Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Sechstes Kapitel. Kyffhäuser.

Die Erkenntnis schwerer Sünde kann einen Menschen aufrütteln, wenn sie ihm bewußt wird, so daß ihn gleichsam ein Fieber erfaßt, das zur Genesung führen kann. Es ist für den Betroffenen wie ein Peitschenhieb, der ihn aus dumpfem Trott emporscheucht, so daß er pferdegleich die Landstraße dahinrast und in einen außergewöhnlichen Schwung kommt. Ein solcher Peitschenschlag oder ein solches Fieber war für Gangolf der Abend mit Ulrich.

Sobald dann der aufgepeitschte Mensch, der durch Sünde gezeichnet ist, den Mut nicht verliert und in den Bildern seines aufgewirbelten Gehirns dem Glauben an das Edlere Treue gelobt, so kann er gerettet und dem tüchtigen Leben wiedergewonnen werden. Am Goldseil des Mutes zum Edlen klettert er wieder aus dem Abgrund, in den er gefallen ist. Die Wirbel des Fiebers treiben zur Genesung.

Ulrich hatte den Fortgang des nächtlichen Gespräches ganz anders erwartet. Er hatte als selbstverständlich angenommen, daß ihn der Kandidat Gangolf am anderen Vormittag besuchen, mit vielen faulen Witzen über seine Katerstimmung klagen und unter Spott und Gelächter die gestrige Unterhaltung obenhin streifen würde, um ihn dann zum Frühschoppen einzuladen. Bei näherem Überlegen mußte sich ja der Leichtfuß Gangolf sagen, daß die Drohung mit der Reitpeitsche wohl noch gute Weile haben werde, daß sie zu Dorotheas vornehmer, obwohl zornfähiger Art und Gestalt gar nicht passe, daß sie sich niemals zu Roheiten hinreißen ließe. Aber die Nacht mit ihren Vergrößerungen und geradezu dämonischen Zerrbildern hatte ihn übermäßig erschüttert.

Der Tag verging. Auf den Straßen der kleinen Stadt kamen und gingen Studenten, das Kleinleben des Alltags entfaltete sich wie immer – und Gangolf blieb unsichtbar. Und abermals einen Tag darauf mußte Ulrich feststellen, daß sein studentischer Freund aus der Stadt verschwunden sei.

So war es in der Tat. Gangolf hatte fast fluchtartig in einem eigentümlichen Anfall die Stadt verlassen. Es war nicht etwa körperliche Furcht, daß die stolze Dorothea persönlich auftauchen und ihn züchtigen könnte; es war überhaupt keine Furcht. Das Grundgefühl des starken und vollblütigen Menschen war eine jähe Verachtung seiner selbst. »Ich will nicht mehr,« sagte er immer wieder vor sich hin, während er seine paar Sachen packte, »ich will nicht mehr.« Es war eine Art Entschlossenheit, ein Mut auf Leben und Tod, eine fast wilde Genialität. »Schluß damit! Es muß irgendwo neue Länder geben, neue Möglichkeit! Von vorn anfangen! Fort an einen neuen Strand! Schiffe hinter mir verbrennen! Nichts von Rückkehr ins Alte!« So knirschte er vor sich hin. Die notwendigsten Sachen wurden in ein Ränzel gestopft, wie es damals marschierende Studenten oder reisende Handwerksburschen trugen; ein Mantel, ein fester Knotenstock vervollständigten die Ausrüstung. Ihm schwebte nur ganz allgemein vor, daß er in Hamburg einen nahen Verwandten hatte. Und gestiefelt schritt er in der Frühe des zweiten Tages durchs Tor, um sich nach Norden zu wenden. Das war so rasch getan, wie gedacht. Mit einem schroffen Rucke brach er mit seinem ganzen bisherigen Leben.

Im Hintergrunde hinter all diesen Entschlüssen stand aber allbeherrschend Dorothea mit zornstrengem Gesicht, die erhobene Reitpeitsche in der Hand; und neben ihr sah weinend die gutmütige Babette. In Wahrheit freilich hatte sich dieser Entschluß langsam aus der Tiefe emporgearbeitet und hatte in der gestrigen Nacht jählings die Knospe gesprengt. »Fort in die weite Welt! Fort aus dumpfen Verhältnissen. Schluß mit dem Genuß!« So sprach er vor sich hin. Die letzte Wendung prägte sich ihm derart ein, daß sie ihm zur mechanischen Marschmelodie wurde, die er wie einen Kehrreim immerzu wiederholte, während sein Gehirn summte: »Schluß mit dem Genuß! Schluß mit dem Genuß!«

Diese antreibende Grundstimmung hielt den ganzen Tag vor. Er marschierte unter anfangs bedecktem Himmel nordwärts, übernachtete bei irgendeinem Bauern in einer Scheune, wenn er gerade keinen Gasthof traf, und setzte am nächsten Tage seinen Weg fort.

Als er in waldiges Bergland kam, brach die Sonne durch. Den Wanderer, den es in dunklem Drange vorwärts trieb, umleuchteten herbstliche Wälder und merkwürdige Bergformen. Er hatte wenig Blick für die Umwelt. Da oder dort rastete er an einem Weidenbächlein und verzehrte sein Brot. Die letzten Nachwehen des Rausches verflogen; aber das innere Fieber blieb. Er erfuhr von Vorübergehenden, daß er in der Gegend des Kyffhäuser sei.

Wohnte hier nicht in den Tiefen einer Gebirgshöhle der alte deutsche Hohenstaufenkaiser Barbaras? Und mit dem Rotbart die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit? Dem Wanderer fielen Ulrichs Worte ein: erhebt dich nicht der große Name Vaterland? Gewiß, dieser Name mit all der Weihe, die ihm innewohnt, war ihm nicht unbekannt. Hatte er sich nicht in den letzten Napoleon-Schlachten eine Wunde geholt, die ihn monatelang ans Lazarett fesselte? Ja, ihm war der große Name Vaterland nicht fremd. Flogen hier nicht um den Berg die Raben, die dem Kaiser krächzend melden sollten, wann es Zeit sei, wieder aus den deutschen Tiefen aufzutauchen? Himmel, wenn der Barbarossa wieder mit Roß und Reisigen, in schimmerndem Panzer und purpurrotem Mantel emporstiege, um Deutschland aufs neue zu einigen!

Denn hier war die ganze Gegend geladen mit großen Erinnerungen. Hier, oder weiter westwärts, hatten sich da nicht irgendwo die germanischen Heerhaufen gesammelt, um die Römer zu schlagen? Hatten sich hier nicht die Sachsen unter Widukind gegen den Franken Karl geballt? Gangolfs geographische Kenntnisse waren zu unbestimmt, um Einzelnes festzuhalten. Ihn durchwogte nur ein großer Eindruck.

Es waren die Nachwehen der Gedanken, die Ulrich in jener Nacht ihm eingehämmert hatte, als Germania Dorothea stolz und streng daneben stand. Einheit aller Stände und Stämme Deutschlands! Das war es, wovon schon Arndt und andere Seher gesungen hatten. War dieser große Gedanke nicht des Schweißes der Edlen wert?

Gangolfs unaufhaltsam arbeitendes Nervensystem wurde jählings von der Gewalt dieser Barbarossa-Vorstellung ergriffen. Hier irgendwo steckte das Geheimnis der Burschenschaftsbewegung. Riemann! Es war ein magisches Vorhaben, was diese Burschen planten: sie wollten den Hohenstaufenkaiser aus den Gewölben des Kyffhäusers wieder auf die Erde zaubern. Sie waren Schatzgräber, sie waren Goldsucher. In den Tiefen steckt das deutsche Gold. Erwache, Barbarossa! Wir beschwören dich, Staufenkaiser! Komm heraus und stelle des Reiches Herrlichkeit wieder her!

Es durchschauerte den Studenten, als ihn diese Gesichte durchrannen. Hier war ein Gelände der Magie. Die Wunschgedanken von vielen Tausenden guter deutscher Männer schwebten um dieses verwunschene Gebiet. Der Einsame, der aus dem studentischen Treiben der lauten Universität in diese Waldstille geraten war, fühlte sich von Gesichten umwogt und vom Fieber einer höheren Schau beflügelt.

Und als sich am Rande des Waldweges, in den er abgeirrt war, eine Höhle öffnete, sah sich sein Geist in der Barbarossa-Höhle. Schon nahte die Dämmerung. Es war die Zeit der Geister und ihrer Beschwörung. Er trat in die Höhle ein und blieb ermattet stehen.

Auch am Hörselberg gab es, wie man munkelte, eine seltsame Höhle. Dort reitet manchmal in Sturmnächten das wilde Heer hinaus, den weißbärtigen Mahner Eckart an der Spitze, der vor der Buhlerin Frau Venus oder Frau Holde warnt. Nicht buhlen oder faulen da drin im Zauberberg! Hinaus, ihr Ritter, in den Sturm, in die Jagd, in die Schlacht! Das war Männerwerk. Gleich wird auch hier in der Einsamkeit ein Eckart oder ein Barbarossa auftauchen und den Buhler und Zecher zur Rede stellen. Er war einige Schritte in die Höhle hineingegangen und starrte in die Finsternis...

»Wo bist du, Barbarossa?« rief er plötzlich laut und dröhnend in die Nacht der Höhle. Es hallte gewaltig; sie war vielleicht noch recht tief. Mehrfacher Widerhall scholl zurück. Und da – waren es Gangolfs zerrüttete Nerven? War es Wirklichkeit? Eine mächtige Baßstimme scholl aus dem Inneren: »Was willst du da?«

Gangolf prallte zurück und begann zu zittern. Was war das? Wer rief da? Er stemmte sich fest auf den Stock und starrte mit aufgerissenem Mund in das Dunkel. Was antworten? Konnte er denn irgend etwas antworten? Wollte er überhaupt etwas hier? Er war ja ein völlig leerer, belangloser Lebemensch l Wie kam er denn dazu in seinem stümperhaft erbärmlichen Nichts, fast ausgepeitscht von der edlen Dorothea, Geister zu berufen – und gar den mächtigen Geist des Kaisers Barbarossa?

»Was willst du da?« scholl es abermals aus der Höhle. Die Stimme war donnernd und drohend. Der Hall brach sich mehrmals, ehe er wieder entschlief. Und Gangolf, erschüttert von der Gewalt dieser Stimme, machte in rasender Angst kehrt und sprang in die sinkende Nacht hinaus – verjagt auch hier, aus dem kaiserlichen Revier ebenso als unnütz verworfen wie aus den Kneipen und Hörsälen der Universitätsstadt.

Kein Zweifel: dies war die Kyffhäuser-Höhle, wo Barbarossa hauste! Er hatte irgendwo in der Nähe Burgtrümmer gesehen. Hier war der Zauber der Sage nachwirkend. Hier war Spuk am Werke. Fort von hier! Wage dich nicht in so heilige Bezirke, du Schuft! Fort in irgendein Dorf oder Forsthaus oder wo sonst lebendige Menschen sind! Nur hinweg aus diesem Zauberland! Du bist nicht reif, einem Barbarossa Rede zu stehen. Fort in die weite Welt! Mache dich dieser großen Gestalten erst würdig!


In jenen Tagen trafen im Landhaus bei Eisenach zwei sonderbare Sendungen ein.

Die erste war ein Gruß an den Vater. Sie enthielt einen kleinen Tannenzweig mit einigen Zeilen des Bibliothekars. »Hier einen Tannengruß vom Kyffhäuser! Wir warten alle auf des Reiches Einigkeit und Herrlichkeit. Auf einem stillen Ausflug in dieses sagendurchwirkte Gelände habe ich diesen großen Gedanken nachgesonnen und dabei auch an Sie gedacht, verehrter Mann, der gleichfalls ein Wartender ist. Wolfgang Petersen.«

Die zweite Sendung brachte fünfzig Taler und die merkwürdigen Worte: »Vor der Fahrt ins bessere Leben hochachtungsvollen Abschiedsgruß! Mit tiefem Bedauern ob der Verspätung hier meine unverzeihliche Schuld zurück. Arthur Gangolf.«

Das gab in dem eintönigen Tageslaufe des Landhauses ein ganz gewaltiges Aufsehen. Woher denn plötzlich diese Summe? Was war da vorgefallen oder vorangegangen? Was heißt das: »Vor der Fahrt ins bessere Leben«? Meint er das Jenseits – und war dies eine Todesanzeige?

Eltern und Tochter ergingen sich in Vermutungen. Das klang ja, als ob ein Selbstmörder vor der Ausführung seines düsteren Entschlusses einen letzten Gruß sende!

Nach vielem Hin- und Herreden rief Dorothea in ihrer impulsiven Art: »Vater, ich hab' einen Einfall! Weißt du was? Wir geben dieses Geld, das wir schon für verloren hielten, an Babette! Ich bring' es ihr morgen selber in ihr Dorf. Es kommt von Gangolf. Sie braucht es für ihr Kind. Findest du den Gedanken nicht reizend, Mutter?«

»Reizend. Dorchen! Tu' das!«


An demselben Abend noch, in die beginnende mondhelle Nacht weiterwandernd, kam Gangolf an ein Bauernhaus. Er spähte durch die Ritzen der Fensterläden und erkannte ein alltägliches, doch für ihn seltsam bedeutungsvolles Bild. Eine junge Bäuerin saß auf der Ofenbank und nährte ihr Kind an der Brust. Der Vater stand daneben und spielte mit dem Kleinen, der lächelnd bald zum Vater aufsah, bald wieder mit übereifriger Hast den weißen Busen der Mutter suchte, die mit dem Ausdruck unendlichen Glückes auf ihr Kunstwerk niedersah. Das war in aller Einfachheit ein unsagbar liebliches Bild, dem nicht der leiseste Beigeschmack der Lüsternheit beigemengt war. Hier herrschte nur das natürliche Vollbehagen erfüllter Mutterpflicht, die zugleich Mutterglück war.

Gangolf stand stumm am Fenster, aus dem der Lichtstrahl dieses freundliche Bild heraussandte. Es war wie ein Gruß aus dem Lande der Liebe. Heiligt nicht die ganze Christenheit in der Weihnachtsgeschichte das Glück der Mutter und die Unschuld des Kindes? Hier war das Werk dieser einfachen Leute, das Werk, das aus dem schöpferischen Liebesdrang entstanden war. Ihr Kind war ihr Werk, ihres Kindes Nahrung und Pflege, und das darum hergebaute und sorgsam in Stand gehaltene Nest: Haus und Hof, Küche und Keller. Die Sinnlichkeit war nur eine Begleiterscheinung des Werkes, aber nicht der Zweck. Im Gesicht der Frau war nichts davon, sondern nur eine rührende Züchtigkeit, eine liebevolle in sich versunkene Hingabe an das Kind, an diese gemeinsame Schöpfung der Eltern.

Der wandernde Student entfernte sich auf den Zehen von seinem Lauscherposten und schritt weiter, bis er spät ein Dorfwirtshaus fand. Der Vorfall, der so belanglos schien, wurde ihm unendlich bedeutsam, Hier war das Reich reiner Menschlichkeit, das Reich des verklärten Schaffens. Diese abendlich ausruhenden Menschen hatten ein gemeinsames Glück, weil sie ein gemeinsames Werk hatten. Vaterschaft! Mutterglück! ...

Die Bäuerin, die hier ihren weiblichen Beruf erfüllte, hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Babette. Oder glich sie durch ihr dunkleres Haar der freilich anders gearteten, schlanken Dorothea?

Der Himmel hatte sich vollends entwölkt; und viele Sterne wurden sichtbar.


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