Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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7

Der andere Morgen hatte die Augen tief an der Erde, so verdrießlich war er, so ohne jede Bekömmnis. Die muntern Hornrufe des Sankt Hubertustages hingen verlähmt in den fröstelnden Zweigen oder schliefen weit hinten in der grauen Heide. Keine Bracken läuteten, keine kurzweilige Flinte tönte aus der Ferne herüber. Trübe Gedanken saßen wie Bettler zwischen den Wallstiegen und Lohhecken. Haus Getter mitten dazwischen, ohne Behagen, ohne Fröhlichsein, wie von der Hand Gottes mit Asche überschüttet. Dazu ein Wispern ringsum, das krank machte und die Seele beunruhigte. Dunkle Vögel schwaderten ab und zu und flogen schließlich nach dem Helweg, um dort in dem Pfriemhaar der gekappten Weiden und Pappeln aufzubäumen. Es war alles so trostlos.

Der Gutshof atmete kaum. Mit halbgeschlossenen Läden, das Verstörte des gestrigen Abends noch unter den Dächern, kränkelte er in den Tag hinein. Knechte und Mägde machten ziellose Arbeit. In Flüsterlauten wurde über Dinge verhandelt, die sich an der Herrentafel und in der Gesindestube abgespielt hatten. Auf Zehenspitzen ging man durch die weiten Flure, und wenn irgend jemand draußen schaffte, streiften seine Blicke ängstlich und scheu die Fenster des ersten Stockwerks, die unmittelbar neben dem mit schwarzem Efeu umsponnenen Zwinger lagen.

Hier wohnte Frau Hille.

Sie war leidend, abwegig, still und apathisch. Jede Bedienung wies sie von sich.

Sie wollte keinen sehen und niemanden hören.

Die Scheiben waren geblendet.

Schon in aller Frühe hatten sich die Gäste verabschiedet. Zuerst Emmerich Dinklage. Auf einem gestellten Jagdwagen war er nach Münster gefahren. Eine Stunde später zog Ohm Gideon Leine.

»Ich hab's nicht so eilig,« hatte er gesagt, als Emmerich einstieg. »Außerdem: ich mach' die Schose zu Fuß ab. Das bannt die Fuselgeister und rüttelt den verdämelten Verstand wieder zusammen. Man muß sich ja schämen, denkt man an den gestrigen Abend. Wie kann 'n Paderborner nur so seine Haltung verlieren?! Pfui Teufel! Das war hundsmiserabel! Weiße Mäuse und 'ne tote Hand, die über den Estrich fortkroch . . .! Nicht auszudenken, diese verbotenen Einfälle. Bernd, das ist ja, um wieder zum Kadetten zu werden.«

»Das tat der Burgunder.«

»Stimme dir bei, aber brauchen wir ein homöopathisches Mittel. Wurscht wider Wurscht und spitz gegen spitz. Satanas wird nur durch seine eigenen Waffen geschlagen. Laß' dich nicht lumpen. Nur zum Abgewöhnen und um die weißen Mäuse in ihre Löcher zu treiben – du: trinken wir 'ne Romanée-Conti zusammen. Ein Vorschlag in Güte.«

»Supsack!« spaßte der Hausherr.

»Gemeinsam mit dir,« replizierte der Unverbesserliche und lüftete dabei sein abgewetztes Hütchen, das ihm mit Tannenbruch und Spielhahnfeder flott auf dem linken Ohr saß. Sein polierter Schädel glänzte im mißmutigen Licht des fahlen Tages. Die etwas steifleinenen Beinchen strafften sich. Die Absätze klappten energisch gegeneinander.

»Also 'ran mit dem homöopathischen Mittel. Gott lohn's und gebe dir ein pläsierliches Sterben. Bernd, immer avanti, sonst bin ich verdammt, in der Wüste Ziegel zu streichen. Habe Erbarmen. Jawoll, ja. Immer 'rin in den Keller.«

Und die Bouteille erschien . . .

Eine halbe Stunde später griff Gideon nach seinem Bülow Krawallo.

»Bernd, deine Nummer ist gut; die kann 'n Scheik vom Sinai, überhaupt ein Edelmann trinken. Der Herr segne dich und dein Haus mitsamt deiner Hausehre!«

Mit Jagdtasche und Rucksack angetan, die Flinte umgehängt und den derben Bakel schwingend, verließ er die Getter.

Bernd begleitete ihn ein Stück seines Weges.

Als sie die Stelle erreichten, wo die Straße nach Hiltrup abzweigte, merkten die eingefallenen Krähen- und Dohlenvögel unruhig auf. Sie torkelten hoch und ruderten weiter landeinwärts.

»Also hier wäre die Stätte,« meinte Ohm Gideon und zeigte auf die verkrüppelten und windzerzausten Bäume, die sich rechts und links der Straße in ihrer ganzen zügellosen Groteskheit präsentierten.

»Was für 'ne Stätte?«

»Herr Jeses! von ihr ist doch gestern Abend genug die Rede gewesen. Spökenkiekergeschichten und so. Ich freue mich aber – du und ich, wir beide sind doch bessere Menschen.«

»Bessere Menschen? In Beziehung auf wen denn?«

»Gott, diese Frage? Auf dem griechischen Archipel scheint selbst der vernünftigste Kopf wirbelsinnig zu werden.«

»Emmerich!«

»Eben derselbe, und war vor Zeiten ein ganz annehmbares und solides Faktotum. Jawoll, ja. Er leuchtet den Toten. So'n Unsinn! Ich denke: die ollen Götter sind doch ganz nette Onkels gewesen, die mit sich reden ließen und ihren Untertanen ein kleines Spaßvergnügen nicht übel nahmen, wenn sie sich auch dabei so'n bißchen die Köpfe vertobakten . . . und nun will Emmerich immerzu leuchten. Dunnerwetter, hat der sich verändert!«

»Leider.«

»Bernd, weißt du was? Dem Mann kann geholfen werden. Romanée-Conti! Täglich drei Flaschen nach ärztlicher Vorschrift. Vier Wochen hindurch, morgens, mittags und abends 'ne Pulle – und ich gebe dir mein Ehrenwort: er kann wieder in die Reihe kommen . . . sonst: der Kerl bringt's fertig, und zaubert einem mit seinem gelehrten Forschertum weiße Mäuse und kriechende Hände vor Augen, und so was langt gerade, einem den Sitz unterm Hintern zu nehmen. Jetzt aber avanti. Auf Wiedersehen. Ich bin immer zu haben. Zur Tages- und Nachtzeit. Toujours en vedette. Befiehl nur, und Gideon Freiherr von und zu Hasenklever gibt sich die Ehre. Ist dir vielleicht die heilige Weihnacht genehm? Gänsebraten und so. Spiegelkarpfen in Dill wären auch nicht so ohne. Oder früher vielleicht? Apropos, ich denke gerade daran. Gut Holz, mein Junge. Der Termin rückt näher. Höchste Eisenbahn. Dein Bestand muß abtaxiert werden. Bitte, deine Ansicht, ohne Verpflichtung.«

»Du bekommst rechtzeitig Nachricht. Ich bin mir noch nicht im klaren darüber.«

»Bonus! Aber dann, wenn ich komme: streng offiziell, lediglich als Festmetermensch und korrekter Beamter. Jawoll, ja. Da kannst du betteln und bitten: täglich werden höchstens drei bis vier Bouteillen genehmigt. Allerhöchstens, mein Junge. Ich lasse mich von niemand bereden. Unter keiner Bedingung. Auch von dir nicht. Alles mit Maßen. Man muß sich bescheiden können wie der Pennbruder mit dem leeren Faß und der Sonne. Grundsätze. Haben wir, haben wir immer besessen.«

Er schlug sich auf sein Wams, daß es knallte.

Dann nahm er Abschied. Auf rüstigen Beinchen zog er schnurgerade aus, während Bernd rechts einbog, um auf einem längeren Umweg wieder sein Gut zu erreichen. Allein keine zwei Minuten vergingen, da rief es hinter ihm her: »Holla, heda, ein Wort noch!« und als er kehrt machte, sah er Ohm Gideon mit gebreiteten Armen auf dem Helweg stehen, in der Linken das Vivathütchen, in der Rechten den Bülow Krawallo.

»Herzensbruder, Freisassenhöfer!« rasaunte er los, »fast hätte ich das Beste vergessen. Auf Flügeln des Gesanges – meinen Gruß der Prärieblume, der Tochter Montezumas des Großen. Sie lebe! Schiebe ihr 'nen Barren Gold unter das Sitzfleisch. Sie verdient es, diese schöne Aztekin. Gut Holz! A rivederci!« und dann rollte er den Weg unter sich auf und sang das Zapfenstreich-Gebet, das ihm noch aus seiner Militärzeit her in der Erinnerung haftete.

»Ich bete an die Macht der Liebe . . .«

Er sang grobkörnig, dieser emeritierte Paderborner Husar, und seine Vortragsweise war wie die eines verstimmten Flügelhorns; aber er sang doch, sang mit äußerster Verve, und sein Hymnus fand auch Gnade vor dem Schöpfer Himmels und der Erde, denn unversehens teilte sich der ölige Wettermantel auseinander und ließ ein lichtblaues Stück des Firmaments sichtbar werden. Aus ihm funkte es in goldenen Strahlen herunter.

»Ich bete an die Macht der Liebe . . .«

Immer magerer wurden die Klänge, immer dünner und unklarer, bis sie mit Gideon Freiherrn von und zu Hasenklever völlig zergingen. Der Himmel funkte weiter und weiter. Unter seinem Geleucht trat Bernd bald darauf in ein Birkengehölz, dann in einen alten Buchenbestand, und als er diesen verließ, lag wieder die Heide vor ihm, braun und jungfräulich . . . und doch nicht jungfräulich, denn siehe: etliche Rufweiten entfernt und ungefähr dort, wo ein kleines, kreisrundes Wasserauge gen Himmel blenkerte, zog ein Doppelgespann über den dampfenden Boden und tat ihm Gewalt an. Ein Enakssohn, nur etwas vornübergebeugt, schritt hinter dem Pflug her. Die blanken Eisen rissen die verfilzte Erde schonungslos auseinander und legten Furche bei Furche. Unausgesetzt, ohne zu rasten, verrichteten sie die ihnen übertragene Arbeit. Der Mann sah weder rechts noch links. Er tat seine Pflicht mit der Unermüdlichkeit einer Präzisionsmaschine, wie auf ein höheres Gebot und seinen Herrn und Heiland im Herzen.

Es war Hövelkamp.

Der Gutsherr trat auf ihn zu.

Jetzt erinnerte er sich. Vor etlichen Tagen hatte er Order gegeben, das Ödland an der Mergelgrube zu brechen und urbar zu machen.

Seit Menschengedenken hatte dieser Distrikt ohne Beachtung gelegen, vergessen, verödet, ohne Blühen und Gedeihen. Warum eigentlich, das wußte niemand zu sagen. Aber es war so. Eine gewisse Scheu hielt die Gutsleute ab, die Ruhe des entlegenen Ortes zu stören. Ein schlichtes Holzkreuz erhob sich dicht am Uferrand und zeugte von einer entsetzlichen Bluttat.

Sonst ging man hier ohne Lärm und Ackergerät vorüber. Heute nicht mehr. Die Schar regierte, und die Erde stöhnte unter den fressenden Messern.

»Tag, Hövelkamp. Gott segne die Arbeit!«

Der Angerufene hielt die Pferde an und wischte sich den Schweiß von der Stirne.

»Gott lohn's, Herr Travelmann. Über's Jahr kommt hier Buchweizen hin. Zur Not tut's auch Dinkel.«

»Wie pflügt's sich?«

»So lala! Nicht gut und nicht übel. Gotts Feld, awer nich von sin bestes. Ich hätte für meine Person anders disponiert.«

»Wieso anders disponiert?«

»Ich meine men so. Hier soll ja wohl der verstorbene Landmesser von Hiltrup umgehen, und dem kommt man nicht gern in die Quere. Ich fühl's in den Knochen. Die wollen so recht nicht.«

»Aber die meinen, die schaffen's,« versetzte Bernd, trat hinter den Pflug und packte die Leine. Als wenn er sich den gestrigen Tag und die trüben Erlebnisse des verflossenen Abends abschütteln wollte, warf er das Werkzeug herum und machte sich fertig.

Ein Zungenschlag, und die gebieterische Faust eines Herrenmenschen setzten das Gespann in Bewegung. Eherne Schritte, ehernes Klingen. Eine Lust war's, dem Hochgewachsenen zu folgen. Aufwärts und abwärts: metallene Augen und stählerne Glieder, und dabei legten sich die Gassen nebeneinander, als wären sie an einer Meßkette vorübergegangen. Immer auf und ab, her und hin, und bei jeder Wende rief er Hövelkamp zu: »Gestern Weidwerk, heute Arbeitswerk! Edelmann und Freisassenhöfer! Ha, diese Freude! Sieh, wie meine Knochen es tun. Von dem verfluchten Geometer spüren sie gar nichts. Das marschiert wie durch Butter! Hia da hüp! Hövelkamp, keine Gespenstergeschichten. Das ganze Heidestück, mit Strunk und Stiel und so wie es ist, muß umgelegt werden. Keine Nagelspanne darf fehlen.«

»Das ganze, Herr Travelmann?«

»Das ganze,« kam es zurück, und wieder röchelte die Erde, prusteten und stampften die Gäule, wälzten sich die Schollen über Schuh und Gamaschen.

Die Blicke Hövelkamps musterten den Herrn mit Bewunderung und doch mit einem heimlichen Grauen. Die Kraft des Unbändigen schien ins Ungemessene zu wachsen. Unter seiner Faust verrichteten die Eisen doppelte Arbeit, strotzten die Pferde vor Lust, schafften die Streichblätter, als wären sie eingeölt worden.

Immer näher rückte das tote, bleierne Wasser.

Hövelkamp sah es. Bekümmert folgte er jeder Bewegung. Das zerrissene Gesicht wurde schmäler. Die Lippen schrumpfelten ein.

Aufs neue warf der Gutsherr die Pflugschar herum. Ein Rucken und Stoßen, und mit zäher Gier fraß sie sich in die stöhnenden Krumen.

Das Gespann sollte anziehen.

Da – ein gebieterisches »Satt und genug!« und in knochenfester Haltung trat Hövelkamp an den Rand der Mergelgrube, streckte sich auf, machte zwölf mächtige Sätze landeinwärts und stand alsdann wie eine steinerne Säule.

»Bis hierher und nicht weiter,« gebot er. »Zwölf Schritte um die Gräfte herum wird kein Boden gebrochen.«

»Warum nicht?«

»Hier ist gewissermaßen Gottesacker.«

»Freie Bahn will ich haben.«

»Das wäre Elendigkeit und unsauberes Treiben.«

Ein verächtliches Rufen.

»Mensch, wie kommt Ihr darauf?«

»Herr Travelmann« – und der Erregte nahm eine drohende Haltung ein – »ich bin men der Knecht, und so einer muß Estimierung besitzen, aber Ihr wißt auch: hier ist Menschenblut geflossen, und wo so 'was geschah, da darf man den Acker nicht stören. Das ist so der Glaube bei uns westfälischen Leuten. Da rührt man nicht dran, und wer's dennoch versucht, dessen Blut wird wieder vergossen.«

»Blödsinn, infamer!«

»Dann kann ich's nicht ändern.«

»Mensch, macht mir die Pferde nicht scheu. Oder aber . . . fort aus dem Wege!«

Bernd gab ein Zeichen.

»Hia da hüp!« und lachend trieb er die blanken Eisen über die Grenze, die der Warner festgelegt hatte. Mit widerwärtigem Eifer schlitzten sie den Leib der Erde, auf der vor Zeiten ein Verbrechen geschehen.

Dreimal umschritt er die Mergelgrube, dreimal das Marterkreuz.

Dann warf er die Leine zurück.

»Schafft weiter. Heute Abend habt Ihr zu melden, daß die Schollen liegen. Aber ich bitte mir aus: genau wie ich sagte.«

Dann ging er.

Hövelkamp sah ihm nach, verstört und mit vorgetriebenen Augen.

»Das ist der Tod,« sagte er bedrückt vor sich hin und begann wieder zu rajolen, »denn wer es tut, dessen Blut kommt ins Fließen . . . langsam und rot . . . langsam und rot . . . ohne Aufhören und Ende . . . und wird ein Jammer sein, ein Weinen und Zähneknirschen wie am Tag des Gerichtes.«

Und dann, als es schummerig wurde und sich ein mattes Glühen im tiefen Westen einnistete . . .

»Herr Travelmann, das Stück an der Mergelgrube ist umgelegt worden.«

»Das ganze?«

»Das ganze, Herr Travelmann.«

* * *

Zwei Tage später wurde Barthlemes Altrogge auf dem kleinen Friedhof von Hiltrup beerdigt.

Acht Leute aus der Nachbarschaft, die sich von Zeit zu Zeit abwechselten, trugen ihn, acht handfeste Tagelöhner, in abgeschabten Sonntagsröcken und fuchsigen Zylindern, deren Pleureusen traurig zur Erde bammelten. Diese acht, auch die acht Krähen geheißen, zogen mit toternsten und glattrasierten Gesichtern die schmale Straße entlang, die sich vom Kotten nach dem benachbarten Kirchspiel hintrödelte. Jetzt stumm wie die Fische, weich und mild wie Limburger Handkäse, waren sie in gewöhnlichen Tagen die lustigsten Brüder und die besten Kegelschieber, immer bereit, diverse Schnäpse auf das Wohl des Papstes und das der alleinseligmachenden Kirche zu trinken. Eine sanfte Aureole, getränkt mit Wacholdergeist, umnebelte sie, allversöhnend, lieblich und gütig, als sei sie beauftragt worden, dem so plötzlich aus dem Leben Gerissenen ein schönes Weihrauchkränzlein zu flechten.

Das Gefolge war spärlich.

Unmittelbar hinter dem Sarge und den schwarzen Männern schluchzte Johanna, matt und verängstigt und ganz auseinander. Neben ihr schritt Judith Travelmann, stockgerade aufrecht, mit stahlgrauen Augen, und dennoch die Frau mit dem tiefen Gemüt und der hellen und alles umfassenden Seele. Etliche Nachbarsleute schlossen sich an, unter ihnen der Krugwirt, der Freund des Verstorbenen, ein vives, dickbäuchiges Kerlchen, und Augen im Kopfe wie die eines gutmütigen Amis, jetzt verschleiert und mit dem stillen Wasser frommer Ergebung und Gottwohlgefälligkeit getempert. Nur ihren jovialen Schwung konnten sie nicht gänzlich verleugnen.

Der verschuldete Kotten, mit den drei einsamen Kiefern auf der Sandlehne, blieb allmählich zurück.

Die acht fuchsigen Kegel schaukelten weiter.

Drüben, von silberig glänzenden Birken eingerahmt, lag Hiltrup.

Als der Zug einen saftigen Kleeacker passierte, der einst zu den nicht geringen Besitztiteln Altrogges gehört hatte, griemelte der Krugwirt vergnügt vor sich hin, machte den Zeigefinger krumm und führte die rechte Hand an die Backe.

Ein rasches Zielen und eine pläsierliches halblautes Denken: »Schwerekruke noch mal! Tatterata! Barthlemes, Achtung! Druff, druff! Himmel, Gewitter! Da löpt he! Wo denn? Dichte bi! Päng, päng! Der wäre geliefert . . . für die Nönnchen in Dorsten, weil sie meine Tochter Johanna belernten. Tatterata!«

Das ›Tatterata‹ war sichtlich zu offenherzig geraten. Die Alte warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie mußte sich verhört haben, denn der Ertappte hielt die fuselseligen Äugelchen niedergeschlagen, klimperte mit den Pockholzkügelchen seines Rosenkranzes und seufzte mit der wohlgenährten Stimme eines Domschweizers: »Errette, o grundgütiger Jesus, deinen abberufenen Diener von allen Gefahren der Hölle, von den Banden der Strafen und denen der schmerzhaften Trübsale. Herr, gütiger Gott . . .«

Nein, es war gar nichts geschehen.

Die Träger wechselten ab, der Sarg mit dem zersplissenen Bahrtuch schwankte weiter durch die immense Ebene, die acht Zylinder umgaben ihn wie düstergekleidete Cherubim und Seraphim, vier zur Rechten, vier zur Linken, das Dorf rückte näher heran, niedrige Häuser zogen vorüber, und feierlich kamen die ersten Schläge vom Kirchturm herunter.

Am Friedhof stand der Dechant der kleinen Gemeinde mit dem Küster und etlichen Ministranten. Ludgerus Hölscher, ein Mann in den sechziger Jahren, vogelsprachekundig wie Salomo und ein Hirt der Gläubigen nach den Worten der Schrift, führte Bahre und Trauergeleit über die Stätte des Friedens.

Bald war die Stelle erreicht, wo Barthlemes Altrogge zu ruhen hatte.

Ein Chorknabe stieß das ragende Kreuz am Fußende des aufgeworfenen Grabes in den Boden.

Die Bahre wurde niedergelassen, die langen Bretter versenkt, die Stricke in die Höhe gezogen.

»Lasset uns beten: »Et ipse redimet Israel ex omnibus iniquitatibus ejus

Der Weihbronnwedel besprengte den Sarg, speckige Erdklumpen polterten nieder.

In einer kleinen Viertelstunde war alles vorüber.

»Amen!« sagte Frau Judith.

Unbekümmert um das, was um sie vorging, den Krückstock vor sich gestemmt, stand sie wie ein holzgeschnitztes Bildnis zwischen den Gräbern und Grüften, ehrfurchtgebietend und den Tod überragend.

Der Dechant trat auf sie zu.

»Frau Travelmann, haben Sie Zeit für einen Diener des Herrn?« fragte er leise.

»Für Sie immer, Hochwürden.«

»Dann darf ich Sie wohl in meinem Hause erwarten.«

»Ich komme, Herr Dechant.«

»Gott segne den Eintritt! und Sie, Johanna . . . der Allgütige sei mit dir, auf daß er dich führe und du teilhaftig werdest der ewigen Anschauung.«

Er gab ihr die Hand und machte gegen sie das Zeichen des heiligen Kreuzes. Gesenkten Hauptes verließ er den Kirchhof, während die Alte sich an Johanna wandte und sagte: »Du hörtest. Geh' schon zum Kotten. Erwarte mich dort. Ich komme später vorüber. Du brauchst dich nicht zu sorgen.«

Johanna weinte still vor sich hin. Dann ging sie.

Inzwischen hatten sich die wenigen Leidtragenden sachte verkrümelt. Auch Judith machte sich auf den Weg zur Dechanei. Nur einer war übrig geblieben: der Krugwirt.

Das dickbauchige Kerlchen drängte sich dicht an die letzte Stätte seines dahingegangenen Freundes. Er sah in die Grube und schüttelte nachdenklich den entblößten Schädel: des öfteren und mit der Unschlüssigkeit eines angekratzten Kegelkönigs, der überlegte, ob es besser wäre, stehen zu bleiben oder umzupurzeln. Er hörte feierliches Klingen. Es war das Klingen von Schnapsgläsern. Er spürte ein feines Arom in der Nase. Es war der Duft nach Ruhrperlen und dem Zauberwasser aus Haselünne. Er machte den Zeigefinger krumm, wie er es bereits auf der langen Pilgerfahrt getan hatte, und zog nochmals die rechte Hand an die Backe.

»Tatterata!« sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Da löpt he! Dichte bi! Druff, druff! Päng, päng! Das wäre geleistet . . .« und mit einer großen und pompösen Bewegung schluchzte er über Grab und Scholle fort: »Barthlemes, allerhand Achtung. Alter Sauf- und Kartenkollege, nu hast du direktemang ins Schwarze und den feinsten Krummen geschossen: dich selber. Tatterata! Werde glücklich. Ich geh' jetzt, um dein Wohl zu begießen. Ruhe in Frieden!« und der weichherzige und edelgesinnte Prachtkerl hielt seinen langhaarigen Zylinder vor sich hin wie eine dunkle Opferschale und weinte große Tropfen hinein, Tropfen der Rührung, des Bedauerns und der restlosen Anerkennung. Schlenkerbeinig pendelte er alsdann dem Ausgang des Gottesackers zu, pfiff hierauf den ›Alten Dessauer‹ wie ein ausgelernter Stabshoboist und marschierte eben so stramm zur ›Fröhlichen Einkehr‹, um dort, seinem Gelöbnis getreu, dem Ausgelittenen das feuchte Almosen darzubringen. –

»Eins, zwei, drei . . . fünf . . . sieben . . . elf einzelne niedliche Schläge. Sie zirpten wie Goldhähnchen und verloren sich mit einem feinen Geklingel, das sich anhörte, als wenn es in die Ewigkeit glitte. Dann nichts mehr. Das bronzene Stutzührchen schwieg. Es war just um die Stunde, als Ludgerus Hölscher Frau Judith empfing und sie freundlichst auf das breitausgelegte Sofa komplimentierte. Er selbst setzte sich ihr schräg gegenüber, schlug die Beine übereinander und ließ eine silberne Schnupftabaksdose wie ein schnurrendes Rädchen zwischen Daumen und Mittelfinger kreisen. Hierauf umgriff er sie mit der Linken und wippte den rechten Schuh taktmäßig auf und nieder.

»Tragik, Tragik!« begann er mit leisem Wiegen des Kopfes. »Ich weiß. Sie haben viel des Bittern auf Getter erduldet. Dabei fanden Sie noch Zeit, Schmerzen zu lindern und einem Verstorbenen die Erde leichter zu machen.«

»Wo viel des Leides ist, ist auch viel des Erbarmens, Herr Dechant.«

»Eine christliche Werktätigkeit, die ich vorbildlich heiße. Möge es Ihnen vergolten werden durch ein geruhsames Leben. Nur frage ich mich, war es wohlgetan und ersprießlich, diesen rückfälligen Mann so zu betreuen? Geschrieben steht: Du sollst nicht mißfällig über deinen Mitmenschen denken, ihm nichts nachtragen und nicht Böses mit Bösem erwidern. Gewiß nicht, denn alles mit Maßen und alles mit Einfalt. Allein dieser Barthlemes Altrogge . . . Sein Dasein war eine Kette von Unzuträglichkeiten, unnützen Treibereien und Widersprüchen und sein Schaffen ein Garnichts, und so geschah es denn auch: er wurde von seinem Richter wie ein schädliches Kraut von der Koppel geschlagen.«

»Das weiß ich, Hochwürden.«

»Und eine Judith Travelmann ist dennoch erschienen, ihm die letzte Ehre zu geben?«

»Was eine Travelmann tut, ist wohlgetan. Ich bürge dafür. Sie hat es mit ihrem Namen zu decken. Was sie unternimmt und nicht unternimmt, darüber ist sie keinem Rechenschaft schuldig.«

Der geistliche Herr winkte ab.

»Kein Zweifel. Auch lag es mir fern, Ihre Dispositionen zu bekritteln oder gar ins Straucheln zu bringen. Es wäre vergebliche Mühe.«

Er lächelte.

»Die Kirche und Sie haben auf Felsen gebaut. Eine Judith sieht weder rechts noch links und geht ihre eigenen Wege, und diese Wege sind gottwohlgefällige Wege. Sie führen zum Heil und in die Tennen, die unter der Fülle des eingeheimsten Segens triefen. Ihr Wohlwollen frommt und erfreut die Herzen. Nur schien es befremdlich, daß ein Barthlemes Altrogge, ein notorischer Trinker und Nichtstuer, dieses Wohlwollens teilhaftig wurde, während in anderen Fällen . . . Nicht viele Verstorbene meines Kirchspiels haben sich dieser Betreuung zu rühmen.«

»Meine Jahre erlaubten es nicht, sonst: ich hätte alle Toten begraben. Es ist Gottesfron, und dem Herrn soll man dienen.«

»Ein löbliches Tun, aber warum mußte es gerade heute in die Erscheinung treten?«

»Es geschah der Tochter wegen, Herr Dechant. Sie ist des Trostes und des Schutzes bedürftig.«

»Ah!« machte Ludgerus. »Das ist es. Wir kommen uns näher. Das erlösende Wort ist gesprochen. Es ist Fleisch geworden und will zu den Menschen, auf daß sie es hören und annehmen und demgemäß handeln. Johanna! Um derentwillen bat ich Sie, über meine Schwelle zu treten. Sonst: ich wäre zu Ihnen gekommen. Und dann noch aus einem anderen Grunde. Es handelt sich um Sie und die Ihren, Frau Travelmann.«

»Und darf ich wissen, Hochwürden?«

Ludgerus Hölscher erhob sich. Nachdenklich und mit kaum hörbaren Schritten durchmaß er das Zimmer, trat ans Fenster, wandte sich wieder und ließ die Tabaksdose zwischen den Fingern spielen. Der feingliederige Herr mit dem schmalen Gesicht und den durchgeistigten Zügen schien viel zu schade zu sein, hier auf der Hiltruper Scholle den Bauern und Heideläufern das Evangelium zu verkünden, ihren krausen und sparrigen Sinn zu brechen und ihnen nach des Lebens Pein und Plage das ›Tu es pulvis‹ mit in die Erde zu geben. Das hatte schon der hochselige Bischof erkannt, als er ihn vor Jahren ersuchte, die verwaiste Stelle eines Generalvikars bekleiden zu wollen. Er lehnte es ab, dankbar, aber mit aller Bestimmtheit. »Bitte, lassen Sie mich! Ich bin eines Zimmermanns Sohn. Meine Ambitionen reichen nicht weit, dürfen es nicht, denn ich fühle es deutlich: derbe Schuhe passen mir besser als solche, die es gewöhnt sind, in bischöfliche Gemächer zu treten. Ich bin kein Feuerbrand und liebe es mehr, den ambrosianischen Lobgesang in einem mageren Dorfkirchlein als in einem hohen Dome zu hören. Der Parochus loci einer kleinen Gemeinde kann gleichfalls werktätig schaffen. Viele Wege führen nach Rom. Die Steilheit des Lebens wird auch an einem geringen Ort überwunden. Auch von hier gelangt man ruhig und sicher ad limina apostolorum. Meine Reise ist vorgezeichnet, die Pilgerfahrt mit ihren Stationen umrissen. Ich möchte in bukolischer Harmlosigkeit und auf schlichten Gedanken, gleichsam wie auf einer einfältigen und geduldsamen Eselin ins himmlische Jerusalem reiten. Andern Falles: ich würde wie ein kränkliches Flämmchen unterm metallenen Löschhütchen ersticken. Drum, bitte, lassen Sie mich!« und siehe: der Bischof schmunzelte sein subtilstes und harmonischstes Schmunzeln, stellte die schmalen Fingerspitzen leicht gegeneinander und sagte: »Optime! Es bleibt somit beim alten: Parochus loci in Hiltrup. Amtieren Sie auch ferner zufrieden, und mögen Sie glücklich auf Ihren pastoralen Spaziergängen singen: Laudate Domine, omnes gentes; laudate eum, omnes populi, omnes colles et montes et universa pecora! und wenn's nötig tut: blasen Sie auch von Zeit zu Zeit einen derben Jerichotusch in die dasigen Philister hinein; es wird Sie erquicken. Zum Andenken jedoch an die heutige Stunde: hier diese Dose. Ich schnupfe nicht, Sie aber tun es. Ich habe sie ihrer Zeit von Maximilian Friedrich, dem besten Hirten und Vater des Vaterlandes empfangen. Er selber erhielt sie von einer galanten Dame des westfälischen Adels. Sein weiser Rat befreite sie aus tiefster Bedrängnis, aus Ängsten und Nöten. Wer weise rät und weise wählt . . . und schaun Sie hier: auf dem silbernen Deckel eine elfenbeinerne Einlage. Darauf das Urteil des Paris. Die göttlichen Damen zwar etwas leichtfertig bekleidet, doch schön und mit Andacht. Besonders Pallas Athene. Die Donatrix meinte es gut – leider: sie vergriff sich im Gleichnis. Ja, wäre der Prinz noch auf die einwandfreie Pallas Athene verfallen! Aber das tut nichts. Nehmen Sie hin und reiten Sie dereinstens auf Ihrer geduldsamen Eselin in das himmlische Jerusalem ein. Wandre, Ludgerus! Du hast tapfer gewählt . . . et nunc et semper et per saecula saeculorum, Amen.« Und siehe: acht Wochen später kam vom hohen Kapitel ein Schreiben nach Hiltrup. Drin hieß es: »Wir Bernhard Johannes, durch Gottes Erbarmung und die Gnade des heiligen Apostolischen Stuhles Bischof von Münster, desselben heiligen Apostolischen Stuhles geborener Legat, entbieten der hochwürdigen Geistlichkeit und allen Gläubigen des Bistums Gruß und Segen im Herrn. Besonders Ihnen, mein Bruder in Christo. Beiliegender Titel als Ehrendomherr wird Ihnen nicht Schaden bringen, wenn Ihnen die ewigen Lichter winken und Sie beim Eintreten sagen: Hier bin ich, o Herr. Du hast mich gerufen.«

Und dieser Ludgerus . . . er ließ die Tabaksdose rascher um ihre Achse schnellen und sagte: »Frau Travelmann, wir sprachen soeben von Fräulein Johanna, mit einem sie betreffenden Hinweis auf andere Möglichkeiten. Aber nur andeutungsweise. Ich möchte sachlicher werden.«

»Ich warte darauf.«

»Eine ersprießliche Gemeinschaft ist nötig, um das wechselseitige Verständnis näher zu bringen, und ehrlich gestanden: ich jubelte auf, als ich von Ihrer Nächstenliebe vernahm. Sursum corda! Es ist christlich, Bedrängte zu stützen und Durstigen den kühlen Quell zu reichen. Ich schließe daraus: Sie haben vor, die Verwaiste aufzunehmen?«

»Es ist mein Wille, Hochwürden.«

»Ihr fester?«

»Mein fester, Herr Dechant.«

»Hm!« machte dieser. »In gewissen Augenblicken spricht das Herz, wo es besser und dienlicher wäre, den Verstand reden zu lassen.«

»Wie soll ich das deuten?«

»Ich habe Gründe, mich gegen diesen Willen zu sperren. Nicht alles Geschehen soll man mit dreisten Fingern betasten. Selbst liebevolle Hände irren hier ab. Man würde den trüben Spiegel nur noch hinfälliger machen. Nicht immer gebietet es die Pflicht, die Maria zu spielen und untätig zu beten: Nur eins tut not! – sondern zuzugreifen und sich mit der Rolle der energischen Martha abzufinden.«

»Ihre Beweise dafür?«

Die Tabaksdose öffnete sich mit einem leisen Seufzen, um sich hart und abgehackt wieder zu schließen.

Es war wie das Knappen eines Eulenschnabels.

»Ich kenne die Travelmänner und kenne sie schon Jahre um Jahre. Sie sind wie Stiere, störrisch und doch arbeitsfreudig. Immer heißt es: Fiat voluntas. Und diese Travelmänner, sie haben heißes Blut und heiße Begierden.«

Wiederum das Knappen des Eulenschnabels.

»Und der letzte von ihnen, er hat das heißeste Blut in den Adern.«

»Mir kein Geheimnis.«

»Und ferner: mir ist zu Ohren gekommen . . .«

Die Dose schwieg.

Es trat eine Pause ein.

Dann ein unwilliges Aufstoßen mit dem Krückstock.

»Wohl das mit Johanna?«

»Ja, das mit Johanna.«

Judith merkte auf und sagte erklärend: Hochwürden, sie ist in Dorsten bei den Ursulinerinnen gewesen.«

»Ich weiß, ich weiß, und bei ihnen ist wohl sein. Der Ruch, der von den Klosterwiesen hereinweht, macht den Atem frei und gibt tapfere Menschen. Nicht immer. Auch das schwüle Träumen in lauen Sommernächten weht von diesen Wiesen herüber. So war es schon früher. Auch am See von Genezareth haben die Myrrhenhügel ein ähnliches Duften. Das mußte die Ärmste von Magdala schmerzlich erfahren. Aber bleiben wir dabei: Ihr Schützling ist in Dorsten gewesen.«

Die Greisin wurde unruhig.

»Sie sagen das mit einer Bedeutung . . . Ich weiß nicht, wie soll ich das näher bezeichnen. Hochwürden?«

»Nur fleißig herunter. Sie meinen: mit einem sardonischen Lächeln?«

»Ähnlich so ist es. Haben Sie irgend welche Bedenken?«

Die illuminierte Tabaksdose spielte abermals den Waldkauz in der Sommernacht.

»Geliebte im Herrn!«

Das zierliche Männchen mit den silbernen Schnallen und dem bleiernen Taler auf den Spinnwebhaaren wurde äußerst förmlich, ja geradezu heftig, als er unumwunden dartat: »Meines Amtes ist es, als Kriegsknecht auf der Wacht zu stehen, etwa wie einer von der thebaischen Legion. Ich muß Farbe bekennen. Mein Fähnlein weht. Durch sein Tuch rauschen die Worte eines Kundigen. Ich höre sie und gebe sie wieder. Und also lauten sie: Das Weib ist schön. Von ihm und seinem liebebegehrten und liebebegehrenden Körper strömt eine verjüngende Kraft aus. Ein Dogma, und dieses Dogma ist omnipotent. Es kann Himmel sein, aber auch die Hölle bedeuten. Ich will nicht exemplifizieren, sondern nur sagen: Man trägt nicht gerne gieriges Feuer und straffgebündelte Garben in ein und dieselbe Scheuer zusammen.«

»Ah! ich begreife. Und sonst?«

Ludgerus Hölscher atmete tief, dann sprach er: »Mir klingt ein Passus aus dem ›Miserere‹ zu Ohren.«

»Und wie lautet die Stelle?«

»In iniquitatibus conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea. In Missetaten bin ich gezeugt, und in Sünden empfing mich meine Mutter.«

»Nicht tröstlich zu hören. Das geht auf Johanna.«

»Und auf ihre verstorbene Mutter zugleich. Sie war schön, diese Frau, aber nicht wachsam. Das Öl der Begierde brannte auf ihrer Lampe, aber nicht das der Keuschheit und das der Sitte. Uxor tua sicut vitis abundans in lateribus domus tuae. Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock an den Wänden deines Hauses. Sie dachte nicht dran. Tauet Himmel den Gerechten. Sie wollte den Gerechten nicht aufsuchen. Die via crucis ist ein dorniger Weg, aber ein Pfad des Insichgehens. Sie mied diese Straße. Wie gerne hätte ich das ›Te absolvo‹ gesprochen. Ich konnte es nicht und durfte es nicht. Die drei Kiefern bei ihrem Kotten haben Böses erschaut. Auch die Schonung nebenan und die Birken in ihrer Unschuld sind Zeuge gewesen. Eine unersättliche Flamme, verzehrte sie sich nach wenigen Jahren. Und diese Flamme – konnte sie sich nicht auf die Tochter vererben? Was wissen die Ursulinerinnen von solch einem Feuer? Himmelsbräute! Dafür sind andere Sinne vonnöten. Ja, dieses ›in peccatis concepit me mater mea‹, das gibt zu denken und schafft Vorurteile.«

»Wenn auch!«

Judiths Stimme wurde hart wie ein Kiesel.

»Sie ist eine Waise, Hochwürden, und solcher darf man die Türe nicht zeigen.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht. Wer da gibt, soll mit offenen Händen geben und das Ungemach nicht scheuen. Keine Brösel, sondern Brote; nur muß er zusehen, daß er das eigene Haus nicht gefährdet. Ich habe von dem jähen Blut der Travelmänner gesprochen . . .«

»Hochwürden« – und die Alte reckte sich auf wie eine Osterkerze – »ich habe zwei Augen.«

Die Tabaksdose wurde zu einem flirrenden Kreisel. Das Urteil des Paris wirbelte kraus durcheinander. Dann klappte der Deckel, als wenn er sagen wollte: Actum ut supra.

»Frau Judith, und können Sie sich auf diese Augen verlassen?«

»Sie haben mich niemals betrogen. Sie umfassen das, was sie umfassen wollen, und sind blind für Dinge, die sie für minderwertig erachten. Kurz, sie betören mich nicht, haben es niemals getan, werden es niemals tun. Ich gefährde mein Haus nicht, nicht das meiner Schwiegertochter, nicht das meines Sohnes. Ich weiß auch genau: wo die sündige Liebe hinfällt, wird der Boden heiß und dämpfig, beginnt ein gefährlicher Kampf, und dieser Kampf ist bedrohlicher als das Ringen eines einzelnen gegen einen meuterischen Pöbel. Binsenweisheit! Ich kenne sie lange. Ich wache, wo es sich um räudige Seelen und das ewige Leben handelt. Man soll nicht zu tiefgründig werden, nicht allzu emsig alles erwägen wollen. Wer es dennoch tut, erwägt zuviel und erreicht wenig. Und nun zu Johanna. Wenn Sünde in ihr ist, so schläft diese Sünde. Ihre angeborene Natur ist noch immer zu zügeln. Das ist Sache der Menschen- und Nächstenliebe. Oder weist Gottes Finger auf sie und sagt seine Stimme: Laßt ab von ihr, es ist ein vergebliches Mühen?«

»Das nicht,« versetzte Ludgerus, »denn er ist gut und barmherzig. Aber mir will das Gleichnis nicht aus dem Sinn: ich meine das mit dem Feuer, den festgebündelten Garben und der gemeinsamen Scheuer.«

Seine Worte fielen tropfenweise und waren stiller geworden.

Der Krückstock rumpelte auf.

»Hochwürden, wir alle sind Menschen. Man kann nicht stets unter Heiligen beten. Da friert man. Gottes Wind geht laut. Er fährt über Gerechte und Ungerechte. Auch über den verschuldeten Kotten ist er gefahren. Der Vater ist tot, die Mutter dahin. Nur eine Waise ist übriggeblieben. Soll auch sie untergehen? Das will die Gerechtigkeit nicht und kann sie nicht wollen. Hochwürden, ich habe ein Versprechen gegeben und habe dieses Versprechen zu lösen. Nur keine Sorge: ich werde sein wie ein Wächter auf Sion.«

»Wie ein Wächter auf Sion,« wiederholte der geistliche Herr.

Gleichzeitig begann das Stutzührchen allversöhnlich seine Stunde zu klimpern . . . seine Nadelspitzen . . . einzelne Perlen . . . ein Klingen wie das von glashellen Kristallen im Winterwald, wenn die Weihnacht heraufziehen will.

»Frau Travelmann . . .

Der geistliche Herr hatte ihre Hände ergriffen.

»Wer so die Kraft in sich fühlt, also zu sprechen, der kann nicht fehlgehen, und die Worte sind in mir, die da lauten: Auditu meo dabis gaudium et laetitiam, et exultabunt ossa humiliata. Meinem Gehör wirst du Freude und Fröhlichkeit geben, und frohlocken werden die erniedrigten Gebeine. Mit Gott denn! Die Schauer der Enttäuschung mögen Ihnen fernbleiben und die Tore des Morgenrotes sich Ihnen auftun.«

»Auf daß sich mein Wunsch erfülle,« versetzte die Alte. »Es wäre mir eine Sabbatfreude, in meinem Krautgärtlein keine Lilie, aber ein nützliches und fröhlich blühendes Bäumchen zu pflanzen.«

»Sie werktätige Frau,« sagte Ludgerus.

Er wandte sich ab, um seine Bewegung niederzuzwingen.

Bald darauf befand sich Judith auf dem Wege zum Kotten.

Hier angekommen, fand sie Johanna an der Sandlehne unter den drei Kiefern stehen.

»Hast du abgeschlossen, Johanna?« fragte die Alte.

»Ich tat es, Frau Travelmann.«

»Wem hast du den Schlüssel gegeben?«

»Dem Gerichtsvollzieher. Er stand an der Tür, als ich hinkam.«

Sie kämpfte mit ihren Tränen.

»Es ist gut so. Hier hast du nichts mehr zu suchen und nichts mehr zu finden. Höchstens nur Schulden. Deine Tage hier sind gezählt.«

»Das weiß ich.«

»Dann weißt du auch: bei mir ist dir eine Stätte bereitet?«

»Sie sind gütig, Frau Travelmann.«

»Also du willst?«

»Ich habe ja sonst keine Wahl, und leid tut es mir, was ich dem Herrn sagte.«

»Was sagtest du ihm?«

»Die Stufen einer fremden Treppe steigen sich schwer.«

»Du wirst es schon lernen. Drüben liegt Getter. Der Herr segne deinen Eingang.«

Wortlos gingen sie dem einsamen Hof zu.

 


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