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10. Kapitel.
Auf dem rechten Wege

Die Arbeit will über den Kopf wachsen – Wer ist der Schuldige – Freund in der Not – Wo der neue Prokurist seinen Platz erhält – Ilses Hochzeitstag – Späte Beichte.

 

Frau Burgstetten und ihre Tochter sahen im Laufe des Herbstes doch die Notwendigkeit ein, einen Prokuristen anzustellen. Der ältliche Herr Korn, der ohnehin viel kränkelte, fühlte sich auf die Dauer dem verantwortungsvollen Posten nicht gewachsen. Er hatte ja von vorneherein die Leitung des weitverzweigten. Geschäftshauses nur provisorisch übernommen. Karola blickte recht sorgenschwer drein, als sie mit der Mutter darüber sprach.

»Wenn man nur wüßte, ob Herr Felber bereit sein würde, bei uns einzutreten,« meinte Frau Burgstetten nachdenklich. »Es war doch Vaters Wunsch, und ich habe auch großes Zutrauen zu ihm.«

»Damals bei Vaters Beerdigung bot er mir seine Hilfe an, falls wir deren in geschäftlicher Beziehung bedürften,« antwortete Karola ein wenig zögernd.

»Dann könnten wir ihm doch schreiben! Wir sind ja Gott sei Dank wieder in der Lage, ihm günstige Bedingungen zu stellen, so daß er keinen Schaden bei dem Wechsel haben dürfte. Es wäre mir schon deinetwegen lieb, wenn wir eine zuverlässige Kraft bekämen. Du machst dir zu viel Sorgen, die Last wächst dir und unserem braven Herrn Korn über den Kopf. Mir fällt schon die ganze Zeit dein schlechtes Aussehen auf.« – Die zarte Frau zeigte plötzlich eine ungewohnte Energie. »Gleich morgen schreibe ich an Herrn Felber,« fuhr sie entschlossen fort, da Karola beharrlich schwieg. »Mag es ihm ein neuer Beweis unseres Vertrauens sein. Mir haben des Majors unfreundliche Worte über den braven Georg Felber damals recht leid getan.«

»Mutter, was hat es eigentlich für eine Bewandtnis mit seinem Vater?« fragte Karola.

Siehst du, Kind, das ist die Geschichte, von der wir schon einmal sprachen, die für uns alle Leid gebracht hat – für Georgs Vater, Fräulein Roderich, für meine Eltern und für mich. Doch ich will dir die Geschichte erzählen. Du hast ja jetzt selbst so Schweres durchgemacht und wirst nun fremdes Leid auch besser verstehen als früher, wo das Leben noch ungetrübt vor dir lag.«

»Wenn es dich nicht zu sehr angreift, Mutter?«

Nein, Rola, laß nur, einmal wollte ich es dir ja doch erzählen. Also höre! Herr Felber, Georgs Vater, war als Kassierer bei der Firma meines Vaters tätig. Im Geldschrank, der seiner Aufsicht unterstand, waren in einem besonderen Fache bedeutende Summen aufbewahrt, die verschiedene meinem Vater von der Stadt anvertraute Beträge darstellten. Eines Tages waren diese Gelder verschwunden, und zwar stellte sich der Verlust heraus, als ein Teil der Beträge ganz plötzlich zu einem bestimmten Zwecke gebraucht wurde. Du kannst dir denken, wie furchtbar diese Entdeckung für meinen Vater sein mußte. An dem Schrank war nichts versehrt, und wenn ein Uneingeweihter das Geheimfach entdeckte, so mußte er schon ziemlich raffiniert zu Werke gegangen sein. Jedenfalls lag die Sache so, daß sich der Verdacht naturgemäß auf den Kassierer lenkte, obwohl Vater und überhaupt unsere ganze Familie nicht an seine Schuld zu glauben vermochten. Die Angelegenheit wurde gerichtlich verfolgt, und Herr Felber kam in Untersuchungshaft. Klarheit ließ sich jedoch nicht schaffen. Der Angeklagte versicherte vor Gericht nur immer wieder mit fester Stimme seine Unschuld, und da man tatsächlich auch keinerlei Beweise gegen ihn erbringen konnte, wurde er nach einigen Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt. Aber es ließ sich natürlich nicht vermeiden, daß die Bewohner unserer Heimatstadt mißtrauisch gegen ihn geworden waren. Eigentlich hielt außer seiner Braut – Fräulein Roderich – nur noch unsere Familie zu ihm. Dieser Zustand vertrug sich nicht mit seinem Ehrgefühl und nagte an seinem Herzen. Schließlich reifte in ihm der Entschluß, übers Meer zu gehen und dort, in einem anderen Weltteil, wo man ihn nicht kannte und ihm kein entehrendes Mißtrauen entgegenbringen würde, eine neue Existenz zu gründen. Wie sehr Fräulein Roderich darunter litt, wirst du dir vorstellen können, Karola. Der Verdacht, der auf ihrem Bräutigam ruhte, schmerzte sie unendlich. Solange ihr Verlobter noch in der Heimat war, behauptete sie mit allen Kräften ihre Fassung, um ihn nicht noch trostloser zu machen, dann aber brach sie zusammen. Eine Ahnung mochte ihr sagen, daß es eine Trennung für immer war. Sie wurde krank, schwer krank und erholte sich nur langsam wieder.

Unterdessen hatte unsere Familie schwere Zeiten durchgemacht, vor allem mein Vater. Da die Untersuchung keine Schuldbeweise für Felber zu Tage gefördert hatte, blieb nur die Möglichkeit, daß der Kassenschrank mit Hilfe eines Nachschlüssels geöffnet worden war. So kompliziert waren damals die Schlösser nicht. Dein Großvater – du wirst dich seiner noch erinnern können – bekam in dieser Zeit weißes Haar. Man hatte ihm, der einen angesehenen Platz unter den Stadtverordneten einnahm, das Geld anvertraut, nun war es aus seinem Hause verschwunden und der Dieb nicht zu ermitteln. Er litt unsagbar in jener Zeit. Selbstverständlich deckte er mit seinem Vermögen die fehlenden Summen auf Heller und Pfennig, aber sein bisheriger Wohnort war ihm verleidet; auch hätte sich das Geschäft nach den bedeutenden Geldverlusten nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten weiterführen lassen. Wir zogen nach Darmstadt, wo Vater bei der Firma seines Bruders als Teilhaber eintrat. Hier traf ich deinen Vater wieder, der, in der gleichen Stadt wie ich geboren und erzogen, mir schon als Knabe ein getreuer Beschützer gewesen und jetzt als Volontär in dem Geschäftshause meines Oheims tätig war.«

Die Mutter schwieg einige Sekunden. Die Erinnerung zog leise herauf – die Erinnerung an das Glück vergangener Tage. Karola schmiegte sich zärtlicher an die Mutter.

Nach einer Weile fuhr Frau Burgstetten fort: »Von Fräulein Roderich hatte ich durch unseren Fortzug lange nichts gehört, erst der Zufall führte uns hier in Gürberg wieder zusammen. Ich erfuhr durch sie den Rest ihres trüben Schicksals. Nachdem sie noch einige Jahre mit ihrem Verlobten im Briefwechsel gestanden hatte, blieb plötzlich jede Nachricht von Felber aus. Es war ihm die ganze Zeit nicht gut ergangen, er hatte zu wenig Geld in Händen, und das machte den Anfang doppelt schwer. Fräulein Roderichs Nachforschungen führten nur zu dem Ergebnis, daß Felber seinen bisherigen Wohnort verlassen und sich anscheinend nach dem Inneren Amerikas gewandt hatte. Niedergeschlagen und verbittert verließ das alternde Mädchen den Ort, der für sie nur trübe Erinnerungen barg. Eine Zeitlang war sie als Hauslehrerin tätig, bis sie schließlich in Gürberg eine dauernde Stellung annahm. Und hier erreichte sie ein Brief ihres früheren Verlobten, der ihr Aufschluß gab. Er war seit zwei Jahren verheiratet, und zwar mit der einzigen Tochter des Mannes, der ihm, als er am Leben und an der eigenen Kraft verzweifelte, die rettende Hand gereicht. Felber beging mit seiner Heirat unstreitig ein Unrecht gegen seine frühere Braut. Jedoch darf man seine Handlungsweise auch nicht ohne weiteres verurteilen. Er hatte, als ihn Mißgeschick auf Mißgeschick traf, in seiner Verzweiflung mit allem, was hinter ihm, was jenseits des Meeres lag, abgeschlossen. Er glaubte kein Recht mehr an Leben und Glück zu haben. Jedenfalls verzieh ihm Fräulein Roderich. Ja, sie tat noch mehr. Sie wurde auf Felbers Bitte die Patin seines Erstgeborenen. Und dadurch machte ihr ehemaliger Verlobter manches wieder gut. Georg ist der Sonnenschein des alten Fräuleins geworden. Auf ihn hat sie alle Liebe übertragen, die so lange in ihrem Herzen brach gelegen. Wie Felber dann mit seiner Familie nach Deutschland kam und ein recht knappes Auskommen hatte, da anhaltende Kränklichkeit sehr an dem Erlös der kleinen Farm zehrte, weißt du ja, Karola!«

»Ja, und ich weiß auch, wie hochherzig Fräulein Roderich an der Familie gehandelt hat,« sagte Karola ergriffen. »Ich glaube, eines solchen Edelmutes wäre ich nicht fähig.«

»Ja, Selbstverleugnung ist die schwerste Kunst,« antwortete die Mutter.

»Aber wer mag das Geld entwendet haben?«

Die Gefragte zuckte die Achseln. »Es ist ein ungelöstes Rätsel geblieben.«

»War Hagemann damals nicht in deines Vaters Geschäft tätig?«

»Ja, allerdings. Aber du gehst zu weit, Karola; wir dürfen ihm auch nicht alles Schlechte zutrauen.«

»Nun, ich weiß nicht. Er kann die Sache schlau eingefädelt haben.«

»Nein, nein! Hagemann war im übrigen damals, als der Diebstahl entdeckt wurde, auf einem Erholungsurlaub und konnte schon deshalb kaum in Betracht kommen. Auf ihn konnte nicht der leiseste Verdacht fallen, sonst würde ja auch über ihn eine gerichtliche Untersuchung verhängt worden sein.«

Karola sagte nichts weiter. Es war das ein Punkt, in dem sie mit der Mutter nicht übereinstimmte, wo diese wie häufig allzu vertrauensvoll war und selbst dort noch nach einem lichten Fleckchen spähte, wo eigentlich nur Schatten war. – –

Georg Felber hielt sein Versprechen getreulich. Umgehend erhielt Frau Burgstetten Antwort von ihm. Er würde den ihm angebotenen, ehrenvollen Posten gern übernehmen, sobald für ihn in seiner gegenwärtigen Stellung Ersatz geschaffen sei. Er hoffe, daß sein Fortgehen keine Schwierigkeiten bereiten würde, da der junge Prinzipal sich inzwischen mit den ihm so plötzlich zugefallenen Pflichten gut vertraut gemacht habe.

Karola sah mit innerem Bangen und doch wieder mit einem seltsamen Glücksgefühl der Ankunft des neuen Prokuristen entgegen. Wie würde sich ihr Zusammenleben, ihr Zusammenarbeiten gestalten? Würde sich die unsichtbare Kluft zwischen ihnen vertiefen oder überbrücken?

Aber dann wurde doch alles besser, als Rola dachte. In den ersten Novembertagen kam Georg wieder nach Gürberg. Die Begrüßung zwischen ihm und den Burgstettenschen Damen war sehr herzlich. Zuerst gab es noch einmal schmerzliche Tränen bei Mutter und Tochter. Man gedachte des teuren Verstorbenen, dessen Lebenswerk ein anderer fortsetzen würde. Ein anderer – aber ein Berufener, das wußten die beiden Frauen, und zuversichtlich erwiderten sie seinen treuen, ehrlichen Händedruck.

Nun arbeiteten die beiden miteinander unten in den Kontorräumen – der neue Prokurist und Karola. Während letztere ein anderes kleines Zimmer für sich einrichtete, hatte Georg des Kaufherrn Platz erhalten, an dem das junge Mädchen bis jetzt gesessen. Er wollte sich weigern, meinte, dieser Platz gebühre auch fernerhin Karola. Aber Frau Burgstetten bat so herzlich, daß er sich nicht länger sträubte. Als sie gleich darauf für einige Augenblicke ins Nebenzimmer ging, wandte sich Georg an Karola, die der voraufgegangenen Debatte schweigend zugehört hatte. Was sagen Sie aber dazu, Fräulein Burgstetten! Sie haben doch das erste Anrecht auf den Platz, den ihr Herr Vater bis zu seinem Tode eingenommen und in dessen Sinne Sie so tapfer weiter gewirkt haben!«

Karola hielt die Augen gesenkt. Oh, keinem anderen hätte sie ja den Platz gegönnt als ihm – nur ihm allein. Für ihn räumte sie ihn bereitwillig. Doch so, wie es ihr ums Herz war, durfte sie nicht sprechen. Aber wahrheitsgemäß sollte ihre Antwort sein. »Ihnen gehört der Platz. Sie sind jetzt der Leiter des Geschäfts, Herr Felber!«

Eine kurze Antwort war es. Karola hielt ihr Herz wohl im Zaum. Daß ihre Augen eine andere Sprache redeten, empfand sie nicht, war sich auch nicht bewußt, daß ihr Blick den jungen Mann mit einem seltsamen Aufleuchten streifte. Nur eine Sekunde lang; aber Georg hat dieser Blick bis ins Herz hinein gestrahlt. Frau Burgstettens Rückkehr enthob ihn einer Antwort. Und das war gut, denn Georg fürchtete, daß er sich in diesem Augenblick nicht länger hätte beherrschen können. Noch lange saß er, nachdem er die Damen verlassen, unten in seinem Zimmer in zweifelndem Grübeln. Oh, daß er in Karolas Herz hätte blicken können, das ihm mehr als ein Rätsel aufgab. Bald zeigte sie ihm gegenüber eine auffallende, fast kühle Zurückhaltung, oder sie begegnete ihm drüben im Kontor mit einer so geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit, als habe sie überhaupt vergessen, daß sie auch im Privatleben in Berührung kamen und schon manchen Abend im Familienkreise miteinander verbracht hatten. Und dann wieder – doch nur zu selten – glaubte Georg ein so warmes Aufleuchten in ihren Augen zu sehen, einen so herzlichen Ton aus ihrer Stimme zu vernehmen, daß er wieder vollständig in seinen Beobachtungen irre wurde. Was mochte das bedeuten? Erst vorhin hatte er dieses jähe Ausstrahlen bemerkt. Sollten sich hinter ihrer stolzen Zurückhaltung doch wärmere Gefühle für ihn verbergen? Georg erhob sich hastig von seinem Platze und schüttelte unwillig den Kopf. Wie oft schon hatte er diesen törichten Gedanken zurückgewiesen! Er war ja auch zu schön, als daß er an seine Verwirklichung nur einen Augenblick hätte glauben können; durfte er denn überhaupt seine Augen zu Karola erheben? Auf seinem Namen, auf der Ehre seines Vaters ruhte ja vor der Welt ein Makel! – Georg preßte seinen heißen Kopf an die kühlen Fensterscheiben und starrte in den trüben Herbstabend hinaus. – –

Ilse Sternbergs Hochzeitstag war angebrochen, ein goldklarer Dezembermorgen – golden und klar wie Ilse selbst. Zur größten Freude der jungen Braut fehlte Karola nicht im Kranze der Brautjungfern. Zahlreiche Zuschauer füllten die Kirche, und von dem schönen, hochgewachsenen Brautpaare schweiften die Blicke zu Ilses Freundinnen. Frische junge Gesichter waren es, doppelt hübsch und anmutig in den duftigen Kleidern. Aber eine war doch die schönste unter ihnen, Karola Burgstetten – wie leises Flüstern ging es von Mund zu Mund. Man hatte sie lange Zeit hochmütig genannt, aber die letzten Monate hatten die Meinung der Leute geändert. In der Kleinstadt kannte man ja jedes einzelnen Schicksal genau, besonders bei einer so angesehenen Familie wie Burgstettens. Man wußte, was Karola geleistet, wie sie und ihre Mutter sich bereitwillig von dem gewohnten Luxus getrennt, als es galt, die Firma Burgstetten an gefährlichen Klippen vorbei zu führen. Und daß Karolas festem Willen, ihrer unermüdlichen Arbeitskraft im Verein mit dem treuen Personal der Erfolg beschieden war, wußte man gleichfalls. Das hatte denn auch gar bald Neid und Mißbilligung früherer Zeiten zum Schweigen gebracht. Bewundernd sah man auf das schöne Mädchen im schlichten weißen Kleide mit schwarzen Schleifen. Tiefernst blickte das junge Gesicht.

An dem Festessen, das der Trauung folgte, nahm Karola schließlich auf das Drängen der Freundinnen teil. Als dann aber der Wagen das junge Paar entführte, verabschiedete sich auch Karola von der kleinen Hochzeitsgesellschaft. So erhebend die Feier gewesen und so gerne Karola ihrer geliebten Ilse das Brautgeleit gegeben, atmete sie doch auf, als sie den heiteren Kreis verließ. Sie paßte noch nicht wieder unter frohe Menschen und nahm auch den anderen durch ihren Ernst die ungezwungene Fröhlichkeit; das hatte sie heute von neuem empfunden. Zu sehr litt sie noch unter dem Verluste des Vaters. Und dann drückte sie ja auch noch ein anderes Herzeleid. – –

Im ruhigen Gleichmaß kamen und gingen die Tage. Es war ein harmonisches Zusammenleben im Burgstettenschen Hause. Man blieb auch seit Georgs Anwesenheit bei den alten Gepflogenheiten. Einige Abende in der Woche verbrachten die drei Damen immer zusammen, und häufig bildete Georg auf Frau Burgstettens freundliche Aufforderung den vierten in der Runde. Der Todestag des Kaufherrn hatte sich inzwischen zum ersten Male gejährt. In treuem Verein halfen Fräulein Roderich und ihr Pate den beiden Frauen über diesen doppelt schmerzvollen Tag hinweg. Einige Wochen später hörte man zum ersten Male wieder Musik im Hause. Georg trug ein Mendelsohn'sches »Lied ohne Worte« vor, Frau Burgstetten hatte ihn darum gebeten. Seitdem hörte man ihn öfter spielen. Die ernsten, erhebenden Töne taten den Trauernden wohl. Gleich linderndem Tau senkten sich die herrlichen Töne der großen Meister auf die bedrückten Menschenherzen. Nur eines spielte Georg nicht wieder – die alte Tyrolienne, trotzdem oder gerade weil sie so rührend klang. Denn den frohen, tändelnden Charakter, der solchen Weisen sonst eigen, hatte die Tyrolienne auf der alten Spieluhr schon längst eingebüßt. Das war nur noch ein langsames, zaghaftes Aufrollen von Tönen, die einst so froh und zuversichtlich geklungen – lang, lang war's her+…

Und doch sollte das Glück wieder seinen Einzug halten. An einem schönen Junitage erhielt Frau Burgstetten einen versiegelten Brief aus Amerika. Ein dort ansässiger deutscher Pastor hatte ihn geschrieben. Der Inhalt lautete: »Sehr geehrte gnädige Frau! Vor einigen Tagen ist im hiesigen Missionshause ein Mann gestorben, der sich Charles Hagemann nannte. Er lag bereits mehrere Wochen schwer krank darnieder und bat mich kurz vor seinem Tode zu sich, um sein Herz zu erleichtern. Ich nahm seine Beichte entgegen und teile Ihnen auf seinen ausdrücklichen Wunsch nachstehendes mit. Hageman – sein deutscher Name ist Karl Hagemann – hatte bei der Firma Ihres Herrn Vaters erhebliche Veruntreuungen begangen, die einem anderen, namens Felber, zur Last gelegt wurden. Hagemann war leidenschaftlicher Spieler, und diese Schwäche machte ihn zum Diebe. Er wußte, daß in einem besonderen Fache des Geldschrankes nicht unbedeutende Summen aufbewahrt wurden, die einer städtischen Körperschaft gehörten und nach Hagemanns Berechnungen noch längere Zeit unberührt bleiben würden. Er brauchte aber dringend Geld, da er nach irgend einem ausländischen Spielernest reisen wollte. Nach längeren inneren Kämpfen entwendete er darum eines Abends unbeobachtet die Gelder mittels eines geschickt gearbeiteten Nachschlüssels. Wie mir Hagemann versicherte, hoffte er, so viel Glück im Spiel zu haben, um das Geld nach seiner Rückkehr noch rechtzeitig wieder in das Fach zurücklegen zu können. Daß er seinen Plan nicht zur Ausführung bringen konnte und ein Unschuldiger verdächtigt wurde, wissen Sie ja selbst am besten, gnädige Frau. Hagemann, der außerdem beinahe alles im Spiele verloren hatte, besaß nach seiner Rückkehr nicht den Mut, sich den Gerichten zu stellen. Nach Jahren trat er dann in das Geschäftshaus Ihres Gatten ein. Lange Zeit hatte er seine unselige Neigung bekämpft, bis sie sich doch allmählich wieder Bahn brach. Nachdem er seine Ersparnisse wieder verspielt, griff er abermals zu fremdem Gelde. Was dann folgte, wissen Sie, verehrte Frau Burgstetten. Hagemann bat mich, seine Beichte an Ihre Adresse zu übermitteln; in Ihnen hoffte er die mildeste Fürsprecherin bei Ihrem Gatten und dem Sohne Felbers zu finden+…

Bis hierher hatte Frau Burgstetten gelesen; jetzt ließ sie, von ihrer Erregung überwältigt, das Briefblatt sinken. Karola mußte den Schluß vorlesen. Er besagte kurz, daß Hagemann in tiefer Reue gestorben sei, sein Beichtvater aber auf des Sterbenden Veranlassung eine eidliche Aussage bei der zuständigen Behörde gemacht habe. Das deutsche Konsulat habe sich der Angelegenheit angenommen und die näheren Schritte eingeleitet, damit die offizielle Ehrenerklärung des damals verdächtigten Felber in seiner Heimat erfolgen könne. –

Nachdem sich Frau Burgstetten ein wenig erholt hatte, trug sie selbst den inhaltsschweren Brief zu Georg ins Geschäftszimmer. Er hatte ja das erste Anrecht daran, ihm brachte das Schreiben das Höchste, Beste – die Ehre seines Vaters, seines Namens. Zu sprechen vermochte weder Frau Burgstetten noch Georg, auf dessen Antlitz beim Lesen des Briefes das Rot der Erregung kam und ging. »Gott, ich danke dir!« sagte er schließlich aus tiefstem Herzensgründe. Unermeßliches Glück sprach aus diesen wenigen Worten. Als er sich in dankbarer Ergriffenheit über Frau Burgstettens Hand beugte, fühlte diese eine Träne daraus. Georg weinte, und seine Tränen waren eines Mannes würdig. Frau Burgstetten, über deren Antlitz gleichfalls in Wehmut und Freude die Tränen rollten, verließ den jungen Prokuristen nach kurzer Zeit. Sie fühlte, daß er jetzt erst einmal mit sich allein sein mußte. Unter der Tür wandte sie sich zurück. »Nicht wahr, Herr Felber, heute abend kommen Sie mit ihrer Patin zu uns herauf? Fräulein Roderich ist wohl jetzt noch in der Schule, und heute Nachmittag werden Sie sich viel zu sagen haben.«

Mit einer stummen Verbeugung dankte Georg.

Den Nachmittag verbrachten Mutter und Tochter in begreiflicher Unruhe. Beide sehnten den Abend herbei, der Fräulein Roderich und ihren Paten bringen würde. Es drängte sie, sich mit jenen auszusprechen. Das würde die Herzen erleichtern. Trugen sie doch jetzt Glück und Schmerz vereint. Wieviel Verdruß hatte der unglückselige Mann ihrem Gatten noch kurz vor seinem Tode bereitet. Aber allmählich vermochte sie doch ohne Groll an Hagemann zu denken. Selbst Karola urteilte milder über den Toten als sie es je über den Lebenden getan. Ein verfehltes Leben lag hinter ihm. Einsam war er in der Fremde gestorben – aber nicht reuelos; sein Herz war nicht völlig schlecht und verstockt. Und jetzt stand er vor dem höchsten Richter. Durften da noch Menschen gegen ihn klagen? Die beiden Frauen wußten auch, daß Georg und seine Patin gleichfalls ihren gerechten Groll gegen Hagemann niederkämpfen würden. Wenn auch längst, längst nicht alles, so hatte er doch wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld durch die offene Beichte gesühnt.

Etwas früher als sonst trat Georg heute bei den Damen ein. Es hatte ihm keine Ruhe mehr gelassen, mit Macht trieb es ihn zu Frau Burgstetten – und zu Karola.

»Aber wo ist Fräulein Roderich?« fragte Frau Burgstetten mit leiser Unruhe.

»Tante hat mich einstweilen vorausgeschickt. Sie fühlt sich noch ein wenig angegriffen, versprach aber, bald nachzukommen.«

Das Gespräch drehte sich heute abend ausschließlich um Hagemanns Beichte. Georg äußerte gleichfalls die hochherzige Ansicht, daß man einem Toten nicht mehr zürnen solle.

Es verging eine Viertelstunde, noch eine, die dritte und endlich die vierte. Jetzt wurde man doch unruhig. Fräulein Roderich war noch nicht oben. »Ich will selbst einmal nach ihr sehen, sie darf auch nicht allzu lange mit ihren Gedanken allein sein.« Mit diesen Worten verließ Frau Burgstetten das Zimmer.

Georg und Karola waren für einige Minuten allein. Zum ersten Male wieder seit langem. Beider Herzen empfanden es bedrückt. Karola machte sich Vorwürfe. Sie hätte ihm ihre Freude über die unerwartete Aufklärung jener häßlichen Diebstahlsangelegenheit herzlicher ausdrücken sollen; aber wie so oft hatte sie Georg gegenüber nicht das rechte Wort gefunden.

Georg rückte etwas nervös an seinem Kragen und sprach schließlich, als Karola beharrlich schwieg, die Hoffnung aus, daß Tante Hedwig bald heraufkommen werde. Nach einigen Sekunden trat er ans Klavier.

»Ach ja, spielen Sie etwas Schönes,« bat Karola, froh über die Ablenkung.

Der junge Mann setzte sich. Präludierend glitten seine Finger über die Tasten. Karola lauschte träumerisch. Allmählich lösten sich die Präludien zu einer bestimmten Melodie. Die Tyrolienne erklang – zum ersten Male wieder unter Georgs Händen. Aber nicht mehr zagend wehmütig, sondern jubelnd, glückverheißend. Ganz so, wie sie einst für Fräulein Roderich geklungen. Aber was war das? Tönte es nicht wie heißes unterdrücktes Schluchzen dazwischen? Georg machte jäh halt und wandte sich um. Karola hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt, zwischen ihren Fingern perlte es silbern hervor. Ja, es war keine Täuschung – Karola weinte, und noch dazu in eines anderen, in Georgs Gegenwart. Alles, was sie so ängstlich in ihrem Herzen verborgen gehalten, das hatte die Tyrolienne unwiderstehlich geweckt und zum Überströmen gebracht.

Im nächsten Augenblick stand Georg schon neben der Weinenden. »Fräulein Burgstetten, was ist Ihnen?«

Keine Antwort erfolgte, nur die Hände des jungen Mädchens sanken, wie über sich selbst erschrocken, in den Schoß. Georg aber meinte Karola noch nie so schön, noch nie so hingebend weich gesehen zu haben wie in diesem Augenblick. Und plötzlich kam es über ihn wie leise dämmernde Wahrheit.

»Fräulein Karola, diese Tränen, was haben sie zu bedeuten, oh bitte, sprechen sie doch nur ein Wort – wem gelten diese Tränen?«

Wieder fand Karola keine Erwiderung; aber in ihren dunklen, tränenschimmernden Augen stand es wohl geschrieben – das rechte Wort. Georg verstand es, und plötzlich – sie wußten beide nicht, wie es so schnell gekommen – hielt er Karola umschlungen. »Karola, ist es denn keine Täuschung, darf ichs glauben – du hast mich lieb?«

Diesmal fand das junge Mädchen auch mit den Lippen die Antwort. Wie ein Hauch, aber doch fest in glücklicher Zuversicht erklang das »Ja« aus ihrem Munde.

Als einige Minuten später die Mutter mit Fräulein Roderich, die sich inzwischen gefaßt hatte, zurückkehrte, brauchten beide einem glücklichen Brautpaar nur noch ihren Segen zu geben. Überrascht, aber hochbeglückt schlossen sie die jungen Leute, die sich nach langen Herzenskämpfen zum Bunde fürs Leben gefunden, in die Arme.

Lange war man heute Abend zusammen. Es gab viel zu erzählen und zu beichten. Mit wehmütigem Lächeln hörte Fräulein Roderich, daß die Tyrolienne heute die beiden zusammengeführt. Nun hatte sie doch noch zwei Menschen glücklich gemacht!

Am nächsten Tage ging das junge Paar auf den Friedhof. Noch waren die Verlobungskarten nicht in das Städtchen hinausgeflogen, aber frei und frank zog Georg Karolas Arm in den seinigen. Was kümmerten die beiden die verwunderten, neugierigen Gesichter, die ihnen aus vielen Fenstern nachsahen! –

Still und friedlich lag der Kirchhof an dem sommerlich geschmückten Brunnental. Auf des Vaters Grab blühten Rosen und Vergißmeinnicht in wunderbarer Fülle. Mit feuchten Augen legte das Brautpaar einen Kranz auf den Hügel nieder. Ob das treue Vaterauge jetzt auf seine Kinder herabblickte? Sicherlich! Die Linden, die am Wege standen und deren Zweige bis über den Hügel reichten, rauschten so verheißungsvoll im Sommerwinde. Ja, der Kaufherr konnte ruhig schlummern. Sein Lieblingswunsch hatte sich erfüllt – an Karolas Seite, an der Spitze der Firma Burgstetten stand Georg Felber – der rechte Mann.

Auf dem Nachhausewege ging das Brautpaar ein wenig um. Sie hatten sich noch unendlich viel zu sagen. Von all dem bangen Zweifeln und Hoffen der letzten Jahre sprachen sie. Georg erfuhr jetzt auch, was damals zwischen Karola und Dr. Scholz vorgefallen war. Stumm drückte er seiner Braut die Hand. Er war ihr dankbar für ihr offenes Bekenntnis. Beider Gedanken aber gipfelten in dem Wunsch, daß die Zukunft dem jungen Arzt Vergessen und das rechte Glück bringen möchte. –

Drei Wochen später erhielt Frau Burgstetten eine Zeitungsnotiz, die die Veruntreuungsgeschichte ausführlich behandelte und die makellose Ehre von Georgs Vater hervorhob. Überall, wo man sich der Sache noch erinnerte, stand zum Schluß geschrieben, man empfinde herzliches, aufrichtiges Bedauern über das einem Ehrenmann angetane Unrecht.

Major Burgstetten war der Absender jener Notiz. Sein einst geäußertes Vorurteil gegen den Sohn Felbers tat ihm leid, wie aus einem in herzlichem Tone gehaltenen Begleitschreiben hervorging. Gleichzeitig sprach er in ungewohnter Wärme seine Glückwünsche zu der ihm mitgeteilten Verlobung aus.

So war denn auch vor der Welt die Ehre von Georgs Vater einwandfrei festgestellt. Dankbar nahmen es diejenigen hin, die durch enge Bande mit dem Geschick des bedauernswerten Mannes verknüpft gewesen. War doch auch die glückverheißende Gegenwart vollends dazu angetan, mit den trüben Schatten der Vergangenheit auszusöhnen.

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