Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Die Große Französische Revolution 1789-1793 – Band II
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

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45. Die Ursachen des neuen Aufstandes

Der 31. Mai ist eines der großen Daten der Revolution, vielleicht ebenso bedeutungsvoll wie der 14. Juli und der 5. Oktober 1789, der 21. Juni 1791 und der 10. August 1792, aber vielleicht das tragischste von allen. An diesem Tag machte das Volk von Paris seine dritte Erhebung, seinen letzten Versuch, der Revolution einen wahrhaft volkstümlichen Charakter zu geben. Und um dazu zu gelangen, mußte es sich nicht gegen den König und den Hof, sondern gegen den Nationalkonvent wenden, um die Hauptvertreter der girondistischen Partei aus ihm zu entfernen.

Der 21. Juni, der Tag der Festnahme des Königs in Varennes, schließt eine Epoche ab; der Sturz der Girondisten am 31. Mai 1793 beschließt ebenfalls eine Epoche. Er wird zugleich das Urbild aller kommenden Revolutionen. In Zukunft wird keine Revolution mehr möglich sein, wenn sie nicht schließlich zu ihrem 31. Mai führt. Entweder hat künftig eine Revolution ihren Tag, wo die Proletarier sich von der revolutionären Bourgeoisie trennen, um dahin zu marschieren, wohin die Bürger ihnen nicht folgen können, ohne aufzuhören, Bourgeois zu sein; oder diese Trennung findet nicht statt, und dann kommt es überhaupt zu keiner Revolution.

Selbst noch heutzutage empfindet man die ganze Tragik der Lage, in der die Republikaner in diesem Zeitpunkt waren. Vor dem 31. Mai handelte es sich nicht mehr um einen meineidigen und verräterischen König. Jetzt mußte man alten Kampfgefährten den Krieg erklären. Denn sonst hätte die Reaktion schon im Juni 1793, zu einer Zeit, wo das Hauptwerk der Revolution – die Zerstörung des Feudalwesens und der Grundlagen des Königtums von Gottes Gnaden – noch kaum begonnen war, triumphiert. Entweder mußte man die girondistischen Republikaner, die bis dahin den Despotismus tapfer bekämpft hatten, aber jetzt dem Volke sagten: ›Bis hierher und nicht weiter!‹, proskribieren, oder man mußte das Volk zur Erhebung bringen, um sie zu entfernen, um für den Versuch, das begonnene Werk zu vollenden, über ihre Leichen zu schreiten.

Diese tragische Situation tritt in dem Pamphlet von Brissot, ›An seine Wähler‹, vom 26. Mai, von dem wir schon gesprochen haben, sehr deutlich zutage.

Man kann diese Seiten in der Tat nicht lesen, ohne zu empfinden, daß es um Leben und Tod ging. Brissot gefährdet seinen Kopf mit der Herausgabe dieses Pamphlets, in dem er mit größter Heftigkeit die Guillotine für die verlangt, die er die Anarchisten nennt. Nach dem Erscheinen dieser Schrift gab es nur noch zwei Wege: entweder ließen sich die ›Anarchisten‹ von den Girondisten guillotinieren, und dann war den Royalisten Tür und Tor geöffnet; oder die Girondisten mußten aus dem Konvent verjagt werden, und dann mußten sie zugrunde gehen.

Es ist klar, daß die Bergpartei sich nicht leichten Herzens dazu entschloß, den Aufruhr herbeizuführen, um den Konvent zu zwingen, die Hauptführer der Rechten aus seiner Mitte zu stoßen. Mehr als ein halbes Jahr lang hatten sie versucht, irgendwie zu einer Verständigung zu kommen. Danton insbesondere hatte sich große Mühe gegeben, ein gegenseitiges Einvernehmen zuwege zu bringen. Robespierre seinerseits beschäftigte sich damit, die Girondisten mit parlamentarischen Mitteln zu lähmen, ohne Gewaltmittel anzuwenden. Selbst Marat bezwang seinen Zorn, um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Es gelang auf diese Weise, die Spaltung hinauszuschieben. Aber um welchen Preis! Die Revolution war ins Stocken gekommen. Es geschah nichts mehr zur Sicherung und Befestigung dessen, was schon errungen worden war. Man lebte in den Tag hinein. In den Provinzen hatte der alte Zustand der Dinge seine ganze Macht behauptet. Die privilegierten Klassen lauerten auf den Augenblick, die Vermögen und die Ämter wieder in die Hand zu bekommen, die königliche Gewalt und die Feudalrechte, die das Gesetz noch nicht für ungültig erklärt hatte, wiederherzustellen. Bei der ersten Niederlage der Armeen mußte das Ancien régime siegreich wiederkehren. Im Süden, dem Südwesten und Westen war die Masse noch immer den Priestern, dem Papst und durch sie dem Königtum ergeben. Allerdings waren eine große Menge Ländereien der Geistlichkeit und den früheren Adligen weggenommen worden und in die Hände des großen und kleinen Bürgertums sowie der Bauern übergegangen. Die Feudalgebühren wurden weder abgelöst noch bezahlt. Aber das alles war noch immer in der Schwebe und nicht sichergestellt. Und wenn das Volk morgen, vom Elend und vom Hunger erschöpft, des Krieges müde, in seine Hütten zurückkehrte und die Anhänger des alten Systems gewähren ließe, würde dieses nicht nach kurzer Zeit im Triumph zurückkehren?

Nach dem Verrat von Dumouriez war die Lage im Konvent völlig unhaltbar geworden. Die girondistische Partei fühlte, wie sehr sie durch diesen Verrat ihres Lieblingsgenerals in Mitleidenschaft gezogen war, und wurde darum nur noch wilder gegen die Bergpartei. Als man sie des Einverständnisses mit dem Verräter beschuldigte, wußte sie darauf keine andere Antwort zu geben, als daß sie verlangte, es sollte gegen Marat wegen der Adresse, die von den Jakobinern am 3. April auf die Nachricht von Dumouriez' Verrat hin beschlossen worden war und die er als Präsident unterzeichnet hatte, Anklage erhoben werden.

Die Girondisten benutzten den Umstand, daß viele Mitglieder des Konvents, und zwar meistens Angehörige der Bergpartei, gerade zu den Armeen und in die Departements entsandt waren, und verlangten so, der Konvent sollte die Anklage gegen Marat beschließen – was am 12. April geschah –, und dann, er sollte wegen Aufreizung zum Mord und zur Plünderung vor das Revolutionstribunal gestellt werden. Der Haftbefehl wurde am 13. April mit 220 gegen 92 Stimmen bei 367 Abstimmenden beschlossen, 7 Stimmen waren für Vertagung und 48 enthielten sich der Abstimmung.

Der Streich mißglückte jedoch. Das Volk der Arbeiterviertel liebte Marat zu sehr, als daß es ihn hätte verurteilen lassen. Die Armen wußten, daß Marat zum Volke gehörte und es nie verraten würde. Und je mehr man heutzutage die Revolution studiert, um so mehr versteht man, was Marat getan und gesagt hat, um so mehr kommt man dahinter, wie unverdient der Ruf des finsteren Würgeengels ist, den ihm die Historiker, die Bewunderer der bürgerlichen Girondisten, verschafft haben. Fast immer, schon in den ersten Wochen von der Berufung der Generalstaaten an, und insbesondere in den kritischen Zeiten hatte Marat einen besseren und richtigeren Blick gehabt als die andern, selbst als die beiden andern großen Lenker der revolutionären öffentlichen Meinung – Danton und Robespierre.

Von dem Tage an, wo Marat sich in die Revolution geworfen hatte, gab er sich ihr ganz, und er lebte in Armut und war immer wieder gezwungen, sich in der Verborgenheit zu halten, während die andern zur Macht gelangten. Bis zu seinem Tode änderte er, trotz des Fiebers, das ihm zu schaffen machte, seine Lebensweise nicht. Seine Tür war immer den Leuten aus dem Volk geöffnet. Er war der Meinung, daß die Diktatur nötig wäre, damit die Revolution ihre Krisen überstehen könne, aber niemals suchte er die Diktatur für sich selbst.

So blutig auch seine Sprache gegen die Geschöpfe des Hofes war – hauptsächlich im Beginn der Revolution, wo er sagte, man müßte ein paar tausend Köpfe abschlagen, es sei ohne das nichts durchgesetzt, und der Hof würde sonst die Revolutionäre überwältigen –, so war er doch immer zur Schonung gegen die geneigt, die sich der Revolution hingegeben hatten, auch wenn sie nun ihrerseits ein Hindernis für den Weitergang der Bewegung geworden waren. Er merkte schon in den ersten Tagen, daß der Konvent mit einer starken girondistischen Partei in seiner Mitte nicht vorwärtskommen konnte; aber er suchte zunächst die gewaltsame Austreibung zu verhindern und befürwortete und organisierte sie erst, als er sah, daß man zwischen der Gironde und der Revolution wählen mußte. Es ist wahrscheinlich, daß das Schreckensregiment, wenn er noch am Leben gewesen wäre, nicht den grausamen Charakter bekommen hätte, den ihm die Männer vom Wohlfahrtsausschuß aufprägten. Man hätte sich des Schreckens nicht bedient, um einerseits die radikale Richtung, die Hébertisten, und andererseits die Versöhnlichen, wie Danton, zu vernichten.Marat hatte recht, als er sagte, daß die Schriften, die er im Anfang der Revolution veröffentlicht hatte – Offrande à la Patrie, Plan de Constitution, Législation criminelle und die hundert Nummern des Ami du peuple, voller ›Schonung, Vorsicht, Mäßigung, Menschenliebe, Freiheit und Gerechtigkeit‹ gewesen wären. (Chèvremont, Marat, 2. Bd., S. 215.) – Jaurès, der Marat gründlich studiert hat, hat viel dazu beigetragen, daß er nunmehr richtig gesehen werden kann – besonders im 4. Band seiner ›Geschichte der Revolution‹.

So sehr das Volk Marat liebte, so verhaßt war er den Bourgeois des Konvents. Darum entschlossen sich die Girondisten, die gegen die Bergpartei losgehen wollten, mit ihm den Anfang zu machen; er würde weniger Verteidiger finden als die anderen.

Sowie Paris von dem Haftbefehl gegen Marat erfuhr, entstand eine starke Bewegung. Der Aufstand wäre am 14. April losgebrochen, wenn nicht die Mitglieder der Bergpartei, Robespierre und Marat selbst eingeschlossen, zur Ruhe gemahnt hätten. Marat, der sich nicht gleich hatte verhaften lassen, erschien am 24. April vor dem Tribunal und wurde von den Geschworenen ohne weiteres freigesprochen. Dann wurde er auf den Schultern von Sansculotten im Triumph in den Konvent und von da in den Straßen herumgetragen.

So war der Schlag der Girondisten fehlgegangen, und sie merkten an diesem Tage, daß es um sie geschehen war. Es war für sie ein ›Trauertag‹, wie eine ihrer Zeitungen schrieb. Brissot veröffentlichte jetzt sein letztes Pamphlet ›An seine Wähler‹, in dem er sein Bestes tat, um die Leidenschaft des wohlhabenden Bürgertums, der Unternehmer, gegen ›die Anarchisten‹ zu erwecken.

 

Unter diesen Umständen verlor der Konvent, dessen Sitzungen mit wütenden Ausfällen der beiden Parteien gegeneinander angefüllt waren, die Achtung des Volkes; und es war natürlich, daß die Kommune von Paris die Initiative zu revolutionären Maßnahmen ergriff.

Je weiter der Winter 1793 vorgeschritten war, um so größere Dimensionen hatte die Hungersnot in den großen Städten angenommen. Es wurde den Stadtverwaltungen furchtbar schwer, sich das nötige Brot zu verschaffen, und wäre es nur ein Pfund, ein Viertelpfund, vier Unzen täglich auf den Kopf jedes Einwohners. Um es sich zu verschaffen, mußten sich die Stadtverwaltungen, und insbesondere die von Paris, in immer steigendem Maße in Schulden stürzen.

Nunmehr beschloß die Kommune von Paris, eine progressive Einkommensteuer von zwölf Millionen Livres für die Kriegskosten von den Reichen zu erheben. Ein Einkommen von fünfzehnhundert Livres für jeden Familienvorstand und von tausend Livres für jedes andere Familienmitglied wurde als ›die Notdurft‹ betrachtet und demnach von der Steuer befreit. Alles, was über dieses Einkommen hinausging, wurde als ›überflüssig‹ behandelt und trug eine progressive Steuer: dreißig Livres auf ein Überflüssiges von zweitausend Livres; fünfzig Livres auf ein Überflüssiges von zweitausend bis dreitausend Livres, und so fort, bis zu zwanzigtausend Livres, die von einem Überflüssigen von fünfzigtausend Livres genommen wurden.

In der Kriegszeit, die Frankreich durchmachte, mitten in einer Revolution und einer Hungersnot, war das noch sehr bescheiden. Nur für die großen Vermögen war es eine empfindliche Steuer, während eine Familie mit sechs Köpfen und einem Einkommen von zehntausend Livres von dieser außerordentlichen Abgabe nur hundert Livres zu zahlen hatte. Aber die Reichen erhoben ein großes Geschrei, während der Vater dieser Steuer, Chaumette, gegen den die Girondisten nach Marat am wütendsten aufgebracht waren, sehr richtig sagte: »Nichts wird imstande sein, mich umzustimmen, und selbst, wenn ich den Hals unterm Beile habe, werde ich noch rufen: ›Der Arme hat seine Schuldigkeit getan; es wird Zeit, daß der Reiche sie jetzt tue.‹ Ich werde rufen: Die Egoisten, die jungen Nichtstuer, müssen Nutzen bringen, auch wenn sie nicht wollen; sie müssen dem nützlichen und achtbaren Arbeiter Ruhe verschaffen.«

Die Gironde verdoppelte ihren Haß gegen die Kommune, die den Gedanken dieser Steuer gehabt hatte. Aber man kann sich vorstellen, welche Wut im ganzen Bürgertum losbrach, als Cambon im Konvent eine Zwangsanleihe von einer Milliarde, die in ganz Frankreich von den Reichen erhoben und ungefähr nach denselben Prinzipien verteilt werden sollte wie die Steuer der Kommune, beantragte und am 20. Mai mit Hilfe der Tribüne durchsetzte. Die Rückzahlung sollte durch den Verkauf der Emigrantengüter ermöglicht werden und nach Maßgabe dieses Verkaufs erfolgen. Unter den schwierigen Umständen, in denen sich die Republik befand, gab es keinen andern gangbaren Weg als eine Steuer dieser Art; aber die Verteidiger des Eigentums wären am liebsten im Konvent über die Leute des Bergs hergefallen, als diese das Projekt der Zwangsanleihe verfochten. Man wurde fast handgreiflich.

Wenn es noch der Beweise bedurft hätte, daß es nicht möglich war, solange die Girondisten im Konvent blieben und die beiden großen Parteien fortgesetzt einander lähmten, etwas zur Rettung der Revolution zu tun, dann hätten diese Debatten über die Anleihe den glänzendsten Beweis geliefert.

Am meisten aber brachte es das Volk von Paris außer sich, daß die Girondisten, um die Revolution, deren heißester Herd bis jetzt immer Paris gewesen war, zum Stillstand zu bringen, alles mögliche taten, um die Departements zur Empörung gegen die Hauptstadt zu bringen; daß sie nicht einmal davor zurückschraken, zur Erreichung dieses Zwecks den Royalisten die Hand zu reichen. Lieber die königliche Gewalt als einen einzigen Schritt zur sozialen Republik. Lieber Paris im Blute ertränken, lieber die verfluchte Stadt vom Erdboden vertilgen, als zugeben, daß das Volk von Paris und seine Kommune zu einem Unternehmen schritt, von dem das bürgerliche Eigentum bedroht wurde. Thiers und das Parlament von Bordeaux haben, wie man sieht, ihre Ahnen in den Vertretern des Bürgertums von 1793.

Am 19. Mai setzten es die Girondisten auf Antrag von Barère durch, daß eine Zwölferkommission zur Prüfung der von der Kommune gefaßten Beschlüsse gebildet wurde; und diese Kommission, deren Wahl am 21. erfolgte, wurde nun das Hauptwerkzeug, dessen sich die Regierung bediente. Zwei Tage später ließ sie Hébert, den Substituten des Kommuneprokurators, den das Volk wegen des offenen Republikanismus seines Blattes ›Père Duchesne‹ liebte, und Varlet verhaften, der der Liebling der Pariser Armen war und der heute ein ›Anarchist‹ hieße, denn für ihn war der Konvent nur eine ›Gesetzbude‹, und er predigte auf den Straßen die soziale Revolution. Aber es sollte bei diesen Verhaftungen nicht sein Bewenden haben. Die Zwölferkommission hatte auch die Absicht, gegen die Sektionen vorzugehen; sie verlangte, daß ihr die Protokollbücher der Sektionen ausgehändigt würden, und ließ den Präsidenten und den Sekretär der Sektion der Cité verhaften, die sich geweigert hatten, ihre Bücher auszuliefern.

Der Girondist Isnard, der in diesen Tagen der Präsident des Konvents war – ein Autoritärer, in dem schon Thiers vorspukte –, steigerte mit seinen Drohungen noch die Aufregung. Er drohte den Parisern: wenn sie einen Angriff auf die Nationalvertretung machten, würde Paris ausgetilgt werden. ›An den Ufern der Seine könnte man die Stelle suchen, wo Paris gestanden hat.‹ Diese törichten Drohungen, die nur zu sehr an die des Hofes aus dem Jahre 1791 erinnerten, brachten die Wut des Volkes zum äußersten. Am 26. kam es in fast allen Sektionen zu Tätlichkeiten. Der Aufstand war unvermeidlich, und Robespierre, der bis dahin zur Ruhe gemahnt hatte, sagte am 26. abends im Jakobinerklub, im Notfall wäre er bereit, sich allein gegen die Verschwörer und Verräter zu erheben, die im Konvent säßen.

Schon am 14. April hatten 35 von 38 Sektionen von Paris verlangt, der Konvent sollte zweiundzwanzig mit Namen bezeichnete girondistische Abgeordnete ausschließen. Jetzt erhoben sich die Sektionen, um den Konvent zu zwingen, diesem Wunsche des Volkes von Paris sich zu fügen.


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