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Fünftes Kapitel.
Dina erhält eine Erzieherin

Da Dina sich nicht mehr im Hof und Stall umhertreiben durfte, schloß sie um so engere Freundschaft mit Attila. Der große, zottige Jagdhund trollte bald als ihr steter Begleiter getreulichst hinter ihr her auf ihren Streifzügen durch Haus und Park. In den Wald konnte Dina ihn nicht mitnehmen, da er dann alle Hasen und Rehe aufscheuchte. Aber wenn er zu Haus bleiben sollte, mußte er jedesmal an die Kette gelegt werden, sonst lief er hinterher.

Am Morgen hatte die Frau Konsul im Haushalt zu thun, da konnte sich Dina nach Herzenslust austoben, nachmittags aber befreite sie nichts von ihrem Strickzeug. Gegen Abend wurde meist ein Spaziergang oder eine Bootsfahrt gemacht, wenn das Wetter warm genug war.

So vergingen Dina die Tage schnell bis zum Sonntag, an dem Doktor Reinhart wiederkommen sollte. Dina stand erwartungsvoll an ihrem Erkerfenster, um Ausschau zu halten und ja nicht den Moment zu verpassen, wo ihr geliebter Onkel Doktor anlangte. Diesmal hatte der Konsul seinen Wagen nach der Station geschickt um den Freund abzuholen, und Dina stieß einen Jubelruf aus, als sie die beiden ungarischen Füchse mit dem leichten Jagdwagen jetzt durch das Portal einbiegen sah. Ja, sie nahm sich nicht die Zeit, etwa erst die großen, weiten Treppen herabzulaufen, sondern eins, zwei, drei war sie mit einem Satz aus dem Fenster heraus. Von dem Fensterbrett sprang sie in die Zweige der großen, alten Platane, die ihre Äste am Hause nach allen Seiten weit ausreckte, und wie eine Katze glitt sie an dem glatten Stamme herab.

»Onkel Doktor, Onkel Doktor, bist Du da!« Völlig außer Atem hing sie an seinem Halse, strahlend vor Freude, ihren alten Freund wiederzusehen, mit dem sich ihre letzten Heimatserinnerungen von Capri verbanden und ihn ihr darum doppelt lieb und wert erscheinen ließen.

Mit dem Doktor zusammen stieg indessen noch eine Dame aus dem Wagen, die Dina unbekannt war. Sie war groß und mager, sehr einfach, aber sauber gekleidet und trug eine Tasche am Arm. Ihre Haare waren glatt gescheitelt, der Mund streng und energisch und auf der Nase hatte sie eine große Brille.

»Das ist Deine neue Gouvernante, Dina«, meinte der Onkel und zu der Dame gewandt fuhr er fort: »Dies wird Ihr Zögling, Fräulein Sauer.«

Dina sah die neue Gouvernante befremdet an, sie konnte sich zwar nichts rechtes unter dem Titel denken, hatte aber die unbestimmte Empfindung, daß sie lieber keine Gouvernante hätte.

Die Tante indessen begrüßte Fräulein Sauer recht herzlich.

»Liebes Fräulein«, sprach sie, »Sie sind mir so warm von meiner Freundin, der Frau Schulrat Haase, empfohlen, daß ich Sie herzlich willkommen heiße in meinem Hause. Ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird unser Pflegekind, deren Unterricht bisher sehr lückenhaft und ungleichmäßig betrieben ist recht gründlich für die Schule vorzubereiten. Wir gedenken sie für den Oktober dort anzumelden, und es wäre mir lieb, wenn Sie in den Sommermonaten, die bis dahin vor uns liegen, Bernhardine so weit brächten, daß sie für die zweite Klasse reif wäre.«

Fräulein Sauer erwiderte darauf: »Es wird mein redliches Bestreben sein, mir die Zufriedenheit der Frau Konsul zu erwerben.«

Dina hörte noch, wie die Tante sagte: »Nettchen, führen Sie das Fräulein in ihr Zimmer.« Dann zog sie den Doktor mit sich fort.

»Du, Onkel Doktor«, meinte sie, als sie außer Hörweite waren. soll die mit der großen Hakennase und der riesigen Brille bei uns wohnen?«

»Aber Dina«, meinte der Doktor, »sprich mal nicht so respektswidrig von Deiner neuen Gouvernante. Es scheint eine sehr tüchtige und gelehrte Dame zu sein.«

»Du, Onkel Doktor, was ist denn eigentlich eine Gouvernante?«

»Das ist so etwas ähnliches, wie Dein Lehrer in Capri. Sie soll Dir Unterricht geben.«

»Onkel Doktor, da gefiel mir aber der Herr Lehrer viel besser«, entschied Dina. »Doch nun komm«, fuhr sie fort, »ich muß Dir das neue Bootshaus und den Kahn zeigen. Onkel Alfred, – so nenne ich nämlich den Onkel Konsul, weil's ihm lieber ist, zur Tante sage ich nur Tante, denn ich habe ja nur eine, – also Onkel Alfred hat das Boot frisch streichen lassen und »Dina« getauft. Ist das nicht nett von ihm?«

Als der Doktor Alles in Augenschein genommen, schlug Dina vor Boot zu fahren.

Doktor Reinhart fragte, ob sie auch rudern könne, aber Dina bejahte entschieden, und so stieg er denn mit ihr ein, und auch Attila sprang ihnen nach in das Boot.

Dinas Rudern war nun zwar noch nicht allzu glänzend, der Konsul hatte sie erst ein oder zwei Mal Versuche machen lassen, aber langsam kam man doch vorwärts bis in die Mitte des Sees. Da, bei einer Wendung des Boots, entglitt unglücklicherweise das eine Ruder Dinas Händen.

»Ach, du meine liebe Güte«, rief sie; diesen Ausdruck halte sie der Kuhmagd Brigitte abgelernt. »Wie kommen wir nun zurück?«

»Ja, Dina, das ist Deine Sache«, entgegnete der Doktor, »Du hast mich zu der Bootsfahrt verlockt. Nun bringe mich auch wieder aufs Trockene.«

Dina versuchte ein paar Mal, mit dem einen ihr verbleibenden Ruder das Boot so zu lenken, um das Ruder im Wasser erfassen zu können; aber der Versuch glückte nicht, das Boot drehte sich rund herum wie im Wirbelwind und drohte zu kippen. Schon schaukelte das Ruder ein gut Stück entfernt auf der blauen Flut, da kam ihr ein guter Gedanke. Attila, der kluge Attilia, der alles konnte, schwimmen und springen und derlei Künste, der, sich an der Thür aufrecht stellend, mit seiner großen Pfote sogar die Klinken aufdrückte, der auf den kleinsten Zuruf zu apportieren verstand, als wäre er im Cirkus abgerichtet, – Attila mußte helfen.

»Attila, apport«, rief sie, und gehorsam sprang das mächtige Tier über Bord und dem Ruder nach, das es bald mit seinen Zähnen ergriff. »Bring' her, bring' her«, frohlockte Dina, und »Du bist das bravste Tier, was ich kenne«, lobte sie ihn, wie er sachte heranschwamm.

Leicht gelang es ihr, das Ruder zu fassen, aber schwierig wurde die Sache, als der Hund jetzt wieder in's Boot wollte. Der leichte Nachen schwankte hin und her unter Attilas Kletterversuchen, und schließlich mußte der Doktor die Ruder halten, damit Dina schnell den Hund hereinziehen konnte.

Attila wurde jetzt aber recht unbequem. Er schüttelte die zottige Mähne, daß das Wasser durch's ganze Boot spritzte und die Insassen wie unter einem Regen sich duckten. Zum Überfluß suchte er sich dann noch an Dinas Kleid trocken zu reiben, und – o weh, Dina hatte das schöne, rote Sammetgewand zum ersten Male diesen Sonntag anlegen dürfen. Ach, wie sah das Kleidchen aus, als die beiden Bootfahrer endlich glücklich anlangten. Die weiße Schärpe war kaum zu erkennen, und der Sammet ganz hart geworden von der Nässe.

Zur Strafe mußte Dina nun gleich ihr einfaches Hauskleid anziehen, mit einer großen, blauen Schürze und bekam beim Mittagstisch nichts von der schönen, süßen Schokoladenspeise, die es als Dessert gab. Unter Anleitung der Tante hatte sie übrigens schon ganz manierlich, und wie es sich gehört, zu essen gelernt, so daß der Doktor erstaunt war, wie nett sie Löffel, Gabel und Messer brauchte und wie artig und bescheiden sie sich alles erbat.

Nach dem Essen wurde heute nicht gestrickt, weil es Sonntag war, und während die Erwachsenen draußen in der Veranda den Kaffee einnahmen, lud Fräulein Sauer Dina zu sich in ihr Zimmer ein. Hier packte sie mit der Kleinen gemeinsam den Koffer aus, wobei es für diese allerhand zu fragen und zu lachen gab, denn das Fräulein hatte eine große Anzahl dicke, schwarze Strümpfe mitgebracht, was Dina für den Sommer höchst komisch vorkam. Dazu hatte sie ein gewaltiges, blaues Strickknäuel und eine unendliche Menge Schachteln und Schächtelchen. Zuletzt kam auch etwas für Dina zum Vorschein: zwei Bogen mit Modepuppen. Auf dem einen waren der Kaiser und die Kaiserin und die Prinzen des königlichen Hauses, auf dem anderen war eine Schule. Ein Lehrer stand an der Tafel und schrieb gerade das A-B-C daran und auch Schulbänke waren da zum ausschneiden, die konnten in der Mitte eingeschnitten und die Modepuppen hindurchgezogen werden, so daß es aussah, als ob die kleinen Mädchen auf den Bänken säßen. Das gab einen Hauptspaß, nun alles auszuschneiden. Fräulein Sauer verstand es prächtig, für die Puppen aus Papier Kleider zu schneiden, die sie dann mit bunten Stiften ausmalte, so daß bald jede Poppe mehrere Kleider und Schürzen besaß, gerade wie Dina. Das hübscheste Püppchen bekam ein rotes Kleid mit weißer Schärpe, nach dein Vorbild desjenigen, was Dina am Morgen getragen, und Dina packte dieses ganz für sich in Löschpapier ein, damit es das Püppchen nicht schmutzig mache, wie sie ihres.

Dina erzählte nachher ihrem alten Vertrauten, denn Doktor Reinhart: »Du, Onkel Doktor, eine Gouvernante ist gar nichts so schlimmes Wenn sie die Brille absetzt, sieht sie sogar ganz nett aus.«

Bald stellte sich allerdings heraus, daß die Gouvernante nicht nur zum Modepuppen spielen da war. Nein, morgens, in der Zeit, in welcher Dina sonst frei herumgetobt hatte, wurden jetzt regelmäßige Unterrichtsstunden abgehalten. Zuerst wurde Dina das stundenlange Stillsitzen gewaltig sauer, aber sie lernte schnell und leicht und besonders in Naturwissenschaft und Sprachen, was ihre Lieblingsfächer waren, machte sie erstaunliche Fortschritte. Da ihr das Italienische als Muttersprache vertraut war, begriff sie die französische Sprache auffallend schnell und konnte nach kurzer Zeit dem Konsul auf seine französischen Fragen mit richtigen Sätzen antworten. Auch hatte das Lernen noch ein Gutes. Nachmittags hatte sie jetzt ihre Aufgaben für den nächsten Tag zu machen und brauchte nicht mehr an dem ihr schrecklichen Strickzeug zu sitzen. Alles aber war unserm Wildfang lieber als dies eintönige Stricken oder überhaupt häusliche Beschäftigungen. Daß sie sich morgens ihr Bett machte und ihr Zimmer in Ordnung brachte, hatte die Tante noch immer nicht durchsetzen können.

Aber wenn sie ihre Not dem Konsul klagte, so sagte dieser: »Laß' nur, Malchen, das kommt später, einstweilen kann das Kind noch nicht für Alles Gedanken haben, und wir müssen zufrieden sein, daß sie bei Fräulein Sauer so hübsche Fortschritte macht.«

Eines Tages aber brachte es Dina doch dahin, daß sie den guten Konsul, der sonst Alles gut hieß, was sie that, ernstlich erzürnte.

Aus ihrem Erkerfenster hatte sie ein Eichkätzchen erspäht, das aus den Platanenzweigen auf den Sims des Hauses gesprungen war. Mit einem Satz war Dina durch das Fenster, um es zu fangen. Sachte schlich sie auf den Sims, das um das obere Stockwerk herumführte, zu dem Tierchen hin, das ganz still dasaß und sie anschaute. Kaum wollte sie es aber greifen, da war es mit ein paar Sätzen weiter, Dina natürlich hinterher. Es war eine richtige Jagd, aber bald merkte Dina, daß ihr das Eichkätzchen doch über war. Sie glitt mit ihren Stiefeln auf dem glatten Sims aus und kam nur sehr langsam vorwärts. »Warte nur, ich kriege dich doch«, rief sie übermütig, und rasch hatte sie sich hingekauert und die Stiefel aufgeknöpft, abgezogen und einfach heruntergeworfen.

Der Konsul trat gerade aus der Verandathür, als ein Kinderstiefel vor ihm niederklatschte und – surr –, da flog schon der zweite Stiefel herab und traf ihn noch auf die Schulter.

»Seit wann wirft denn Dina aus dem Fenster mit Stiefeln«, brummte der Konsul bei sich und schaute nach oben, da gewahrte er, wie Dina auf dem schmalen Blechsimms in Strümpfen hinter dem Eichkätzchen hertappte. Schon faßte sie es, das Tierchen, doch dieses biß wie wild um sich, so daß das dicke Blut Dina über die Hände floß. Sie biß die Zähne aus einander aber ließ nicht los, da machte sich das Eichhörnchen mit einem unerwarteten Ruck plötzlich frei und – heidi, – fort war es und schaukelte vergnügt im Gipfel eines nahen Nußbaums.

»O, Du Racker«, rief Dina ihm nach, »ein andermal halte ich Dich besser.« Dann wand sie ihr Taschentuch um die blutenden Finger und rutschte auf den Knieen auf dem Sims zurück bis zu ihrem Zimmer.

Mittlerweile war aber auch der Konsul, die Stiefel in der Hand, die Treppe nach Dinas Zimmer heraufgestürmt. Auf der ersten Stufe trat ihm seine Frau entgegen.

»Wo läufst Du denn mit Dinas Stiefeln hin?« fragte sie ihn verwundert.

Aber der Konsul war zu sehr von dem Geschauten erregt um überhaupt zu antworten.

Wortlos eilte er an seiner Frau vorüber in Dinas Zimmer.

Kopfschüttelnd ging die Frau Konsul weiter und dachte: »Wie kommt er bloß zu Dinas Stiefeln?«

Der Konsul fand Dina damit beschäftigt, von ihren Kleidern die Spuren der Eichlätzchenjagd auf dem schmutzigen Sims zu vertilgen. »Dinchen«, sprach er, »wenn Du lustig und übermütig bist, so habe ich nichts dagegen. Aber derartige wagehalsige Streiche bitte ich Dich in Zukunft zu unterlassen, wenn Du Deinen Onkel nicht unnütz in Angst und Schrecken setzen willst. Denke doch nur, Kind, wie leicht Du bei einem Fehltritt herabgestürzt wärst, und statt der blutenden Hand einen Arm- oder Beinbruch davongetragen hättest. Dann müßtest Du jetzt wochenlang still liegen statt fröhlich in der schönen Gotteswelt herumzuspringen, und Dein Onkel und Deine Tante würden sich in namenloser Sorge um Dich bangen. Nicht wahr, das willst Du doch nicht?«

»Nein, Onkelchen«, gab Dina treuherzig zur Antwort, »das will ich gewiß nicht?«

Dann wusch sie sich auf Geheiß ihres Onkels das Blut von den Händen, und er verklebte ihr selbst die Wunden, die sie jetzt recht fühlbar schmerzten, mit Pflaster. Den einen Finger konnte sie mehrere Tage nicht bewegen, und als er schließlich heilte, behielt er noch lange eine rote Narbe, die sie immer an ihre Eichkatzenjagd und das Versprechen an den Onkel erinnerte.

Am darausfolgenden Sonnabend war in der kleinen Dorfschule Prüfung, zu der die Tante auch Dina mitzunehmen beschlossen hatte. An diesem Tage kam auch der alte Pfarrer nach Stechlin, der für gewöhnlich in der großen Kirche des benachbarten Städtchens zu predigen hatte, um zu sehen, wie weit vorgeschritten die Kinder seiner Gemeinde waren. Alles aus Stechlin und Umgebung aber strömte zum Prüfungstage in dem kleinen Schulhause zusammen, und da durfte natürlich auch der Gutsherr und Patron des Ortes, Konsul Weber, sowie seine Gemahlin nicht fehlen.

Jedes Jahr waren sie pflichtgetreu erschienen, und so schritten sie auch an diesem freundlichen Frühsommertage Arm in Arm aus dem Gutshof heraus, die breite, mit Linden besetzte Dorfstraße entlang, dem Schulhause zu. Ihnen folgte Fräulein Sauer. Dina war nicht fertig gewesen, als die Tante nach ihr gerufen hatte, sie hatte bei ihrem Spielen mit Attila, der ihr wohl hundertmal ihren Ball aus dem dichten Gebüsch holen mußte, wo hinein sie ihn schleuderte, gänzlich Zeit und Stunde vergessen. In aller Eile war deshalb nur der alte Gartenhut aufgestülpt, der neue, weiße Strohhut mit den Gänseblümchen war natürlich gerade nicht zu finden und dann ging's im Laufschritt hinter den Andern her. Dabei fiel ihr plötzlich schwer auf die Seele, sie hatte ja Attila festzulegen vergessen; wenn er nur nicht nachkam. Besorgt blickte sie sich um und blieb alle paar Schritte stehen, um die Augen zurückzuwenden, so daß Fräulein Sauer schon meinte, ihr Kopf würde ihr auf dem Rücken anwachsen, aber zum Glück war kein Attila zu sehen. Als sie über den Schulhof in die Dorfschule einbogen, war Dina beruhigt. Attila hatte sich wahrscheinlich mit dein Gummiball über ihr Verschwinden getröstet und würde nun sicherlich ihre Spur nicht mehr finden.

Darin hatte sie sich aber verrechnet. Die kurze Andacht war eben abgehalten und die ersten Schüler aufgerufen, da ging es tapp, tapp an der Schulthür. Attila hatte mit seiner großen Pfote auf die Thürklinke geschlagen, und die Thür sprang auf. Nun schob sich eine Hundeschnauze durch den Spalt, der sich alsbald erweiterte, und herein drängte sich in ganzer Gestalt, – Freund Attila. Er hatte die Spur seiner kleinen Herrin gewittert und war ihr gefolgt. Schnuppernd schritt er an den breiten Bänken entlang bis er Dina erblickt hatte. ein Freudengeheul ausbrechend, setzte er nun mit einem Sprunge über die Dazwischensitzenden hinüber zu seiner Herrin, an die er sich schwanzwedelnd anschmiegte.

Kopfschüttelnd war die Frau Konsul den Vorgängen gefolgt, die sich aber so schnell abspielten, daß keiner hatte vorbeugen können.

»Bring' sofort den Hund nach Haus«, raunte sie Dina jetzt zu. Aber erst als die Thür sich hinter dem Friedensstörer und dem kleinen Mädchen zugethan, stellte sich allmählich die Ruhe im Schulhause wieder her, die Freund Attila so unliebsam unterbrochen hatte.

Während die Prüfung ihren weiteren Verlauf nahm, und Alles mit gespannter Aufmerksamkeit folgte, langte Dina mit ihrem vierfüßigen Begleiter wieder am Gutshof an. Eben kam der Doktor Reinhart gefahren, um über Sonntag wie stets in Stechlin zu verweilen, und ihm konnte Dina nun noch ganz betroffen und aufgeregt ihre neuesten Erlebnisse beichten. Die Augen der Tante hatten nicht allzu Gutes verheißend dreingeblickt, als sie Dina fortgeschickt hatte. Der gute Doktor aber mußte wirklich lachen über Attilas Schulbesuch, und er versprach Dina:

»Ich werde schon ein gutes Wort für Dich einlegen, Du Schlingel, daß Dir's nicht zu schlecht ergeht. Am Ende verdient Attila noch eher Strafe als Du, und der wiederum kann doch nicht wissen, daß er alle Thüren aufmachen kann, nur nicht die Schulthür.«

Diese Worte des Doktors, die nicht gerade von besonders erzieherischem Werte waren, trugen doch wesentlich zu Dinas Beruhigung bei, und sie war sehr froh, als die Tante bei Tisch des Vorfalls gar nicht mehr Erwähnung that. Sie vergaß es aber auch nie wieder, Attila vorher an die Kette zu legen oder einzuschließen, wenn sie einen Gang machte, auf dem der Hund sie nicht begleiten durfte.

Aber die Gänge, wo er nicht mitdurfte, die gefielen ihr nicht, ebenso wie sie in Capri nie ohne ihre Bella hatte ausgehen mögen.

»Ach, wie es wohl Bella ging und Gitta und Nunzia.« An sie Alle dachte Dina jetzt so oft, und eines Abends fand sie Fräulein Sauer, als sie ihr Gute Nacht sagen wollte, in Thränen gebadet unter ihrem Deckbett vor.

»Aber Bernhardine, Kind, fehlt Dir denn etwas?« fragte sie teilnehmend und tröstend.

Und Dina schluchzte: »Ach, Fräulein Sauer, ich kann doch nicht einschlafen, weil ich immer denken muß, daß die arme Bella jetzt ganz allein schläft.«

Fräulein Sauer wußte längst, wer Bella war und meinte beruhigend, die schliefe gewiß mit Gitta zusammen.

Aber da weinte Dina erst recht und meinte: »Gitta steht jetzt sicher jeden Tag unten an der Landungsbrücke, wenn der Dampfer kommt und erwartet mich, denn ich habe ihr doch versprochen, daß ich sehr bald wiederkäme und ihr was Hübsches mitbrächte!«

»Ach, Dinchen«, lenkte sie die Lehrerin ab, »Du möchtest doch noch gar nicht wieder nach Capri. Da könnte Dich Herr Doktor Reinhart nie des Sonntags besuchen und der Herr Konsul und die Tante müßten auch zurückbleiben.«

»Aber Bella«, seufzte Dina.

»Für Bella hast Du ja Deinen Attila.«

»Und Gitta« –

»Nun für Gitta bin ich am Ende ein wenig Ersatz«., tröstete Fräulein Sauer.

Da mußte Dina mitten in ihren Thränen hell auflachen. Die große breitschultrige Gouvernante mit ihrem blonden, glattgescheitelten Haar, der sauberen, enganliegenden Kleidung und der steifen Haltung erinnerte so gar nicht an die bewegliche, rundliche Gitta mit ihrem krausen Gewirr von schwarzen Haaren, die unter dem roten Kopftuch herausfielen. Nun gar die schwarzen, leuchtenden Augen von Gitta hatten keine Spur von Ähnlichkeit mit den wasserblauen Augen des Fräuleins, und ihr Redeschwall, mit dem sie jeden überschüttete, stand in lebhaftem Gegensatz zu der langsamen, wohlgewählten Ausdrucksweise Fräulein Sauers. Je mehr Dina die beiden verglich, desto komischer kam es ihr vor, und schließlich versiegten ihre Thränen unter den hellsten Ausbrüchen fröhlichen Gelächters.

Fräulein Sauer hatte ihren Zweck erreicht und Dina über die Anwandlung dieses nur zu natürlichen Heimwehs hinweggebracht. Lange jedoch mußte sie noch auf dem Bettrand ihres Zöglings sitzen bleiben und mit ihr über Capri und die Schwestern, die Ziege, das blaue Meer, Felsen und Umgebung schwatzen.

Schließlich schlug Fräulein Sauer vor, da Dina jetzt nicht hinreisen würde, so könnte sie doch Gitta einmal schreiben.

Der Vorschlag fand indessen keinen Beifall. »Gitta kann ja geschriebene Schrift nicht lesen«, entgegnete Dina.

»Nun, und wie wäre es, wenn Du die Tante bätest, ihr etwas Hübsches schicken zu dürfen? Darüber würde sie sich doch sicher freuen.«

»Ja, das würde sie«, stimmte Dina bei, »ihr alter, blauer Rock ist schon längst so zerrissen, daß sie einen neuen hätte haben müssen.

Dann muß aber Nunzia auch etwas kriegen, vielleicht ein Kopftuch oder eine Schürze. Ach wenn es die Tante doch erlauben wollte, daß wir ein Packet machten. Das wäre gar zu schön.«

Ganz erfüllt von dem Gedanken an ihre Sendung nach Capri, schlief Dina schließlich ein und überlegte, was sie noch Alles beifügen wollte.

Am nächsten Morgen früh wurde gleich die Tante gebeten ihre Einwilligung zu geben, daß Dina mit Fräulein Sauer zur Stadt führe, um Einkäufe zu machen. Nun hatte Frau Konsul Weber zwar nichts dagegen, daß die beiden Schwestern in Capri etwas Nettes zugeschickt bekämen, als ein Erinnerungszeichen ihres langjährigen Pfleglings, bloß hatte sie ein Bedenken bei der Sendung, das war der Zoll. Alle Sachen, die nach dem Ausland gesandt werden, müssen verzollt werden und besonders in Italien, das wußte die Frau Konsul, waren sie ganz arg darauf neue Kleidungsstücke und feine Seidenwaaren möglichst hoch zu versteuern. Hätte man ein neues, seidenes Kopftuch und einen guten Wollrock gekauft, so hätten Nunzia und Gitta eine Menge Geld bezahlen müssen um das Packet von der Post einzulösen, oder es gar nicht erhalten. Dina war recht betrübt, als die Tante ihr diesen Bescheid gab, denn Geld hatten die Schwestern nicht, das war ihr klar. Aber die Frau Konsul wußte einen Ausweg.

»Da Du, wie ich sehe, sehr an der Sendung hängst, Bernhardine«, sprach sie, »so bin ich gern bereit ein abgelegtes Kleid von mir und ein Schultertuch und etwa auch ein paar Schürzen hervorzusuchen. Getragene Sachen kosten keinen Zoll, und jedenfalls werden Gitta und Nunzia die abgetragenen Kleider von mir noch sehr schön erscheinen.«

Das leuchtete Dina ein. Sie kramte mit der Tante aus Schränken und Schubladen einen ganzen Haufen Sachen zusammen, unter denen, nach Dinas Urteil, einige wirkliche Prachtstücke sich befanden. Als Alles gut verpackt war, schrieb sie noch ein paar begleitende Worte an Hans Schenk dazu, der ja bei den Schwestern wohnte.

Sie sandte ihm viele Grüße und bat ihn auch Nunzia und Gitta zu grüßen und recht bald nach Deutschland zu kommen und sie zu besuchen. In Stechlin sei es beinah ebenso schön wie in Capri, schrieb sie und dann fügte sie noch hinzu, was sie Alles bei Fräulein Sauer schon gelernt habe. Über den Bogen klebte sie eine schöne, große Oblate mit zwei Engelsköpfchen, die sollte der Herr Lehrer haben, damit er nicht ganz leer ausging bei der Sendung. Schließlich stand noch ein Postskriptum unter dem Schreiben, welches folgendermaßen lautete: »Die weiße Schachtel mit blauem Bande zugebunden, ist für Bella.«

Die Schachtel hatte Dina heimlich noch dem Packet beigefügt. Sie war vollgepackt mit frischem, grünen Gras, das Dina in aller Eile auf der Wiese zusammengerauft hatte. So herrliches, saftiges Gras gab es in ganz Capri nicht, und Dina malte sich in Gedanken schon aus, wie es Bella munden würde.

Oben auf die eingepackten Sachen stopfte sie nun schnell noch einige ihrer bunten Haarbänder und eins ihrer schönsten Märchenbücher mit Bildern. Dann schob sie vorsichtig den Deckel auf die Kiste und band sie eigenhändig zu. Fräulein Sauer mußte die Adresse schreiben, und sie trugen nun gemeinsam die Kiste zur Post, auf der in großen Buchstaben die Aufschrift prangte: Brigitta und Annunziata Baldini. Oftmals mußte jetzt die gute Tante eine Sendung nach Capri abgehen lassen. Der Herr Lehrer hatte Dina den Dank der Schwestern übermittelt und ihr die ungeheure Freude beschrieben, die die reiche Sendung bei ihnen hervorgerufen. Dina hatte den Brief von Hans Schenk der Tante vorgelesen und ließ ihr nun keine Ruhe, bis gelegentlich wieder von Zeit zu Zeit eine Kiste abging.

Diese erregte jedesmal die gleiche Freude in Anacapri, und voll Stolz erzählten die Schwestern Nunzia und Gitta, wenn sie ihre hübschen Sachen angethan hatten, von der kleinen Dina, dem Kinde der schönen Anna Felice. Sie dachten sich wahre Wunder aus, wie es dem Kinde so gut ginge und wie herrlich und schön es da wäre, in dem Lande Deutschland, wo nur reiche Leute lebten und es Armut und Sorge gar nicht gäbe.


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