdenken. Und ich wette: morgen ist in ihm sein Christenglaube so teuer und fest, wie er nur bei uns wurzelt.«

*

Dem Grundstock des vielverschlungenen elterlichen Gehöfts war an der Wegseite ein Kreuzbau angelehnt, worin sich der als ›gute‹ Stube dienende, auch als ›große‹ Stube benannte Raum befand, der die ganze Breite des Anbaus einnahm und an beiden Seiten zwei Fenster hatte. In der Regel waren diese durch feste Holzläden, die dem Licht durch fingerbreite Ausschnitte spärlichen Durchgang gestatteten, verwahrt und nur bei Familienfestlichkeiten und Begräbnisfeierlichkeiten geöffnet. Glücklicherweise waren diese ebenso selten wie jene. Nur einer älteren, brustkranken Schwester hatte das Zimmer ein halbes Jahr als Krankenstube gedient, bis sie für immer ihre aus dem abgemagerten Leidensantlitz groß hervorstrebenden Augen schloß und der Sargdeckel wieder einmal, für die Kinder zum ersten mal, mit der weißgekleideten, blumenbedeckten Gestalt der Verblichenen das Rätsel des großen ›Wohin?‹ vergrub.

In der Vorstellung, der Kinder war die große Stube mit ihrer ewigen Dämmerung, ihrer tiefen Abgeschiedenheit von dem Wirtschaftslärm des Hofes, mit der Erinnerung an Tod und Begräbnis verbunden, und darin mag es denn auch wohl begründet gewesen sein, daß sie ihnen zu einer Art Gespensterzimmer wurde. Die Schränke und Koffer ächzten und krachten unter den aufgespeicherten Leinenschätzen in allen Fugen, ohne ersichtlichen Grund, und um die Ecken dieses Kreuzbaues lief, schon bei mäßigem Rauschen der dicht herangedrängten Linden, die Melancholie einer geänstigten, klagenden Seele; aus dem selten gelüfteten Raum quoll es hervor wie Geruch frisch lackierter, neuer Särge, steifer, ladenfrischer Sterbehemden, wie durchdringender Duft grüner Immortellen.

Der Raum darunter war mit starken Gittern versehen, eine Art Keller. Er diente nur in heißen Sommermonaten den Zwecken der Milchwirtschaft, für die Kinder ein lieber Aufenthalt – frisch, kühl im Sommer, behaglich warm im Herbst. Leere, kahle Wände warfen den Schall ihrer Stimme mehrfach zurück, aus jeder Ecke vervielfachte das Echo ihre jugendlichen, mit feierlichem Vollklang zu ihnen zurückkehrenden Stimmen.

Dies Verließ war unserm Galilei als Gefängnis angewiesen. Noch hörte er das Geräusch des hinter ihm abgezogenen Schlüssels. Der Märtyrer des Glaubens wurde zum Märtyrer des Unglaubens.

Es war ihm behaglich genug gemacht, dem Märtyrer. Da stand der Tisch, und die Gefangenennahrung, die lockend darauf dampfte, war reichlich und gut. Dort stand der Stuhl, dort war sein Lager, und von der festen Gipsdecke leuchtete ruhig der Lampe tröstendes Licht.

Er prüfte sein Burgverließ, klopfte herum an den Wänden, an den Eisenstäben der Fenster, an der sicheren feuerfesten Decke. In diesen Raum drang keine Gefahr, die Einsamkeit war seine einzige Strafe, aber die Einsamkeit war die beste Freundin des grübelnden Knaben.

Er kam sich außerordentlich romantisch und interessant vor wie in einem Burgverließ, umgeben von unbestimmten, erträumten Gefahren, zumal da er ganz genau wußte, daß ihm niemand ein Leid zufügen werde. Ein süßes Behagen durchdrang ihn; in seiner Zelle schritt er wie ein König, nicht wie ein Gefangener daher.

Ein lebhafter Südwest stieß wie einst, als er noch mit den Kinderhänden nach der Himmelswand langte, an das Haus, dürre Blätter rasselten in feinem Wirbel über das Steinpflaster, an den Kellerluken daher. Dem angstvollen Rufen des Sturmwindes folgte die Beschwichtigung der ruhig wehenden, rauschenden Baumwipfel; in dem Flehen und Klagen der Windgeister, die im ruhelosen Pfiff um die Ecken gejagt wurden, rauschte als Grundton die Versicherung: so gerne möchten sie mit ihm in dem lauschigen Raum ausruhen von der wilden Jagd, die sie über die herbstlichen Stoppelfelder treibe.

Über seinem Haupte in der Gespensterstube hörte er ein leises Schlürfen und Schleifen, und das erfüllte ihn mit angenehmer Angst, die um so reizvoller war, als das sanfte, im breiten behaglichen Lachen austönende Säuseln nicht müde wurde zu wiederholen: das alles sei nur Spaß, und nirgends sei es sicherer und behaglicher als bei ihm im Keller unter der Gespensterstube. Vor dem Fensterchen hüstelte eine alte Linde und sagte ihm geradezu auf den Kopf, er selbst glaube nicht an den von seiner Einbildungskraft erlogenen Spuk.

Sie war eine redselige Alte und rauschte und plauschte die ganze Nacht. Er hörte sie bis in den tiefsten Schlaf, als schon seine Vorstellung die Herrschaft des Verstandes abzuschütteln begann.

›Grüble nicht und sinne nicht, junges Menschenkind, über Fragen, die du nicht verstehst und nicht begreifst! Zu viel grübeln ist nicht gut. Sieh, die Welt ist voller Freuden – ist sie etwa weniger schön, weil du den Schöpfer nicht begreifst? Auf deiner Fahrt zum lieben Gott entwich die Himmelswand, je sehnsüchtiger du ihr nahtest, du erreichtest sie nicht, und nimmer wirst du das Wesen Gottes ergründen. Das beste wäre, du schliefest ein.‹

Und er schlief ein ... Im Traum war ihm, als wenn sein totes Schwesterchen durch die feste Gipsdecke aus der Gespensterstube herabschwebe und an seinem Lager Platz nehme. Es strich, wie einst, mit seidenweicher Hand über seine Stirn.

›Wo kommst du her?‹

›Vom Himmel!‹

›Kennst du den lieben Gott?‹

›Ich kenne viele Geheimnisse, ich kenne auch deine Zweifel, deine Kämpfe.‹

›‹Wo ist der Himmel?‹

›Oben, unten, überall!‹

›Und die Hölle?‹

›Es gibt keine Hölle, Gott ist die Liebe.

*

Ein ganzes Menschenalter trennt mich von der Zeit, aber meine Westentaschenphilosophie ist so gut wie die bändereiche Fachphilosophie unserer Gelehrten auf dem alten Fleck geblieben.

Ich halte noch immer die Ansicht meines Traumgesichts in Ehren und zerbreche mir ab und zu den Kopf des lieben Gottes über das ›Wohin?‹

Dreißig mal summte unsere Erde, die Eintagsfliege, um die Sonne und folgte, dem Gesetze der Schwere gehorsam, diesem Gestirn auf unbekannten Pfaden, unbekümmert um das ›Wohin?‹ Benachbarten Gestirnen bot sie fröhlich den Gruß, aber keine Erwiderung klang zurück. Nur ab und zu, ich sah es in sternenreichen Nächten, leuchtete es wie ein Versuch zum Sprechen über das Antlitz großer, leuchtender Gestirne. Aber vergebens. Denn von allen Tausenden befand sich keines in der kurzen Episode organischen Lebens, das die Gestirne blitzartig erleuchtet.

Aber die Erde in ihrem kurzsichtigen Hochmut vermeinte das Lieblingskind des Weltalls zu sein und lachte in schadenfroher Verblendung. Dafür wird auch sie dereinst erstarren, die lieblose Erde.

Vorläufig schnurrt ihr Triebwerk nach Regel und Ordnung. Und lebensfrisch gondelt die Erde im großen unendlichen Raum. Freilich, wenn die rätselhaften, geschweiften Landstreicher des Weltalls aus den Abgründen des Raumes emportauchen, bemächtigt sich ihrer eine gewisse Unruhe, und scharf lugt sie nach der Gefahr des Zusammenstoßes aus. Aber bisher erwies sich die Fahrordnung des Luftmeeres noch immer als ausreichend. Wenn auch ab und zu jene Unholde haarscharf um einige ungezählte Millionen Meilen vorüberglitten, so schlang doch noch jedesmal der gähnende Raum die unheimlichen Gesellen in seinen Rachen zurück.

Die Elemente ihrer Flugbahn wurden aber vorsorglich von den Astronomen festgelegt und verbucht mit kaufmännischer Genauigkeit. Überhaupt machten wir Menschen uns mit unserer Weisheit breit. Bestand und Entwicklung der natürlichen Welt führten wir auf Gesetze zurück, die dem lieben Gott gestatten sollen, in den Ruhestand zu treten. Und ihm das Geheimnis der Schöpfung abzulauschen, waren wir eifrig und hoffnungsvoll bestrebt. Was Jahrtausende hindurch als persönliche, tätige Weisheit Gottes bewundert worden war, erkannten wir in gläsernen Retorten und Mikroskopen als Faustrecht des Stärkeren. Und überall schüttelten in unserer gesellschaftlichen Ordnung die Arbeiterheere die sehnigen Arme, um den neu entdeckten Grundsatz für sich zu verwerten.

Mein Beruf führte mich an das Lager von Kranken und Sterbenden, wo ich als Helfer, aber auch als kühler Beobachter verweilte. Die Veränderung eines Nervenstrangs verwandelte Charakter und Geist, ein Tröpfchen Blut, wenn es im Gehirn eine Taste hemmte, machte den geistreichsten Menschen zum albernen Schwachkopf. Und wie oft ich auch in den brechenden Augen der Abscheidenden nach einem Gruß des schöneren Jenseits forschte – der Tod bewahrte treu sein tausendjähriges Geheimnis.

Es gibt keinen Schöpfer, es gibt keinen Erhalter – so lautete das Privatissimum, das ich mir in der Periode des Unglaubens las; – es gab einen Urbrei und es gibt ewige natürliche Gesetze. Im Tode wird der Stoff frei, neue Verbindungen einzugehen. Geist wie Leben ist eine Eigenschaft des Stoffes, Fortbestehen unserer Seele ein Unding. Der Mensch ist ein chemischer Verbrennungsofen, nichts mehr!

So sprach ich in jungen, ungläubigen Jahren, das heißt: eigentlich sprach nur die eine Seele so, die andere – wer kann aufstehen und sagen, er habe nur eine? – höhnte schon damals ihre Kollegin an und meinte, es sei die Zeit wohl nahe, wo man das Gewissen chemisch darstelle.

Daran dachte ich heut nacht, als mir der gute Mond auf spätem Berufsgang durch lehmige Wege nach Hause leuchtete. Und ich sagte zu ihm: »Bist nicht mehr jung, alter Kerl, was sagst denn du dazu?«

Da sah er erst voll und rund und verschmitzt drein und so weise und klug, als habe er Verständnis für die Zweifel der armen, zwischen Drachen- und Kamelsrachen hängenden Menschheit, als sei er nicht schon lange versteint und erstarrt.

»Wohin fährst du, Geselle, Sternenmops am Gängelband unserer Erdenmutter, wohin geht die Reise, sag, wohin?«

Es zuckt über sein feistes Gesicht, als ob ihm eine große Wahrheit die Zunge beschwere. Aber bevor der Stotterer mit der Antwort zustande kommt, verkriecht er sich hinter jagendes Nachtgewölk.


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