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Vierter Abschnitt.
Vorbereitungen auf Italien.

Geburt eines Erbprinzen. Goethe's Gedicht »Ilmenau«. Vermehrung seiner Amtsgeschäfte. Harzreise mit Fritz von Stein. Arbeitet am Planetentanz. Seine Rede bei Wiedereröffnung des Ilmenauer Bergbaues. Entdeckung des Zwischenknochens beim Menschen. Naturhistorische Studien. Ausgedehnte Wohlthätigkeit. Veränderungen in der weimar'schen Gesellschaft. Trennung von Jacobi. Goethe's Entrüstung über Lavater's Heuchelei. Verstärkte Sehnsucht nach Italien. Heimliche Abreise.

Mit dem Jahre 1783 treten ernste Arbeiten immer mehr in den Vordergrund. Goethe hatte aufgehört, der »Großmeister der Affen« bei Hofe zu sein; er vertiefte sich in alte Bücher und Akten. Die Geburt eines Erbprinzen, die ganz Weimar mit Freude erfüllte, stimmte den Herzog zu plötzlichem Ernst. Die Taufe, welche am 5. Februar stattfand, war für Stadt und Land ein wahres Ereigniß. Herder predigte »wie ein Gott,« sagte Wieland, von dem selbst eine Cantate bei dieser Gelegenheit gesungen wurde. In Fackelzügen, Festlichkeiten aller Art, Gedichten von allen Poeten, außer von Goethe, gab sich die allgemeine Freude kund. Goethe's Schweigen hatte ein edles Motiv. Daß man nicht Mangel an freundlicher Theilnahme darin sehen würde, konnte er sicher sein. Aber, so bereit er immer gewesen war, die Geburtstage der beiden Herzoginnen durch Singspiele, Maskenaufzüge oder sonstige poetische Gaben zu ehren, so wenig, das mußte er fühlen, durfte er jetzt, wo alle Weimarschen Dichter und Dichterlinge ihre Verse strömen ließen, das Gewicht seines Namens und seiner Kunst gegen sie in die Wagschale legen. Wäre unter allen Festgedichten seines das schlechteste gewesen, es wäre doch am höchsten geschätzt worden, weil es eben seins war.

Der Herzog war ganz stolz auf seine Vaterschaft; an Merck, der ihm gratulirt hatte, erwiderte er: »Sie haben Recht, daß Sie sich mit mir freuen; denn wenn je gute Anlagen in meinem Wesen waren, so konnte sich Verhältnisse halber bis jetzt kein sicherer Punkt finden, wo sie zu verbinden waren; nun aber ist ein fester Haken eingeschlagen, an welchem ich meine Bilder aushängen kann. Mit Hülfe Goethens und des guten Glücks will ich sie so ausmalen, daß wo möglich die Nachkommenschaft sagen soll: auch Er war ein Maler!« Und von da ab scheint ein entschiedener Wechsel in ihm vorgegangen zu sein, obgleich er wohl noch über die »Taciturnität seines Herrn Kammerpräsidenten« sich beklagt, die »gelegentlich zu entrunzeln« ihm nur durch das Geschenk eines Kupferstiches gelinge. In Wahrheit ist aber dieser Kammerpräsident mit Arbeiten schwer überhäuft und lebt glücklich in seiner Liebe, fleißig in seinen Studien, in tiefer Abgeschlossenheit. Die amtlichen Geschäfte, die er früher so leicht und heiter übernahm – ein Stück des Reichs nach dem andern, hatte er gegen Merck gescherzt, lasse er sich beim Spazierengehen übertragen – werden ihm jetzt sichtlich zur Last; »vom Rade Ixions« datirt er nicht lange nach dieser Zeit einen Brief an die Herder. Aus den Briefen an den Herzog von 1782 steht man recht deutlich, wie sehr er mit den kleinsten Einzelheiten der Verwaltung geplagt war. Die klarere Einsicht in seinen hohen Beruf vermehrte den Widerwillen. Die alte Sehnsucht nach Italien begann ihn zu quälen. »Das glücklichste ist (schreibt er im Oktober 1783 an die Stein), daß ich nun sagen kann, ich bin auf dem rechten Wege, und es geht mir von nun an nichts verloren.«

Was er bei der Geburt des prinzlichen Knaben versäumt, holte er zum Geburtstage des Vaters mit dem Gedichte »Ilmenau« nach. Mit lebhaften Farben schildert er darin den Charakter des Herzogs und die Gewißheit seiner Umwandlung, und auch was er an seinem Fürsten auszusetzen hatte, verschweigt er nicht; mit Freuden erkennt man, daß er die vorhin mitgetheilten Bemerkungen an die Stein nicht etwa nur hinter dem Rücken gemacht hat. »Das Ilmenauer Gedicht (äußerte er später gegen Eckermann) enthält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, so daß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte. Es ist darin wie Sie wissen, eine nächtliche Scene vorgeführt, etwa nach einer unserer halsbrechenden Jagden im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsen kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern gedeckt, um darin auf trockenem Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten mehrere Feuer und wir kochten und brieten, was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem schon damals die Tabackspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trockenen Späßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorf, der schlanke, mit den langen feinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. Abseits, in einer ähnlichen kleinen Hütte, lag der Herzog in tiefem Schlaf. Ich selber saß davor bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorf erscheinen mir noch jetzt (1828) gar nicht schlecht gezeichnet, und auch der junge Fürst nicht, in dem düstern Ungestüm seines zwanzigsten Jahrs.« Diese Zeichnung verdient hier eine Stelle:

Ein edles Herz, vom Wege der Natur
Durch enges Schicksal abgeleitet,
Das ahnungsvoll nun auf der rechten Spur,
Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet,
Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt
Mit Müh' und Schweiß erst zu erringen denkt;
Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen
Und kein Gesang die hohen Wogen stillen.

Indeß, wie der Schmetterlingspuppe die zarte Schale zu durchbrechen mit der Zeit gelingt, so hofft der Dichter auch für seinen Fürsten:

Gewiß, ihm geben auch die Jahre
Die rechte Wirkung seiner Kraft.
Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre
Ihm Irrthum eine Leidenschaft.
Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal;
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
Gewaltsam ihn bald da bald dort hinaus,
Und von unmuthiger Bewegung
Ruht er unmuthig wieder aus. –
Und düster wild an heitern Tagen,
Unbändig ohne froh zu sein,
Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerschlagen,
Auf einem harten Lager ein.

Von dem Traum erwachend, in dem der Dichter dies alles gesehen zu haben sich darstellt, blickt er freudig in den stillen Fleiß, die Ordnung und das Gedeihen der Ilmenauer Umgegend hinein, und schließt mit dem herzlichen, herrlichen Zuruf:

So mög', o Fürst, der Winkel deines Landes
Ein Vorbild deiner Tage sein!
Du kennest lang' die Pflichten deines Standes
Und schränkest nach und nach die freie Seele ein.
Der kann sich manchen Wunsch gewähren,
Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt;
Allein wer andre wohl zu leiten strebt,
Muß fähig sein, viel zu entbehren.
So wandle du – der Lohn ist nicht gering –
Nicht schwankend hin und her, wie jener Sämann ging,
Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,
Hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel;
Nein! streue klug wie reich, mit männlich stäter Hand,
Den Segen aus auf ein geackert Land;
Dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen
Und dich beglücken und die Deinen.

Bei solch einem Gedichte mit längerem Auszuge zu verweilen, wird nicht nur durch den bedeutenden Inhalt an sich gerechtfertigt; das Gedicht ist wie das schönste Denkmal dieser Freundschaft ohne Gleichen, so im Besondern für Goethe eins der glänzendsten Ehrenzeugnisse: wer mit so edler Anerkennung und zugleich so freimüthig zurechtweisendem, männlich ernstem Zuspruch offen vor aller Welt zu seinem Fürsten redet, der hat, wenn einer, auf die Würde eines freien Mannes volles Anrecht, und es muß billig als seltsam bezeichnet werden, daß ihn gegen den niedrigen Vorwurf höfischer Servilität zu vertheidigen noch jetzt Anlaß ist. In dem Briefwechsel mit Karl August liegt nun vollends ein Commentar zu dem eben besprochenen Gedichte vor, der sein ganzes Verhältniß zum Herzog als freundlicher Mahner und Rather in einem so hellen und schönen Lichte zeigt, daß das Wesentlichste hier eine Stelle verdient. Im December 1784 macht Goethe dem Herzog über die (auch in jenem Gedichte erwähnten) wilden Schweine am Ettersberge (in der Nähe von Weimar) die ernstesten Vorstellungen: »Ungern erwähne ich diese Thiere, weil ich gleich anfangs gegen deren Einquartirung protestirt und es einer Rechthaberei ähnlich sehen könnte, daß ich nun wieder gegen sie zu Felde ziehe. Nur die allgemeine Aufforderung kann mich bewegen, ein fast gelobtes Stillschweigen zu brechen ... Von dem Schaden selbst und dem Verhältniß einer solchen Heerde zu unsrer Gegend sag ich nichts, ich rede nur von dem Eindruck, den es auf die Menschen macht. Noch habe ich nichts so allgemein mißbilligen sehen; es ist darüber nur eine Stimme ... Die Menge schreibt Ihnen nicht das Uebel zu, andere gleichsam nur ungern und alle vereinigen sich darinnen daß die Schuld an denen liege, die statt Vorstellungen dagegen zu machen, Sie durch gefälliges Vorspiegeln verhinderten, das Unheil einzusehen. Niemand kann sich denken, daß Sie durch eine Leidenschaft in einen solchen Irrthum geführt werden könnten, um etwas zu beschließen und vorzunehmen, was Ihrer übrigen Denkens- und Handelnsart, Ihren bekannten Absichten und Wünschen gradezu widerspricht ... Könnten meine Wünsche erfüllt werden, so würden diese Erbfeinde der Cultur ohne Jagdgeräusch in der Stille nach und nach der Tafel aufgeopfert, daß mit der zurückkehrenden Frühlingssonne die Umwohner des Ettersberges wieder mit frohem Gemüth ihre Felder ansehen könnten. Man beschreibt den Zustand des Landmanns kläglich und er ists gewiß; mit welchen Uebeln hat er zu kämpfen! – Ich habe Sie so manchem entsagen sehen und hoffe, Sie werden mit dieser Leidenschaft den Ihrigen ein Neujahrsgeschenk machen und bitte mir für die Beunruhigung des Gemüths, die mir die Colonie seit ihrer Entstehung verursacht, nur den Schädel der gemeinsamen Mutter des verhaßten Geschlechts aus, um ihn in meinem Cabinet mit doppelter Freude aufzustellen.« Das genügt wohl, um die Fabeln von Goethe's Fürstendienerei für immer todt zu machen. – –

Kehren wir noch einmal nach Ilmenau zurück; wir haben da etwas Reizendes nachzuholen, das schöne kleine Gedicht nämlich, welches Goethe dort im September jenes Jahres (1783) mit Bleistift an die Wand der noch heute erhaltenen Bretterhütte auf dem Gickelhahn, einem bei dem Städtchen belegenen Berge, schrieb; in der ursprünglichen Gestalt Die spätere und bekanntere Form möge hier zur Vergleichung daneben stehen:
Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde;
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
lautet es:

Ueber allen Gipfeln ist Ruh;
In allen Wäldern hörest Du
Keinen Laut!
Die Vögelein schlafen im Walde;
Warte nur! balde, balde
Schläfst auch Du!

Die sanfte Wehmuth eines Gemüths, das sich in die Stille der Natur auflöst, spricht zart und rührend aus diesen Zeilen; sie haben uns das Wunder erleben lassen, daß ein Lied des Heiden Goethe zu einem Abendliede christlicher Kreise geworden ist.

Die Leitung der Finanzsachen machte Goethen manche böse Stunde, namentlich dem Herzog persönlich gegenüber, der sich nie recht an ein festes Maaß von Ausgaben gewöhnen wollte, wie denn Ordnung und Regelmäßigkeit seinem Sinn überhaupt am meisten widerstrebte. Wieland schreibt darüber an Merk (1784): »Goethe schickt sich überaus gut in das was er vorzustellen hat, ist im eigentlichen Verstande l'honnête homme à la cour; leidet aber nur allzusichtlich an Seel' und Leib unter der drückenden Last, die er sich zu unserm Besten aufgeladen hat. Mir thut's zuweilen im Herzen weh, zu sehen, wie er bei dem Allen Contenance hält und den Gram gleich einem verborgenen Wurm an seinem Inwendigen nagen läßt. Seine Gesundheit schont er so viel wie möglich, auch hat er sie sehr vonnöthen.« Aehnliche Berichte scheinen auch seiner Mutter zu Ohren gekommen zu sein; wenigstens drückt er ihr in einem Briefe aus jener Zeit sein Bedauern aus, daß man ihr »mit solcher Klatscherei nur einen Augenblick verdorben« habe. »Sie haben mich (schreibt er) nie mit einem dicken Kopf und Bauche gekannt, und daß man von ernsthaften Sachen ernsthaft wird, ist auch natürlich, besonders wenn man von Natur nachdenklich ist und das Gute und Rechte in der Welt will. Lassen Sie uns hübsch dieses Jahr daher als Geschenk annehmen, wie wir überhaupt unser ganzes Leben anzusehen haben, und jedes Jahr das zurückgelegt wird, mit Dank erkennen. Ich bin nach meiner Constitution wohl, kann meinen Sachen vorstehen, den Umgang guter Freunde genießen und behalte noch Zeit und Kräfte für ein und andre Lieblingsbeschäftigung. Ich wüßte nicht mir einen bessern Platz zu denken oder zu ersinnen, da ich einmal die Welt kenne, und mir es nicht verborgen ist, wie es hinter den Bergen aussieht. Sie, von Ihrer Seite, vergnügen Sie sich an meinem Dasein jetzt; und wenn ich auch vor Ihnen aus der Welt gehen sollte, ich habe Ihnen nicht zur Schande gelebt, hinterlasse gute Freunde, und einen guten Namen, und so kann es Ihnen der beste Trost sein, daß ich » nicht ganz sterbe.« Indessen leben Sie ruhig, vielleicht giebt uns das Schicksal noch ein anmuthiges Alter zusammen, das wir denn auch mit Dank ausleben wollen.«

So beruhigend diese Worte klingen, so liest sich doch eine gewisse Beklommenheit zwischen den Zeilen heraus, welche Wielands Andeutungen bestätigt. Auch der Herzog wurde wegen Goethe's Gesundheit besorgt und trieb ihn im September dieses Jahres zu einer Reise nach dem Harz. Er machte den Ausflug in Begleitung des zehnjährigen Fritz von Stein, des dritten Sohnes seiner Geliebten, den er liebte und hegte wie sein eigenes Kind. »Unendlich war die Sorge und Liebe, mit der er mich behandelte,« schrieb Stein noch in späten Jahren in dankbarer Erinnerung an diese glückliche Zeit. Monate lang hatte Goethe den Knaben bei sich im Hause, unterrichtete und bildete ihn, theilte seine Spiele. Von Natur schon ein Kinderfreund, hielt er diesen Knaben aus Liebe zu seiner Mutter doppelt werth. Wie der vielbeschäftigte Minister und fleißige Forscher in der Sorge für das Pfand von seiner Geliebten die reine Freude der Vaterschaft kostete, welche das Geschick ihm bis dahin versagt hatte, ist ein wahrhaft rührendes Bild im bunten Wechsel seines Weimarschen Lebens.

Die Harzreise gab ihm bessere Gesundheit und Stimmung, besonders war ihm der Verkehr mit Sömmering in Kassel, dem großen Anatomen, und andern Männern der Wissenschaft angenehm. Nach Weimar zurückgekehrt, arbeitete er an Wilhelm Meister, der damals bis zum vierten Buche vorgerückt war, betrieb seine Amtsgeschäfte, verkehrte viel mit Herder, der seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schrieb, und sonnte sich in dem Lächeln seiner Geliebten.

Das Jahr 1784 brachte eine Aenderung im Weimarschen Theaterwesen. Das Liebhabertheater, welches den lustigen Kreis so viel beschäftigt und ergötzt hatte, wurde geschlossen und eine stehende Gesellschaft engagirt. Zum Geburtstage der Herzogin veranstaltete Goethe einen Maskenzug, den Planetentanz, und zu gleicher Zeit hatte er mit der Festrede zur Wiedereröffnung des Ilmenauer Bergbaus zu thun, womit für ihn ein langjähriger Wunsch in Erfüllung ging. Von der ersten Zeit seines Weimarschen Aufenthaltes an hatte er sich für die Ilmenauer Gruben interessirt und war für ihre Wiedereröffnung thätig gewesen. Nach manchen Schwierigkeiten fand endlich am 24. Februar die Feierlichkeit statt. Goethe hielt seine Festrede zuerst in bestem Fluß; aber mitten darin verlor er plötzlich den Faden und schien sich auf kein Wort mehr besinnen zu können. »Dies hätte jeden andern (sagt Eckermann, der uns diese Anekdote aufbewahrt hat) in große Verlegenheit gebracht, ihn aber keinesweges, er blickte vielmehr wenigstens zehn Minuten lang fest und ruhig in dem Kreise seiner zahlreichen Zuhörer umher, die durch die Macht seiner Persönlichkeit wie gebannt waren, so daß während der sehr langen, ja fast lächerlichen, Pause jeder vollkommen ruhig blieb. Endlich schien er wieder Herr seines Gegenstandes geworden zu sein, er fuhr in seiner Rede fort und führte sie sehr geschickt ohne Anstoß bis zu Ende, und zwar so frei und heiter, als ob gar nichts passirt wäre.«

Seine osteologischen Studien brachten ihm in diesem Jahre die wichtige Entdeckung, daß auch der Mensch einen Zwischenknochen der oberen Kinnlade ( os intermaxillare) habe. Die weitere Ausführung über die Bedeutung dieser Entdeckung wird im neunten Abschnitt dieses Buches gegeben werden; hier beschäftigt sie uns nur von ihrer persönlichen Seite als biographisches Moment. Bis zu Goethe's Entdeckung hatte man den Knochenbau des Menschen von dem des Thieres selbst auf seiner höchsten Entwicklungsstufe um den Mangel dieses Zwischenknochens verschieden gehalten. Goethe aber glaubte an die Einheit der Natur, suchte diese Einheit überall und hielt an dem Gedanken fest, »daß alle Abtheilungen des Geschöpfes im Einzelnen wie im Ganzen bei allen Thieren aufzufinden seien, weil ja auf dieser Voraussetzung die schon längst eingeleitete vergleichende Anatomie beruhe.« Seine Nachforschungen bestätigten die Richtigkeit dieser Ansicht; es gelang ihm, den Zwischenknochen beim Menschen nachzuweisen. Sein Triumph war groß. »Ich habe eine solche Freude, schrieb er an die Stein, daß sich mir alle Eingeweide bewegen.« An Herder, damals einen halben Genossen seiner Studien, schrieb er: »Nach Anleitung des Evangelii muß ich Dich auf das eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir unsägliche Freude macht,

das os intermaxillare am Menschen!

Ich verglich mit Lodern Menschen- und Thierschädel, kam auf die Spur, und siehe da ist es. Nun bitt' ich Dich, laß Dich nichts merken; denn es muß geheim gehalten werden: Es soll Dich auch recht herzlich freuen; denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da!« Ja, mit Herders Philosophie der Geschichte der Menschheit denkt er sich diesen Knochen in Verbindung. In demselben Sinne äußerte er sich gegen Knebel: »Der Mensch ist auf's nächste mit dem Thiere verwandt. Die Uebereinstimmung des Ganzen macht ein jedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch so gut durch die Gestalt und Natur seiner oberen Kinnlade, als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinen Zehe, Mensch. Und so ist jede Creatur nur ein Ton, eine Schattirung einer großen Harmonie, die man auch im Ganzen und Großen studiren muß, sonst ist jedes Einzelne ein todter Buchstabe. Aus diesem Gesichtspunkte ist die kleine Schrift (die betreffende Abhandlung) geschrieben, und das ist eigentlich das Interesse, das darin verborgen liegt.«

Die Entdeckung ist also bedeutsam als ein Beweis für sein Streben, die Natur in ihrer Einheit zu erfassen. Sie war das Vorspiel für seine Entdeckung der Metamorphose der Pflanzen und der Entstehung des Schädels aus fortgebildeten Rückenwirbeln; alle drei ruhen auf derselben Art von Naturbetrachtung. Damals kam auch in seine botanischen Studien frischer Trieb. Linné's Schriften begleiteten ihn auf allen Excursionen, und mit Eifer machte er sich die Beobachtungen und Sammlungen anderer Kenner der Pflanzenwelt zu Nutzen, von gelehrten Professoren herab bis zu dem Gärtnerburschen Dietrich aus dem bekannten Ziegenhayn bei Jena, dessen »Spürsinn« und gute Laune bei allen Streifereien in Thüringen und in den böhmischen Gebirgen er noch in der Geschichte seiner botanischen Studien (ein halbes Jahrhundert später) dankend erwähnte. An Frau von Stein schrieb er im Sommer 1784: »Meine Felsen-Spekulationen gehen sehr gut. Ich sehe gar viel mehr als andre, die mich manchmal begleiten und auch auf diese Sachen aufmerksam sind, weil ich einige Grundgesetze der Bildung entdeckt habe, die ich als ein Geheimniß behalte und deswegen die Gegenstände leichter beurtheilen kann ... Jedermann beruft mich über meine Einsamkeit, sie ist jedermann ein Räthsel und niemand weiß, mit welcher köstlichen Unsichtbaren ich mich unterhalte.« Ein Zebra, welches er um dieselbe Zeit sah – ganz etwas Neues in dem damaligen Deutschland – gewährte ihm großen Genuß, und an einem Elephantenschädel, den ihm Sömmering aus Kassel zugeschickt hatte, fand er für seine Untersuchung »unschätzbaren« Stoff. Von diesen Naturstudien Goethe's haben stubenhockende Schriftsteller, deren Gedanken kaum jemals über den engen Kreis der schöngeistigen Literatur sich hinauswagen, halb mit Mitleid, halb mit Hohn als einer Zeitverschwendung gesprochen. Aber – Thiergeripp gegen Todtenbein! im Studium eines Elephantenschädels liegt eben so viel Poesie wie im Studium jener Gerippe der Vergangenheit, der Geschichte und der alten Sprachen. Auf den Sinn des Forschers kommt es an: in dem einen regen ein paar alte Knochen Gedanken über die großen organischen Naturprozesse auf, die an Tragweite und Erhabenheit denen nicht nachstehen, welche die Reste vergangener Zeiten in dem Geist eines Historikers aufrufen. Goethe seinerseits ließ sich durch die Ausstellungen seiner Bekannten nicht irre machen. Im Sommer 1786, kurz vor der italienischen Reise, schrieb er an die Stein: »Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich Dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabiren hat mir geholfen, jetzt rückt's aus einmal und meine stille Freude ist unaussprechlich. So viel Neues ich finde, find' ich doch nichts Unerwartetes, es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen. Wie sich das nun vermehren wird, daran denk ich mit Freuden.« Zur Beihülfe bei diesem Buchstabiren der Natur nahm er Stunden in der Algebra, aber sein Geist war so gänzlich unmathematisch, daß er es bald wieder aufgab.

Wissenschaft und Liebe waren in jener Zeit die Säulen seiner Existenz. Aus zahllosen Stellen seiner Briefe an die Stein, die das beweisen, seien hier einige besonders bedeutsame angeführt: »Meine Nähe zu Dir fühl' ich immer, Deine Gegenwart verläßt mich nie. Durch Dich habe ich einen Maasstab für alle Frauen, ja für alle Menschen, durch Deine Liebe einen Maasstab für alles Schicksal. Nicht daß sie mir die übrige Welt verdunkelt, sie macht mir vielmehr die übrige Welt recht klar, ich sehe recht deutlich wie die Menschen sind, was sie sinnen, wünschen, treiben und genießen, ich gönne jedem das seinige und freue mich heimlich in der Vergleichung, einen so unzerstörlichen Schatz zu besitzen« (17. Juni 1784). – »Ja liebe Lotte jetzt wird es mir erst deutlich wie Du meine eigene Hälfte bist und bleibst. Ich bin kein einzelnes selbständiges Wesen. Alle meine Schwächen habe ich an Dich angelehnt, meine weichen Seiten durch Dich beschützt, meine Lücken durch Dich ausgefüllt. Wenn ich nun entfernt von Dir bin, so wird mein Zustand höchst seltsam. Auf einer Seite bin ich gewaffnet und gestählt, auf der andern wie ein rohes Ei, weil ich da versäumt habe, mich zu harnischen, wo Du mir Schild und Schirm bist. Wie freu ich mich Dir ganz anzugehören. Alles lieb ich an Dir und alles macht mich Dich mehr lieben. Der Eifer wie Du Deine Haushaltung angreifst, vermehrt meine Neigung zu Dir. Was kannst Du thun, worinnen nicht Dein köstliches Wesen erscheine« (Juli 1784). Seiner Liebe sie zu versichern ist er unerschöpflich in den liebenswürdigsten Wendungen: »Du lieber Inbegriff aller meiner Freuden und Schmerzen«, »Du liebe Begleiterin aller meiner Gedanken«, den »Anker an dem sein Schifflein festhält«, nennt er sie; von ihr getrennt, ist er »krank vor Sehnsucht«; ja, seine Liebe, sagt er, sei schon nicht mehr eine Leidenschaft, sondern eine Krankheit, nur daß er davon nicht geheilt zu werden wünsche, und an einer Stelle spricht sich das Bewußtsein des gefährlichen Uebermaßes in den rührenden Worten aus: »Recht feierlich, liebe Lotte, möcht ich Dich bitten, vermehre nicht durch Dein süßes Betragen täglich meine Liebe zu Dir.« In einen Liebesfrühling, der im reichsten Blüthenschmucke prangt, lassen uns die Briefe jener Jahre blicken. Auch die bescheideneren Zugaben kleiner, an sich unbedeutender Zettelchen haben da ihren Werth, und grade in der Stetigkeit dieses täglichen Verkehrs mit seinem harmlosen »Guten Morgen mit Spargels«, seinen Erkundigungen wie die Liebste geschlafen, seinen Aufforderungen zum Spazierengehen, seinen Einladungen und Anmeldungen zum Essen, liegt ein ganz besonderer Reiz. Aus den poetischen Gedanken, die der Dichter wahrhaft verschwenderisch auf der Liebsten Pfade streut, könnten ganze Schaaren moderner Lyriker reiche Kränze winden; es fehlt manchen Einfällen und Wendungen eben nichts als die Versification, um sie zu den schönsten Gedichten zu machen. Auch erhebt sich der Schwung der Liebe wohl zu voller Poesie. Wie Goethe schon 1782 bei einer kurzen Trennung seiner Geliebten die herrlichen Verse zusandte, »Den Einzigen, Lida, welchen Du lieben kannst« u. s. w., wie er an sie die reizende Klage um eine gesprungene Lippe mit der Bitte um ein Tröpfchen von dem Balsam der Liebe geschrieben hatte, so richtet er auch jetzt (August 1784) von Braunschweig aus, wohin er mit dem Herzog reiste, einige Stanzen an sie, die für seine »Geheimnisse« bestimmt, ihm doch gestatteten, ihr »von seiner Liebe zu sprechen, ohne daß andere es verständen«. Eine davon wahrscheinlich ist die, welche er später unter seine Gedichte mit der Aufschrift »Für ewig« aufnahm; als Denkmal dieser glücklichen Tage verdient sie hier eine Stelle:

Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken
Von hohem Glück mit Götternamen nennt:
Die Harmonie der Treue, die kein Wanken,
Der Freundschaft, die nicht Zweifelsorge kennt,
Das Licht, das Weisen nur zu einsamen Gedanken,
Das Dichtern nur in schönen Bildern brennt –
Das hatt' ich all in meinen besten Stunden
In ihr entdeckt und es für mich gefunden.

Die liebe Begleiterin aller seiner Gedanken war auch bei seinen Naturstudien die stete Vertraute; auf Reisen freut er sich im voraus, ihr mündlich von neuen Ideen und erweiterten Kenntnissen sagen zu können, da sie ja für alles sich interessire; »auf Höhen und in Tiefen« schickt er ihr seine Gedanken zu, und so ist der Briefwechsel an sie zugleich ein fortlaufendes Zeugniß für die ununterbrochene Beschäftigung mit Anatomie, Mineralogie, Botanik, Geologie; bald schreibt er, wie er sich »auf gut bergmännisch wacker erlustigt« und wie ihn »der einfache Faden, den er sich gesponnen, durch alle unterirdische Labyrinthe gar schön durchführe;« aus Ilmenau schickte er Moos und Schwämme als Proben der Vegetation, mit der er sich beschäftige; in Jena bei Loder geräth er so tief in die Studien, daß er sich einen »aparten Kopf für die Wissenschaften« wünscht; dann »rast einmal wieder das Pflanzenreich in seinem Gemüthe« und »das ungeheure Reich simplificirt sich ihm in der Seele,« daß er »bald die schwerste Aufgabe gleich weglesen kann.« Ueberall tritt ihm zu seinem Entzücken die Natur in ihrer Einheit entgegen. »Wenn ich nur jemanden den Blick und die Freude mittheilen könnte, es ist aber nicht möglich. Und es ist kein Traum, keine Phantasie: es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt. Hätte ich Zeit in dem kurzen Lebensraum, so getraute ich mich es auf alle Reiche der Natur – auf ihr ganzes Reich – auszudehnen.«

Von diesen Einblicken in das Gemüths- und Geistesleben des Dichters wenden wir uns zu seiner äußeren Stellung zurück.

Im Jahre 1785 erhöhte der Herzog seinen Gehalt um 200 Thaler, so daß nunmehr mit den 1800 Thalern aus der Erbschaft von seinem Vater sein jährliches Einkommen 3200 Thaler betrug. Er konnte das gebrauchen; seine Studien und seine Wohlthätigkeit erforderten viel Geld. Die Großmuth, die er an jenem Kraft bewiesen, kam auch andern noch zu gut: »Ich bitte Gott (schreibt er an die Stein), daß er mich täglich haushälterischer werden lasse, um freigebig sein zu können, es sei mit Geld oder Gut, Leben oder Tod«, und der Leser weiß schon, daß das kein hohles Wort ist. Andere leiden zu sehen, machte ihn mit leiden; das Elend der unteren Klassen ging ihm tief zu Herzen. »Die Welt ist eng und nicht jeder Boden trägt jeden Baum, der Menschen Wesen ist kümmerlich, und man ist beschämt, wie man vor so vielen Tausenden begünstigt ist. Man hört immer sagen, wie arm ein Land ist und ärmer wird, theils denkt man es sich nicht richtig, theils schlägt man es sich aus dem Sinn; wenn man dann einmal die Sache mit offenen Augen steht, und sieht das unheilbare, und wie doch immer gepfuscht wird!!« Daß er alles aufbot, um die Lage des Volkes verbessern zu helfen, und kleinere Uebel im Einzelnen aus eigenen Mitteln zu lindern suchte, ist nach dem übereinstimmenden Zeugniß aller derer, die von seinem Thun und Treiben wußten, unbestreitbar. Wenn er also keine Freiheitslieder schrieb und für das Vaterland sich nicht grade enthusiasmirte, so ist die Ursache davon eher in allem andern zu suchen, als darin, daß er kein Herz gehabt hätte.

Die Stille und der Ernst seiner Lebensweise scheint den Ton der Gesellschaft in Weimar etwas herabgestimmt zu haben. Zu Hofe kam er nur selten, und da seine Einfälle den Hofzirkel nicht mehr belebten, so beklagte sich die Herzogin Amalie, sie schliefen alle, und auch Karl August fand die Gesellschaft schaal; die Männer seien über die Jugend weg und die Frauen hätten sich meistens verheiratet. Der Herzog selbst wandelte sich unter dem Einflusse seines Lieblings mälig um; Goethe führte ihn auf ruhigere Pfade und verstand es sogar, ihn in naturwissenschaftliche Studien hineinzuziehen; man erkennt des Dichters Geist, wenn der Fürst an Knebel schreibt: »Die Naturwissenschaft ist so menschlich, so wahr, daß ich Jedem Glück wünsche, der sich ihr auch nur etwas ergiebt; sie lehrt so bündig, daß das Größte, das Geheimnißvollste, das Zauberhafteste so ordentlich einfach, öffentlich, unmagisch zugeht; sie muß doch endlich die armen unwissenden Menschen von dem Durst nach dem dunklen Außerordentlichen heilen, da sie ihnen zeigt, daß das Außerordentliche ihnen so nahe, so deutlich, so unaußerordentlich, so bestimmt wahr ist. Ich bitte täglich meinen guten Genius, daß er auch mich von aller andern Art von Bemerken und Lernen abhalte und mich immer auf dem ruhigen bestimmten Wege leite, den uns der Naturforscher so natürlich vorschreibt.« Auch Herder, wie bereits erwähnt, theilte diese Studien und trat Goethen immer näher. Sein alter Freund Jacobi dagegen, der ihn damals in Weimar besuchte, schied nur mit bekümmertem Herzen von ihm. In den Streit über Lessing's Spinozismus, in den er grade verwickelt war, wollte er auch Goethen hineinziehen; der erwiderte ihm aber sehr charakteristisch: »Ehe ich eine Silbe Metaphysik schreibe, muß ich nothwendig die Physik besser absolvirt haben.« Alle literarische Händel widerstrebten seiner Natur so sehr, daß, wie er sagte, »Raphael ihm einen malen und Shakespeare ihn dramatisiren könnte und er würde sich kaum daran ergötzen.« Und sicher war Jacobi's Art von Polemik nicht danach angethan, diese Abneigung zu beseitigen. Goethe tadelte seine Form nicht weniger als seine Ansichten. »Wenn (schrieb er ihm) Selbstgefühl sich in Verachtung Anderer, auch der Geringsten ausläßt, muß es widrig ausfallen. Ein leichtsinniger Mensch darf andere zum besten haben, erniedrigen, wegwerfen, weil er sich selbst einmal Preis giebt. Wer auf sich etwas hält, scheint dem Rechte entsagt zu haben, andere gering zu schätzen. Und was sind wir denn alle, daß wir uns viel erheben dürfen.« Jacobi's metaphysischen Tick sah er als eine Ausgleichung für sonstigen reichen Himmelssegen an. »An Dir ist viel zu beneiden, Haus, Hof und Pempelfort, Reichthum und Kinder, Schwestern und Freunde und ein langes u. s. w. Dagegen hat Dich aber auch ein Gott mit der Metaphysik gestraft und Dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik gesegnet, damit mir es im Anschauen seiner Werke wohl werde.« Das Folgende ist recht charakteristisch: »Wenn Du sagst, man könne an Gott nur glauben, so sage ich Dir: ich halte viel aufs schauen, und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva schreibt und sagt: »Diese Erkenntnißart (die intuitive) erhebt sich von der übereinstimmenden Denkvorstellung des begrifflichen Wesens gewisser Attribute Gottes zur übereinstimmenden Erkenntniß der Dinge,« so geben mir diese wenigen Worte Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die ich reichen und von denen ich mir eine adäquate Idee bilden kann, ohne mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen kann und was mir zugeschnitten ist.« Ueber Spinoza's angeblichen Atheismus war er, und mit Recht, anderer Ansicht als Jacobi und die Seinigen; wenn diese ihn einen Atheisten ( atheum) schalten, so nannte und pries er ihn vielmehr » theissimum und christianissimum«, den theistischsten und christlichsten.

Trotz dieser Meinungsverschiedenheit blieb er indeß mit Jakobi in teilnehmender Freundschaft verbunden. Mit Lavater kam es zu einem tieferen Bruche. Sie waren eng vertraut mit einander gewesen; keine Meinungsverschiedenheit hatte ihre Freundschaft gestört, bis endlich der Pfaff in Lavater auf das widerwärtigste durchbrach. Nun umwölkte ihm Aberglauben den Verstand; er warf sich zum Propheten auf. Mit kindischer Leichtgläubigkeit ließ er sich von Cagliostro und seinen Wundern täuschen. »O daß er einfältig und demüthig wäre wie ein Kind, daß er Sinn hätte für die Einfalt des Evangeliums und für die Hoheit des Herrn! wer wäre größer als er!« – als er, dieser Erzbetrüger! Ja, er besuchte ihn in Straßburg, wurde aber natürlich mit seinem Bekehrungsversuche abgewiesen. Goethe, »kein Widerchrist, kein Unchrist, aber ein decidirter Nichtchrist,« wie er sich selbst nannte, fing an, gegen Lavaters Christologie sich zu empören; seiner Uebertragung der Fülle des Göttlichen auf ein Individuum setzte er seinen und seiner Freunde Humanismus entgegen, » die wir uns einer jeden durch Menschen und dem Menschen offenbarten Weisheit zu Schülern hingeben und als Söhne Gottes ihn in uns selbst und allen seinen Kindern anbeten,« und da jener seinen Glauben wiederholt predige, so, fährt er fort, »finde auch ich es nöthig, dir auch den unsern als einen ehernen bestehenden Fels der Menschheit wiederholt zu zeigen, den du und deine ganze Christenheit mit den Wogen eures Meeres vielleicht einmal übersprudeln, aber weder überströmen noch in seinen Tiefen erschüttern kann.« Dieser Gegensatz der Ansichten übertrug sich bald auf das Sittliche und Persönliche. Lavater's Ich war mit seiner Lehre völlig verwachsen, er selbst war der Mittelpunkt seines Prophetenthums; pfäffische Herrschsucht mit allen ihren Künsten war nun in ihm personifizirt. Wenn irgend was, so widerstand das Goethe's Natur; gegen jeden »Geruch von Prätension wüthete« sein Gefühl; die »größten Menschen die er gekannt und die Himmel und Erde vor ihrem Blick frei hatten, seien demüthig gewesen,« äußerte er 1781 gegen Lavater selbst. Nun, als dessen Inneres sich immer schärfer enthüllte, schrieb er an die Stein: »Wenn ein großer Mensch ein dunkel Eck hat, dann ist's recht dunkel ... In meinen Augen knüpft sich bei Lavater der höchste Menschenverstand und der grasseste Aberglaube durch das feinste und unauflöslichste Band zusammen.« Rasch vollzog sich die Scheidung; bei einem Besuche, den Lavater im Sommer 1786 in Weimar machte, ließ ihn Goethe zwar noch bei sich wohnen, aber gleich nach seiner Abreise schrieb er der mehr als zwanzigjährigen Freundschaft den Scheidebrief für immer, mit den kurzen, an die Stein gerichteten Worten: »Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter uns gewechselt worden, und ich bin Haß und Liebe auf ewig los; ich habe unter seine Existenz einen großen Strich gemacht.« Als das Strafgericht der Xenien erging, erhielt Lavater sein gut Theil; Schiller traf ihn mit dem bekannten Vers:

Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen
Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein. –

und Goethe noch deutlicher in dem Epigramme »der Prophet«:

Schade daß die Natur nur einen Menschen aus dir schuf!
Denn zum würdigen Mann war und zum Schelmen der Stoff.

Auch im Faust (Walpurgisnachtstraum, Intermezzo) ist der »Kranich« (In dem Klaren möcht ich gern und auch im Trüben fischen) auf Lavater, der den Gang eines Kranich hatte, gemünzt, und selbst nach dessen Tode (1801) konnte sich Goethe nicht entschließen, diese Verse zu unterdrücken.

Unter all den naturwissenschaftlichen Studien und den theologisch-philosophischen Controversen behauptete die Poesie, so sehr sie vergessen zu sein scheint, doch ihr Recht: Wilhelm Meister rückte bis zum Ende des fünften Buches vor, das Singspiel »Scherz, List und Rache« wurde gedichtet, das große religiös-wissenschaftliche Gedicht »die Geheimnisse« wurde entworfen, die beiden Akte des Fragments Elpenor geschrieben, daneben entstanden auch manche kleinere Gedichte. Darunter sind die beiden im Wilhelm Meister »Kennst Du das Land?« und »Nur wer die Sehnsucht kennt« hervorzuheben, tief empfundene Ausdrücke seiner Sehnsucht nach Italien, wohin er zu reisen sich damals im Stillen vorbereitete. Er trieb Italienisch und unterzog zum Behuf einer neuen Ausgabe seine Schriften mit Herders und Wielands Hülfe einer genauen Durchsicht.

Glücklich in Liebe, Freundschaft, Thätigkeit, durch das Zusammenwohnen mit dem jungen Fritz Stein zum ersten Male im Besitz einer Art Häuslichkeit, von Jahr zu Jahr wachsend an Klarheit seiner geistigen Existenz – da fragen wir wohl mit Recht, was doch trieb ihn so mächtig hinweg aus diesem behaglichen Kreise einsam über die Alpen? Nicht blos ein innerer Drang, wie man bisher ziemlich allgemein annahm. Wohl war Italien der Traum seiner Jugend gewesen; Italien war das Land, wo seine Kultur reichen Stoff und feste Grundlage finden sollte. Daß er zum Dichter geboren sei, erkannte er mit voller Klarheit, und um Dichter zu sein, dazu schien ihm nichts zu fehlen als Einsamkeit im Lande des Gesanges. Aber daß er überhaupt auf längere Zeit von Weimar sich löste, dazu hatte er noch andere Gründe. Er wollte damit – das fühlt sich durch – sein Verhältniß zu Frau von Stein, welches doch den Abschluß einer Ehe nicht finden konnte, aus der Leidenschaft hinüberleiten in ruhigeres Empfinden, und vor allem, er löste und erlöste sich damit aus einer amtlichen Stellung, deren Vielgeschäftigkeit ihn jetzt eben so schwer drückte, wie er sich früher »einen Theil des Reichs nach dem andern« leicht hatte aufbürden lassen. Die Briefe an Karl August beweisen deutlich, wie sorgfältig er alles darauf vorbereitet hatte, entbehrlich zu werden, und mit welcher Pflichttreue zugleich er im Voraus die Ersatzmänner so gewählt und die Arbeit so vertheilt hatte, daß eins in das andere sich fügte, daß alles im besten Zuge blieb und bei seiner Rückkehr, die er dann weiter und weiter hinausschob, so im Zuge war, um für ihn selbst keinen Platz mehr zu bieten. Gleich der erste Brief nach seiner Abreise, den wir weiter unten mittheilen, läßt das durchblicken; die folgenden gehen noch klarer und genauer in's Einzelne; wie sein Wunsch, unter verständig freundlichem Entgegenkommen des Herzogs, noch während der Reise in Erfüllung ging, werden wir später sehen. Hier nur noch das bezeichnende Wort (aus Rom, 27. Mai 1787), er möchte »weniger von Detail überhäuft« werden, zu dem er »nicht geboren« sei.

Im Juli 1786 begleitete er den Herzog, Herder und die Frau von Stein nach Karlsbad; seine Schriften nahm er zur Durchsicht mit. Schon der Anblick dieser Schriften muß seinen Entschluß befestigt haben. Sobald Herder und die Stein wieder abgereist waren, traf er die letzten Vorbereitungen. Sorgfältig hatte er seinen Plan vor jedermann verborgen, selbst vor Frau von Stein und, so weit es ging, sogar vor dem Herzog. An jene giebt er am 23. August aus Karlsbad nur die mysteriöse Andeutung: »Noch eine Woche muß ich bleiben, dann wird aber auch alles so sanfte endigen und die Früchte reif abfallen. Und dann werde ich in der freien Welt mit Dir leben und in glücklicher Einsamkeit ohne Namen und Stand der Erde näher kommen, aus der wir genommen sind.« Dem Herzog, von dem er Urlaub haben mußte, hatte er nur so viel mitgetheilt, daß er auf längere Zeit verreise, aber nicht wohin. Die Briefe beweisen das. »Verzeihen Sie (schreibt er am 2. September nach Karlsbad), daß ich beim Abschiede von meinem Reisen und Ausbleiben nur unbestimmt sprach; selbst jetzt weiß ich noch nicht, was aus mir werden soll. Sie sind glücklich, Sie gehen einer gewünschten und gewählten Bestimmung entgegen. Ihre häuslichen Angelegenheiten sind in guter Ordnung, auf gutem Wege und ich weiß, Sie erlauben mir auch, daß ich nun an mich denke, ja Sie haben mich selbst oft dazu aufgefordert. Im Allgemeinen bin ich in diesem Augenblick gewiß entbehrlich und was die besondern Geschäfte betrifft, die mir aufgetragen sind, diese hab ich so gestellt, daß sie eine Zeitlang bequem ohne mich fortgehen können; so bitte ich Sie nur um einen unbestimmten Urlaub. Ich hoffe auch für die Elastizität meines Geistes das Beste, wenn er eine Zeitlang sich selbst gelassen, der freien Welt genießen kann. Diese Umstände dringen und zwingen mich, in Gegenden der Welt mich zu verlieren, wo ich ganz unbekannt bin. Ich gehe ganz allein unter einem fremden Namen und hoffe von dieser etwas sonderbar scheinenden Unternehmung das Beste. Nur bitt ich lassen Sie niemanden nichts merken, daß ich ausbleibe. Alle, die mir mit- und untergeordnet sind, oder sonst mit mir in Verhältniß stehen, erwarten mich von Woche zu Woche ... Leben Sie wohl, das wünsch ich herzlich, behalten Sie mich lieb und glauben Sie: daß, wenn ich wünsche, meine Existenz ganzer zu machen, ich dabei nur hoffe, sie mit Ihnen und in dem Ihrigen besser als bisher zu genießen.«

Am folgenden Tage (3. September 1786) verließ er Karlsbad ganz still und incognito. In dem nächsten Briefe an Karl August schreibt er: »Noch ein freundliches, frohes Wort aus der Ferne, ohne Ort und Zeit. Bald darf ich den Mund öffnen und sagen, wie wohl mir's geht. Wie wird mich's freuen, auch wieder ein Wort von Ihnen zu sehen,« und am Schluß: »Es versteht sich, daß man glaubt, Sie wissen, wo ich sei.« Sogar noch im folgenden Briefe setzt er das Versteckspiel fort: »Wo ich bin, verschweige ich noch eine kleine Zeit;« ja, er bereitet den Herzog auf ein weiteres Geheimnissen vor: »Es wäre möglich, daß der Fall käme, da ich Sie unter fremdem Namen etwas zu bitten hätte. Erhalten Sie einen Brief von meiner Hand, auch mit fremder Unterschrift, so gewähren Sie die Bitte, die er enthält.«



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