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Zweites Buch
Der Strebende

»Seine aus jedem Satz springende Genialität schmeißt immer wieder meine Bedenken über den Haufen; aber ganz zu trauen ist ihm nirgends.«

Fontane

 

I

»Ich langweile mich unglaublich ... Die Östreicher sind intrigant unter der Maske burschikoser Bonhomie ... Die von den kleinen Staaten sind meist karikierte Zopf-Diplomaten, die sofort die Bericht-Physiognomie aufstecken, wenn ich sie nur um Feuer zur Zigarre bitte, und Blick und Wort mit Regensburger Sorgfalt wählen, wenn sie den Schlüssel zum Abort fordern ... Wenn ich hier selbständig werden sollte, so werde ich mein Feld von Unkraut säubern oder urplötzlich wieder nach Hause gehen ... Ich fühle mich ziemlich ad acta gelegt und meiner Freiheit ohne Zweck beraubt, wenn es nicht sehr bald anders wird ... Außerdem weiß ich nicht, ob und wieweit ich mich mit unsrer deutschen Politik identifizieren kann, wenn nicht der Hauptfaden durch meine Hand geht ... Mir scheint, als ob es in der preußischen Diplomatie außer der Stellung des Königs, des Generaladjutanten und des Auswärtigen Ministers sehr wenig gäbe, was den Ehrgeiz und die Tätigkeit eines erwachsenen Menschen beschäftigen könnte.«

So, zwischen Ungeduld und Langerweile, Spott und Selbstgefühl schwankt Bismarcks Stimmung am Anfang seiner diplomatischen Bahn. Es sind erst ein paar Wochen, seit sich ihm ein alter Wunsch erfüllt, seit er einen Zipfel jener Macht gefaßt hat, aus deren Fülle er Preußen bewegen möchte, und schon ist es im Grunde nichts, das einen erwachsenen Menschen ausfüllen könnte; schon erscheinen ihm die Kollegen lächerlich, sogleich zerrt er an dieser selbstgewählten Kette. Wenn man ihn fragte, ob er noch elf Jahre warten will, wenn eine Stimme ihm sagte, du wirst vor 1862 den Hauptfaden nicht in die Hand bekommen, er ginge gleich und zöge sich »unter die Kanonen von Schönhausen zurück.« Sicher ist, daß er zwar keineswegs Adjutant, gewiß aber der König sein möchte: dann wäre das deutsche Problem im Handumdrehen gelöst, freilich auch das des Problematikers Bismarck.

Denn daß er nun zum erstenmal im Leben dienen soll, einen Herrn über sich fühlen, der wieder einen Herrn hat, das macht ihn nervös: »Ich muß mich nun gewöhnen, schreibt er an seinem ersten Frankfurter Tage der Frau, ein regelmäßiger trockner Geschäftsmann zu sein, viel und feste Arbeitsstunden zu haben und alt zu werden, Spiel und Tanz sind vorbei, Gott hat mich auf den Fleck gesetzt, wo ich ein ernster Mann sein muß.« So würdig legt er sich's vor seiner Frau zurecht; in Wahrheit glaubt sie so wenig wie er, daß er bisher kein ernster Mann gewesen, noch daß er ein trockener werden wird; vielmehr er bleibt, was er immer war, ein leidenschaftlicher. Dieser Ruhelose verachtet rasch das Errungene, der nie zufriedene Geist läßt unter Mephistos Händen zerbröckeln, was Faust in strebendem Bemühen beiseite schob.

»In diesem Frühjahr, schreibt er an Gerlach, würde meine Ernennung zu dem geringsten deutschen Geschäftsträgerposten als Lehrlingschaft meine Erwartungen überstiegen haben«, und wirklich schien ihm alles besser, als das verächtliche Gewäsch der seit drei Jahren bespottetem Abgeordneten. Jetzt aber erscheinen ihm die Diplomaten, unter die er sich zum ersten Male mischt, sofort »viel lächerlicher als der Abgeordnete der Zweiten Kammer im Gefühl seiner Würde ... (und ich) weiß jetzt ganz genau, was wir in ein, zwei oder fünf Jahren zustande gebracht haben werden, und will es in 24 Stunden zustande bringen, wenn dies andern nur einen Tag lang Vernunft bewahren und vernünftig sein wollen.« Kaum ist er aber einmal wieder in der Berliner Umgebung, die er eben noch rühmte, und in deren Gewühl es ihn während dieser Frankfurter Jahre immer wieder zieht, so wütet er gleich über »dies unfruchtbare Kammergezänk, wo man sich über allerhand Tölpeleien ärgern muß ... Ich sehne mich recht ... nach den langweiligen, aber höflichen Debatten im Bundeshause.«

In solchen Synkopen klopft Bismarcks Herz; nicht bloß, weil sein klarer Blick und herrischer Verstand die meisten Dinge rascher zu lösen weiß als eine Versammlung, vor allem weil diese dämonische Natur alles Errungene gleich verbraucht. Wenn er nicht kämpfen kann, ist er verloren; als Weltherrscher hätte Bismarck sich totgelangweilt.

So zittert er davor, der König könnte unter östreichischem Druck seine Zusage vergessen und ihn nicht zum Gesandten machen: welche Freude für seine Feinde! »Ich bin bei weitem nicht so ehrgeizig als Ihr Bruder von mir anzunehmen pflegt, schreibt er deshalb an Gerlach; nachdem aber die Nachricht von meiner beabsichtigten Anstellung ... im Parteisinn aufgefaßt worden, würde in einer Änderung die Deutung liegen, daß man sich wenigstens einstweilen von meiner Unreife zu dieser Stellung überzeugt habe, ... und jetzt lege ich allerdings einen ambitiösen Wert auf meine Ernennung.« So fordert er sich's von dem einen der Brüder Gerlach ein, den andern blufft er mit den Worten, er habe keine Neigung zu etwas anderm, als Gesandter zu werden; beide sollen es dem Könige erzählen. Privatim aber sichert er sich sogleich, denn, so schreibt er der Frau, »mit 3000 Talern Gehalt (als Legationsrat) und unserm Bißchen werden wir hier zwar leben können, aber geniert. Werde ich daher zum Sommer nicht Bundestags-Gesandter, so muß ich erst sehen, ob sie mir zulegen; sonst sage ich nicht gut dafür, daß ich nicht den ganzen Handel wieder aufkündige.«

Indessen besiegen seine Freunde den wankelmütigen König, und Bismarck, 36jährig, der nie dem Staate gedient hat, wird gegen alle Gewohnheit Gesandter, weil er als Abgeordneter des Königs Paladin war, und weil er Freund der Paladine des Königs ist.

Das erste, was er tut, er richtet sich ein, und zwar persönlich, denn seine Frau ist unerfahren, auch gar nicht da, und ihn freut jetzt, wie in der Jugend und im Alter, Bequemlichkeit und Besitz. Mit 21 000 Talern Gehalt beginnt er, der nie über ähnliche Summen verfügt hat, sich mit sparsamer Sorge auszubreiten. »Wer hätte, schreibt er dem Bruder, vor einem Jahre, ja vor einem halben, auch nur daran gedacht, daß ich für 5 000 Gulden zur Miete wohnen und mir einen französischen Koch halten würde, um Diners an Königs Geburtstag zu geben ... Ich habe schon 10-12 Tausend Taler in die Einrichtung gesteckt und bin noch immer nicht fertig. Das meiste ist Silber, Bronzen, Glas, Porzellan; Teppiche und Möbel tragen weniger aus. Da hier kein Mensch zwei Gerichte mit derselben Gabel ißt, so braucht man zu einem Diner von 30 Personen schon 100 Kuverts wenigstens und nun gar ein Ball von 300, wie er mir bevorsteht ... Diese Prellereien aller Handwerker und Kaufleute hier, die großen nutzlosen Ausgaben, ... nicht zu vergessen zwölf Domestiken, halb Männer, halb Weiber! Ich will lieber 30 Mann Gesinde auf dem Lande in Ordnung halten.«

Mit solcher Natürlichkeit mag in dieser Streber-Gesellschaft noch keiner seine Laufbahn begonnen haben; wenn man ihn aber nach so vielen Reisen und Hofbesuchen über die Zahl der Gabeln räsonnieren hört, oder wenn er berichtet, sein alter Kutscher sähe in der Livree aus wie ein Graf, so treten aus solchen Glossen an den Bruder die engen Verhältnisse ans Licht, aus denen sie stammen, und der Große Weltmann, wie ihn die hinterpommerschen Mädchen nannten, erscheint nur wie ein mittlerer Gutsbesitzer, der plötzlich den Staat vertreten soll. Diese gleichsam bäuerlichen Züge, Sparsamkeit, als Transfiguration früherer Verschwendung, der Wunsch, ein ererbtes Vermögen zu vergrößern, Güter zu entlasten, neue zu erwerben, mit Wäldern und Dörfern noch für die Urenkel auszusorgen, haben Bismarck nie verlassen, zuweilen irritiert, im ganzen gekräftigt, denn sie machten ihn im Staatshaushalt so bedacht wie im eigenen, und wuchsen aus dem Hausvater im späteren Landesvater empor.

Auch der Standeshochmut bezeichnet den plötzlich in die erste Gesellschaft tretenden Junker, denn er ist größer als der eines Grafen Thun, dem sein Standesgefühl erlaubt, die reichen Frankfurter Kaufleute zu seinen Diners zu laden. Bismarck berichtet seinem Chef: »Ich hatte das Vergnügen, mit den Frauen der meisten Fournisseurs meines Haushaltes in einer Quadrille zu tanzen und über der Zuvorkommenheit dieser Damen meine bitteren Gefühle über die hohen Rechnungen und schlechten Waren ihrer Gatten zu vergessen; mein Visavis war die Frau des Herrn, der die Güte hat, mich mit Zigarren zu versehen, und der Mann meiner Nachbarin hat meiner Frau vorgestern Gardinenzeug zugemessen.« Völlig der Ton eines Mannes, der auch in der inneren Politik zunächst nur Klassenkämpfer werden kann.

In diesen Punkten versteht ihn niemand als sein Bruder, der ihn kaum in einem anderen versteht, – »Bismarck, in's Harmlose des Märkischen Gutsbesitzers übersetzt« – und obwohl sie nach seiner ersten Forderung getrennt wirtschaften und man vergebens nach wichtigen Aufträgen des Diplomaten an seinen Bruder zur Vertretung auf dem Lande suchen würde, berichtet er ihm durch die Jahrzehnte immer über die Geldlage. Bei seiner Regierung, zu der er jetzt eigentlich selber gehört, beschwert er sich über Zuschüsse, Uferbauten, die von dem Herrn von Schönhausen gefordert werden. »Seit ich die Schönhausener Pachtrückstände bekommen habe, gehe ich mit Schuldentilgungsplänen um und bin geizig wie alle Kapitalisten.« Er berechnet, wenn er mit Frau einen Tag bei einem Herzog, den nächsten bei einem Großherzog eingeladen ist, daß »dergleichen Expeditionen mit Gepäck und Dienerschaft, Trinkgeldern und Wagen fast teurer sind als ein mäßiges Diner bei mir«. Dann zählt er die Diners auf, zu denen seine Stellung ihn zwingt. »Darüber hinaus mich freizuhalten, erfordert mehr Aufmerksamkeit, als ich früher meinen Geldangelegenheiten zugewendet habe. Wir leben jetzt mit großer Sparsamkeit, um die Überschreitungen des Winters wieder gutzumachen. Zum 1. Juli werde ich wieder im Gleichgewicht sein.« Als man ihm einmal 1 000 Taler auferlegt, die früher der Staat als Spesen getragen, wird er aus Ärger sogleich »sozial sehr viel zurückhaltender«; nicht bloß im Anfang ist in vielen Briefen, nach sechs Jahren ist von seinen Diners noch immer die Rede, »deren Reste mich jedesmal im Verlegenheit setzen: vertilge ich sie allein, so verderbe ich mir den Magen, lade ich junge und alte Gourmets dazu ein, so berausche ich mich mit ihnen«.

Im übrigen erscheint ihm die neue dienstliche Lebensform einförmig. »Meine Zeit, schreibt er der Schwiegermutter, ist gewöhnlich vom Morgentee bis um 12 durch Besuche von Gesandten und noch mehr durch Vorträge der Beamten ... ausgefüllt, dann habe ich Sitzungen, deren Schluß in den Stunden von 1 bis 4 unregelmäßig fällt und mir dann bis um 5 entweder Zeit läßt auszureiten und die nötige eigenhändige Korrespondenz zu besorgen ... Dann essen wir meist in Gesellschaft eines oder beider Attachés, und die Verdauungsstunde, obwohl ich oft mit dem letzten Bissen im Munde schon wieder abgerufen werde, bildet doch gewöhnlich den behaglichsten Teil des Tages, wo ich von Johanna und den Kindern umgeben rauchend im großen Tigerstuhl liege und einige zwanzig Zeitungen durchblättere. Um 9 oder halb 10 heißt es dann gewöhnlich, der Wagen ist da, und wir stürzen, sehr übellaunig und voll bitterer Betrachtungen über die Sonderbarkeit der geselligen ›Vergnügungen‹ in der europäischen Welt, zum Anziehen. Johanna ... klatscht mit Müttern, während ich mit den Töchtern tanze oder mit den Vätern ernsthaften Unsinn rede. Gegen 12 oder später sind wir wieder zu Hause, und ich lese im Bett, was zu lesen ist, und schlafe dann, bis Johanna zum dritten Male fragt, ob ich nie aufstehen wolle.«

Im Hause ist alles formlos-bequem, etwas durcheinander, Gemütlichkeit geht immer vor Etikette: es ist, schreibt der Amerikaner Motley, der den Jugendfreund hier besucht, »eines jener Häuser, wo jeder tut, was ihm Spaß macht ... Die Privaträume liegen rückwärts und gehen nach einem Garten. Hier ist alles beisammen: jung und alt, Großeltern und Kinder und Hunde; da wird gegessen, getrunken, geraucht, Klavier gespielt und im Garten Pistole geschossen, alles auf einmal. Es ist ein Haushalt, wo dir alles angeboten wird, was eßbar und trinkbar ist: Porter, Sodawasser, leichtes Bier, Champagner, Burgunder oder Claret sind jederzeit vorhanden, und jedermann raucht zu jeder Zeit die besten Havannas.« Wenn er möglichst lange, zuweilen bis Mittag, in seinem geblümten Schlafrock bleiben kann, so ist der Hausherr guter Laune; geht er aber aus, dann muß alles ersten Ranges sein, »ich will lieber statt 10 Plätthemden 5 und noch einmal so feine; ein Hemd für 2 Taler ist gar nicht möglich«.

In gewisser Hinsicht verjüngt ihn diese Form des äußeren Lebens, wie das Ölbild seines Freundes Becker zeigt. Mit dem Barte ist eine gewisse Schwere äußerlich abgefallen, die er vor und nach seiner Gesandtenzeit zur Schau trug; auch ist der alte Vollbart ein wahres Diplomatenopfer gewesen, denn während er seiner Frau beteuert, er habe ihn nur ihrem Wunsch zufolge in Berlin abschneiden lassen, tut er's auf Nesselrodes Wink, weil er eben jetzt in Berlin dem Zaren vorgestellt werden soll, und dieser irgendwelche Vorurteile haben möchte. Das sitzende Leben ist ihm neu und oft verdrießlich, er klagt über »eine immer dichter gedrängte Reihenfolge von Diners und Gesellschaften, die ebenso zeitraubend wie langweilig sind und bei der Masse raffinierter Speisen, die man, um die Zeit zu töten, zu sich nimmt, das Lebersystem ruinieren, ganz abgesehen von allen schlagflüssigen Chancen, die der oft tagelange Mangel an Bewegung mit sich führt«. Rät ihm aber der Arzt, um fünf aufzustehen und sich in nasse Tücher wickeln zu lassen, so zieht er »eine natürlichere Todesart vor, wenn's einmal kommen soll«.

Nur mit Reiten und Jagen kann er sich im Gleichgewichte halten, jedesmal ist er wütend, wenn Geschäfte ihm eine Jagdeinladung stören, denn »die Jagd ist doch noch das Beste, und im dicksten Walde, wo einen keiner findet und kein Telegraph hinreicht, wird mir erst behaglich; ich habe oft rechtes Heimweh nach dem Landleben ... Man wird alt und will seine Ruhe haben«. Deshalb erbittet er vom Bruder ein Reitpferd »für mein Gewicht und etwas fürs Auge; aus heftigem Temperament mache ich mir nichts, im Gegenteil, ich bedarf der Körperanstrengung«. Auch in dieser Pferdebestellung zeigt sich nach einem Jahrzehnte der Wandel: damals konnte er Pferde und Frauen nicht wild genug haben, jetzt will er niemand zähmen, nur immer spornen. Nur wenn er in Dänemark bei Sturm die Nacht auf Deck bleiben kann oder in Ungarn vom Feuergefecht seiner Freunde mit Räubern im Walde hört; nur draußen wird er zuweilen feurig und klagt, »dergleichen erlebt man in unsern langweiligen Gegenden gar nicht«.

Denn in Wahrheit macht der neue Beruf ihn rasch älter. Vom 37. bis zum 48. Jahre, als Gesandter, hat Bismarcks Lebenskraft im Grunde abgenommen; nicht daß er bequemer wird oder ausgeglichen, im Gegenteil, er wird nur nervöser, die Zeit sieht er vergehen, und während er ein Jahrzehnt lang mit allem unzufrieden ist, was in Preußen geschieht, kann er doch nichts ändern und seine Tatkraft nur in einer wahrhaft endlosen Reihe von Berichten und Briefen ermüden. »Ich habe nicht geglaubt, schreibt er nach zwei Jahren, daß ich mich so an regelmäßige Arbeit gewöhnen würde wie hier ... Ich bewundere mich täglich, bis zu welchem Grade es mir gelingt, meiner angebornen Tintenscheu und Faulheit Gewalt anzutun.« Denkt man an ihn, wie er war, so klingt es doch recht zahm, wenn er sich des studentischen Leichtsinns anklagt, weil er einmal 14 Tage auf Reisen ohne Zeitung geblieben. Nach 3 Jahren klagt er schon, »wenn einmal Geschäftsstille eintritt«.

Freilich meint er immer nur das hochpolitische Geschäft, niemals das laufende, das er gern seinen Leuten zuschiebt; in der Sitzung des Bundestages schreibt er bei langweiligen Vorträgen Briefe an die Familie. Als er aber einmal einen politisch kompromittierten jungen Mann polizeilich verhaften lassen soll, geht er früh drei Treppen selber in die Wohnung und sagt: »Reisen Sie so schnell als möglich ins Ausland!« Der Jüngling stutzt. »Sie scheinen mich nicht zu kennen, vielleicht fehlt Ihnen auch Reisegeld, nehmen Sie hier und machen Sie schnell, daß Sie über die Grenze kommen, damit man nicht sagt, die Polizei operiert besser als die Diplomaten.« So läßt er auch in Petersburg einen flüchtig gewordenen, auf der Gesandtschaft erkannten Verbrecher frei, indem er ihn rasch in andere Kleider steckt, durch die Hintertür abschiebt und dann der Polizei Bosheiten sagt, warum sie ihn entwischen ließ. In solchen seltenen Irregularitäten grollt das Abenteurertum seiner Jugend aus.

Sein Kopf fängt doppelt zu arbeiten an, wenn er diktiert. Dann geht er, wie einer seiner Attachés beschreibt, im grünen Schlafrock auf und nieder, scheint laut in ungeduldig hervorsprudelnden Sätzen zu denken, bald jagend, bald mit Seitenglossen; wenn es ihm paßt und er einen Sekretär erwischt, zwischen Mitternacht und Morgen. Als Chef ist er zunächst loyal, kann Sekretäre nicht leiden, die »gräßlichen Respekt haben, daß wir nicht auf bequemen Fuß gelangen können,« lädt sie zur Jagd und zum Trinken ein. Sachlich ist er gefürchtet. Läßt er etwas ausarbeiten, so ist er nie zufrieden, behandelt die Herren, wie zwei von ihnen fast mit denselben Worten bezeugen, als widerspenstige Zöglinge und Schüler, in deren Versuchen der Lehrer herumstreicht. Als ein Auftrag nicht ausgeführt ist: »Es wird Ihnen selbst sehr unangenehm sein, denn sicher sind Sie mit mir der Meinung, daß, was ein Kavalier übernommen hat, schon so gut wie getan ist.« Solche und ähnliche Bemerkungen in leisen Tönen klangen zum Erstarren kalt; oder er fragt nach einem historischen Schnitzer mit schneidender Höflichkeit: »Sollte Ihnen das eine oder das andre Blatt in Beckers Weltgeschichte etwa bisher noch entgangen sein?«

II

Der große Gegner war Östreich. Um es zu hassen und zum Zielpunkt seiner Kämpfe zu bestimmen, brauchte Bismarck nicht erst in Frankfurt den habsburgischen Hochmut zu fühlen. Voller Nervosität kam er schon an, mit einer Mißgunst, die die angeborene noch um ein paar Grade übertraf. Denn wie ihm während dieser 12 Wartejahre jeder seiner vier Chefs nacheinander verdächtig sein wird, weil sie ihm den Platz wegnehmen, so ist ihm jede Macht verdächtig, die Preußen den Platz wegnehmen will; ganz Deutschland war ihm im Grunde Ausland, vor allem aber Östreich. In Olmütz hat ihn die Szene tiefer gekränkt als der Vertrag, und wenn er ihn damals verteidigte, so war es nicht, um den Krieg zu vermeiden, sondern um ihn aufzuschieben, wobei denn auch persönliche Gründe des Ehrgeizes im Augenblicke mitgespielt haben.

Grade im Anfang zeigt sich die Irritation des Zurückgesetzten am schärfsten. Daß er hier neben einem Dutzend Gesandter an einer Tafel sitzen sollte, der ein anderer präsidierte, vertrug sein Selbstgefühl weder als Bismarck noch als Preuße; der dort an der Spitze saß, das war für den geborenen Jäger das Wild, das es zu hetzen galt. Es war Graf Thun, an Hochmut und Schlauheit völlig Schwarzenberg gleich, und wenn er »in einer kurzen Jacke von hellem Sommerzeug präsidierte, die, zugeknöpft, den Mangel einer Weste verdeckte, mit einer geringen Andeutung von Halsbinde, und den Vortrag im Konversationstone haltend,« so liegt schon in dieser ersten Beschreibung durch Bismarck die volle Verachtung des neuen Zuhörers, und vergebens behauptet er, das seltene Exemplar mit der Ruhe des Naturforschers zu beobachten. »Thun spielt auf dem Klub bis 4 Uhr morgens Hasard, tanzt von 10 bis 5 Uhr ohne Pause mit sichtlicher Leidenschaft, genießt dabei reichlich kalten Champagner und macht den hübschen Frauen der Kaufmannschaft mit einer Ostentation den Hof, die glauben läßt, daß es ihm ebensosehr um den Eindruck auf die Zuschauer als um das eigene Vergnügen zu tun ist ... Er ist ein Gemisch ... von aristokratischer Nonchalance und slavisch-bäurischer Schlauheit. Vorsichtige Unaufrichtigkeit ist der bemerkbarste Charakterzug.« Sein Helfer, ein Baron: »zu Zeiten Dichter, sentimental, weint leicht im Theater, ist äußerlich gutmütig und zutunlich und trinkt mehr als er vertragen kann.«

Vernichtend sausen solche Ironien nieder, aber sie verschweigen die ersten Worte und Blicke, die solche Bosheit begründet haben. Gleich beim ersten Besuch, den Bismarck noch als Legationsrat mit einem andern Berliner Staatsbeamten macht, hat der Östreicher jenen, dessen bevorstehende Ernennung er kannte, fast außer Gespräch gelassen; worauf beim Gehen Bismarck zu seinem Kollegen »mit vor Erregung bebender Stimme« äußert: »Haben Sie gesehen, wie Thun mich behandelt hat?!« Persönlich war damit alles entschieden, und es ist nur erstaunlich, daß er sich nachher als Gesandter von ihm in Hemdsärmeln (angeblich wegen Hitze) sitzend und rauchend empfangen läßt, und Bismarck erst beim zweiten Besuch vor dem erstaunten Kollegen selber eine Zigarre ansteckt. Er sorgt aber, daß es morgen alle Welt weiß.

In den Sitzungen schreibt er Privatbriefe: »Meine Lage wird etwas erschwert durch das Kreuzfeuer von Atem, dem ich zwischen meinen Nachbarn (X und Y) ausgesetzt bin. Der Geruch des ersteren wird dir noch in Erinnerung sein, es ist eine kräftige Mischung von unausgespühlten hohlen Zähnen und etwas Rippe, wenn er den Rock öffnet. Der andere liefert den unverfälschten Ausdruck verdorbenen Magens vor dem Essen, die unausbleibliche Wirkung der Kombination häufiger und schwerer Diners bei geringer Körperbewegung, der natürliche Geruch der Diplomaten und Hofmarschälle.«

Daß alle Probleme sich hier in Frankfurt ins Persönliche verloren, war nicht nur Bismarcks Schuld, es lag in der Atmosphäre des Bundestages, wo angeblich alle gleich und Östreich nur der primus inter pares war, es lag in der Geschichte der letzten Zeit. Denn wie sollte Östreichs Vertreter den preußischen vor aller Augen an diesem Tische nicht demütigen wollen, von dem Preußen vor drei Jahren mit dem Entschlüsse aufgestanden war, einen neuen Tisch ohne Östreich zu begründen, – und nun war es reuig zurückgekehrt! Jetzt konnte Östreich auf sichere Gefolgschaft der meisten Staaten rechnen, Preußen bei Abstimmung nur vier norddeutsche Kleinstaaten um sich sammeln; denn alle waren mißtrauisch gegen Preußen, daß es sie in seiner »Union« unterjochen und mit einem mißglückten Deutschland die Idee der Revolution durchführen wolle, während das mächtige Östreich alle Legitimisten, also fast alle Fürsten, anzog.

So findet Bismarck in Frankfurt keine Überraschung vor, nur Bestätigungen, und selbst im Alter nennt er die Freundschaft beider Länder nur einen »Jugendtraum, entstanden durch die Nachwirkungen der Freiheitskriege und der Schulen«. Er kam als innerer Gegner; vor dem Grade der östreichischen Gegnerschaft aber steht er doch mit Staunen: erst hier lernt er die Depesche des Fürsten Schwarzenberg über Olmütz kennen, es habe nur von ihm abgehangen, »Preußen zu demütigen oder großmütig zu pardonnieren«. Genau in den Tagen dieses hochmütigen Berichtes hatte Bismarck in der Kammer den Olmützer Vertrag verteidigt; was muß sein Stolz im Anblick dieser Worte nun empfinden!

Er ist noch keine sechs Wochen dort, da faßt er sich schon so zusammen: »Die Östreicher sind und bleiben falsche Spieler, und ich glaube nicht, daß sie mit ihrem maßlosen Ehrgeiz und mit ihrer von jedem Rechtsbegriff baren, inneren und äußeren Politik jemals zu einem aufrichtigen Bund mit uns gelangen.«

Die erste Gelegenheit, um nachträglich noch zuzuschlagen, benutzt er schon im November: »Graf Thun sprach wie Posa und entwickelte großdeutsche Schwärmerei; ich vervollständigte seinen Ideengang dahin, daß danach die Existenz Preußens und noch weiter der Reformation ein bedauerliches Faktum sei ... Ein Preußen, welches, wie er sich ausdrückte, ›der Erbschaft Friedrichs des Großen entsagte‹ ... bestehe in Europa nicht, und ehe ich zu einer derartigen Politik zu Hause riete, würde eine Entscheidung durch den Degen vorhergehen müssen.« Hier ist ein Stück aus den Dialogen dieser zärtlich Verbündeten, ein Dutzend Kulissen fällt um, und man wundert sich nur, daß Bismarcks Krieg noch anderthalb Jahrzehnte auf sich warten ließ.

Diese Schärfen, sorglich nach Wien gemeldet, mehren die Eifersucht, und auch in Berlin wird man nicht eben versöhnlicher gestimmt werden, wenn Gerlach dem König aus Bismarcks Briefen vorliest, alles Unglück stamme aus der Hingabe an Östreich, »weil mich ein Bettgenosse viel leichter verprügeln, vergiften, erdrosseln kann, als ein Fremder ... besonders wenn der Bettgenosse der Ruchlosere und Feigere ist«. Da nutzt es auch nichts, den Grafen Thun abzuberufen und durch den bisherigen Gesandten Östreichs in Berlin zu ersetzen.

Graf Prokesch-Osten, interessanter als Thun, Kenner des Orients, hochgebildet, mehr Europäer, macht deinen preußischen Kollegen durch andere Züge nervös: er kommt ihm zu oft und bleibt zu lange, wird ihm zu gemütlich, wenn er im Hause mit den Kindern spielt, redet ihm zu lange in der Sitzung, »sonst ist meine Stellung mit ihm klarer als mit Thun, weil dieser mitunter die Wahrheit sagte, Prokesch aber nie«; dabei könne man ihm aber die echte Instruktion vom Gesicht ablesen. Leider läßt Prokesch in einem Schreibtisch, den er verkauft, antipreußische Akten liegen; Entwürfe für revolutionäre Artikel in preußischen Blättern, die man bisher den Demokraten zugeschrieben, worauf Bismarck ebenso gerissene Gegenzüge anrät: man solle nicht durch Anzeige in Wien den Gesandten hier unmöglich machen, lieber »ihm selbst ein Gefühl der Unsicherheit in seiner Stellung beibringen und den Bundesgenossen vertraulich soweit Kenntnis von der Sache geben, daß unsre Duldsamkeit in vorteilhaftem Licht erscheint,« hierauf Teile abdrucken und so tun, als sei die Regierung erst durch diese in Privatbesitz befindlichen Stücke mißtrauisch geworden.

So schlau geht Bismarck zu Werke, der seine Gegner gern der Unaufrichtigkeit anklagt. Aber Prokesch ist Menschenkenner, man wird ihn bald Bismarcks Karrikaturen entreißen, den er schlagend darstellt: »Herr von Bismarck erklärte Preußen für das Zentrum der Welt ... Er vertrat das Bestreben, den Bund zugrunde zu richten. Er würde, wenn ein Engel vom Himmel herabgestiegen wäre, ihn ohne preußische Kokarde nicht eingelassen haben ... Klar wie Macchiavell, war er zu gewandt und zu glatt, um irgendein Mittel zu verschmähen, und man muß ihm zugestehen, daß ihm Halbheit nach jeder Richtung fernlag ... So betrieb er unermüdlich die Lahmlegung des Bundes, ... mit ausgiebiger Benutzung der Presse wußte er die Schuld dafür Östreich in die Schuhe zu schieben ... Der Beruf Preußens überwältigte ihn so, daß er selbst mit mir die Unerläßlichkeit der Einheit Deutschlands unter Preußen mehrmals besprach. Mir ist überhaupt kein Mann vorgekommen, so abgeschlossen in seinen Überzeugungen, so bewußt seines Wollens und Sollens.«

Dies Urteil, das die Nachwelt bestätigt, hätte Bismarck selber anerkannt. Beim leisesten Affront gegen seine preußische Stellung zieht er den Revolver. Als der Wiener Graf Rechberg nach der Sitzung heftig wird und im Eifer ruft, eigentlich müßte er im Bockenheimer Wäldchen Genugtuung fordern, erwidert Bismarck ruhig: »Warum wollen wir hinausfahren? Hier im Garten ist Platz genug, gegenüber wohnen preußische Offiziere, und östreichische sind auch bei der Hand. Ich bitte nur um Erlaubnis, die Entstehung des Streites aufzuschreiben, da ich meinem König gegenüber nicht als Raufbold erscheinen will, der die Diplomatie auf die Mensur führt.« Er fängt zu schreiben an, der andere sieht die Unsinnigkeit ein, geht, lenkt dann ein und läßt den Streit schlichten.

Eine Reise nach Wien bestärkte ihn und die Östreicher in ihrer Gegnerschaft. Den deutschen Zollverein, Vorfrucht eines Deutschen Reiches, stärkstes Bindeglied zwischen Preußen und den andern Staaten, wollte Östreich bei bevorstehender Erneuerung in seinen politischen Folgen zerstören, es wollte selber mit allen seinen Staaten eintreten und dadurch politisch auch die Zollfragen führen. Bismarck, der statt dessen einen Handelsvertrag anbietet, weicht keinen Schritt, fährt unverrichteter Sache heim und hat seinen ersten großen Erfolg, als trotz unzähliger Intrigen der Zollverein ohne Östreich verlängert wird. Der einzige, der ihm in Wien und in Ofen gefällt und dem er gefällt, ist der 22jährige Kaiser, und wenn er das Handschreiben seines Königs an diesen durchliest, so mag ihm nichts darin besser behagen als der Satz, daß seine Familie länger als die Hohenzollern in den Marken sitze. An Franz Joseph rühmt er damals »Feuer, Würde, Besonnenheit, einen guten Blick, Freimut und Offenheit, besonders wenn er lacht«.

Als des Königs Günstling hat er von vornherein während all dieser Jahre eine besondere Stellung zu seinem Chef, der ihn natürlich haßt. Schon Bismarcks Ernennung hatte den Ministerpräsidenten ägriert, sie kam ja von der Kamarilla Gerlachs, mit dem er in sauer-süßer Freundschaft lebte. Klein, kalt und lustig, strebend, lavierend, liberalisierend, regierte Manteuffel während der acht Jahre, in denen Bismarck in Frankfurt sein Untergebener, in Wahrheit ihm an Einfluß auf die Leitung oft überlegen und eigentlich immer störend war. Da der Chef in seinem Gesandten den Nachfolger, zugleich Überlegenheit und Ungeduld spürte, konnte er es nicht wagen, Chef zu spielen, und setzte sich nur zuweilen, mit wunderlichem Trotz in kleinen Dingen gegen ihn beim König durch: wenn Frankfurt drahtet, man möge einem gewissen verdächtigen Konsul das Gepäck beschlagnahmen, macht Manteuffel aus der Einladung desselben zur Hoftafel eine Kabinettfrage; oder er lehnt die Pensionierung eines arbeitsunfähigen Greises der Frankfurter Kanzlei ab, weil sie der Gesandte wünscht. Wird dieser durch Gerlach nach Berlin zitiert, so schreibt ihm Manteuffel pikiert, er möge nicht zu lange bleiben.

Dagegen erklärt Bismarck, er sei »sehr viel fauler als im vorigen Jahre, weil mein Fleiß in Berlin kein Echo und Resultat findet«. Bei äußerer Artigkeit und endloser Korrespondenz – Manteuffel steht sogar bei Bismarcks Sohne Pate – hält der Chef sich einen bezahlten, durch einen Depeschendiebstahl berühmt gewordenen Agenten, um die Mappen zu erreichen, in denen des Königs, Gerlachs und Bismarcks Briefe hin und her gehen, und als nach einigen Jahren der König seinen Gesandten durch Manteuffel fragen läßt, ob er Finanzminister werden wolle, berichtet der Premier ohne Auftrag dem König: »Bismarck hat mich einfach ausgelacht!«

Das Zentrum dieser Intrigen, Chef des Gouvernement occulte, ist Leopold von Gerlach, Generaladjutant und Freund des Königs, der Bismarcks Ernennung durchgesetzt hat, um seine Partei gegen Manteuffel zu stärken. Außer Bismarck, den er sich anlernen wollte, verachtete Gerlach alles umher, nannte Manteuffel einen prinzipienlosen, unzuverlässigen Minister, den König aber »einen, um nicht mehr zu sagen, unberechenbar eigentümlichen Herrn«, soll heißen: verrückt. Erfahren, fromm und intrigant, dazu 25 Jahre älter als Bismarck, fühlt er sich, sein eigentlicher Entdecker, zugleich als Adoptivvater und bemerkt kaum, wie rasch dieser Sohn, viel jünger an Lebens- und an Amtsjahren als Gerlach, König, Manteuffel, alle drei in der Meisterschaft der Intrige übertrifft. Denn mit niemand ist Bismarck behutsamer umgegangen als mit diesem Freunde seines Königs, solange dieser regierte; als Wilhelm zur Regentschaft kam, der Gerlach nicht leiden konnte, gingen die Beziehungen rasch zurück.

An niemand hat Bismarck so viele und so bedeutsame Briefe geschrieben, kostbar als Zeugnisse seiner politischen Gedanken wie die ehelichen Briefe als Zeugnisse häuslicher Gefühle, funkelnd von Einfällen und Ironien, knatternden Bosheiten und weithin donnernden Machtplänen. Diese Briefe, von denen manche 12 Druckseiten füllen, wurden dem König meist vorgelesen, boten also Bismarck ein Mittel direkter Beeinflussung, stärker vielleicht als das Gespräch, denn eine Meisterhand hatte Zeit, sie zu stilisieren. Zu Anfang heißt es darin Exzellenz und Ihr gehorsamster Freund und Diener, später Verehrter Freund und treu der Ihrige. Länder sind darin mit Dörfern, Personen mit shakespeareschen Gestalten humorig bezeichnet, viele voll Heiterkeit, ganze Briefe nur von boshaftem Klatsch und kuriosen Hofgeschichten erfüllt, sichtlich um den direkten und den indirekten Empfänger bei Laune zu erhalten. Dabei hält der Adoptivvater streng darauf, daß dieser Sohn ihm nicht über den Kopf wachse, ja er verhindert den König im Jahre 54, ihn zum Minister zu machen und lähmt sogar seine Forderung, auf die Haltung in ihrer konservativen Partei mehr Einfluß zu gewinnen. In andern Fällen steckt Gerlach auf die ergötzlichste Art die geistliche Miene auf: will Bismarck »im Interesse des Dienstes auch ein schlechtes Subjekt unter der Hand benutzen«, so fühlt Gerlach sich genötigt, »an die Vorschrift des Apostels zu erinnern, die vor denen warnt, die Böses tun, damit Gutes daraus werde, und hinzufügt: denn Solcher Verdammnis ist gewiß«. In solchen Zeiten der Spannung ist es stets Bismarck, der seinen Stolz überwindet, um diesen unersetzlichen Mittler nicht zu verlieren, und gleichfalls in frommem Tone Gerlach, dem alten Haudegen, ans Herz greift:

»Ich suche ... die Gemeinschaft mit Ihnen ... täglich mit den Hilfsmitteln des Gebetes und der Ergebung in die Führung des Herrn, der mich an diese Stelle gesetzt hat, wiederzugewinnen.« Ein andermal: »Ich werde ganz wurzellos, wenn ich mit Ihnen außer Verbindung gerate ... Ich kann, um mit Freudigkeit dem Könige zu dienen, das Bewußtsein eines innigen und vertrauensvollen Zusammengehens mit Ihnen nicht entbehren, deren Kampfgenosse ich nicht nur in bösen Zeiten war ... und von denen mich ... niemals ein Zwiespalt über die gemeinsamen Grundsätze und Ziele des Handelns trennen kann.« »Leben Sie recht wohl. Zweifeln Sie, that stars are fire usw., vergl. Hamlet, aber zweifeln Sie nicht an meiner Liebe!« »Lassen Sie sich nur nicht Mißtrauen gegen mich beibringen! Für den König und Sie bin ich à toute épreuve ehrlich.« Wie hat Bismarck später als Empfänger solcher Briefe über ihre Motive gespottet!

Aber es galt ja die Brücke zur Macht, und wer so viel erstrebt, ohne je Streber zu sein, braucht alle Mittel, um sich den fast absoluten König zu sichern. Der war in Bismarck mehrere Jahre lang verliebt, es schmeichelte ihm, ihn »entdeckt« zu haben, »er sah in mir das Ei, das er selbst gelegt hatte und ausbrütete«; zugleich aber und auf die Dauer ist ihm der junge Herr grade gut, um seine Minister zu schrecken, oder, wie er sagte, um Manteuffel zum Gehorsam zu bringen. In seiner heraufziehenden Verrücktheit betrügt er seine eignen Minister, läßt eilige und wichtige Depeschen, anstatt von Manteuffel, von der Kamarilla entwerfen, schickt dann Bismarck den Entwurf nach Frankfurt, dieser nimmt mit Manteuffel Fühlung, der wieder einen Herrn aus dem Emigrantenkreise zitiert und mehrere Tage wartet, bis dieser den besten französischen Ausdruck findet, »der zwischen dunkel, unklar, zweifelhaft und bedenklich die richtige Mitte hielt.« Zu andern Malen verlangt der König von Bismarck Denkschriften gegen solche des Auswärtigen Amtes, und selbst als Günstling klagt Bismarck über selbstherrliche Anwandlungen, spricht vom »jähen Wechsel der Ansichten, Unregelmäßigkeiten in Geschäften, Zugänglichkeit für unberufene Hintertreppen-Einflüsse«.

Immer wieder wird er in den ersten Jahren vom König oder von Gerlach nach Berlin berufen, macht in einem Jahre 2000 Meilen zwischen Frankfurt und Berlin; oft, wenn Manteuffel nicht will, wie der König will. Kommt er in solchem Falle nicht sofort, weil ihn der Dienst verhindert, so empfängt ihn der König nicht, schickt ihn aber auch nicht fort, »es war das eine Art von Erziehungsmethode, wie man in der Schule, gelegentlich aus der Klasse gewiesen, aber wieder hineingelassen wurde. Ich war gewissermaßen im Charlottenburger Schlosse interniert, ein Zustand, der mir durch ein gutes und elegant serviertes Frühstück erleichtert wurde.« Als ihn der König zum Gesandten in Wien machen will, und Bismarck erwidert, er hätte das Gefühl, seinem Gegner ausgeliefert zu werden, und ginge nur auf Befehl, sagt der König: »Befehlen will ich nicht, Sie sollen freiwillig hingehen und mich darum bitten ... Sie sollten mir dankbar sein, wenn ich Ihre Ausbildung übernehme, weil es bei Ihnen der Mühe lohnt.«

Ganz der Ton und Verkehr mit einem Günstling, der die Launen wie das Wetter ertragen muß. Als der König ihn einmal nach Rügen ruft, um eine Note anders abzufassen als Manteuffel sie entworfen, sie dann abgehen läßt, ihn dafür lobt und zurückhält, obwohl er seit Tagen zu seiner kranken Frau will, bestraft ihn der König, als jener die Abreise schließlich durchsetzt, mit drahtlichem Anhalten der Note, läßt sie zurückkommen und ändert sie ab. So wurde damals das Königreich Preußen regiert.

Bismarck hat dies Treiben, das er brauchte, nie überschätzt, und aus seinem »kaltherzigen Standpunkt anthropologischer Naturkunde« den Mangel an Freunden richtig hergeleitet und wohl gewußt, wie rasch die Gunst der Fürsten schwindet: »Jetzt ist alles Sonnenschein, wenn ich hinkomme, schreibt er nach einem Jahre nach Hause, der Hof verzieht mich, die Großen schmeicheln mir, die Geringen wollen etwas von mir oder durch mich, und ich brauche bisher keine große Anstrengung, um die Idee festzuhalten, daß diese ganze goldbeblechte Schützenkönigsherrlichkeit vielleicht übermorgen vorbei ist, und ich an einem Hoffest ebensoviel kühle Rücken um mich her sehe, als jetzt freundliche Gesichter.«

So kommt es ihm nicht überraschend, wenn er fünf Jahre später gegen Gerlach fast mit denselben Worten feststellt, »das ist anders geworden. Entweder hat der König gefunden, daß ich ein ebenso alltäglicher Mensch bin wie alle übrigen, oder er hat Schlechtes von mir gehört, vielleicht Wahres ... Kurz, er hat weniger als früher das Bedürfnis, mich zu sehen, die Hofdamen Ihrer Majestät lächeln mir kühler zu als sonst, die Herren drücken mir matter die Hand.« Aber mit einem Male fährt er in verändertem Tone fort: »Sie aber, verehrtester Freund, halte ich von jenen kleinen Menschlichkeiten der Hofleute freier, und wenn Ihr Vertrauen zu mir gemindert sein sollte, so bitte ich Sie, mir noch andere Gründe als den Wandel der Hofgunst anzugeben.«

So versteht Bismarck, mit zarten Händen die Elegie eines distanzierten Günstlings für die Ohren eines frommen Höflings abzustimmen und über den Ton eines leisen Vorwurfs in die Beschwörung eines philosophischen Geistes sacht hinüber zu gleiten.

III

Zar Nikolaus war der mächtigste Mann in Europa. Nur in seinem Riesenreiche war alles ruhig geblieben, unsichtbar blieb die Sklaverei der Bauern, und als in Ungarn Revolution ausbrach, konnte der Zar dem jungen Franz Joseph ein entscheidendes Hilfskorps senden; seitdem empfand er ihn als eine Art von Vasallen. Jetzt war der Augenblick, endlich Konstantinopel in Verwahrung zu nehmen und die Türkei zu teilen, die er damals zum ersten Male den Kranken Mann nannte. Aber Napoleon wollte die Schlüssel des Heiligen Grabes nicht hergeben, wollte die Niederlagen seines Oheims von anno 12 und 14 und sich selber dafür rächen, daß der hochmütige Zar ihn in Briefen nicht mon frère, sondern nur mon cousin ansprach. An solchen Farcen hing damals das Schicksal Europas. Anfang 54 rückte der Krieg nahe zwischen Rußland und einer Alliance der Franzosen, Engländer und Türken. Östreich, das Rußlands Ausdehnung auf dem Balkan fürchten mußte, war entschlossen, sich dem westlichen Bündnis anzuschließen. Die gleiche Frage erging an Preußen.

Alles, was liberal fühlt, will im Bunde mit dem Westen gegen Rußland kämpfen; auch um den König sind viele für Krieg, an ihrer Spitze Prinz Wilhelm. Manteuffel hat schon eingewilligt, am entscheidenden Ultimatum in Petersburg mitzuwirken; nur die Altkonservativen, mit Gerlach an der Spitze, sind dagegen, diese Burg der Reaktion, den Kampfgenossen von 1813 anzugreifen. Auf dem Höhepunkte der Krisis, im März, ruft Gerlach seinen Schüler nach Berlin. Sogleich läßt ihn Wilhelm zu sich kommen; leiden kann er diesen Menschen nicht, aber er kennt den großen Einfluß auf seinen wankenden Bruder, steht übrigens mit ihm persönlich leidlich und hat neulich neben Manteuffel Patenstelle bei seinem zweiten Sohn Wilhelm, später Bill genannt, übernommen.

– Sie sehen sich hier zwei streitenden Systemen gegenüber, fängt Wilhelm an, von denen das eine: durch Manteuffel, das andre, russenfreundliche, durch Gerlach und durch Münster in Petersburg vertreten ist. Sie kommen frisch hierher, sind vom Könige gewissermaßen als Schiedsmann berufen, Ihre Meinung wird daher den Ausschlag geben, und ich beschwöre Sie, sprechen Sie sich so aus ... Rußland ruft ganz Europa gegen sich auf und wird schließlich unterliegen. – In der Tat, damals wollte Wilhelm aus Freundschaft für den Zaren, seinen Neffen, gegen ihn drohend auftreten, um ihn vor einem einigen Europa zurückweichen zu lassen und zu retten.

»Das kann ich nicht, erwidert Bismarck, wir haben keinen Kriegsgrund, keinen Kampfpreis und würden nur die Erbitterung und Rachsucht eines an unserer Grenze Besiegten erzeugen. Wir würden aus Furcht vor Frankreich oder in Diensten Englands die Rolle eines indischen Vasallenfürsten übernehmen, der im englischen Patronat englische Kriege zu führen hat.«

– Von Vasallen und Furcht ist gar keine Rede! ruft der Prinz »mit zorniger Röte«. Bismarck hört aus seinen Worten die Stimme Augustas, deren antirussische Grundstimmung er aus dem Widerspruch gegen ihre russische Mutter herleitet: ein psychologisch bedeutsames Gegenstück zur Antipathie, die er der eigenen Mutter bewahrte. Überdies schien Augusta ihm »für alles Fremde mehr Interesse zu haben als für das Näherliegende, Alltägliche«. In Koblenz, wo dieses Thronfolgerpaar residierte, hat sich schon lange ein Hoflager mit Front gegen Sanssouci gebildet.

Zum zweiten Male treffen sich Wilhelm und Bismarck als Gegner. Vor vier Jahren wollte Wilhelm in den Krieg, Bismarck nach Olmütz, und Wilhelm faßte die Ernennung seines Gegners zum Gesandten geradezu als weitere Unterwerfung unter Östreich auf; heut fürchtet der Prinz eine Demütigung vor Rußland. Muß er nicht Bismarck für feige halten? Auf jeden Fall schreibt er außer sich an Manteuffel, dieser Mann treibe Politik wie ein Gymnasiast.

Und doch treibt dieser Mann grade heut zum ersten Male große Politik: im Krimkrieg wird Bismarck zum europäischen Staatsmann. Was Preußen auch täte, so rechnet er, es käme Östreich am Ende zugute, darum will er nicht »unsre schmucke und seefeste Fregatte an das wurmstichige Orlog-Schiff von Östreich koppeln ... Die großen Krisen bilden das Wetter, welches Preußens Wachstum fördert, indem sie furchtlos, vielleicht auch sehr rücksichtslos, von uns benutzt werden ... Jedenfalls steigt der Wert unsres Beistandes auch im Preise mit der fortschreitenden Entwicklung«: Wien soll unsern Beistand nur gegen unsere Vormacht in Deutschland eintauschen! Indessen weiß der haltlose König nicht, was tun, schließt heut Schutz und Trutz mit Östreich, entläßt morgen die Vorkämpfer dieser Politik, sieht seinen Bruder zum zweiten Male wütend fortgehen und weiß, daß die Berliner sagen: »In Sanssouci geht man abends mit Frankreich und England ins Bett und steht mit Rußland frühmorgens wieder auf.«

Entschiedener trennt sich Bismarck im nächsten Jahre von der Hofmeinung, und diesmal auch vom König; er fuhr ohne Auftrag zum Besuch nach Paris und kam mit dem Eindruck zurück, man könne ruhig mit Napoleon gehen, wenn die Konstellation für Preußen nützlich wäre. Darüber Entsetzen in Sanssouci, fromme Briefe Gerlachs gegen dies »Buhlen mit dem Bösen«, sichtliche Ungnade des Königs! Ein zweiter amtlicher Besuch in Paris bestärkt Bismarck in seiner Politik.

Vier intime Gespräche hatte er zwischen 1857 und 61 mit dem Kaiser, eines erstaunlicher als das andre: zweimal sprach Napoleon zu viel, dann Bismarck. Zuletzt trafen sie einander bei Sedan. Für jetzt konnte Napoleon nach dem Krimkrieg und seinem in Paris geschlossenen Frieden sich als Arbiter Europae fühlen, und eigentlich war der Gesandte Preußens, wie er vor seinem Thron erschien, ein ziemlich kleiner Mann. Trotzdem sieht er sich glänzend empfangen, auch von der mächtigen Kaiserin, und ist von beiden kaptiviert: von ihm fühlt er sich erbaut, rühmt an ihm Verstand und Freundlichkeit, während er Eugenie schöner als ihre Bilder findet, ungemein graziös und lieblich, und erklärt, daß er sie »lebhaft bewundert ... wirklich eine seltene Frau, nicht nur von außen«. (Sie sagt von ihm: »II est plus causeur qu'un Parisien.«) Und all dies schreibt und wiederholt privat und amtlich derselbe Mann, der die Heraufkunft dieses Parvenüs bespottet, die Revolution verflucht hat, aus der dieser Kaiser hervorging: dies alles schreibt er, Bismarck, Stockpreuße, königstreu und Legitimist, er ist es, der nun für Paris schwärmt und für die beiden Emporkömmlinge! Und doch bleibt ihm jetzt und später dieses Volk so fremd, wie ihm das englische von vornherein sympathisch gewesen; selbst Paris, das ihn fasziniert, wird er bald bekritteln. Warum also nicht den Kaiser? Hat ihn wirklich so viel Ehre in Feuer versetzt?

Er ist von Eis. Das Feuer, das ihn im Landtage glühen ließ, als man es zu Hause mit Revolution oder doch mit Demokratie versuchte, ist längst erloschen, voller Kälte und mit einer Klarheit, die ihn von allen Grundsätzen befreit, blickt er ins Spiel der Kräfte. Er weiß, Napoleon sucht sich rasch dem besiegten Rußland zu verbinden, und Östreich umwirbt den Kaiser. Was also bleibt Preußen, um nicht isoliert in der Mitte zu liegen, vielleicht erdrückt zu werden? Ein Bündnis mit Frankreich. Der Kaiser kommt ihm entgegen, legt dar, wie töricht er wäre, die Rheingrenze zu fordern, nur im Mittelmeer wolle er vordringen:

– Der Franzose ist ein Landsoldat, kein Seemann, fühlt sich also grade auf diesem Gebiete geschmeichelt. Preußen muß sich vergrößern, Hannover, Schleswig und Holstein nehmen, dann eine Seemacht zunächst zweiten Ranges werden, um mit der französischen zusammen die englische in Schach zu halten. Dafür möchte ich auf Preußens Ruhe rechnen, wenn es einmal zu Verwickelungen mit Östreich um Italiens willen käme. Sondieren Sie den König über dies alles: –

Bismarck: »Ich bin doppelt erfreut, weil E. M. diese Eröffnung grade mir machen, zunächst als Beweis des Vertrauens, ferner aber, weil ich wohl der einzige preußische Diplomat bin, der es auf sich nimmt, diese Eröffnungen zu Hause und auch meinem Souverän zu verschweigen: denn es liegt außer Möglichkeit, daß er darauf eingeht. Aber im mündlichen Verkehr des Fürsten würden Quellen der Indiskretion liegen, die das gute Einvernehmen mit Frankreich trüben könnten.«

Napoleon: Aber das wäre mehr als Indiskretion, das wäre Verrat!, erwidert der Kaiser.

»Sie würden in den Sumpf geraten«, sagt Bismarck. Dies Wort akzeptiert Napoleon, dankt für Offenheit und nimmt das Versprechen zu schweigen entgegen.

Die erste europäische Probe Bismarcks zeigt ihn gleich auf der Höhe seiner persönlichen Technik: anstatt wie alle andern zu erwidern, er sei ohne Instruktionen und werde alles melden, fühlt er Geistesgegenwart, Mut und Verantwortung genug, diesen Plan des Fremden zur Einmischung in Deutschland von sich aus zu vereiteln: die Flamme tritt er mit dem Stiefel aus, bevor sie einer sieht. Und dies, obwohl er Östreichs Feind, obwohl er fast als der einzige unter den Seinen entschlossen ist, sogar zum Bündnis mit dem Kaiser zu raten! Du kommst in so fragwürdiger Gestalt, sagt er sich, und wirklich staunt man vor einem so überstürzten Antrag des klugen Franzosen. Hat er die neue Form dieses Preußen durchgespürt und Offenheit durch Offenheit bezwingen wollen?

Entscheidender Irrtum: denn Bismarck ist offen, wo er schrecken oder bluffen will; niemals, wenn der andre vertraut. Durch die Form seiner Antwort will er auch hier nur Vertrauen gewinnen; das gelingt ihm. Auch verschweigt er zwar im Berichte die Szene, wie versprochen; kaum aber ist er zurück, so erzählt er sie Gerlach, also dem Könige. Während er sich aber vor dem Kaiser als der einzige Preuße bezeichnet hat, der seinen Antrag verschweigen würde, ist er vor dem König der einzige, der geistig zu dem Antrage, zunächst zu einer Einladung Napoleons nach Berlin rät, während die Kreuzzeitung Napoleon dauernd beschimpft. Zum ersten Male tritt in dieser Wendung der große Realist den Potsdamer Romantikern, der Mann ohne Grundsätze den Legitimisten gegenüber, zum ersten Male sieht man ihn frei von den Grundsätzen einer Partei, auf die er niemals schwor. In umfangreichem Briefwechsel mit Gerlach verläßt er nun seinen Meister, gibt aus Berechnung und Nützlichkeit ohne weiteres das Grundprinzip der Legitimität preis, auf dem er zu fußen meinte: aus dem Parteimann ist ein Staatsmann geworden, der sich bei seinem eignen, veralteten Urteil nicht aufhält:

»Der Mann (Napoleon) imponiert mir durchaus nicht. Die Fähigkeit, Menschen zu bewundern, ist in mir nur mäßig ausgebildet und vielmehr ein Fehler meines Auges, daß es schärfer für Schwächen als für Vorzüge ist ... Meinen Sie ein auf Frankreich und seine Legitimität anzuwendendes Prinzip, so gestehe ich allerdings, daß ich dieses meinem spezifisch preußischen Patriotismus vollständig unterordne; Frankreich interessiert mich nur insoweit, als es auf die Lage meines Vaterlandes reagiert, und wir können Politik nur mit dem Frankreich treiben, welches vorhanden ist ... Es gilt mir nur als ein Stein, und zwar ein unvermeidlicher, in dem Schachspiel der Politik, ein Spiel, in welchem ich nur meinem Könige und meinem Lande zu dienen den Beruf habe. Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und Personen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen Dienste meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch an anderen; es ist darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn oder das Land ... Die Interessen des Vaterlandes dem eigenen Gefühl von Liebe oder Haß gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner Ansicht nach selbst der König nicht das Recht ..

»Ich frage Sie, ob es in Europa ein Kabinett gibt, welches mehr als das Wiener ein geborenes und natürliches Interesse daran hat, Preußen nicht stärker werden zu lassen, sondern seinen Einfluß in Deutschland zu mindern ... Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben nur für England und seine Bewohner Sympathie gehabt und bin stundenweise noch nicht frei davon; aber die Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen, und ich würde, sobald man mir nachweist, daß es im Interesse einer gesunden und wohldurchdachten Politik liegt, unsre Truppen mit derselben Genugtuung auf die französischen, russischen, englischen oder östreichischen feuern sehen ..

»Wann und nach welchen Kennzeichen haben alle diese Mächte aufgehört, revolutionär zu sein? Es scheint, daß man ihnen die illegitime Geburt verzeiht, sobald wir keine Gefahr von ihnen besorgen, und daß man sich alsdann auch nicht prinzipiell daran stößt, wenn sie fortfahren, ohne Buße, ja mit Rühmen sich zu ihrer Wurzel im Unrecht zu bekennen ... Wenn man der Revolution einen irdischen Ursprung nachweisen will, so wäre auch der nicht in Frankreich, sondern eher in England zu suchen, wenn nicht noch früher in Deutschland oder in Rom ... Wie viele Existenzen gibt es noch in der heutigen politischen Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie Spanien, Portugal, Brasilien, alle amerikanischen Republiken, Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, ... England; selbst für das Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten teils Kaiser und Reich, ... teils ihren eignen Landständen abgewonnen haben, läßt sich kein vollständig legitimer Besitztitel nachweisen, und in unserm eignen staatlichen Leben können wir der Benutzung revolutionärer Unterlagen nicht entgehen ... Aber selbst dann, wenn die revolutionären Erscheinungen der Vergangenheit noch nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen sagen konnte, wie die Hexe im Faust: ›Hier hab' ich eine Flasche, aus der ich selbst zuweilen nasche, die auch nicht mehr im mind'sten stinkt‹, – hatte man nicht immer die Keuschheit, sich liebender Berührungen zu enthalten.«

Hier ist zum ersten Male Bismarck der Staatsmann; aus diesem Brief an Gerlach treten die Grundzüge seiner politischen Laufbahn hervor; noch mit 82 Jahren wird er nicht anders urteilen als jetzt mit 42. Setzen wir, die Liberalen hätten ebenso gute Spitzel wie die Regierung und fingen diesen Brief ab: was würde wohl ein Abgeordneter der Linken zu diesen Sätzen sagen, der vor einigen Jahren denselben Junker gegen jene Länder und Kronen wettern hörte, die aus dem blutigen Straßenpflaster stammten? Wie? Also sind wir im Grunde alle revolutionären Ursprungs, und es kommt nur auf die Länge der Verjährung und nicht einmal auf diese an! Also kommen sie doch nicht von Gott, die Kronen, die aus Seinem gnadenreichen Schoße stammen sollten, und der Aufruhr von Völkern und die Empörung von Fürsten, der Kampf der Klassen und der Wettstreit der Herzöge hat in vergangener Zeit mit Gewalt über den Besitz von Ländern entschieden und ihn zum Eigentum entwickelt, und tut das noch heute! Warum ist dann der Hohenzoller legitimer als der Bonaparte und Romanow besser als Savoyen? Wo stammen denn dann die Titel für die Vorrechte des Adels her? Sind etwa hier dem Klassenkämpfer zum ersten Male Wahrheiten aufgegangen über Könige und Ritter?

Durchaus nicht. All dies wußte Bismarck vor sieben Jahren wie heut, und wird es morgen öffentlich verleugnen, wie damals, wenn es gilt, im eignen Lande die Prärogative der eignen Klasse zu stützen. Aber nach außen fühlt er sich frei zu handeln, wie es ihm für eben dies Land nützlich erscheint, da draußen gelten keine Vorurteile, dort heißt Gefühlspolitik, was drinnen Dogma schien, Romantik draußen, was drinnen Staatsräson war; denn Innen- und Außenpolitik mit zweierlei Maß zu messen, das ist bei Bismarck Grundgedanke, und man kann sagen, in dieser Form à la Richelieu hat er ihn in Deutschland eingeführt. Aber aus diesem Zwiespalt werden sich alle jene Fehler ergeben, die die Deutschen im Innern verkümmern ließen, während nach außen die Macht des Staates mit dem Machtgefühl dieses Staatsmannes wuchs.

Hier sind sie, Größe und Grenzen Bismarckischen Wirkens: ein Wille, unbeirrt durch Grundsätze oder Sympathien, gerichtet nur auf die Macht des eignen Landes, spottend der Ideen, die indes Europa und das Jahrhundert vorwärts trieben. Wie aber der Wille dieses Kämpfers nach außen sich in Siegen darstellt, so schlägt er nach innen die Rechte der Nation zu Boden, die kein Staatsmann ungestraft bezwingt, anstatt sie mit Gegenkräften ins gleiche zu setzen. Mit derselben Genugtuung will er die Truppen auf Fremde wie auf Deutsche feuern sehen, wenn es nur Preußen nützt; doch wenn er ihre Gewehre später auch auf preußische Rebellen richten sollte, nur weil sie ihr Land anders regieren wollen: das wird seine Macht erschüttern.

IV

»Eigentlich ist es leichtsinnig, schreibt, in Hinblick auf die Kosten, Bismarck seinem Bruder, als ihn der König ins Herrenhaus berufen hat, aber es ist auf lebenslänglich und gibt eine feste Position, welche der Regierung gegenüber Einfluß verleiht. Ob es nützlich und angenehm ist, letzteren zu besitzen, ist freilich eine kritische Frage, die ich in den meisten Augenblicken meiner Existenz verneinen möchte, während ich in anderen, ehrgeizigeren oder patriotischer bewegten, meine beiden Ohren dafür geben möchte, meine politischen Ansichten durchzusetzen ... Ich möchte nur auf sechs Monate das Ruder in der Hand haben.« Rasch läßt er Partei und Kammer im Stich, lehnt eine Wiederwahl ab und nutzt vorher seine Doppelstellung in Berlin, um zu fehlen, wenn seine Freunde gegen die Regierung, er gegen seine Freunde stimmen müßte.

Dafür entschädigt er sich, wenn er in einem Berliner Restaurant eine liberale Gesellschaft trifft, eine Viertelstunde an ihrem Tische Platz nimmt und dann befriedigt erzählen kann: »Ich habe den Kerls den Appetit verdorben, dem einen habe ich die Backen gestreichelt, dem andern die Hand gedrückt, jedem eine Zärtlichkeit gesagt, es war eine Freude, zu sehen, wie jedem die Galle aus den Augen heraussah!« Aber auch mit der eignen Partei steht er gespannt, spricht sich entschieden gegen jeden Bruch der Verfassung aus, denn »sie hat aufgehört, das Regieren an sich zu hemmen, und wird mehr und mehr das Gefäß, dem erst die Persönlichkeit des Regierenden Inhalt verleiht«. So hat er die Taktik geändert, auch im Innern das Verrufene formell anerkannt, er fragt gradezu, ob es klug sei, immer reaktionär zu bleiben, wenn man nur dadurch gewisse Kleinstaaten Östreich zutreibt, anstatt sie durch Liberalität preußenfreundlicher zu machen, und will die Berliner Kammern trotz demokratischer Tendenzen über Deutschland weiter reden lassen, damit Preußen als Führer im Reiche populär werde.

Denn auf die Führerschaft im engeren Deutschland hat sich der Blick dieses Preußen gerichtet, mit produktivem Zynismus spricht er es aus: »So entschiedene Abneigung ich dagegen habe, im eignen Vaterlande das Recht der Politik zu opfern, so habe ich doch preußischen Egoismus genug, um in bezug auf Hannoversches Recht nicht in demselben Grade gewissenhaft zu sein.« Groß-Deutschland ist ein Traum, der Deutsche Bund ist tot oder wert zu sterben, der deutsche Wille der kleinen Dynasten eine Phrase, vielmehr der Rheinbund wieder vor der Tür, und er fragt Gerlach: »Was könnte Sie berechtigen, zu glauben, daß die Großherzöge von Baden und Darmstadt, der König von Württemberg oder Bayern den Leonidas ... machen sollte? Schwerlich wird der König Max in Fontainebleau dem Napoleon sagen, daß er nur über seine Leiche die Grenze Deutschlands oder Östreichs passieren werde.«

Indessen hat er Deutschland kennengelernt, denn alle deutschen Höfe zu besuchen, hat er sich beim Eintritt ausbedungen, und nun ist seine Personalkenntnis in ein paar Jahren beinah vollkommen geworden, Fürsten, Minister, Zeitungen und andere Intriganten hat er gesehen und sich in dieser Form des Dienstes im Grunde am wohlsten gefühlt; sogar aus dem Berliner Treiben schickt er herzhafte Briefe eines amüsierten Junggesellen nach Hause.

Jetzt reist er gern, reist mehr, als er müßte, immer allein, und wenn seine Briefe an die Frau nach Hause meist mit dem Wunsche schließen, bei ihr zu sein, so ist solche Einschränkung ihm Bedürfnis: Bismarck muß seine Stimmung immer drücken, um sie zu erhalten. Da geht er denn nach Brüssel und Amsterdam, nach Kopenhagen, Budapest und Paris, und so, zum ersten Male fahrend wie ein großer Herr, mit Geld und Titel, überall als vornehmer Fremder empfangen, schmeichelt ihm die neue Form des Reisens doch. Wenn Johanna mit Kindern und Eltern in der Schweiz ist, liegt er am Strande von Norderney, »rauchend, träumend oder an Interlaken denkend«. Aber am liebsten läßt er sich doch zu Jagden einladen, nach Dänemark und Kurland. »Erlege ich morgen den Elch, so finde ich so viel Zeit, einen Abstecher zu Dir zu machen, ohne diesen Erfolg kann ich aber nicht umkehren, ehe mir das Feuer nicht auf den Nägeln brennt.«

In solchen Wochen erreicht seine Lebensfreude ihren Höhepunkt, dann fühlt er sich wieder jung und kann getrost aus Ostende schreiben: »Nur das Bewußtsein tadelfreier Körperformen kann unsereinem die Dreistigkeit geben, sich so vor der ganzen Damenwelt zu produzieren, und obschon mir dieses Bewußtsein in hohem Grade beiwohnt, ziehe ich doch gewöhnlich das entlegenere ›paradis‹ vor ..., wo nur Herren sind, aber ganz in dem Kostüm, welches der ersteren Bezeichnung entspricht. Ich mag das nasse Ding nicht auf dem Leibe haben.« Oder er fährt an einem Juliabend im Kahn in den Rhein hinaus, schwimmt im Mondschein bis zum Mäuseturm, genießt das Träumerische solcher Stimmung, erklärt, er möchte jeden Abend so allein schwimmen, setzt sich dann mit einem Kollegen zum Rheinwein und philosophiert über Rousseau und Gott.

Eine andere Form der Nervenentspannung findet er in der Musik. Rauchend, geht er auf und nieder, wenn Keudell ihm vorspielt, denn Konzerte hat er sein ganzes Leben lang abgelehnt, »Musik muß frei geschenkt werden wie Liebe, und eingezwängt kann man überhaupt nicht sitzen.« Auch vierhändig kann er nicht spielen hören, diese Gebundenheit ist ihm schon zu viel, ebensowenig Variationen; erst wenn der Spieler ohne Blatt zu seinem Instrumente spricht, beginnt für ihn der Genuß. Dann sieht er Bilder, im Grunde sieht er immer sich selber, denn wenn er sich nachher äußert, so ist es immer von einem tätigen Manne. »Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens ... Wenn ich diese Musik oft hörte, würde ich immer sehr tapfer sein,« sagt er nach der Appassionata. Oder er sieht »einen Cromwellschen Reiter, der mit verhängten Zügeln in die Schlacht reitet und denkt, jetzt muß gestorben sein«. »Dem Manne geht es aber wirklich sehr schlecht«, sagt er nach einem Mendelssohn. »Der Mann hat anfangs Zweifel, ringt sich aber allmählich zu einem festen, frohen Bekenntnis durch,« nach einem Präludium von Bach.

Im Grunde bleibt dieser Problematiker immer bei Beethoven: »Beethchen ist mir lieber, er sagt meinen Nerven am besten zu,« und tief blickt man in das Gefüge seines Herzens, wenn man ihn bekennen hört: »Gute Musik regt mich oft nach einer von zwei entgegengesetzten Richtungen an: zum Vorgefühle des Krieges oder der Idylle.« Mit Ehrfurcht tritt er damals noch vor musischen Dingen zurück, gern fühlt er sie seinem klaren Verstände entschweben, und Keudell sieht ihn einmal, während er spielt, im Spiegel, wie er leise eintritt, hinter seinem Stuhl die ausgestreckten Hände über des Spielers Kopf hält, für ein paar Sekunden; »dann setzte er sich an ein Fenster und blickte in die Abenddämmerung hinaus, während ich weit erspielte.« Solche Sekunden der Ergriffenheit ohne Grund, der Auflösung und Hingabe, sehr seltene Momente zärtlicher Selbstverleugnung knüpfen an frühe Melancholien an, die er einst einsam und mit innerer Wonne pflegte.

Nur ausnahmsweise erlaubt er der eigenen Jugend, wieder aufzutauchen. Als er Wiesbaden wiedersieht, wo er vor 20 Jahren so toll gelebt, scheint kein freundlicher Gedanke an die Frauen ihn zu beleben, mit denen er damals sein Spiel trieb; man hört ihn hier nur stöhnen, »wo damals der Champagner 22jähriger Jugend nutzlos verbrauste und schale Neigen zurückließ. Wo und wie mögen Isabelle Loraine und Miß Russell jetzt leben ... Ich begreife nicht, wie ein Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß oder wissen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann ... Ich weiß nicht, wie ich das früher ausgehalten habe; sollte ich jetzt leben wie damals, ohne Gott, ohne dich, ohne Kinder – ich wüßte doch in der Tat nicht, warum ich dies Leben nicht ablegen sollte wie ein schmutziges Hemde ... Mir ist, als wenn man an einem schönen Septembertage das gelbwerdende Laub betrachtet; gesund und heiter, aber etwas Wehmut, etwas Heimweh, Sehnsucht nach Wald, See, Wiese, Dir und Kindern, alles mit Sonnenuntergang und Beethovenscher Symphonie vermischt.«

Noch stärker als zuvor sind ihm jetzt Glaube und Familie eins, und wenn er den Unglauben fürchtet, so fürchtet er die alte Einsamkeit. Ein seltsam frevelhafter Groll auf seine Jugend muß ihm helfen, die steigenden Jahre zu ertragen. »Vor den Vierzig schaudert mich etwas, schreibt er dem Bruder. Da ist man dann über den Berg und geht nur noch talwärts bis zum Schönhauser Gewölbe; und man bildet sich immer noch ein, am Anfang des Lebens zu sein, und das Eigentliche noch vor sich zu haben ... Man sagt sich so schwer von einem gewissen Anspruch an Jugendlichkeit los, und die 3, selbst mit der 9 dahinter, hat noch etwas an sich, wodurch dieser Illusion Vorschub geleistet wird. Das Leben ist wie ein geschicktes Zahnausziehen; man denkt, das Eigentliche soll erst kommen, bis man mit Verwunderung sieht, daß es schon vorbei ist; oder ich will es, meiner hiesigen Beschäftigung entsprechend, lieber mit einem Diner vergleichen, bei dem das unerwartet frühe Erscheinen von Braten und Salat auf den Gesichtern der Gäste den Ausdruck der Enttäuschung hervorruft.«

Hier sind es Ironien, dort Selbstvorwürfe, mit denen er sich zu einer Geduld und Entsagung zwingen will, die seinem heißen Lebensdurst zuwider sind: denn eben, daß das Eigentliche immer auf sich warten läßt, das kann diese faustische Natur Gott nicht verzeihen. Dies alles ist noch immer nichts: Regieren, das wäre die Erlösung. Als er 42 ist, fragt ihn Keudell: »Fühlen Sie nicht auch heut einen höheren Wellenschlag des Lebens wie als Student?« Pause: eine entsetzliche Frage!

»Nein, sagt er schließlich. – Ja – wenn man so über das Ganze disponieren könnte! – Aber unter einem Herrn seine Kraft verpuffen, dem man nur mit Hilfe der Religion gehorchen kann!«

Dies tiefe Bekenntnis, dem ähnliche folgen werden, offenbart nicht bloß die innere Unruhe dieser Seele, sie legt auch die Form seines Glaubens bloß, dem er immer sein Königsgefühl unterbaut, damit beide einander stützen: »Nur das Christentum, schreibt er um diese Zeit, kann die Fürsten von der Auffassung des Lebens lösen, welche sie oder doch viele von ihnen in der von Gott verliehenen Stellung nur Mittel zu angenehmerem und willkürlichem Leben suchen läßt.« So setzt er, der eben noch die Legitimen ausgelacht und den revolutionären Ursprung aller Mächte Europas bewiesen hat, Gott wieder ein, wo er ihn eben braucht, er läßt ihn wieder fallen, wo er ihn stört. Sogar gegen die fromme Frau wagt er jetzt zu bekennen: »Speisen möchte ich meinen Feind schon, wenn ihn hungert, aber lieben – das würde doch sehr äußerlich sein, wenn ich es überhaupt täte.« Und einen Vorstoß der neuen Flotte, den er wünscht, ohne ihn nötig zu finden, entschuldigt er mit den grausamen Worten: »Die Menschen, die das kostet, sterben doch, ehe 40 Jahre vergehen.«

Naiv und ängstlich sieht Ludwig von Gerlach, der Pietist, sein geistiges Pflegekind sich rasch macchiavellisieren, und ruft dem Enteilenden durch seinen Verwandten Kleist-Retzow nach: »Halten Sie Bismarck warm, dulden Sie nicht, daß er der Weltlichkeit verfällt. Er ist edler carrarischer Marmor ... Er ist ein fetter Bissen für die Welt und den Satan, die bekanntlich so leicht nicht loslassen ... Predigen Sie ihm Katechismus!« Inzwischen predigt er längst Realpolitik.

Am höchsten steigt das Dilemma des christlichen Ritters in einem Duell. Da hat ihn sein Kammer-Rivale Vincke auf der Tribüne einen Diplomaten genannt, dessen ganze Leistung in der Geschichte von der Zigarre des Grafen Thun beschlossen sei, und der keine Diskretion kenne; Bismarck hat ihm darauf Mangel an Erziehung vorgeworfen, dann hat Vincke auf vier Kugeln gefordert; als den tieferen Grund der Feindschaft und des Duells hat Bismarck später jenes heftige Gespräch vom März 48 über Augustas tückische Pläne bezeichnet. Am Abend hält Bismarck Betstunde ab und stellt dem Geistlichen die groteske Frage, ob er morgen, wenn schon schießen, dann auch zielen dürfe. »Es war sehr schönes Wetter und die Vögel sangen zu munter im Sonnenschein, daß mir alle traurigen Gedanken vergingen, sobald wir in den (Tegeler) Wald kamen.« Draußen vermittelt man nochmals, ermäßigt die Forderung auf einen Schuß und würde alles beilegen, wenn dem Geforderten seine Äußerung leid täte. Ablehnung, Aufstellung. »Ich zielte ohne Zorn und fehlte ... Aber ich kann nicht leugnen, als ich durch den Dampf sah und mein Gegner aufrecht stehen blieb, hinderte mich eine Empfindung des Mißbehagens, in den allgemeinen Jubel einzustimmen; die Ermäßigung der Forderung war mir verdrießlich, und ich hätte das Gefecht gern fortgesetzt ... Es war aus, und alles schüttelte sich die Hände ... Der Herr aber wird wissen, was er noch aus Vincke machen will.«

In diesem Bericht, dessen kampfesfrohe Stellen doppelt wahr sind, da er ihn seiner Schwiegermutter in frommer Stilisierung schickt, wird der ganze Widersinn plastisch, in dem dieser Kämpfer und Gewaltmensch sich als Christ gebärdet. Schießen ist erlaubt, zielen fraglich, also ohne Zorn, aber wie ärgerlich für den Jäger, wenn er das Wild noch nach dem Schuß im Dampfe stehen sieht! Dabei kein Gedanke, warum er selber nicht getroffen wird, denn nur was Gott mit Vincke vorhaben mag, nicht mit ihm selber, geht dem grollenden Schützen nach. Auch hier scheint es wieder, er haßt den Gegner stärker, als er sich bebt.

Johanna verzeiht ihm nicht so schnell. Sie Hebt die Ruhe, wie er den Kampf; ihr fehlt für dieses Treiben im Grunde alles, was ihn dafür befähigt: Ehrgeiz, Weltsinn, Gesundheit, oft ist sie krank, nicht nur nach der Geburt der Kinder, deren Pflege sie Nächte, deren von ihm vernachlässigter Erziehung sie Stunden und Monate im Jahre opfert; eine Augenschwäche schreitet fort, sie muß Bäder nehmen, auf Reisen, zuweilen auch in der Gesellschaft geschont werden, und da sie auch das Haus nicht allein führen kann, so muß sich der Mann um Erneuerung und Disziplin der Dienerschaft, Aussuchen von Möbeln und Silber kümmern, was ihm als Landwirt alles geläufig und inmitten anderer Gedankengänge sicher nicht unlieb ist. Er, der Beschäftigte ist es, der immer Briefe von ihr einfordert, darin hat sie ihre Launen und entbehrt überhaupt der Fähigkeit, sich den Tag einzuteilen.

Dies alles, was er erstrebt und erreicht, imponiert ihr nicht, sie unterdrückt nicht immer ihren Mißmut über das Weltleben: »Schnurstracks nach Schönhausen, schreibt sie ihrem Freunde Keudell mitten aus einer Krise, uns um nichts kümmernd als um uns selbst, um unsre Kinder, Eltern und die wirklichen wahrhaften Freunde, das wäre meine Wonne! Dann würde er gewiß bald wieder so stark und frisch werden, wie ... als er eintrat in diese unleidliche stürmische Diplomatenwelt, die ihm gar nichts Gutes gebracht, nur Ärger, Feindschaft, Mißgunst, Undankbarkeit ... Wenn er den Staub seiner lieben Füße über den ganzen nichtsnutzigen Schwindel schütteln und all dem Unsinn entrinnen wollte, in den er mit seinem ehrlichen, anständigen, grundedlen Charakter nie hineinpaßt, dann wäre ich vollkommen glücklich und zufrieden. Aber – er wird es leider wohl nicht tun, weil er sich einbildet, dem ›teuren Vaterlande‹ seine Dienste schuldig zu sein.«

Hier sieht man nicht nur die Wünsche ihres klaren und frommen Herzens, man hört auch aus der Darstellung seiner Motive, wie er sich ihr als ehrliche Haut schildert. Auch hier ist nirgends Betrug, denn was hegt ihm näher, als dies Bewußtsein, seine immanente Überlegenheit sich selbst und anderen moralisch umzufärben, und Gegner, Kollegen oder Chefs, die nur alle dümmer sind als er, für listiger zu erklären! Da wäre ihm freilich eine Frau auf die Dauer unerträglich, die schlau genug wäre, ihn psychisch zu kontrollieren, oder so ehrgeizig, ihn im allgemeinen Intrigenspiele aufzuhetzen. Sein Menschenblick hat richtig gesehen, als er Johanna Puttkamer wählte: sie bebt nur ihn, und wird von den Gefühlen ihrer offnen Seele weder zur Kritik noch zur Vergötterung verleitet; da sie sein Herz besitzt, fordert sie nichts von ihm, auch nicht Genie.

Was sie unbedingt leisten muß, das lehrt er sie leicht, aller nicht mehr. »Und du, mein armes Kind, hat er ihr anfangs geschrieben, mußt steif und ehrbar im Salon sitzen und mit Exzellenzen klug und weise sein.« Französisch und Reiten, das wird nun doch akut, sie lernt es auch. Wird ihr aber irgend etwas zu viel, so jagt er seine Wünsche gleich in den Winkel und richtet sich gar trotzig gegen sich selber auf: »Ich habe dich geheiratet, um dich in Gott und nach dem Bedürfnis meines Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für mein Herz zu haben, die all ihre dürren Winde nicht erkälten und an der ich die Wärme des heimatlichen Kaminfeuers finde, an das ich mich dränge, wenn es draußen stürmt und friert.« Aber sogleich springt der Diplomat wieder aus dem Winkel hervor, und wenn sie in ihrer Ganzheit und Leidenschaft gegen Menschen geschrieben hat, so heißt es mit Blick auf die Postspione gleich, sie solle sich »nicht so sehr gegen einzelne Personen in Briefen austoben, denn das wird alles sofort wieder an den Mann gebracht und auf meine Rechnung geschrieben; außerdem tust du den Leuten unrecht ... Schreibe mir nicht, was die Polizei nicht lesen und an König ... oder Minister mitteilen könnte ... Sei darauf gefaßt, daß hier oder in Sanssouci mit Sauce aufgewärmt wird, was du in der Badehütte zu Charlotte flüsterst.«

Ihr Debüt bei Hofe mißlingt, freilich nicht durch seine oder ihre Schuld. Auf einem Rheindampfer, zu dessen Fahrt er geladen ist, läßt er sie nachkommen, um sie einzuführen, »S. M. ignorierten sie aber vollständig, auch als wir en très petit comité einige Stunden lang auf dem Dampfschiff zusammen waren; die Königin war leidend und hatte daher nicht viel für sie übrig, und die Prinzessin von Preußen behandelte sie mit gesuchter Zurücksetzung ... Wenn auch der Prinz mit großer Liebenswürdigkeit sich der merklichen Verlassenheit meiner Frau annahm, so kam doch ihr unverdorbener, hinterpommerscher Royalismus etwas tränenschwer aus dieser Probe zurück ... Ihr ritterlicher Sinn, so schließt er diesen Bericht an Gerlach, wird es natürlich finden, daß ich eine Demütigung meiner Frau schärfer fühle als alles, was mir selbst passieren könnte, und gegen einen muß man sein Herz doch erleichtern, namentlich wenn ich's gegen meine Ehehälfte nicht kann, die ich zu überreden suche, daß das alles ganz hübsch höfisch-natürlich war.«

Man sieht die Szene, die sogar hier in offener Beschwerde an des Königs Freund kaum verhüllt wird: daß ihm Johanna nun leicht auf der Heimfahrt beweisen konnte, wie unsinnig dies ganze Leben sei, wie sie ihm nicht genüge, was die Prinzessin sich wohl einbilde, und man erkennt Bismarck erst an der Entschiedenheit wieder, mit der er bei der nächsten Station das Königsschiff verlassen hat. Immerhin mag er bei solcher Gelegenheit seine Gedanken über hochgewachsene, glänzende Frauen haben, an deren Seite er in solchen Kreisen noch fester hätte auftreten können.

Was sie sich wünscht, das schenkt er ihr und kümmert sich als alter Frauenkenner um die Einzelheiten: welche Farbe der Kaschmir – Schal haben soll, den er seinen Pariser Kollegen für sie zu besorgen bittet, daß das Kleid moiré antique, das die Schwester besorgen soll, gegen 20 Ellen lichtweiß sein, daß der vergoldete Fächer sehr rasseln muß, obwohl er es nicht leiden kann, und in Paris sucht er vergebens nach Blaukehlchen, von denen sie träumt. Ja er trägt trotz Widerstrebens eine Kette mit kleinen Orden, ihr Geschenk, »denn es würde sie sehr schmerzen, wenn sie merkt, daß es nicht ganz mein geheimrätliches Ideal ist, ... immer das ganze Handwerkszeug bei mir zu tragen«.

Und immer rechnet er ihre Eltern zum innersten Kreise, spricht auf das zärtlichste von Väterchen, erträgt und wünscht durch viele Wochen ihre Besuche und spricht von dem »kleinen Staat von sieben Seelen, zu dem wir zusammengewachsen sind ... Kummer und Sorge kann doch im irdischen Leben nicht fehlen, und es ist besser, auf der Straße zu frieren als im eigenen Hause«.

V

Die Verrücktheit des Königs nahm zu. Das Jahrzehnt seit der Revolution war erfüllt von so viel Widerspruch, Laune, Übertreibung, daß die Umgebung oft Mühe hatte, nach außen hin einen Zusammenhang zu fingieren, und während die Hoffnungen Augustas stiegen und sie sich mit ihrem Gatten liberal gab, sprach der König vom Ludergeruch der Revolution und dem imaginären Reif der Kaiserkrone aus »Dreck und Letten«, nannte sie ein Hunde-Halsband, wollte wiederholt die Verfassung durch einen Freibrief ersetzen, und rief abwechselnd den Kaisern in Wien und Petersburg zu: »Ich bin nur dazu da, dem Kaiser von Östreich den Steigbügel zu halten«, und in einer Rede auf den Zaren: »Gott erhalte ihm den Erdteil, den Gott ihm zum Erbteil gegeben hat.« Um so mehr verachteten ihn beide.

Doch erst im Jahre 58 brach die Krankheit dermaßen durch, daß man ihm die Führung der Regierung nehmen konnte. Grade daß keine Tobsucht ausbrach, daß das Denkvermögen »versiegte«, beweist, daß ein Geisteskranker seit vielen Jahren den Staat geleitet hatte; Bismarck selber sah sich in den kritischen Wochen genötigt, im Schritt neben dem König reitend, in die Lenkung seiner Zügel einzugreifen. Als damals der König, der nicht einmal den Geruch des Siegellackes, noch weniger Rauch vertrug, den immer rauchenden Zaren in einem geschlossenen Salonwagen begleitet hatte, brach er mit einem Schlaganfall zusammen. Sofort wird der Streit der Parteien bei Hof akut. Die Anhänger des Königs wollen nur Vertretung, und diese nur immer erneuert, um sich selbst zu halten, die seines Bruders wollen Regentschaft, um dranzukommen.

Bismarck ist zufällig in Berlin. Das lang vorausgesehene Ereignis schreckt ihn nicht, aber er sieht seine Brücke zur Macht wanken, denn was Prinz Wilhelm von ihm denkt, ist nur zu klar: in Olmütz und im Krimkrieg, vor 8 und vor 4 Jahren, stieß sich der Wunsch des kriegerischen Prinzen vornehmlich an Bismarcks Widerstande, der in beiden Krisen den König gegen die Wünsche seines Bruders beeinflußt hatte. Seitdem haben sie sich wiederholt gesprochen, niemals hat sie persönlicher Haß getrennt, politische Interessen vielmehr zu Gesprächen geleitet. Jetzt lädt, während der König bewußtlos liegt, der Prinz den Gesandten zu einem langen Spaziergang ein, und dieser rät ihm auf Befragen, er möge, wenn er die Regierung anträte, die Verfassung annehmen, wie sie ist, und keine Revision fordern. Auch rät er überall zur Regentschaft, um sichere Verhältnisse zu schaffen. Glaubt er, trotz allem Minister zu werden? Kaum. Doch daß man ihn abberufen könnte, glaubt er noch weniger. Was tun, um sich den neuen Herrn zu verbinden?

Nach wiederholt erneuerter Stellvertretung des Regenten, erfährt Bismarck geheim, man wolle den geisteskranken König wieder einsetzen, die Königin solle ihn kontrollieren; sofort macht er sich zu dem in Baden weilenden Thronfolger auf, um ihm diese Pläne zu entdecken. Wilhelm, in dieser Lage ganz naiv und auch ganz Offizier, ruft nur aus:

– Dann nehme ich meinen Abschied!

»Berufen Sie lieber Manteuffel, erwidert Bismarck, und zerstören Sie diese ganze Intrige!« Er weiß, daß Manteuffel den Plan kennt und soeben den Erfolg auf seinem Gut abwartet. Der Prinz beruft ihn, und da Manteuffel seit des Königs Schlaganfall um seine Stellung zittert, ist er erschrocken und wünscht Bismarcks Begleitung. Er wird sofort vom Prinzen entlassen, als dieser sich mit Augustas Energie durchsetzt und im Herbst als Regent vereidigen läßt. Ein liberaleres Kabinett wird ernannt, Bismarcks Freunde glauben, und sogar Johanna hofft, jetzt müsse er seinen Abschied nehmen. Er aber kennt den ungeheuren Dienst, mit dem er im kritischen Momente sich seinen neuen Herrn verbunden hat, und erwidert, es würde schon gehen, der neue Premier, ein Fürst Hohenzollern, sei ja auch konservativ. »Schon zum Ärger der intriganten Schwätzerin, der Usedom (die nach Frankfurt möchte), will ich in Frankfurt bleiben!« Doch im Hinblick auf Augustas Haß und Wilhelms Schwäche sichert er sich auch diesmal den Rückzug vor den Seinen und vor sich selber:

»Abwechslung ist die Seele des Lebens, schreibt er jetzt der Schwester ... Hoffentlich werde ich mich um 10 Jahre verjüngt fühlen, wenn ich mich wieder in derselben Gefechtsposition befinde wie 48-49. Wenn ich die Rollen des Gentleman und des Diplomaten nicht mehr miteinander verträglich finde, so wird mich das Vergnügen oder die Last, ein hohes Gehalt mit Anstand zu depensieren, keine Minute in der Wahl beirren. Zu leben habe ich nach meinen Bedürfnissen, und wenn mir Gott Frau und Kind gesund erhält wie bisher, so sage ich: ›Vogue la galère‹, in welchem Fahrwasser es auch sein mag. Nach 30 Jahren wird es mir wohl gleichgültig sein, ob ich jetzt Diplomat oder Landjunker spiele, und bisher hat die Aussicht auf frischen, ehrlichen Kampf, ohne durch irgendeine amtliche Fessel geniert zu sein, gewissermaßen in politischen Schwimmhosen, fast ebenso viel Reiz für mich, als die Aussicht auf ein fortgesetztes Regime von Trüffeln, Depeschen und Großkreuzen. Nach neune ist alles vorbei, sagt der Schauspieler.« Und als darauf von seiner Versetzung nach Petersburg die Rede ist: »Es wird hier wohl schlechtes Wetter, politisches, geben, welches ich recht gern im Bärenpelz, bei Kaviar und Elenjagd abwarte.«

Solche Briefe sind bei Bismarck zugleich Ankündigungen und Rückversicherungen im bequemen Wartezimmer, denn daß er je wieder Schönhausener Gutsherr werde und weiter nichts, wie er es doch in immer neuen Klagen zu wünschen glaubt, das ist vorbei; er sieht, wenn er entlassen wird, sofort die Kampfstellung in der Kammer wieder vor sich. Kann sich in ein paar Jahren nicht alles wieder ändern? Ist der Prinzregent nicht so alt wie der König, schon heut über 60? Selbst Augusta ist nicht unsterblich! Für jetzt setzt sie bei ihrem Gatten die Berufung ihrer liberalisierenden, adligen Freunde durch. Streichung Bismarcks von der Liste, Ernennung Usedoms und seiner exzentrischen Frau nach Frankfurt und endlich Bismarcks »Kaltstellung« in Petersburg. Kaum hat er das erfahren, so spielt er das Prävenire beim Regenten und rollt, nach seinem eigenen Berichte, und zwar mit wahrhaft glänzender Freiheit, die Situation auf: »Es ist schade, daß mein in acht Jahren in Frankfurt erworbenes Kapital aus Personen- und Sachkenntnis zwecklos zerstört wird. Graf Usedom wird dort schon durch seine Frau unmöglich sein.«

– Ja, das ist es eben, sagt der Regent, Usedoms hohe Begabung kann man nirgends anders verwenden, weil an jedem Hof seine Frau Verlegenheiten machen würde.

»Dann ist es also ein Fehler, daß ich nicht auch eine taktlose Frau geheiratet habe, sonst würde ich auf den Posten, auf dem ich mich heimisch fühle, denselben Anspruch haben wie Herr von Usedom.«

– Ich begreife nicht, wie Sie die Sache so bitter auffassen können. Petersburg hat doch immer für den obersten Posten gegolten, und Sie sollten es als Beweis hohen Vertrauens aufnehmen.

»Sobald E. Kgl. Hoheit mir dies Zeugnis ausstellen, muß ich natürlich schweigen.« Als er darauf Sorgen über die Frankfurter Fragen andeutet, sagt der Regent:

– Halten Sie mich für eine Schlafmütze? Mein Auswärtiger und mein Kriegsminister werde ich selber sein. Das verstehe ich.

»Heutzutage kann der fähigste Landrat seinen Kreis nicht verwalten, ohne einen intelligenten Sekretär ... Ohne intelligente Minister werden E. Kgl. Hoheit in dem Ergebnis keine Befriedigung finden. Sehen Sie z. B. Schwerins Profil an: über den Augenbrauen springt die Schnelligkeit der Konzentration hervor ... aber darüber fehlt die Stirne, in der die Phrenologen die Besonnenheit suchen. Schwerin ist ein Staatsmann ohne Augenmaß und hat mehr Fähigkeit, einzureißen als aufzubauen«, und so spaziert er mit dem Regenten durch das ganze Kabinett.

Schon in dieser ersten amtlichen Unterhaltung zwischen Bismarck und Wilhelm wird einiges von dem deutlich, was sie trennt. Man weiß nicht, ob man Kühnheit, Verschlagenheit, Logik mehr bewundern soll oder den Witz, mit dem Bismarck zuerst die Verantwortung seinem Gegner zuschiebt und dann die Konkurrenten abhalftert; zugleich sieht man die ruhige Haltung des Herrn, der seinen Diener zu erhöhen glaubt.

Noch hat bis heute Wilhelm nie etwas durchschaut, alles nur militärisch empfunden, was politisch zu entscheiden war, noch hat er nichts hinter sich als ein langes Offiziersleben: geschult und beschränkt. Durchaus seinem Bruder überlegen, den seine geistreichen Exkurse nur noch unfähiger erscheinen ließen, hatte dieser Jüngere mehr Haltung, weniger Geist und im Grunde alle alten preußischen Tugenden, die dem älteren fehlten. Wilhelm war regelmäßig, unendlich fleißig, exakt, er war gerecht, wohlwollend, sehr fromm und Legitimist für sich und andere: er war einfach, aber beschränkt.

In keinem dieser Grundzüge glich ihm Bismarck: der war nervös, verwegen, unzufrieden, er war schlau, mißtrauisch, rücksichtslos und lebte mit Gott und König in schwankenden Gefühlen, bald legitim, bald revolutionär: er war problematisch, aber genial.

Stolz und Mut war beiden gemein und nur durch die Blutsverwandtschaft des persönlichen Mutes wird ihr Zusammenwirken möglich. Denn grade ihr Stolz wollte sie auseinandertreiben: Wilhelm war darin der geborne König, der 6ich aus Frömmigkeit und Ahnenkult immer noch höher als alle andern fühlte, ohne deshalb seinen Verstand im mindesten zu überschätzen; aber der Eigensinn, zu dem das Selbstgefühl des alten Herrn jetzt versteinerte, durfte um keinem Preis fühlen oder merken, daß ihn sein Minister lenkte: dagegen wehrte sich sein Königsgefühl. Bismarck trieb sein Stolz stets kämpfend vorwärts, immer war er auf seine Wahrung bedacht, und obwohl nicht im mindesten eitel, kontrollierte er sich doch beständig an der Mitwelt. Deshalb durfte Wilhelm nie merken, daß Bismarck ihn leitete, während sich Bismarck immer wiederholte, daß er es tat: ohne diese beiden Vorbehalte war ein Zusammenwirken unmöglich.

Bismarck wollte immer leisten, Wilhelm, fast 20 Jahre älter, nur sein und regieren. Dieser wollte für Preußen nichts erobern, auch nicht in Deutschland; jener wollte Preußen durch Deutschland erhöhen. Der König hatte für gewöhnlich den gleichmäßig schönen Pulsschlag eines Erben, wurde aber wie ein solcher in Krisen aufgeregt und störrisch bis zur hellen Wut; der Staatsmann hatte immer den synkopischen Rhythmus eines Autochthonen, immer in Bewegung, ein Getriebener, nur in Augenblicken der Krise eiskalt und klar. So zog er später den ruhigen, alten König hinter sich her, ermüdete seine Gaben immer im Dienst eines anderen: die tragischen Gefühle eines dienenden Genius.

VI

Der Zar war Wilhelms Neffe, und so lange dieser lebte, also noch 30 Jahre, blieb diese Blutsverwandtschaft die große Gewähr für die Freundschaft zweier Länder, die damals so selten wie heute in ihren Interessen kollidierten und bei einer langen Grenze allen Grund hatten, gut Freund zu bleiben. Das Familiengefühl, das Wilhelm, aber auch seine klügere Schwester, die Zarin-Mutter, beherrschte, bedeutete bei der Einfachheit der Charaktere, neben hundert Schädigungen durch die Erblichkeit der Monarchien, eine Brustwehr gegen den Krieg zweier Länder, freilich erst seit und nur so lange Wilhelm der Erste regierte.

Dabei war es schwer, mit Alexander II. zu leben. Dieser Mann von 40 Jahren, mit dem sonderbar leeren Blick, fanatisch, brutal und obszön, in seinen Privatzimmern von unzüchtigen Bildchen umgeben, die erst unsere Tage aufgedeckt haben, dazu charmant und leicht gerührt, wenn ihn die Laune trieb, schwankend zwischen Freiheitsideen und Unterdrückung, liberalisierend und rachedurstig, starker Jäger, aber in Wahrheit gar nicht Soldat, vor allem furchtsam, schien eine ins Russische übersetzte Kopie seines geistvolleren, schwächeren, aber ebenso hysterischen Onkels Friedrich Wilhelm IV. Seine Bauernbefreiung entsprang denselben Motiven der Feigheit und Laune und blieb deshalb ebenso steril, wie lange Zeit die Verfassung des preußischen Königs. Aus demselben Motiv des Gegensatzes und einer Art wohligen Amüsements gefiel dem Neffen, wie vorher dem Onkel, jener riesige pommersche Baron voll Mut und Humor und ohne alle peinliche Schneidigkeit: das Original in Bismarck konnte dem Zaren wohl gefallen, und er empfing ihn als Familien-Gesandten, zog ihn den anderen Fremden vor und begnadete ihn dadurch, daß er in den Audienzen weiterrauchte, was für die intimste Ehrung galt und alle Kollegen ärgerte.

Dazu trat im Zaren das Gefühl politischer Verwandtschaft: der neue Gesandte war Royalist und Feind Östreichs. Zur Zeit von Bismarcks Antritt hatte Napoleon den lang geplanten Krieg Sardiniens gegen Östreich auf Grund seines Bündnisses mit Cavour beginnen lassen, und wieder war, wie im Krimkriege vor fünf Jahren, das halbe Deutschland für Krieg an der Seite des »deutschen« Östreich, gegen den sogenannten Erbfeind: der Dritte Napoleon, hieß es, will wie der Erste Östreich zuerst, dann Preußen vernichten, man muß den Rhein am Po verteidigen, zur Sicherheit Elsaß und Lothringen nehmen; die Kreuzzeitung hetzt gegen den Sohn der Revolution, Moltke, vom Regenten zum Chef des Generalstabes erhoben, rät zum Kriege. Wilhelm aber zittert davor, den Fehler seines Vaters nachzumachen und schließlich wie dieser dem französischen Eroberer allein gegenüberzustehen, er möchte sogar die Heilige Allianz unter anderem Namen erneuern; mit soldatischer Rührung erinnert er sich seines bravourösen Einzuges in Paris als Jüngling Anno 15 und läßt sich vom alten Gerlach den Degen anbieten, da es noch einmal gegen den Welschen gehe.

Nur Bismarck rät ab, selbst auf die Gefahr, einer Meinung mit den Liberalen zu scheinen, die gegen Habsburg für Polen und Italiener glühen; heut wie im Krimkriege will er den Habsburgern nicht helfen, nennt jetzt Östreich offen »Ausland«, fordert zum mindesten Neutralität, besser Anschluß an Frankreich, spricht von dem Standpunkt der Kreuzzeitung als »Blödsinn«, warnt, den Feind Preußens zu stützen, und drückt seinem Bruder in prachtvollen Worten die Sorge aus, »daß wir uns schließlich mit dem nachgemachten 1813er von Östreich besoffen machen lassen«.

Als dann im Juni die Östreicher bei Magenta und Solferino geschlagen sind, will Wilhelm zu Hilfe marschieren, macht mobil, führt aber die Feinde durch den Schreck vor dem Eingreifen einer intakten Armee einander rasch in die Arme: Napoleon will seinen neuen Kriegsruhm, Franz Joseph seine Stellung in Deutschland nicht riskieren, und so einigen sie sich schon im Juli durch Frieden. In Preußen ist alles wütend, der Regent an der Spitze, nur Bismarck ist froh, daß 'man die Preußen nicht zum Schlagen kommen läßt, und ebenso ist es der Zar, der Östreichs Niederlage applaudiert und den neuen Gesandten aus Preußen nur noch herzlicher umqualmt.

Freundschaftlich empfangen, mit dem Ziel, die Fäden noch zu festigen, ist Bismarck hier in seinem Element, die Zarin-Mutter nimmt er ganz gefangen und läßt seinen Charme so familiär spielen, daß, wie er berichtet, eine vierjährige Prinzessin russisch auf ihn sagte: Der ist lieb, auf einen General aber, den sie nicht begrüßen will: Der stinkt. Sitzt er bei der leidenden alten Dame plaudernd am Bett, so erfährt er mehr Dinge als durch Audienzen und Spione. Auch mit Gortschakow versteht er sich zu stellen, dem gerissenen, frommen, jetzt alt gewordenen Premier, dem er Respekt des Lernenden vortäuscht, und dessen, selbst Diplomatenmaß übersteigende Eitelkeit er fördert. Bei alldem zürnt er nur seinem Herrn, der ihn noch immer nicht als Soldat befördert hat, weil so bei der großen Parade »sein Gesandter unter allen dicknasigen Generalen als wohlbeleibter Leutnant figuriert«, und obwohl er den Zaren immerfort sieht, droht er nach Berlin, er verzichte von jetzt ab »auf diese einzige Gelegenheit, den Kaiser außerhalb des Winterfests zu sehen. In Meinem Dienst bin ich hier nicht«.

Bismarck ist in Petersburg streckenweise beinah zufrieden gewesen. Die Grundlage seines Wohlbefindens, das Wohnen, mit dem er sich schon vor Hinkunft bis ins Einzelne beschäftigt, war gegeben, das Einrichten allein kostete ihn zuerst mehr Gedanken als der Dienst, und er beschreibt seiner Frau das zu mietende Haus bis ins Detail der Dienerkammern, und daß die Kinderzimmer im Winter wenigstens bis 12 Uhr Sonne haben würden. Wie einst als armer Junker kümmert er sich um alles, auch aus der Ferne: die noch in Frankfurt gebliebene Frau soll bestimmte Möbel in Darmstadt überziehen lassen, weil in Rußland alles teurer ist, »die halbseidnen Proben sehen wie Seide aus und wären vielleicht für alle, besonders aber für die grünen Möbel in meinem Zimmer gut, auch zu Portieren ... Auch das Bücher-Schapp ist ungeschickt, der Untersatz ist gut, nur muß er höher stehen, ich werde mir irgendein Möbel ausdenken, auf das ich ihn stelle.« Nachschrift: »Wachsen denn den Kindern die schlechten Zähne nicht mehr wieder, daß sie plombiert werden müssen?« Seinen alten Weinkeller läßt er über die Ostsee nach Rußland bringen, »denn wer weiß, wer ihn in Schönhausen austrinken würde«. Das Haus an der Newa rühmt er als sehr groß, etwas zu prächtig, mit guten Ställen und eigner Reitbahn, und bestellt sich einen »viel größeren Schreibtisch« und »große dicke Zahnbürsten, hart wie Stein«. Je mehr seine Einkünfte steigen, um so sparsamer wird Bismarck, erklärt, mit 30 000 Talern sei man hier zu großer Einschränkung verurteilt, gibt keine Gesellschaften, behält nur eben zu Mittag, wer grade da ist, läßt sich vom Bruder aus Pommern Apfel und Kartoffeln per Segelfracht schicken, verhandelt mit ihm über Wasserleitung und Pachtdetails auf seinen Gütern und ist sehr befriedigt, daß er seine privaten Einnahmen zurücklegen kann.

Nichts imponiert ihm in Rußland mehr als die großen Maßstäbe, vor allem auf der Jagd. Ein Land, in dem man noch mit Bären kämpfen kann, ist Bismarck von vornherein sympathisch, und lieber als die Freundschaft des Zaren, vielleicht sogar lieber als Östreichs Niederlage bei Solferino, ist ihm der Augenblick, als »ein angeschoßner Bär hochaufgerichtet mit offnem Rachen auf mich zukam. Ich ließ ihn bis auf 50 Schritte herankommen und gab ihm dann zwei Kugeln in die Brust, worauf er tot hintenüberfiel. Ich hatte dabei keinen Moment das Gefühl der Gefahr. Hinter mix stand der Jäger mit einer zweiten geladenen Doppelbüchse ... Es geht nichts über Urwälder. Hier gibt es noch wahre Jägerparadiese. Ich wurde von einem kleinen Bären, den ich aufziehe und in Reinfeld aussetzen will, in den Finger gebissen. Ich werde ihm dafür eine Frau anschaffen und beide nach Pommern verbannen.« Wenn er, von der Jagd heimkehrend, dergleichen dem Freunde Keudell erzählt, so fügt er wie ein Dogma hinzu: »Das Jägerleben ist doch eigentlich das dem Menschen natürliche Leben.« In solchen Augenblicken, in jener furchtlosen Szene rauscht das alte Raubritterblut empor, und wenn man diese mit andern zusammenhält, so erstaunt man über den Grad verfeinerter Formen des Handelns in Welt und Höfen, die er trotzdem erreicht hat.

Wenn er der Schwester einen Bärenschinken senden kann, das sind seine wahrhaft glücklichen Momente, und er entschuldigt die Qualität mit dem köstlichen Satze, daß er »einem ganz kleinen einjährigen Bären gehörte, vielleicht etwas salzig, aber hoffentlich so zart, wie Bären können«. Wenn er nach Besuch einer Großfürstin die mitgegebenen Zigarren auspackt, so taxiert er sie auf 15 Groschen das Stück. Noch nach einem Menschenalter erzählt er in den Memoiren, daß bei Besuchen der Zarin-Mutter »für die mit mir eingeladenen Herren der Gesandtschaft zwei und für mich drei Diners der kaiserlichen Küche entnommen wurden ... Das Kuvert für mich wurde einmal in meinem Quartier mit allem Zubehör auf- und abgetragen, das zweitemal an der Tafel der Kaiserin mit denen meiner Begleiter und auch dort kam ich nicht mit ihm in Berührung, da ich vor dem Bette der kranken Kaiserin ohne meine Begleiter, in kleiner Gesellschaft zu speisen hatte.« Der russische Herrenton ist ihm sofort geläufig, und er sagt kalten Blutes von der Parade, daß 40 000 Mann vorübergezogen wären, »sehr schönes Material an Menschen, Pferd und Leder«.

Alles ist größer hier, auch »die täglichen Zänkereien von Frankfurt haben ... größeren und interessanteren Platz gemacht ... Die Bundesbosheiten und das Präsidialgift sehen von hier aus wie Kindereien ... Wenn beim Nachhausefahren in das Treppenhaus prusku passlannika! hineingeschrien wird, so sehen sich alle russischen Gesichter mit wohlwollendem Lächeln um, als hätten sie eben einen neunziggradigen Schnaps hinuntergeschnalzt.« Weite, Macht und Herrentum im schlafenden Rußland haben ihm imponiert, für die Zukunft hat dieser Eindruck von Sympathie seine russenfreundliche Politik, wo nicht geschaffen, so doch gestärkt und als die einzige Konstante in seiner nach Umständen sich wandelnden Politik über 30 Jahre festgehalten. Noch im Alter hat er in ein paar Anekdoten der obengedachten Art »den Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit gesehen, auf denen die Stärke des russischen Wesens dem übrigen Europa gegenüber beruht«.

Dieses Wohlbehagen an Seele und Körper wurde Bismarck durch zwei Unfälle gestört, wie er ihnen weder vor- noch nachher je wieder ausgesetzt war. Beim Eintreffen findet er einen Legationsrat vor, der, obwohl erst zweiter Sekretär, doch unter seinem Vorgänger die Aufsicht der Geschäfte geleitet, der alles weiß und versteht; mit ihm sitzt, plaudert und raucht er einige Tage. Als er aber dann eine bogenlange Depesche zu diktieren wünscht, hört er die Antwort: »Das Talent, nach dem Diktat anderer zu schreiben, fehlt mir gänzlich.« Kurd von Schlözer war weder Genie noch Staatsmann, aber hochgebildet, als Beamter vorzüglich, hellsichtig, aus humanistischer Familie, übrigens nur ein paar Jahre jünger als sein neuer Chef, aber mit ihm teilte er zwei Eigenschaften: Mut und Selbstgefühl, weigerte sich deshalb sofort, als Maschine verbraucht zu werden, und gibt Bismarck als sein Untergebener diese ganz Bismarckische Antwort.

Was tut der Herr in der neuen Lage? Ihm ist dergleichen noch nie passiert, er stutzt, und mag er ihn im stillen dafür geachtet haben, er war doch zu wenig Philosoph und zu viel Autokrat, um sich bei solchen Gefühlen aufzuhalten. Zunächst kommt Bismarck nicht wieder zu ihm, läßt einen Attaché schreiben, während er »wie ein Pascha« in der Stube auf und ab geht. Als er nach einigen Tagen den Legationsrat, offenbar mit Absicht, zu ungewohnter Abendstunde zum Chiffrieren bestellt, dieser eine Stunde später kommt, den Attaché schon arbeitend beim Chef vorfindet und hochmütig empfangen wird, da wird Schlözer »deutlich«. »Das waren Dinge, die dem Seigneur noch nicht geboten waren«. Zwei Tage darauf: schriftlicher Ukas offen durch die Gesandtschaft, den er gegenzeichnen muß: »Herrn von Schlözer ersuche ich, täglich 11 Uhr zum Besprechen der eingegangenen Sachen zu mir zu kommen.« Er kommt, steif, stramm: »Was liegt heut vor?« – Nichts. – Bismarck, etwas verlegen: »So ist es nicht gemeint. Ich bat Sie nur, zu kommen, wenn etwas vorliegt.«

Jetzt nimmt dieser den Kampf auf: wer es länger aushalten wird; man paßt auf alles Dienstliche auf, »aber ein freundliches Gesicht bekommt er nicht von mir ... So jemand ist mir noch nicht vorgekommen! Gemütlich ist die Sache nicht, aber lieber ungemütlich, als sich unterkriegen lassen.« Hierauf schreiben sie einander im Hause gereizte Briefe. Zugleich schreibt Bismarck dem Premier, seinem Chef: »Herr von Schlözer ist ein oberflächlicher Arbeiter ... von überraschender Unhöflichkeit.« Aber in Berlin schätzt man den strebsamen Sekretär höher ein als die Förderung des gefährlichen Gesandten und rührt sich nicht. Schlözer, der Briefen und Tagebüchern seine Stimmungen anvertraut, schreibt nach einer Woche: »Diese fortwährende Hetze unter dem rücksichtslosen Chef, für den die anderen Menschen nur aus Schwächen zu bestehen scheinen, der seine Pläne in Dunkel hüllt oder die Zuhörer plötzlich zu verblüffen sucht, der keinem traut, das ist wahrhaftig nicht angenehm ... Ich komme fast gar nicht mit ihm zusammen ... weil man immer die Zähne zeigen muß, sonst ist man ihm gegenüber verloren. Die Zitrone ausdrücken und wegwerfen, das ist seine Politik.« Aber plötzlich fährt er fort, ringsum seien lauter Intrigen, »und im Hintergrunde der große Hüne Bismarck! ... Ich bin so offen gegen ihn aufgetreten, daß er mich hat fordern wollen. Im diplomatischen Korps hat er bis jetzt gar kein Glück.«

Drei Wochen später: »Jedesmal, ehe ich in die Stube des Paschas trete, rufe ich mir zu: Nur nicht weich werden, keine Überrumpelung! Denn er würde schon auf die Komödie eines Ausgleichs eingehen, aber ich will nicht, und wenn ich mir auch der überragenden geistigen Kraft dieses Mannes vollständig bewußt bin, und mir eine Stimme im Innersten sagt: es ist etwas in ihm, was ich Herr nennen möchte – ich will diese Stimme nicht hören, er soll sein Unrecht mir gegenüber einsehen.«

Wieder einen Monat später, da »schlug der Pascha weiche Saiten an, spielte den Gemütlichen, ich blieb sehr kühl, er hat sich aber geändert, lobt mich hinter meinem Rücken ... und korrigiert nichts mehr in meinen Konzepten. Jetzt ist er seit 8 Tagen krank ... das macht ihn noch sanfter und milder.« Bald darauf tritt auf Wunsch des Chefs ein Prinz Croy ein, der sich rasch als unfähig erweist und lächerlich macht. Da will der Chef »nichts lieber, als sich über ihn mokieren. Das wurde aber nicht verzapft, denn auf dergleichen Gemütlichkeiten lasse ich mich noch gar nicht mit ihm ein, wie ich ihm auch eine Einladung zu einem Mittagessen und wiederholt Zigarren abgeschlagen habe. Eigentlich fürchtet ihn die ganze Welt, ich ausgenommen, deshalb seine Wut gegen mich.«

Ein halbes Jahr später, als der erkrankte Chef schon längst fort ist, gesteht Schlözer seiner Schwägerin: daß er ihr so lange nicht geschrieben habe, »das hat alles seinen Grund an diesem Pascha. Er hat mein Inneres so umgekehrt, daß ich es Dir nicht zeigen mag«. Im Februar schreibt ihm der Chef wegen Möbeln und Dienern; da kein anderer tüchtig genug ist, »so hat der Pascha in den sauren Apfel beißen müssen, mir (privat) zu schreiben. Ich habe gemessen geantwortet, ihm auch auf seinen Wunsch zweimal Kaviar geschickt«. Zugleich aber schreibt Bismarck seinem Berliner Chef, »daß ich Herrn von Schlözer ... das größte Lob erteilen kann, so daß darüber meine anfängliche Verstimmung gänzlich verblichen ist«: fast ein Jahr nach der ersten Begegnung.

Ein halbes Jahr weiter, im Sommer schreibt Schlözer: »Mit Bismarck geht alles vortrefflich. In Berlin hörte ich schon, daß er mir in der Wilhelmstraße Lob gespendet und in durchaus loyaler Weise alles zurückgenommen hat, was er – krank, politisch gereizt und vielleicht durch gewisse Leute beeinflußt – anfangs gegen mich geäußert hatte ... Jetzt also – Strich unter dieses Kapitel. Anders liegt es mit den politischen Fragen: ein höllischer Kerl ist er, aber wo will er hinaus?« Bald darauf: »Ich speise täglich, d. h. infolge täglicher spezieller Einladung bei Bismarck. Ich habe nichts mehr mit ihm gehabt. Er ist die verkörperte Politik, alles gärt in ihm, drängt nach Betätigung und Gestaltung. Er sucht ... das Chaos in Berlin zu meistern, weiß aber noch nicht, wie ... Merkwürdiger Mensch, scheinbar voller Widersprüche.« Und zwei Jahre nach Ankunft ersucht Bismarck in Berlin, den von ihm hergeholten Prinzen wegzuschicken, Schlözer zum Ersten Sekretär zu machen, und liest den Brief dem Gelobten vor Absendung selber vor, worin es heißt: »Schlözer ist im Umgang mit Vorgesetzten schwierig, und ich habe anfangs üble Zeit mit ihm durchgemacht, aber seine dienstliche Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit hat meine Verstimmung vollständig entwaffnet.«

Der Vorgang ist in Bismarcks Leben einzig: einen selbständigen Beamten hat er kaum je wieder unter sich, einen renitenten nie wieder neben sich geduldet. Großartig das doppelte Erstaunen, das jeden von beiden faßt, als er im Feind den Wert erkennt: jener den tüchtigen Beamten, dieser den genialen Chef. Dies Amtsverhältnis fängt für beide an zu phosphoreszieren, es wird zum Turnierplatz des Stolzes zweier adliger Herren, die weder durch Alter noch durch Stellung, die nur durch Genie und Charakter einander besiegen wollen. Und indem sie sich in diese Rollen teilen, erringen am Ende beide einen Sieg, keinen drückt eine Niederlage.

VII

An einem Julitage, zwei Monate nach Ankunft, geht der neue Gesandte vom Reiten in überheizter Reitbahn ohne Mantel nach Hause, holt sich Gliederschmerzen, läßt sich von einem deutschen Arzt ein Pflaster aufs linke Bein auflegen, reißt es nachts bei furchtbaren Schmerzen ab und sieht andern Tags eine ruinierte Vene. Seine Wut steigt, weil er nicht herausbringen kann, »wer der Giftmischer gewesen,« Arzt oder Apotheker. Ein berühmter russischer Chirurg hält Abnehmen des Beines für nötig. »Über oder unter dem Knie?« fragt der Kranke. Der Arzt zeigt eine Stelle hoch über dem Knie. Der Kranke lehnt ab und reist in schlechtem Zustande zur See nach Deutschland.

Seine Laufbahn, sein Werk konnte diese Entscheidung verändern, ein einbeiniger Bismarck wäre zwar nicht um seinen Verstand, aber um alles gekommen, was ihm durch Haltung, Drohung, Kühnheit die Erfolge dieses Verstandes heimgebracht hat. Auch so hat ihn nur seine Riesennatur gerettet, denn als er, halb geheilt, auf der Rückfahrt nach Petersburg mit den Seinigen auf dem Gut eines Bekannten Rast macht, fühlt er sich plötzlich niedergeworfen, in der zerstörten Vene hat sich ein Blutpfropf losgelöst, Trombose, Lungenentzündung, einige Tage hegt er aufgegeben, er macht sein Testament. Er hat damals, so berichtet er im Alter, »mit der Bereitwilligkeit dem Tode entgegengesehen, die unerträgliche Schmerzen gewähren«; von Religion kein Wort. Sein letzter Groll in dieser Stunde galt der Bürokratie, denn er schloß als hoher Staatsbeamter jede Einmischung der Staatsorgane in die Vormundschaft seiner Kinder aus.

In Berlin, wo er sich ausheilen soll, beschäftigen ihn die Politiker länger als die Ärzte, er bleibt fast ein halbes Jahr, der Regent hält ihn, obwohl er alles versucht, um ihn nicht halten zu. müssen. Er fürchtet die Kämpfe, in die Bismarck ihn führen könnte, und obwohl er ihn nicht leiden kann, läßt er im steigenden Streit mit den Liberalen diese letzte Reserve nicht fahren. Bismarck ist dieser Zwischenzustand nicht unlieb, hier am Orte der Entscheidung kann er mit den Freunden für seine Ernennung zum Auswärtigen Minister stärker wirken als in der ehrenvollen Verbannung an der Newa; dabei kann sich sein Stolz mit seinem Arzte für das lange Warten entschuldigen, denn er schreibt in prachtvollem Humore seiner Frau: »Ich sitze hier auf dem Balkonfelsen wie die Loreley, und sehe den Spreeschiffer durch die Schleuse ziehen, aber ich singe nicht, und mit dem Kämmen habe ich auch nicht viel Mühe. Ich denke mir, daß ich hier im Hotel uralt werde, die Jahreszeiten und die Geschlechter der Reisenden und Kellner ziehen an mir vorüber, und ich bleibe immer im grünen Stübchen, füttere die Spatzen und verliere die Haare.«

Der Regent, auf den Tod seines Bruders wartend, behilft sich vorläufig mit Schleinitz als Premier, den Bismarck einen von Augusta abhängigen Höfling nennt, spielt aber doch die Komödie einer Konferenz, als wolle er sich zwischen den beiden extremen Anschauungen entscheiden. Hier wird Bismarck aufgefordert, das Programm zu entwickeln, in dem er Östreichs innere Hohlheit und Preußens Kraft, die Freundschaft der Russen seit dem Krimkriege betont und Preußen mit einem Huhn vergleicht, das nicht wagt, den magischen Kreidestrich zu überschreiten. Darauf spricht, auf Befehl des Regenten, Schleinitz, erinnert ihn an das Testament seines Vaters, »eine Saite, die im Gemüt des Regenten ihren Anklang nie versagte« und die gegen Paris und für Habsburg gestimmt war. Hierauf erwidert Wilhelm ohne Pause in offenbar vorbereiteter Rede, er schließe sich diesen alten Traditionen an, und hebt die Sitzung auf. Diese Szene war von Augusta erdacht, um den Reaktionären den Ernst der Alternative vorzuspiegeln. Sie wurde dazu, nach Bismarck, weniger durch positive Ziele als durch gewisse Abneigungen bestimmt, gegen Rußland, Napoleon »und gegen mich wegen Neigung zu unabhängiger Meinung und wegen wiederholter Weigerung, Ansichten der hohen Frau bei ihrem Gemahle als meine eignen zu vertreten«.

Es war nicht Augusta allein, die ihn jetzt, im Jahre 60, von der Leitung fernhielt; es war vor allem sein deutsches Programm. Der Krieg vom vorigen Jahre hatte aufs neue eine Art von Nationalgefühl über die Kreise der Achtundvierziger und der Liberalen hinausgetragen. Wieder gab es, wie damals, sehr viel Reden, Feste, Verbrüderungen, aber unter den Staatsmännern wollten die avancierten höchstens das Bündnis mit Östreich gegen die Hegemonie in Deutschland verkaufen, also den Deutschen Bund weiterschleppen. Bismarck wollte ihn sprengen, weil er ihn »als ein Gebrechen betrachten muß, das früher oder später ferro et igni wird geheilt werden müssen, wenn wir nicht beizeiten in günstiger Jahreszeit eine Kur dagegen vornehmen«. Da stand es zum ersten Male, schwarz auf weiß, vom Gesandten an seinen Minister geschrieben: mit Feuer und Schwert. Nur so erscheint ihm ein Deutschland möglich, und er erklärt bald darauf: »Das Wort Deutsch für Preußisch möchte ich gern erst dann auf unsere Fahne geschrieben sehen, wenn wir enger und zweckmäßiger mit unseren übrigen Landsleuten verbunden wären als bisher; es verliert von seinem Zauber, wenn man es ... schon jetzt abnützt.«

Zugleich und vollends schied ihn vom Regenten sein Bruch mit der Legitimität, jetzt erst ein ganzer. Es ist eine Art heimlichen Abschiedsbriefes, in dem er um diese Zeit dem entmachteten Gerlach darüber seine Wahrheiten zuruft: »Frankreich bleibt für mich Frankreich, mag Napoleon oder Ludwig der Heilige dort regieren ... Für den politischen Kalkül sind natürlich diese tatsächlichen Unterschiede sehr gewichtig, für mein Gewissen, für den Rechtspunkt haben sie mir keine Bedeutung, ich fühle keine Verantwortlichkeit für auswärtige Zustände in mir ... Wenn Sie aber den Unterschied stellen zwischen Recht und Revolution, Christentum und Unglauben, Gott und Teufel, so kann ich nicht mit Ihnen diskutieren, sondern einfach sagen: ich bin nicht Ihrer Meinung, und Sie richten in mir, was nicht Ihres Gerichtes ist ... Gegen Frankreich schlage ich mich gern, daß die Hunde das Blut lecken, aber mit nicht mehr Bosheit als gegen Kroaten, Böhmen, jesuitische Beichtväter und Bamberger Landsleute.«

Das war der Tonfall nicht, als Gerlach noch des Königs Freund gewesen; jetzt, da der Regent ihn kaltgestellt hat, ist zwar inzwischen Bismarcks internationaler Realismus entschiedener geworden, auch das Selbstgefühl ist noch gestiegen, aber die Freiheit der Sprache gilt erst dem Entmachteten, den er bald vergißt; jetzt sucht er Fühlung mit anderen. Die Krisen wachsen und wiederholen sich rascher. Nach Petersburg zurückgekehrt, draußen, von der Peripherie herüberhorchend, aufs neue enttäuscht, doch doppelt fiebernd und kombinierend: so hat ihn Schlözer, sein täglicher Gesellschafter im selben Herbst unmittelbar sichtbar gemacht:

»Mein Pascha ist jetzt in entsetzlicher Aufregung, der Aufenthalt in Berlin, die dortige Ratlosigkeit und Verwirrung haben sein Blut wieder in Wallung gebracht, wie es scheint, hält er bald seine Stunde für gekommen. Schleinitz wird seinen Abschied fordern, dann hofft Pascha einzurücken, es ist aber die große Frage: paßt er für Preußen? Passen die Preußen für ihn? In die engen beschränkten Verhältnisse plötzlich dieser vulkanische Geist! ... Man mag ihn dort nicht und tut so, als wenn er gar nicht existierte. Also treibt er Politik auf eigene Faust. Ein sogenanntes Haus macht er hier nicht, klagt immer über Teuerung, sieht wenig Menschen, steht 11 oder halb 12 Uhr auf, sitzt den ganzen Tag im grünen Schlafrock, macht sich gar keine Bewegung, trinkt desto mehr und schimpft auf Östreich ... Er erzählt mir viel, fabelhaft offen, interessant, sprunghaft, revolutionär, wirft alle Theorien über den Haufen. Und Der in der Wilhelmstraße! Donnerwetter! Neulich sagte er ... Schleinitz soll Hausminister werden, dann hat der König die Wahl zwischen Bernstorff, Pourtales und mir zum Auswärtigen. Ipsisissima verba Paschae! Tag und Nacht Träume von Portefeuille!«

Ein eingesperrter Tiger, immer auf dem Sprung, doch immer durch die kalten Stangen von seinem Opfer getrennt, durch nichts mehr angelockt, was ihn sonst zerstreute, ohne Menschen und Jagden, nur immer kreisend um die eine große Frage: wann läßt man mich regieren? Hier ist er echter, als wenn er der Frau in Briefen den geplagten Christen vorspielt.

Neujahr 61 stirbt endlich der Geisteskranke: Wilhelm wird König. Ein Menschenalter hat er gewartet, jetzt ist er 63, und eben jetzt erscheint ihm alles so verfahren, der Ansturm der Liberalen gegen seine neuen Heerespläne, der Kampf mit Frau und Sohn so ermüdend, daß er drauf und dran ist, zurückzutreten und dem kaum 30jährigen Sohne das Amt zu überlassen. Alles, was konservativ ist, d. h. der ganze Hof zittert davor, denn dieser Sohn hätte sich damals unter dem Einflüsse seiner englischen Frau im Handumdrehen mit den Liberalen einigen wollen. Der Schildhalter des Königs ist Albrecht von Roon, ein Soldat, wie er sein soll, die ehrlichste Gestalt in Wilhelms Kreise: männlich, ernst, bescheiden, gottesfürchtig, gegen Schein und Beifall, neidlos und vornehm, seinem Wahlspruch nachlebend: Tu was du sollst, und leide was du mußt. So schmiedet er die Waffe für sein Land, als entschiedener Gegner des Krieges, aber im Machtgedanken aufgewachsen und ihm unterworfen. Ihn hat der soldatische König, schon als er Regent war, zur Erneuerung der Armee berufen. Er ist es, der den König durch Hinweis auf seine Vorfahren aufrecht erhält und darauf dringt, zur Krönung wie seine absoluten Ahnen feierlich den Eid der Huldigung von seinen Untertanen zu fordern. Dem widerstreben die schwankenden Minister; Roon weiß nur einen: Bismarck, den er seit langem als den entschlossensten kennt, und der an Schleinitz' Stelle die Huldigung und die Heeresreform durchführen würde: mitten in einem Verfassungsstaat und mitten im Konflikt!

Der König weicht aus: höchstens als Minister des Inneren, als Kämpfer und Bedrücker will er ihn zulassen, zum Äußeren nie, er ist ja »Bonapartist!« Auf diese Anschuldigung erwidert in einem Privatbrief Bismarck: »Wenn ich einem Teufel verschrieben bin, so ist es ein teutonischer und kein gallischer.« Zum erstenmal sagt er nicht »borussischer«, zum ersten Male bekennt sich Bismarck eigentlich als Deutscher und zwar in der altertümlichen Prägung, die er in der Jugend lächerlich machte. Roon setzt indessen alles auf die Huldigung, um ein Königs-Exempel zu statuieren, lädt Bismarck ein, nach Berlin zu kommen, ihm seine Entschließung zu drahten, denn »der König leidet entsetzlich. Die Nächsten aus seiner Familie sind gegen ihn und raten zu einem faulen Frieden«. Bismarck, der im Winter nach dem Portefeuille fieberte, ist jetzt, ein halbes Jahr später, von einem Antrag enttäuscht, der ihn von seiner Leidenschaft aussperren soll; er drahtet nicht und antwortet behutsam:

»In den Streit wohltuender Gefühle für junge Auerhühner einerseits und Wiedersehen von Frau und Kindern andrerseits tönte Ihr Kommando ›An die Pferde‹ mit schrillem Mißklang. Ich bin geistesträge, matt und kleinmütig geworden, seit mir das Fundament der Gesundheit abhanden gekommen ist.« Die Huldigung erscheint ihm unerheblich. Das Innere möchte er nicht gerne nehmen, weil man im Innern zu liberal regiert, nach außen zu konservativ, statt umgekehrt; in diesen Gedanken schreibt er eines der tiefsten Worte über die Deutschen nieder: »Wir sind fast so eitel wie die Franzosen; können wir uns, einreden, daß wir auswärts Ansehen haben, so lassen wir uns im Hause viel gefallen«, und fügt hinzu: »Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Vendée, aber gegen alle andern fühle ich in keinem eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben. In dieser Denkungsweise fürchte ich von der unseres allergnädigsten Herrn so weit entfernt zu sein, daß er mich schwerlich zum Rate seiner Krone geeignet linden wird.« Plötzlich aber schließt er mit dem Worte: »Geht der König einigermaßen auf meine Meinung ein, dann greife ich das Werk mit Freuden an.«

Der Grund dieser halben Ablehnung, dieser kleinmütige Ton, läßt mehr auf Verstocktheit als auf andere Krankheiten schließen; er steht um Mitternacht auf, den Auerhahn zu sehn, und wird überhaupt von jetzt ab seine Gesundheit in die politischen Kampfmittel einreihen. In Wahrheit spürt er die Ungewißheit dieser sehr inoffiziellen Berufung, wohl auch ihre Würdelosigkeit durch, und wirklich, als er in Berlin schließlich doch eintrifft, hat schon Augusta, die alte Feindin gesiegt, der König hat nachgegeben, sich auf die bloße Krönung zurückgezogen, »für welche die Mäntel schon im Februar bestellt worden waren ... Der König, bezeugt Roon, ist mehr wie je in der Botmäßigkeit der Königin und ihrer Gehilfen. Wird er nicht körperlich wieder frischer, so ist alles verloren, und wir schwanken weiter in das Joch des Parlamentarismus und der Republik.«

Trotzdem fährt Bismarck sogleich zum Könige nach Baden, findet ihn von seinem Erscheinen »unangenehm überrascht, in der Meinung, ich käme wegen der Ministerkrise«, und erst freundlich, als er sich vor Mephistos Anschlägen sicher weiß. In denselben Tagen unternimmt ein deutscher Student ein Attentat auf den König, und zwar nur, weil er nichts für die deutsche Einheit täte. Das ist auch Bismarcks Ansicht, der den König nur mit Gedanken beschossen hatte, – und nun benutzt er mit genialer Raschheit die Stimmung: er entwickelt dem König, den Mißlingen und Motiv des Anschlages gleich tief ergriffen haben, seinen Standpunkt und arbeitet ihn dann zu einer Denkschrift aus, auf Sommerferien in Reinfeld, wo Johanna die Bogen abschreibt. Diese Schrift zeigt einen entschiedenen und heilsamen Wandel seiner Ideen, sie entwickelt nicht weniger als den Grundgedanken seines Deutschen Reiches:

»Preußen kann nicht in Deutschland die Rolle einer beherrschten Minorität übernehmen ... Dem Bundesstaate, welcher an Macht alle übrigen zusammengenommen aufwiegt, gebührt ein vorwiegender Einfluß auf die gemeinsamen Angelegenheiten ... Um einem solchen Ziele näherzutreten, ist vielleicht eine nationale Vertretung des deutschen Volkes bei der Bundeszentralbehörde das einzige Bindemittel, welches den divergierenden Tendenzen dynastischer Sonderpolitik ein ausreichendes Gegengewicht zu geben vermag. Nachdem eine Volksvertretung ... in jedem deutschen Staate besteht, kann eine analoge Einrichtung für die Gesamtheit unmöglich an und für sich als eine revolutionäre angesehen werden ... Für die Intelligenz und die konservative Haltung einer solchen Vertretung würde es einige Bürgschaft gewähren, wenn ihre Mitglieder nicht direkt von der Bevölkerung, sondern von den einzelnen Landtagen gewählt würden ... Die subalternen Streitigkeiten der Ständesäle würden einer mehr staatsmännischen Behandlung deutscher Gesamtinteressen Platz machen.« Im Inneren müßte jedem Staate seine Gewalt unverkümmert bleiben, trotzdem würde mindestens Östreich ablehnen, mit dem heutigen Bundestage wäre es also nicht zu machen: »Minder hoffnungslos wäre vielleicht das Bestreben, auf dem Wege, auf welchem der Zollverein entstand, die Herstellung anderweitiger nationaler Einrichtungen zu bewirken.« Eine Ankündigung dieser Pläne »müßte auf die doppelte Wirkung berechnet sein, einmal, daß die deutschen Fürsten über die Tragweite unserer Pläne beruhigt werden und erkennen, daß wir nicht auf Mediatisierung, sondern auf freie Verständigung aller ausgehen, und zweitens, daß im Volke der entmutigenden Besorgnis entgegengetreten wird, als fände Preußen den Gang der deutschen Entwicklung mit dem heutigen Bundestage abgeschlossen.«

Diese Grundzüge eines Zollparlamentes, das zum Deutschen Reichstage führen sollte, neben Bismarcks Achtundvierziger Reden und Briefe gehalten, zeigen seine Entwicklung vom Partei- zum Staatsmann: jetzt ist er es, der die Grundidee der Revolution und mit ihr die Einigung der Deutschen verwirklichen will, die er damals um eben dieses revolutionären Ursprungs willen ablehnte: »Die deutsche Einheit will ein jeder, mit dieser Verfassung; will ich sie nicht«, hatte er ausgerufen, und wenn er auch heute nicht dieselbe Verfassung will, so adaptiert er sich doch einen Hauptfaktor; jetzt scheint ihr Ursprung ihm verjährt und so legitim, daß man ihn »unmöglich revolutionär« nennen kann. Ja, er sieht und spricht es aus, daß man die Deutschen zur Regierung Deutschlands nicht nur zulassen dürfe, sondern zuziehen müsse, um den Eifersüchten der Fürsten ein Gegengewicht zu geben!

Kräftiger und bismarckischer als in diesem kurialen Akt spricht sich diese große Wendung in gleichzeitigem Brief an einen Freund gegen das konservative Programm aus: »Wir kommen dahin, den ganz unhistorischen gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel der deutschen Fürsten, welche unser Bundesverhältnis als Piedestal benützen, von dem herab sie Europäische Macht spielen, zum Schoßkind der konservativen Partei zu machen ... Ich sehe außerdem nicht ein, warum wir vor der Idee einer Volksvertretung, sei es im Bunde, sei es in einem Zollvereins-Parlament, so zimperlich zurückschrecken ... Man könnte eine recht konservative Nationalvertretung schaffen, und doch selbst bei den Liberalen Dank dafür ernten.«

Zehn Jahre nach diesen Äußerungen eröffnete Bismarck den ersten Deutschen Reichstag.

VIII

Vor dem Altare stand Wilhelm der Erste, nahm die Krone vom Tische des Herrn und setzte sie mit eignen Händen auf, zum Zeichen, daß Gott sie ihm gegeben habe und nicht das Volk. Hierauf großer Vorbeimarsch der Truppen. Unter dem glänzenden Gefolge ragt eine Riesengestalt in blauem Rock hervor, die Kenner des Hofes für Bismarck gehalten hätten, wäre der beinah kahle Schädel nicht von Locken umwallt gewesen; nur wer näher zusah, begriff und lachte. »Auf dem Schloßhof im Freien hatte ich vorsichtigerweise eine Militäruniform an und eine Perücke auf, gegen die Bernhards nur den Namen einer Locke verdient, sonst wären mir die zwei Stunden barhäuptig im Freien schlecht bekommen.« In dieser Verkleidung hat Bismarck der Krönung seines Königs beigewohnt, den er ein Jahrzehnt später noch weiter befördern sollte. Der König meidet in diesen Tagen seinen Lehnsmann, was er in zehn Jahren wiederholen wird, diesmal, um nicht reaktionär zu erscheinen, weshalb die Königin alles tut, um beide Männer in Verlegenheit zu setzen: sie begegnet ihrem Feinde artiger als je seit Jahren, bleibt mitten in einer Zeremonie vor ihm stehen und fängt ein Gespräch über deutsche Politik mit ihm an, »dem der sie führende König eine Zeitlang vergebens ein Ende zu machen suchte«.

Aber die Krone von Gott hatte das Herz des Königs nicht beruhigt, die Verwirrung in seinem Lande wurde immer schlimmer, zu Jahresende brachten Neuwahlen den Sieg der neuen Fortschrittspartei, die dem König seine neuen Soldaten verweigerte, und im nächsten Frühjahr wurde zur Strafe das liberale Kabinett entlassen, lauter Konservative traten zu Roon. Graf Bernstorff, klug und tätig, in gewissem Sinne modern, aber doch nicht stark genug, um ein neues Spiel zu wagen, trat an Schleinitz' Stelle, der aber aus der Kulisse weiterregierte, und als man zugleich Bismarck aus Petersburg endgültig abberuft, konstatiert dieser, daß es bald drei Auswärtige Minister geben würde. Die Tollheit des Kurfürsten von Hessen, der seinen steuerverweigernden Untertanen die Geldschränke durch Militärschlosser erbrechen läßt, scheint erwünschten Anlaß zum Losschlagen zu geben, und Bismarck sagt zu Bernstorff: »Wenn Sie Krieg mit den Hessen wollen, machen Sie mich zu Ihrem Unterstaatssekretär: in 4 Wochen will ich Ihnen einen inneren Krieg erster Qualität entfesseln.« Er war schon damals »stichfest gegen das Schlagwort vom Bruderkriege«.

So tatendurstig ist er in diesem Frühling 62, daß er bereit ist, als Minister ohne Portefeuille einzutreten, und aufs neue läßt er sich durch den Bescheid des Königs demütigen, nur das Auswärtige, sein eigentliches Fach, dürfe er nicht in die Hände bekommen. Aber das Warten, wie vor zwei Jahren, will er in keinem Fall wieder ertragen, und schließlich stellt er seinem Chef das Ultimatum: Stellung oder Abschied. Drei Stunden später ist er zum Gesandten in Paris ernannt. Dies ist die erste in einer Reihe von Kraftproben, in denen Bismarck mit Abschied drohte, um vom König Entscheidung in seinem Sinne zu erpressen. Diesmal war Paris eben frei geworden, auch London, in das sich Bernstorff zurückzuziehen wünschte, war frei; aber der angefeindete, der Königin verhaßte, dem König unheimliche Staatsmann riskierte dennoch, für sein Ultimatum in einer Laune weggeschickt zu werden; daß Bernstorff zum Gegenteil riet, bleibt sein historisches Verdienst. Der einzige aber, auf den sich Bismarck persönlich stützen konnte, war Roon, Roon aber war dem König unentbehrlich.

Wenn er in Petersburg mit dem Gefühle des Überganges lebte und nur die Hälfte seiner drei Gesandten jähre dort verweilte, so ging er nach Paris wie zu Besuch: jeden Augenblick konnte die Krisis unlösbar werden, dann würde Roon ihn rufen, das war die private Abrede zwischen den beiden Freunden. Nichts gefiel ihm in dieser Stimmung, wo ihm ehedem so viel gefallen, die Gesandtschaft findet er muffig, die Franzosen provinziell, posierend und doch innerlich verschlossen, und da ihm, wenigstens seit zwei Jahren, an nichts in der Welt mehr gelegen ist als an der Macht, so langweilt ihn alles, und er sinkt zeitweise in einen Grad von Nihilismus, der an die dunkelsten Epochen seiner Jugend erinnert.

»Ich bin seit meiner Krankheit geistig so matt geworden, hatte er der Schwester beim Übergang von Petersburg geschrieben, daß mir die Spannkraft für bewegte Verhältnisse verlorengegangen ist. Vor drei Jahren hätte ich noch einen brauchbaren Minister abgegeben, jetzt komme ich mir in Gedanken daran vor wie ein kranker Kunstreiter ... Ich würde ohne Kummer und ohne Freude nach Paris oder London gehen, hierbleiben, wie es Gott und S. M. gefallt, der Kohl wird weder für unsere Politik noch für mich fetter .,. Vor dem Ministerium habe ich gradezu Furcht wie vor einem kalten Bade. Ich gehe lieber auf jene vakanten Posten oder nach Frankfurt zurück, selbst nach Bern, wo ich recht gern lebte ... Varnhagen (dessen Tagebuch neben ihm liegt) ist eitel und boshaft, wer ist das nicht? Es kommt nur darauf an, wie das Leben die Natur des einen oder des anderen reift, mit Wurmstichen, mit Sonne oder mit nassem Wetter, bitter, süß oder faul.«

Dabei ist er nicht leidend. Freilich sind Frau, Kinder und die Angestellten des Hauses immerfort krank, und eine gewisse weiche Stimmung Zeigt sich auch in der zunehmenden Herzlichkeit, mit der er nach Pommern schreibt, besonders der Schwester. Als er aber wirklich krank lag, erkannte er wieder die Relativität all seiner politischen Gefühle und schrieb der Frau aus Hamlet-Stimmungen: »Es ist ja nichts auf dieser Erde als Heuchelei und Gaukelspiel, und ob uns das Fieber oder die Kartätsche diese Maske von Fleisch abreißt, fallen muß sie doch über kurz oder lang, und dann wird zwischen einem Preußen und einem Östreicher, wenn sie gleich groß sind, wie etwa Schreck und Rechberg, doch eine Ähnlichkeit eintreten, die das Unterscheiden schwierig macht. Auch die Dummen und Klugen sehen, propper skelettiert, ziemlich einer wie der andere aus. Den spezifischen Patriotismus wird man allerdings bei dieser Betrachtung los.«

In so diabolische Wahrheiten lösen sich, wenn er sich gehen läßt, von nun an sogar der frommen Gefährtin gegenüber die Reste einer Religiosität auf, deren Formen immer paradoxer an ihm wirken. Überhaupt schreibt er ihr viel seltener und kürzer, immer gleich herzlich; breit; und tief aber nur, wenn er Naturstücke malt: dann ist er immer Dichter.

Nach Schlägen des Schicksals sammelt er sich in Gedanken der Vorsehung und schreibt der Schwester, als ihr Sohn auf der Jagd umkommt: »Noch 20 oder 30 Jahre im glücklichsten Falle, und wir beide sind über die Sorgen dieses Lebens hinaus, und unsere Kinder sind an unserm jetzigen Standpunkt angelangt und gewahren mit Erstaunen, daß das eben so frisch begonnene Leben schon bergab geht. Es wäre das An- und Ausziehen nicht wert, wenn es damit vorbei wäre ... Der Kreis derer, die wir lieben, verengt sich und erhält keinen Zuwachs, bis wir Enkel haben; man schließt in unseren Jahren kerne neuen Verbindungen mehr, die uns die absterbenden ersetzen könnten.« Selbst hier schlägt das Sippengefühl die Religion aus dem Felde.

Wenn aber Pathos oder Schwäche fehlen, in den gewöhnlichen Stimmungen des Lebens, malt er die Wahrheit: »In der schwarzbehangenen Kirche, schreibt er nach dem Begräbnis eines Fürsten, als sie leer war, blieb ich mit Gortschakow auf dem Katafalk und der Totenkopfdecke von Sammet sitzen und wir politisierten ... Der Prediger hatte über den Vergänglichkeitspsalm (Gras, Wind, verdorrt) geredet, und wir planten und plotteten, als stürbe man nie.« Solche Proben der Selbstbetrachtung, dem geborenen Analytiker geläufig, sind in seinem christlichen Jahrzehnte seltener gewesen, als in der Jugend, und werden von nun an wieder häufiger, denn sie fordern Wahrheit vor dem Spiegel.

In ähnlichen Stimmungen streift er jetzt durch Paris, ohne eingerichtetes Haus, ohne Frau, der Gesellschaft fern, die ohnehin Ende Juni die Stadt verläßt, und seine Unruhe nach dem Ziel steigt bis zur Verachtung des Zieles. »Ich habe, schreibt er an Roon, lebhafte Anwandlungen von dem Unternehmungsgeist jenes Tieres, welches auf dem Eise tanzen geht, wenn ihm zu wohl wird.« Dann berechnen sie wieder, aus welchen Familiengründen Bernstorff seinen Abgang aufschieben, die Krisis also bis zum Frühjahr hinauszögern könnte, bis plötzlich Bismarck schließt: »Vielleicht ist dies alles Rechnung ohne den Wirt, vielleicht entschließt sich S. M. niemals dazu, mich zu ernennen, denn ich sehe nicht ein, warum es überhaupt geschehen sollte, nachdem es seit 6 Wochen nicht geschehen ist.« Als er im August in Roon dringt, ihm Gewißheit zu schaffen, da er wissen möchte, wo diesen Winter sein Schreibtisch stehen werde, in London, Paris oder Berlin, gibt Roon die sehr kennzeichnende Antwort: »Dergleichen Motive werden (vom König) verstanden, wirken daher vielleicht mehr als politische Erwägungen.«

Sein steter Wunsch nach Haus und nach Gewißheit des Bleibens macht ihn und mit ihm macht er die Berliner Freunde nervös. »Meine Sachen hegen noch in Petersburg und werden dort einfrieren, ... meine Pferde bei Berlin auf dem Lande, meine Familie in Pommern, ich selbst auf der Landstraße ... Ich wünsche nichts lieber, als in Paris zu bleiben, nur muß ich wissen, daß ich Umzug und Einrichtung nicht auf einige Wochen oder Monate bewirke, dazu ist mein Hausstand zu groß.« Aber sogleich fährt er fort: »Ich bin noch heut bereit, ohne Portefeuille einzutreten, aber ich sehe gar keine ernstliche Absicht dazu.« Zugleich deckt er sich auf seine Art auch wieder den Rückzug, schreibt dem Bruder, wenn er drankäme, wäre es nicht auf lange, dann ginge er einstweilen aufs Land, um Schonungen anzulegen. »Meine fixe Idee ist Eichen-Schälwaldung auf Sandboden, die Holländer machen damit auf dem infamsten grandigen Fuchs 20 oder 30 fl. vom Morgen.« Und neben solchen Kapriolen gibt er körperlichen Stimmungen nach und schreibt dem Bruder wie ein Leutnant nach dem Gelage: »Die Trennung von Frau und Kind und ein Übermaß von Aprikosen, die ich gegessen, stimmen mich etwas niedergeschlagen, und ich leide an Heimweh nach irgendeiner sicheren Stelle, wo ich bis an mein Ende ruhig bleiben könnte.«

Das einzige, was ihm diese zwei Pariser Monate verlohnte, war ein Gespräch in Fontainebleau: wieder wie vor fünf Jahren, nur noch dringender, erschien der Kaiser als Bismarcks Verführer: es war, als ahnte er in diesem Manne, der morgen zur Macht kommen konnte, den Feind, der ihn verderben sollte, und wollte ihm lange Jahre vorher Einhalt tun. Mitten in der Konversation des Spazierganges sagt er unerwartet zu dem Preußen: – Croyez vous que le Roi serait disposé à conclure une albance avec moi? –

»Die Gefühle des Königs für die Person E. M. sind die freundlichsten, die Vorurteile in der öffentlichen Meinung über Frankreich ziemlich verschwunden. Aber Allianzen werden nach Lage der Umstände nur fruchtbar, wenn sie nötig und nützlich sind. Eine Allianz setzt ein Motiv voraus und einen Zweck.«

– Das ist nicht immer richtig, sagt der Kaiser. Es gibt Mächte, die mehr, und solche, die weniger freundschaftlich miteinander stehen: im Angesicht einer ungewissen Zukunft muß man das Vertrauen nach einer Richtung leiten. Ich spreche nicht im Sinne abenteuerlicher Ideen von Alliance, sondern ich finde zwischen Preußen und Frankreich eine Gleichheit der Interessen, die die Elemente einer intimen und dauerhaften Entente enthält, soweit nicht Vorurteile Hindernisse schaffen. Es wäre ein großer Fehler, Ereignisse schaffen zu wollen, sie kommen von selber, und ohne daß wir ihre Richtung und Stärke berechnen können. Darum muß man sich zuvor die Mittel sichern, um ihnen zu begegnen und sie zu benutzen. – Darauf spinnt er den Gedanken einer »diplomatischen Alliance« weiter aus, doch plötzlich bleibt er im Parke stehn und sagt: »Sie glauben nicht, was für erstaunliche Eröffnungen mir Östreich dieser Tage gemacht hat ... Wien scheint in Panik. Metternich hat mir von Vollmachten gesprochen, die ihn selber erschreckt hätten, und deren Ausdehnung er kaum zu nennen wagt: er dürfe mit mir über alle Fragen mit unbegrenzter Vollmacht verhandeln, wie sie nur je ein Souverän seinem Vertreter erteilt habe. Mich hat diese Erklärung in Verlegenheit gesetzt, ich konnte nicht recht erwidern; er bekräftigt auf jeden Preis und ohne Vorbehalt, sich mit mir zu arrangieren, ich aber, ganz abgesehen von den divergierenden Interessen beider Länder, finde mich in einer fast abergläubischen Furcht, mich den Geschicken Östreichs zu verbinden. –

In diesem Gespräch erstaunt man zunächst über die Ungeniertheit des Kaisers, und wie er sie gegen seine Gewohnheit grade dem Staatsmann erzeigt, der schon damals für seine schlaue Offenheit bekannt war; gegen Laune und Leichtsinn, die ihm diese Worte entlockt haben könnten, spricht Napoleons Charakter und Vorgeschichte, seine Kenntnis diplomatischen Plauderns muß ihn überdies an der freien Erfindung der Metternichischen Offerte gehindert haben; seine Auffassung einer Entente ist die richtigere und modernere als Bismarcks. Aber jene ist gar nicht Bismarcks Auffassung, nur seine Ausflucht, und nichts ist erstaunlicher als diese ablehnende Keuschheit, die er in seinem Bericht vergleicht mit der Lage Josephs bei Potiphars Frau: »Er hatte die unzüchtigsten Bündnisvorschläge auf der Zunge; wenn ich etwas entgegengekommen wäre, so hätte er sich deutlicher ausgesprochen.«

Was konnte Bismarck riskieren, wenn er dem Kaiser Weiteres entlockte? Grundsätze hinderten ihn nicht, denn er ist kein Legitimist, und wenn er einen positiven Vorschlag des mächtigen Frankreich nach Hause brächte, ließe am Ende auch der König mit sich reden. Dazu kommt, daß er im Brief an Bernstorff. seinen amtlichen Bericht vom selben Tage durch die Mitteilung ergänzt, der Kaiser sei »eifriger Verfechter deutscher Einheitspläne, d. h. kleindeutscher, nur kein Östreich darin. Wie schon einmal vor 5 Jahren mir gegenüber, wollte er, daß Preußen eine Seemacht wenigstens zweiten Ranges werden und die dazu nötigen Häfen besitzen müsse. Er fand ... die Einschachtelung des Jade-Busens in Oldenburg und Hannover eine Absurdität«. Trotz der Teilung dieses Berichtes schweigt er über die Antwort, die er dem Kaiser auf seine östreichische Mitteilung gab. Er schließt nur mit der allgemeinen Folgerung, man solle zwar nicht mit Frankreich ein Bündnis auf bestimmte Artikel, aber ja nicht auf Genossenschaft Östreichs gegen Frankreich schließen, da Östreich niemals »freiwillig eine Verbesserung unserer Stellung in Deutschland zustimmen«, vielmehr gern Venetien und das linke Rheinufer opfern und überhaupt »jeder Kombination fähig sein werde, wenn sie nur zum Übergewicht über Preußen in Deutschland verhilft«.

Bismarcks Schweigen gegen den Chef ist bedeutsam, denn den weltgeschichtlichen Keim dieser Unterhaltung im kaiserlichen Park hat er beim ersten Wort erkannt. Er ist, man kann es anders nicht erklären, offenbar gegen den Kaiser weniger zurückhaltend gewesen, als gegen den Minister, den er jeden Augenblick zu ersetzen hofft; dieser Chef wird morgen Gesandter in London sein, er aber Minister in der Wilhelmstraße, also Chef desselben Grafen Bernstorff, dem er heut noch mit den Kurialien des Beamten schreibt. Warum soll er ihm noch die beinah beispiellose Unterhaltung anvertrauen? Vielleicht verschweigt er sie sogar seinem König, und hat er auch dem Kaiser nur Allgemeinheiten gesagt, so hat er ihn doch sicher weitere Konfessionen machen lassen. Vier Jahre später, im östreichischen Kriege, im Verkehr mit Napoleon, wird er sich, vielleicht auch ihn daran erinnern.

Er hat damals mit Thiers verkehrt, dem Führer der Opposition, ist auch bei einem Abstecher nach London nicht nur zu den Regierenden gegangen. Hier war es, wo er nach einem Diner auf der Russischen Botschaft vor Disraeli und andern Führern mit einer seiner Offenheiten Befremden erweckte (deren Bericht in der überlieferten Form allerdings für apokryph gilt). Was er tun würde, wenn er ans Ruder käme? »Mein erstes wäre, an der Erneuerung der Armee zu helfen. Ist sie stark genug, dann würde ich die erste Gelegenheit ergreifen, um mit Östreich abzurechnen, den Deutschen Bund aufzulösen, und Deutschland eine nationale Einheit unter Preußens Führung zu geben.« Gewohnt zu bluffen, war Bismarck überzeugt, daß man dergleichen immer glaubt, wenn es falsch, und nie, wenn es aufrichtig gemeint ist. Diesmal aber war er im Irrtum, denn, der ihm zuhörte, war ihm an Verstand keineswegs unterlegen: Disraeli fügte der Wiedergabe dieser Worte die geniale Glosse hinzu: »Take care of that man, he means what he says!«

Die Deutsche Frage hing an der preußischen Armee. Jede Partei wollte sie für sich haben, und es gab drei Parteien: die Liberalen wollten Deutschland unter preußischer Führung, die Konservativen wollten als Deutsche keine Preußen über sich, als Preußen wollten sie nicht Deutsche' werden; der Zwiespalt ging durch Volk und Gesellschaft, Hof, Beamtentum und Königsfamilie, in Wellen, wie in der Revolution.

Nur der König hörte zwei Stimmen in seinem Herzen. Seit 30 Jahren strebte er der Erneuerung des Heeres zu, hier lag sein einziges Interesse und Wissen. Seit den Freiheitskriegen war die Armee, trotz verdoppelter Bevölkerung, in Stand und Lebensalter nicht verändert worden. Nun, endlich zur Macht gelangt, will Wilhelm, im Gegensatz zu seinem schwankenden Bruder, durch ein neues Gesetz in größerer Zahl Rekruten dreijährig heranbilden, dafür weniger Landwehr, also verheiratete Leute, aufstellen, und so dieselbe Zahl ohne, wie zuvor mit der Landwehr, unter Waffen halten. So sollte die höchste Zahl waffentragender Männer von 400 auf 700 000 erhöht, zugleich das Heer verjüngt werden. Diese Schonung der älteren Leute klang sehr sozial; vielleicht hat der soldatische König zuerst nichts weiter gewollt als dies.

Aber nun muß er erleben, wie dieser Plan politisch gedeutet und von zwei Seiten auseinandergezerrt wird. Denn in der Landwehr sehen die Liberalen mit Recht die letzte Festung, die das Volk seit Anno 13 noch hielt, ihre Väter waren es, es war buchstäblich das Volk, das den Befreiungskrieg gewonnen hatte, nicht der Adel in seiner zweifelhaften Stellung und nicht der volksfeindliche König; was Scharnhorst damals geschaffen: ein Volksheer, schien nun zu einem Königsheer herabzusinken. Auch die Liberalen wollen die Armee verstärken, sie sind es ja, die Deutschland wollen, darum wünschen sie zweijährige Dienstzeit. Was sie bekämpfen, ist Stärkung des Adels in der Armee: Offizierskorps und Kadettenhäuser sollen nicht, wie geplant, vergrößert, die bürgerlichen Offiziere in der Landwehr nicht zurückgesetzt werden. Schon ist alles aufs neue dem Adel zugefallen, Diplomatie, Präsidenten, Landräte; die Armee volkstümlich erhalten, heißt, den entschwindenden Geist von 48 noch einmal am Zipfel fassen.

Roon ist es, der den Konflikt auf die Höhe treibt. Weit royalistischer als der König, erklärt er vor der Kammer, die Krone darf in wichtigen Augenblicken nicht von wechselnden Mehrheiten und Parteireden abhängen; so spricht er offen gegen die Verfassung und treibt die Linke zum Kampfe, den er sucht. Bis zur Verfassung hatte der König die Heeresstärke einfach befohlen. Soll Preußen jetzt Verfassungsstaat sein oder noch immer Militärstaat? Kein Soldat ohne Geld! Verweigerung des Geldes für dreijährige Dienstzeit! Dann lösen wir die Kammer auf! So schrillt der Konflikt.

In diesen Wochen der Berliner Krisis schwimmt Bismarck jeden Morgen und jeden Nachmittag in den Wellen des Atlantischen Ozeans, dort wo der Wellenschlag am stärksten ist: in Biarritz, an Spaniens Grenze, fern von Bahnen, Kurieren und deutschen Zeitungen, badet er täglich zweimal, bleibt Wochen anstatt der geplanten drei Tage, liegt in den Dünen, »rauchend, die See betrachtend, schieße nach der Scheibe ... die Politik habe ich ganz vergessen, lese keine Zeitungen«. Die wichtigsten Briefe von Bernstorff und Roon verfolgen ihn am Rande der Pyrenäen, werden aus Orten drahtlich gemeldet, zu denen die Post zweimal wöchentlich je 4 Tage braucht, der Adressat streckt sich im Sande und ruft aus: »Wenn er nur keinen direkten Ruf nach Berlin bringt! Ich bin ganz Seesalz und Sonne ... Ich blieb über eine halbe Stunde im Wasser und habe daher das Gefühl, daß mir nur die Flügel fehlen, um zu fliegen. Nach dem Essen ritten wir spazieren, im Mondschein bei der Ebbe den festen Strand entlang, und dann ging ich noch wieder allein. Du siehst, die alle Rüstigkeit kommt wieder.«

Seit einem Jahrzehnt und länger war Bismarck nicht so glücklich wie in diesen Wochen, und weil er glücklich ist, so ist er auch verliebt: alles in Ehren, wie seine Grundsätze es fordern, und mit der Klugheit des Frauenkenners schwärmt er seiner Gattin in täglichen Briefen von der andern vor und beleuchtet, indem er sie der verstorbenen Freundin vergleicht, noch einmal jene frühe Neigung: »Unsichtbar für alle Menschen, durch zwei Felsen mit Heidekraut in Blüte sehe ich das Meer, grün und weiß in Schaum und Sonne; neben mir die reizendste aller Frauen, die du sehr lieben wirst, wenn du sie näher kennst, ein Stückchen Marie Thadden ... aber originell für sich, lustig, klug und liebenswürdig, hübsch und jung.« Diese geborene Fürstin Trubetzkoi, jetzt Orlow, die er hier am Strand getroffen, bildet mit ihrem Manne den weltlichen Vordergrund, den Bismarck mit steigenden Jahren gern vor die wilden Wälder und kühnen Klippen stellt: »Ich bin lächerlich gesund und so glücklich, als ich fern von Euch Lieben sein kann,« er geht zeitig schlafen, steht früh und heiter auf, die reizende Russin spielt ihm abends seine liebsten Beethoveniana vor, Chopin, Winterreise, am offnen Fenster über dem Meere und kurz, »sie ist eine Frau, für die du dich passionieren wirst, wenn du sie kennst.« Als sie auf einem Leuchtturm die Frau des Wärters guter Hoffnung finden, läßt ein dichterischer Einfall die Liebenden ihr Gefühl in das ungeborene Wesen überströmen, sie bieten sich zu Paten an, und wirklich erhält der Knabe später die beiden Vornamen Othon Lafleur, in denen sie sich verbinden. Bismarck vergaß damals seinen Hochzeitstag, die Russin hatte es dem Frauenkenner angetan, der immer fremde Rassen bevorzugte. Es war seine letzte Neigung.

Denn nun reist er im Gefolge der schönen Frau seiner großen Leidenschaft entgegen: der Macht.

Nach langem Hin und Her der Post und Telegraphen erreicht ihn plötzlich in Avignon ein Aviso und endlich in Paris der Ruf, den Roon schon seit zwei Wochen brieflich vorbereitet, und nun liest er: »Dépêchez-vous. Periculum in mora.« Man schreibt den 18. September 62, die Depesche stammt von gestern, am 19. früh sitzt er im Kupee nach Berlin. Es ist eine Stimmung, ähnlich der vor 15 Jahren, als nach langem Harren seine Bauern eilends ans Schönhausener Tor geritten kamen und riefen: Das Eis fängt an zu brechen, schnell, Herr Baron!

In der entscheidenden Sitzung im Abgeordnetenhause hatte die Fortschrittspartei die Heeresvorlage en bloc abgelehnt, wofern nicht zweijährige Dienstzeit bewilligt würde. Roon, gedrängt von den schwächeren Kollegen, hat erwidert, er will es überlegen, und war in diesen Tagen sogar zu Konzessionen bereit; Bernstorff hat seinen Rücktritt angekündigt, wofern man mit Rechtsbruch ohne Parlament weiterregieren und nicht lieber die zweijährige Dienstzeit einräumen wolle. Aber jetzt bleibt der König fest, von Moltke gestützt, – und nun, da alles auf Brechen steht, hat Roon sich auf eigene Faust den Politiker verschrieben, der diesen drei Generalen ihre Truppen beschaffen soll.

Zur Stunde, als Bismarck in Paris die Fanfare hört, ist in Neubabelsberg des Königs Aufregung aufs höchste gestiegen, denn zum zweiten Male sieht er sich im Zwiespalt zwischen Recht und Überzeugung, und da er kein Politiker ist, sondern ein Edelmann, will er zum zweiten Male gehn. Die furchtbaren Augenblicke seines Lebens tauchen auf, die Flucht als Kind nach Memel, die Flucht als Mann auf die Pfaueninsel und nach London, dann Olmütz, der Tag vor dem Krimkrieg: also war alles vergebens! An diesem 18. läßt er seinen Sohn kommen, legt ihm die Urkunde der Abdankung vor, unter der nur sein Name: fehlt. Der Kronprinz, viel zu schwach und tatenunlustig, um eine Krone zu ergreifen, die ihm der Vater anbietet, weigert sich, den Akt auch nur zu lesen, erklärt, mit einem Rückzug vor der Kammer könne er nicht beginnen, Abdankung würde den Konflikt nur verstärken, die Rechte würde den Vater gegen den liberaleren Sohn ausspielen. Es fällt der Name Bismarck.

– Der ist ein Parteigänger Frankreichs, sagt der Sohn.

– Um so weniger möchte ich ihn zum Minister, sagt der Vater. Als dann Roon ihm aufs neue Bismarcks Namen nennt, auch Bernstorff für ihn eintritt, ruft der in die Enge getriebene alte Herr:

– Er wird es jetzt nicht annehmen wollen! Er ist auch gar nicht da! Es kann nichts mit ihm besprochen werden! – Die letzte Abwehr. Am 20. früh trifft Bismarck ein: »Mager, gesund und sonnenbraun, so beschreibt ihn einer seiner Bekannten, wie ein Mann, der einen Ritt durch die Wüste auf dem Dromedar gemacht hat.« Er findet alles in Auflösung. Alle reden auf ihn ein, jeder hat einen andern Rat, die Minister rechnen noch immer mit der Abdankung und widerraten sie dem Könige. Der Kronprinz sucht dem Chaos zu entfliehen, fährt in seinen Badeort, beruft vorher, am 21., Bismarck zu sich, findet ihn aber zurückhaltend, denn der Gesandte hat den König noch nicht gesprochen. Aber der König hat von diesem Besuch des Gesandten erfahren, und als er am selben Tage Roon seine Ankunft meldet, sagt der König verdrossen:

– Mit dem ist auch nichts: der ist ja schon bei meinem Sohn gewesen! In diesen Worten, von Bismarck selbst überliefert, erkennt man ihn ganz: abdanken will der König lieber als vor der Kammer weichen, dafür ist er Soldat; lehnt es der Sohn ab, das gewährt ihm Erleichterung, denn freilich möchte man lieber an der Macht bleiben, auf die man ein Menschenalter gewartet hat. Wenn aber einer mit dem Sohn zu kokettieren scheint, den er noch gestern selber berufen wollte, dem mißtraut der Herr, und vollends, wenn er Bismarck heißt: dahinter steckt eine Art Komplott, Roon hat ihn selbständig gerufen, wie kommt er nur dazu! Aber nun ist der Mann leider da, er hat ja auch Urlaub, ablehnen kann er den Gesandten nicht, warten lassen hat heute keinen Sinn; übrigens sind alle andern verzagt und ratlos, und man wünscht sich doch nichts in der Welt leidenschaftlicher als die neue Armee!

Man muß ihn kommen lassen, muß ihn prüfen. Man muß sich wappnen.

Am 22. früh tritt Bismarck in das Arbeitszimmer in Babelsberg. Der König, heut weniger bereit abzudanken als vor drei Tagen, legt trotzdem ohne Umschweif dem gefährlichen Manne diese Absicht dar und zeigt ihm, wie neulich seinem Sohne und wohl auch Roon, die Urkunde, die er entworfen hat. Obwohl er innerlich glaubt, von Gottes Gnaden König zu sein, und jene Krone vom Altare des Herrn ihm wahrhaft heilig dünkt, faßt er doch in der Realistik des Kampfes das Ganze wieder als Offizier auf, er sagt wiederholt: Dann nehme ich meinen Abschied.

– Ich will nicht regieren, sagt er jetzt, wenn ich es nicht so vermag, wie ich es vor Gott, meinem Gewissen und meinen Untertanen verantworten kann ... Ich finde keine Minister mehr, die bereit wären, meine Regierung zu führen, und habe deshalb beschlossen, sie niederzulegen. – Das hat Bismarck erwartet, und der König wußte, daß jener es erwartete, denn alle Minister wußten davon. Der Gesandte erwidert:

»Ich bin, wie E. M. bekannt, seit Mai bereit, einzutreten.« Er schiebt also, nach seiner Taktik, auch hier zuerst dem andern die Verantwortung zu, daß er ihn nicht früher berufen habe; dann betont er, daß Roon bleiben und andre sich finden würden.

– Wären Sie auch bereit, für die Neuordnung der Armee gegen die Mehrheit einzustehen?

»Ja.«

– Dann ist es meine Pflicht, mit Ihnen die Weiterführung des Kampfes zu versuchen, und ich abdiziere nicht. –

Die ganze Form des Gespräches zeigt einen König, der, ehe die Tür aufgeht, entschlossen ist, mit diesem Unerschrockenen zu regieren, um mit Ehren bleiben zu können; seine Fragen legen dem Gesandten die Antwort nahe, doch sind sie aufs Gewissen gestellt. Er ist auch zu einfach, um mit einer theatralischen Gebärde nun das Papier zu zerreißen, dem neuen Mann die Hand zu schütteln und eine neue Ära anzufangen; so wie auch Bismarck zum zweiten Mal im Leben seine Entscheidung in ein Wort preßt. Nun lädt ihn der König zu einem Spaziergang in den Park und versucht ihn weiter: jetzt zeigt er ihm eine Denkschrift, eigenhändig, 8 enge Folioseiten, die alle schwebenden Fragen beantwortet, von den Konzessionen an die Liberalen bis zur Reform der Kreisordnung. So hat sich der König vor dem gefürchteten Manne gewappnet, dies Programm soll ihn vor Torheiten des abenteuerlichen Menschen schützen. Bismarck, indem er es durchfliegt, schließt auf die Königin.

Jetzt wechselt er den Ton. Das Gefühl der unsichtbaren Feindin, zugleich die Sicherheit aus der soeben formlos erfolgten Ernennung, geben ihm das alte Selbstgefühl zurück, und mit dem ersten Wort in dieser gefährlichen Ehe stabiliert er sogleich Standpunkt und Rechte: er lehnt es ab, das Programm durchzusprechen:

»Es handelt sich jetzt nicht um konservativ und liberal, sondern nur darum, ob in Preußen das königliche Regiment maßgebend sein soll oder die Parlamentsherrschaft: diese wäre nötigenfalls auch durch eine Periode der Diktatur abzuwenden. Ein Programm würde uns beide daran nur hindern. In dieser Lage werde ich, selbst wenn E. M. mir Dinge befehlen sollten, die ich nicht für richtig hielte, Ihnen diese meine Meinung offen entwickeln, aber wenn Sie auf der Ihrigen beharren, lieber mit dem Könige untergehen, als E. M. im Kampf mit dem Parlament im Stiche lassen.«

Ein neuer Ton. Bismarck hat ihn mit Vorbedacht gewählt, weil er in dieser Stunde dieses Mannes Vertrauen gewinnen wollte. Doch zugleich hat er ihm Gehorsam gelobt, weil grade er des Ungehorsams, der Autokratie für fähig galt, dabei aber sicher mit Mephisto gedacht: Den schlepp ich durch das wirre Leben!

Als Lehensmann und Offizier, zugleich ganz Diplomat, hat er den Ruf angenommen und erweist seine realistische Vorsicht schon eine Minute später, als der König das so entwertete Programm in eine trockne Schlucht werfen will, wovon ihn sein Begleiter mit Hinweis auf gefährliche Folgen abhält: der erste Rat, den der Minister Bismarck seinem König gibt. Er wird ihn noch oft vor trockenen Schluchten warnen.

Als er aus Babelsberg zurückkehrt, trifft er Schlözer. Zu ihm, der sein Vertrauen auf so wunderbaren Umwegen gewann, sagt er, wie dieser überliefert, »in ganz merkwürdigem Tone«:

»Ich glaube, man hat mich eingefangen.«


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