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6. Kapitel.
Funken.

Der Pendel geht im Gleise.
Er klang, wenn du zu mir kamst,
Er mahnt, wenn du Abschied nahmst,
Nach alter Weise.

Frühlicht blinkt auf dem Dache!
Wie hell wird mein Kämmerlein!
Und doch ist erst Sonnenschein,
Bist du im Gemache!

Dämm'rung webt ihre Schleier
Um Geschichten alt und neu, –
Ein Englein sitzet dabei
Und hütet das Feuer.

»Ihre Fräulein Schwester ist nicht hier?«

»Nein, Frau Schulrat, Frieda besorgt uns Kakes zum Tee.«

»Dann grüßen Sie sie, bitte, von mir. Ich hätte sie gerne noch gesehen, muß aber mit einem früheren Zuge fort. Mein Bruder telegraphierte mir eben, die Beerdigung meiner Cousine sei schon morgen um elf. – Also, bitte, sehen Sie etwas nach dem Rechten, Fräulein Händler! Fräulein Alchhusen ist, was man einen famosen Kerl nennt, aber was die Feinheit anbelangt,« – sie zuckte die Achseln. »Ich darf mich auf Sie und Ihre Fräulein Schwester verlassen, nicht wahr? Morgen abend komme ich zurück.«

Eine zierliche Frau, Ende fünfzig, stand auf der Schwelle des hellen, freundlichen Raumes, der ohne weiteres Anspruch auf den Namen eines Jungenmädchenstübchens erheben konnte. Nicht nur wegen seiner mehr als hübschen Bewohnerin, die sich beim Eintritt der Hausfrau von ihrem Platz am Schreibtisch erhoben, – sein Gepräge war ein ganz ureigenes: etwas altmodisch, etwas verbraucht, zum Teil ein wenig spießig, aber urgemütlich mit dem braunen Kachelofen, der sogar ein Röhr zum Warmhalten von Tee und Kaffee aufwies, mit seinen vergilbten Stichen, seiner alten Wanduhr, mit den getupften Mullgardinen, die draußen das Städtebild mit den blauen Höhenzügen im Hintergrund freundlich umrahmten. Rote Geranien blühten auf der weißgestrichenen Fensterbank, ein Efeustock rankte sein dunkles Laub um das Porträt eines jungen Mannes, das über einem zweiten Schreibtisch hing. Und die Sonne strahlte bis in die fernsten Winkel und umspielte die Mädchengestalt des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren späten Lichtern.

Bei näherer Besichtigung deutete sich hier und da, ohne den ehrwürdigen Jahrgang zu verletzen, ein moderner Einschlag leicht an; nur drüben an der Wand hing mit prätentiöser Selbstverständlichkeit das Abzeichen der Frau von heute: die Korpsmütze. Ob sie getragen ward, oder nur das Allerheiligste der Studentin zierte, – sie war da, und das besagte alles.

›Die Dame in Schwarz‹, wie die Schulrätin Korallus allgemein in akademischen Kreisen hieß, weil sie ihre Witwentrauer nicht mehr ablegte, war eine treusorgende Hausmutter. Die Studentinnen, welche sich dem Schutze ihres Hauses anvertrauten, verübelten es ihr daher auch nicht, wenn sie in ihrer Fürsorge bisweilen vergaß, daß sie Hochschülerinnen statt Backfische vor sich hatte. Nur Rose Händler fühlte sich bisweilen durch die bemutternde Art der ›Phileuse‹, wie sie Frau Korallus zur Abwechslung scherzweise nannte, in ihrer akademischen Würde gekränkt.

»Man ist doch schließlich kein Wickelkind mehr,« hatte sie noch vor wenigen Stunden Frieda gegenüber geäußert, als die liebevolle Frau ihrer Ansicht nach wieder einmal in ihrer Fürsorge zu weit gegangen war.

»Das mußt du ihr nicht übelnehmen,« hatte jene erwidert, »Frau Korallus entstammt einer Zeit, die in jeder Weise anders geartet war, als die unsrige.«

»So alt ist sie doch noch gar nicht!«

»In achtundfünfzig Jahren kann sich vieles ändern, Rose. Jedenfalls ist die Jugend von heute eine ganz andere, als die von damals.«

»Ja, Gott sei Dank! man ist wenigstens aufgewacht!« –

Und nun ging das Bemuttern schon wieder an! Fast schien's Rose, als sollte auf die Neue aufgepaßt werden. Was dachte sich die Phileuse eigentlich? Bildete sie sich etwa ein, daß Fräulein Alchhusen sich das gefallen lassen würde? Außerdem hatte sie längst ihr eigenes Plänchen für diesen Nachmittag fertig. Sie hatte sich einen jungen Vandalen, der bei der ›Dame in Schwarz‹ verkehrte, zum Tee eingeladen. Frieda wußte noch nichts davon, und hatte sich ahnungslos ausschicken lassen, um Kakes zu holen. Vor ein fait accomplis gestellt, konnte sie nichts mehr daran ändern, aber auf eine schwesterliche Gardinenpredigt machte sich Rose gefaßt. Der Gedanke war ihr unangenehm. Sie liebte Frieda und hatte Respekt vor der stillen Größe, mit welcher sie das Leid ihres Lebens trug. Aber schließlich konnte sie sich nicht in allem nach ihr richten. Auch hatte sie stets das Gefühl, von der Schwester auf Wunsch der Eltern kontrolliert zu werden. Wie sie auf diesen Gedanken gekommen war, wußte sie selber nicht. Er war da und ließ sich nicht bannen.

Und heute? Frieda würde wohl kaum mit ihrer Handlungsweise einverstanden sein. Sie verstand ihre Zeit eben nicht. Himmel, was war denn dabei, wenn ein Student bei ihr Tee trank? Kein vernünftiger Mensch würde etwas darin finden!

Und dann wandte sie das rosige Gesicht der Hausfrau zu: »Verzeihung, Frau Schulrat, in welcher Weise sollen wir nach dem Rechten sehen? Vormittags sitzen wir im Kolleg, ebenso nachmittags; erst von vier Uhr an sind wir einigermaßen seßhaft.« Sie lachte. »Ja, ja, wir sind fleißige Leute. Wir wollen etwas erreichen mit unserem Gelde. Den Füchsen ist der Frauenfleiß sehr heilsam, die Faulpelze werden dadurch mobil gemacht!«

»Meinen Sie?«

»Unbedingt. – Aber wir sind vom Thema abgekommen.«

»Ach, ich wollte Sie nur bitten, Fräulein Alchhusen etwas zu beobachten. Sie ist reichlich flott, beinahe – nun, der Franzose würde sagen, un peu déclassée!«

»Wieso?«

»Man sieht sie fortwährend in Herrenbegleitung; ich wette, sie hat heute nachmittag ein halbes Dutzend Vandalen auf der Bude. Einer ist fast täglich da.«

›Ein halbes Dutzend ist weniger gefährlich,‹ dachte Rose, hütete sich aber, ihre Weisheit auszukramen. »Und was soll ich dabei machen?« fragte sie.

Frau Korallus kam etwas in Verlegenheit. Sie zupfte an ihrem Kreppschleier und sah auf die Uhr. »Ich habe längst gemerkt, daß ein guter Kern in dem Mädchen steckt, sonst behielte ich sie gar nicht. Aber sie ist reichlich alt für dies Auftreten; auch wegen des Beispiels den Jüngeren gegenüber geht das auf die Länge nicht so weiter.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Ich bin gerne über alles im Hause orientiert,« sagte sie dann schnell, »vielleicht sind Sie so freundlich und …«

Sie kam nicht weiter. Roses Haltung war plötzlich eine andere geworden. Sie glich der eines Kriegsschiffes, das sich zum Angriff rüstet. Und dann krachte der erste Kanonenschuß.

»Das ist unter Kolleginnen nicht üblich, Frau Schulrat,« sagte sie kurz.

Frau Korallus zog die Augenbrauen in die Höhe. »Aber, Fräulein Händler, wie können Sie diese harmlose Bitte so auffassen. Sie wissen doch, wie es gemeint ist!« Wieder blickte sie zur Uhr. »Du meine Güte, ich muß ja fort!«

Roses Gewissen war nicht ganz rein. Sie wußte, Neugier war nicht die Triebfeder der an sie gerichteten Bitte. Mütterlichkeit, die fremder Leute Kinder warm umhegte, die Sorge um den blanken Ehrenschild des Hauses war's. Die Sache war nur verkehrt eingeleitet. Der Takt fehlte. Daran hakte sich Rose fest. Dahinter versteckte sie sich mit ihrem schlechten Gewissen, mit der Heimlichkeit, die sie vor der guten Frau hatte.

»Entschuldigen Sie, Frau Schulrat,« rief sie, ihr nacheilend, »ich weiß ja, wie gut Sie es meinen, aber,« – Rose setzte ihr reizendstes Schelmgesicht auf, – »petzen dürfen Kommilitoninnen nicht!«

Die Phileuse sah jetzt erst, daß ihr Liebling mit ganz besonderer Sorgfalt Toilette gemacht hatte. Statt des kurzen, soliden Sportrockes und der englischen Hemdbluse umfloß ein langschleppendes, taubengraues Tuchkleid in weichen Falten die junge Gestalt. Im seidenen Gürtel duftete ein Veilchenstrauß, eine feine Goldkette mit zierlichem Gehänge schlang sich um den weißen Nacken.

Begütigend nickte sie Rose zu.

»Ja, ich weiß, mein Kindchen!« Und dann blitzte doch etwas wie Neugier in den dunklen Augen auf. »Warum haben Sie sich denn so schön gemacht?«

»Wir wollen ins Theater!«

»Ins Theater? Aber es ist ja noch nicht drei!«

Sie mußte fort. Das war Roses Glück.

»Mein Sportrock muß ausgebessert werden,« flunkerte sie. Heimlich nahm sie sich vor, einen losen Haken anzunähen, dann entsprach die Sache der Wahrheit.

Aber Frau Korallus hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Sie nickte der jungen Studentin freundlich zu, rief das Stubenmädchen, welches ihre Reisetasche zur Bahn bringen sollte, und eilte die Treppe hinab. Rose war's, als habe sie einen leichten Anflug mokanten Lächelns um den Mund der Matrone huschen sehen, als sie ihr die Hand zum Abschied reichte.

»Ich kann's nicht ändern,« sagte sie, in ihr Zimmer zurückkehrend, halblaut vor sich hin. »Wer durchaus rückständig bleiben will, der muß es eben bleiben!«

Trällernd ging sie zum Fenster:

»Ihren Schäfer zu erwarten –
Trallari! Trarallala!
Schlich sich Phillis in den Garten –
Trallari! Trarallala!«

Drüben leuchteten die Berge. Abendgold lag über den Dächern; mit zartem Hauch umwob es Zinke und Mauerwerk verklungener Zeiten. In violetten Tönen schwamm die Ferne; rosige Wölkchen schifften über den ergrauten Türmen, über den malerischen Vierteln der Vergangenheit lag der Zauber einer stillen Nachmittagsruhe.

Desto lebhafter ging's in der Neustadt zu. Hier herrschte das rege Treiben der studentischen Jugend, das alle Kreise in seinen fröhlichen Bann zog. Was jung und hübsch war, befand sich um diese Zeit auf dem Königswall. Ein buntes, abwechslungsreiches Bild! Scharf umgrenzte Typen und doch ein stolzes, einheitliches Ganzes. Mitglieder der verschiedensten Korporationen wanderten paarweise den herbstlichen Weg entlang oder standen in Gruppen zusammen. Frische, echt studentische Gestalten, von gewaltigen Doggen oder Leonbergern begleitet, bartlose Theologen, sonnengebräunte Agronomen mit ihren grünen Abzeichen, Schwarzmützen mit Monokel und Kettenarmband, wandelnde Modebilder, deren studentischen Schneid nur der tiefe Durchzieher auf der Quartseite verriet, dort die Weißen, ihre Antipoden, und in allen Regenbogenfarben wechselnd das bunte Tuch der Verbindungsmützen, – eine Trachtenschau, wie sie nur die Universitätsstadt bietet.

Und neben dem werdenden und reifenden Manne das junge, wissensdurstige Weib von heute. Ein Weib, das seinen Müttern und Großmüttern in nichts mehr gleicht. Hier und da vielleicht zu seinem Vorteil, im großen Ganzen zu seinem Nachteil. Sind es doch durchschnittlich nur wenige, denen die Alma mater ihren lieblichsten Schmuck läßt. Denn es sind seltene Erscheinungen, die das Studium nicht mit Hunger und Sorgen erkaufen müssen, die der Kampf ums Dasein nicht zur rücksichtslosen Egoistin stempelt, zur sich überall durchsetzenden, auf ihr Recht gewaltsam pochenden Persönlichkeit. Seltener noch sind die, denen die Vornehmheit angeboren, denen des Weibes geistiger Adel im Blute liegt, die jene bewahrende, zielstrebige, erneuernde Macht an sich erfahren haben, welche Charaktere bildet, christliche Persönlichkeiten. Die darum dem Weibe geben, was des Weibes ist. Die Mutterwürde und Frauensehnsucht nicht mit einem contra naturam ablehnen, sondern ihre königlichen Rechte zu wahren wissen. Denen die ganze Oberflächlichkeit unserer Tage mit ihrer grenzenlosen Pietätslosigkeit auf allen Gebieten der häßliche Fremdkörper ist und bleibt, den sie im äußeren und inneren Leben, soweit es in ihren Kräften steht, ausschalten und mit blanker Waffe bekämpfen. Es sind Höhennaturen, die Gottes Sonne schauen, wo sie am hellsten strahlt, die seine Huld als eine Gunst zu erkennen vermögen, – im allerbesten Sinne moderne Menschen, die das Leben hier unten von der rechten Seite anzufassen gelernt, weil sie nicht für eine hoffnungslose Wiederauflösung alles Irdischen zu schaffen wähnen, sondern sich ihrer großen heiligen Mitarbeiterschaft am Bau eines transzendenten Gottesreiches bewußt sind. Sie stehen außerhalb der durch gesellschaftliche Entwicklung geschaffenen Probleme. – –

Frohes, junges Volk war's, das heute auf dem Königswall sein Wesen trieb. Ein ganz bestimmter Kreis, bunt zusammengewürfelt und doch in gewissem Sinne Clique. Da fehlte nicht nur die arme, alternde Lehrerin, die späte Studentin, die sich, einem eisernen Gesetz fügend, schlecht und recht auf der Hochschule durchschlug, da fehlte nicht nur der ewige Student, der, seine Tage in der Sofaecke verbringend, aus der neben ihm stehenden Gießkanne seinen Bierverbrauch schöpfte, – da fehlte manches andere noch. Zu niemandes Schaden. Und kam's, der Elite zum Trotz, im Hosenrock, im dekadenten Aufzug, so schloß der Kreis den Eindringling aus. Denn diese Stunde war das stillschweigend anerkannte Privilegium eines alten vornehmen Korpsgeistes, der seine Rechte bis zum äußersten verteidigte. Wie lange noch? – eine Zeitfrage war's.

Rose blickte sinnend auf das bunte Treiben nieder. So waren sie vor hundert Jahren auch schon den Königswall auf- und niedergeschritten, – oberflächlich betrachtet mocht' es dasselbe Bild sein, nur eines hatte sich geändert: dem Weibe von dazumal hatte der wissenschaftliche Adelsbrief gefehlt. Wie die Zeiten wechselten! Denn ob die Frauenfrage noch in ihrer Krisis stand, – sie war da und ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Immer mehr fiel das Problematische von ihr ab, immer zielbewußter trat sie auf. Es war wirklich ein Zeichen von Engigkeit, sich dieser weltbewegenden Kulturaufgabe zu verschließen und der Frau das Recht auf die Wissenschaft abzusprechen. Rose prophezeite dieser vorsintflutlichen Idee kein langes Leben mehr, ihre Zeit war vorüber.

Ein paar Vandalen blickten herauf und grüßten die junge Norddeutsche. Lächelnd winkte sie hinab. Eigentlich war sie recht töricht gewesen, so vorzeitig Abendtoilette zu machen; nun mußte sie oben bleiben. Und das Bild unten lockte so lebensfroh!

Sie öffnete ein Fenster und blickte den Wall entlang. Von Frieda war noch nichts zu sehen. Aber da kam ja Mark Albrecht von Benz, einen Nelkenstrauß in der Hand. – – Sie wurde dunkelrot. Wo nur Frieda blieb?

Die Elektrische klang. Gleich darauf stand die Erwartete auf der Schwelle. Sie mußte von der anderen Seite gekommen sein.

»Wo willst du denn hin?« fragte sie mit einem Blick auf Roses Toilette.

»Asta und ich wollen doch heute abend in die ›Meistersinger‹. Ich habe mich vorhin gleich angezogen, weil Herr von Benz zum Tee kommt. Ich fürchte, es wird nachher zu spät.«

»Herr von Benz kommt zum Tee?« fragte Frieda erstaunt.

»Ja, ich habe ihn eingeladen. Der arme Mensch sitzt sonst ganz allein aus seiner Bude und niemand macht es ihm gemütlich.«

»So. Und darum fühlst du dich berufen, für seine Gemütlichkeit zu sorgen? Rose, ich glaube, den Herren mangelt es nicht an Unterhaltung.«

»Das ist es nicht. Aber wer mag denn immer in der Kneipe sitzen! Außerdem stehen wir uns hier doch nicht als Herr und Dame gegenüber, sondern als Kameraden. Ich sitze in Professor Sentis' Kolleg neben ihm; es wäre albern und prüde, wenn ich mich nicht um ihn kümmerte.«

»Liebste Rose, dazu gehört aber nicht gleich eine Teeeinladung! Ich finde, du bist etwas übereilt gewesen! Und gerade heute, wo Frau Korallus nicht zu Hause ist – –«

Rose unterbrach sie. »Bitte, keine Gardinenpredigt! Es ist die höchste Zeit, daß ich Tee mache. Ist die Marmelade im Schrank?«

Frieda nickte, und die jüngere Schwester machte sich am Samowar zu schaffen.

»›Die Dame in Schwarz‹ wird sich noch an manches gewöhnen müssen,« fuhr Rose fort. »Ich bin kein Burgfräulein aus dem sechzehnten Jahrhundert, das scheu die Wimpern senkt, sobald ein Mann am Horizont auftaucht. Tante Korallus aber ist die geborene alte Jungfer und findet die leiseste Neuerung unpassend. Wir werden uns das noch gründlich abgewöhnen!«

Frieda zuckte die Achseln. »Ich vermute, sie wird uns kündigen, wenn wir Studentenbesuch empfangen!«

»In unserem feinen Salon! Du bist wirklich köstlich! Übrigens ist er der Sohn des Professors von Benz, der in Baden-Baden bei Haugwitzens verkehrte. Wenn die Phileuse uns seinetwegen hinaussetzt, soll sie sich erst mal Fräulein Alchhusen darauf ansehen. Sie denkt auch nicht daran. Ich kann sie um den Finger wickeln.«

»Das kenne ich schon,« meinte Frieda, »das vergeht wieder.« Aber es interessierte sie doch, daß der Student ein Sohn des berühmten Psychiaters war.

Rose goß den Tee auf.

»Übrigens, was heute nachmittag anbetrifft, so kann es Dir doch egal sein, wer hier ist; du wolltest ja in die medizinische Ausstellung!« Sie neigte sich über den Teetisch, als suche sie etwas. Aber ihre Art war nicht ganz unbefangen.

Frieda sah sie scharf an. Ein Wunder wär's ja nicht, wenn ihr etwas entgangen wäre. Beide Schwestern lebten seit dem Tage ihres Hierseins ganz ihrer Arbeit. Wohnung und Mahlzeiten waren das einzige, naturgemäße Bindeglied. Mit Ausnahme eines kurzen Teestündchens in dem gemeinsamen kleinen Salon sahen sich die Schwestern kaum, denn auch die Abende gehörten mit seltenen Ausnahmen der Wissenschaft. Und diese Ausnahmen bestanden in Einladungen, Theaterbesuch, Vorträgen. Obgleich beide Medizin studierten, war ihre Ausbildung doch keine durchweg gemeinsame, denn Friedas Ziel war der missionsärztliche Beruf, dessen Studium in Anbetracht überseeischer Verhältnisse eine besondere Branche bildete. So stand vieles, das Geheimrat Händler und seine Frau von diesem Zusammenleben für ihre Töchter erhofft, nur auf dem Papier. Friedas ernste Arbeit überschattete das Leid, Rose ging in frischem Streben ihre eigenen Wege, ein Kind des Glücks, dem der akademische Himmel voller Geigen hing. Es waren gewiß ungewollte, aber klaffende Gegensätze, die hier herrschten.

Und Frieda Händler blickte mit heimlichem Seufzer auf die schöne junge Schwester und dachte: ›In die medizinische Ausstellung gehe ich nicht!‹

Es klopfte. Das Zimmermädchen öffnete.

Mit elastischem Schritt trat ein hochgewachsener, auffallend distinguiert aussehender Korpsstudent herein, einen prachtvollen Nelkenstrauß in der Hand. Eine Jünglingsgestalt aus einem Guß, germanisch vom Scheitel bis zur Sohle, das Auge kühn und frei, jede Bewegung den Sohn des vornehmen Hauses verratend, – Deutschlands junger Adel stand auf der Schwelle.

Über Roses schöne Züge flog ein tiefes Rot, als sie dem Gast die Hand reichte. Friedas Auge ruhte bewundernd auf dem Vandalen.

Ritterlich zog Mark Albrecht von Benz die schlanke Mädchenhand an die Lippen und überreichte seiner Kollegin das duftende Angebinde. Dann verneigte er sich vor Frieda, die ihn freundlich begrüßte.

»Ich freue mich. Sie kennen zu lernen, Herr von Benz,« sagte sie einfach. »Meine Schwester hat mir von Ihnen erzählt, auch ruft Ihr Name Erinnerungen an meine frühste Kindheit in mir wach. Ein Professor von Benz verkehrte, während wir in Baden-Baden lebten, im Hause unserer nächsten Freunde, einer Familie von Haugwitz.«

»Mein Vater!« sagte der Vandale erfreut. Und er hielt die Hand des Mädchens, dessen weibliche Anmut durch die tiefe Trauerkleidung noch erhöht ward, einen Augenblick länger, als es unumgänglich notwendig war, in der seinen.

Frieda aber hatte Gefallen an der Natürlichkeit und Offenheit des jungen Mannes. Sie verstand hübsch zu erzählen, und gab dem Gast in ihrer ungezwungenen, liebenswürdigen Art ein anschauliches Bild von dem Milieu des Hauses, dessen gern gesehener Gast sein Vater drei Jahre hindurch gewesen war.

Erfreut blickte Rose auf die Schwester. Sie hatte schon gefürchtet, auf ernsten Widerstand bei Frieda zu stoßen. Die Gefahr schien mit dem Moment, wo Benz ins Zimmer trat, gehoben – sie atmete auf.

Langsam näherte sie sich den beiden. »Aber wollen wir uns nicht setzen? Der Tee wird kalt!«

In hausfraulicher Anmut stand sie in dem weichen, fließenden Gewande da – ganz anders als morgens im Kolleg im kurzen, praktischen Rock. Der junge Vandale wandte den Blick nicht von der aristokratischen Erscheinung, – er wußte nicht, wann sie ihm besser gefiel. – – Eins war ihm vom ersten Augenblick an klar gewesen, daß er es hier nach keiner Richtung hin mit dem Durchschnitt zu tun habe. Rose Händler war nicht, was man in unseren Tagen die Frau von heute nannte. Was sich hier in halberschlossener Blüte verbarg, war nicht jenes moderne Strebertum, das die Frau vielfach zu deklassieren und lächerlich zu machen begann, – es war die Sehnsucht, die Höhenfeuer der Wissenschaft leuchten zu sehen, Geistesadel, der die Hand nach seinem königlichen Erbe ausstreckte. Benz hatte zu viel femininische Dekadenz im studentischen Leben gesehen, und seine Stellung zur Frauenfrage war durch diese Erfahrungen nicht unbeeinflußt geblieben. Zu viel Verkehrtes, Schiefes, zu viel weibliche Unmöglichkeit hatte seinen Weg gekreuzt. Frauen, die es ihren Mitmenschen nicht mehr schuldig zu sein glaubten, sich ordentlich zu frisieren, abgerissene Knöpfe wieder anzunähen oder überhaupt ihrer Toilette auch nur das geringste Interesse zu schenken. Lehrerinnen, die sich den Platz im Kolleg vom Munde absparten, hochachtbare Persönlichkeiten, die sich mutig im Kampf ums Dasein durchsetzten, aber keinen Schatten von dem mehr besaßen, was man Weiblichkeit nennt. Junge Mädchen, frische Geschöpfe, die nach eben bestandenem Abitur die Universität bezogen, aus guten Verhältnissen kommend, im besten Falle von kräftiger Konstitution – und doch war's immer wieder das alte Lied: die Gesundheit reichte auf die Länge nicht aus, der männliche Beruf verschob die ganzen Lebensbedingungen und Lebenspläne des werdenden Weibes und verlieh ihm als Surrogat für die verlorene Type das Bild der ›Frau von heute‹.

Mark Albrecht von Benz wußte, was ladylike ist. Seine Mutter und Schwestern waren ihm Ideale. Nie hätte er sich eine der letzteren auf der Hochschule denken können. Und wär's geschehen, wär seine Lieblingsschwester gekommen, er hätte ihr gewehrt, mit aller Kraft gewehrt: ›Bleib daheim, Liselotte, oder such dir andere Arbeit – Arbeit auf dem Gebiet der Frau, – aber komm nicht zu uns!‹

Und nun wollte wieder solch eine zarte Pflanze in dem harten, rauhen Ackerland Wurzel schlagen, eine, die vor vielen mit Recht den lieblichen Namen der Rose trug! Wie lange, und ihr Schmelz war dahin, der Hauch, der über der jungen Blume lag, verflogen. Bei Hunderten hatte er diese traurige Wandlung mit angesehen, hatte die Zeit, die solche Frucht trug, beklagt, hatte von Fall zu Fall das Opfer der Hypothese, die sich mit Gewalt ins Leben umzusehen strebte, bedauert, – aber nie war ihm das Blut zum Herzen gedrängt, wie heute, nie hatte der Mann in ihm in heißer Leidenschaft aufbegehrt, wie in diesen Wochen, nie hatte sein Wille so dringend an fremdem Geschick seinen Anteil gefordert, und vor allem, noch nie hatte sein Herz gestürmt, gelitten, wie jetzt, da dies junge, eben erblühte Weib in seiner zarten Schönheit vor ihm stand.

Während er in leichter Unterhaltung mit den Schwestern am Teetisch saß, flog sein Blick immer wieder zu ihr hinüber. Ob sie ahnte, was in ihm vorging? Sie war stiller als sonst. Ob die Gegenwart der Schwester ihr die Unbefangenheit nahm? Reserve war er ja trotz aller Kameradschaftlichkeit an ihr gewohnt. So oft sie sich auch gesehen, immer war sie ihm freundlich, aber mit jener vornehmen Zurückhaltung begegnet, die ihm so gut an ihr gefiel. Und doch – ihre Teeeinladung hatte ihn überrascht, obgleich das ja durchaus nichts Ungewöhnliches im Verkehr der akademischen Jugend war. Aber von ihr erschien's ihm eine ungewöhnliche Freundlichkeit, eine große Bevorzugung, ein Zeichen wirklicher Kameradschaft. Es war ein hübscher, echt weiblicher Zug an ihr, der sie dazu getrieben, das Bewußtsein: ›Er hat eine Mutter, hat Schwestern daheim, – nun fehlt die Frauenhand in seinem Leben! könntest du sie ihm nicht in etwas ersetzen?‹

Und diese Seite der Kulturaufgabe der Frau gefiel Mark Albrecht von Benz außerordentlich. Natürlich war sie, ins allgemeine übersetzt, etwas problematisch, wie manches auf diesem Gebiet. Er war mit seinen vier Semestern alt und klug genug, um sich zu sagen, daß auch studentische Afternoontees sehr traurige Nachspiele haben konnten; aber hier handelte es sich wirklich um einen Ausnahmefall. Erstens galt Frau Korallus in der ganzen Stadt für die gewissenhafteste Phileuse der Welt, die mit mütterlicher Fürsorge ihre Kommilitoninnen überwachte, – zweitens hatte er den Eindruck, daß Frieda den Pflichten einer älteren Schwester auf das gewissenhafteste nachkommen werde. Eins stand ihm fest: würde jede Studentin so treu behütet, manches Unglück bliebe ungeschehen. Andererseits bedurften aber auch vielleicht nicht alle solchen Schutzes. Nicht jede war eine Schönheit wie Rose Händler. Wie viele lehnten außerdem jede Bevormundung rund ab. Rose selbst würde sich dieselbe vielleicht auch nicht allzulange gefallen lassen, denn sie war klug und energisch und wußte, was sie wollte.

Und doch, und doch – trotz Frau Korallus, trotz schwesterlicher Fürsorge – auf seinen Armen hätt' er sie hinaustragen mögen aus dem studentischen Milieu zu seiner Mutter!

Diesen Gedanken folgend, hatte sein Auge auf ihr geruht. Sie aber empfand unter seinem Blick etwas Niegekanntes, Zartes und doch unendlich Tiefes, Kraftvolles. Ganz still saß sie da, das Haupt leicht zur Seite geneigt. Kaum zu atmen wagte sie, – nicht ansehen hätte sie ihn können – und sie schloß einen Moment die Augen.

Sinnend schaute Frieda auf die beiden.

Benz wandte den Kopf – ihre Blicke trafen sich. – –

Die lebhafte Unterredung über die neusten Romanschriftsteller geriet ins Stocken.

»Rudolf Herzog ist jedenfalls einer der bedeutendsten,« suchte Frieda den Faden wieder anzuknüpfen.

Benz stimmte ihr zu.

Aber Rose erhob sich von ihrem Sitz und schritt zum Kamin, wo die Scheite knackten.

Mechanisch bückte sie sich nach der Feuerzange, kniete nieder und schürte die Glut.

Sinnender Ernst lag auf ihrem Antlitz. Sie fühlte, wie sein Blick ihr folgte.

Wie im Traum sah sie in die Dämmerung hinaus. Eine feine, goldene Mondsichel stand über dem alten Rathaus. In violetten Tönen lag die Ferne, duftig und still. Silhouettenhaft hoben sich Giebel und Dächer vom Abendhimmel, dunkel ragten die Schlote, – eine Stadt, die sich zur Nacht rüstete.

Die Turmuhr klang. Rose wandte sich um. »Du wolltest ja noch in die medizinische Ausstellung, Frieda!«

Die andere schüttelte stumm den Kopf.

Im selben Augenblick klang ein Schrei vom Kamin her, die Kniende sprang wie gejagt empor, klirrend fiel der Feuerhaken zur Erde.

Bevor Frieda wußte, was geschehen war, hatte Mark Albrecht von Benz eine Decke vom nächsten Tisch gerissen. Ein venetianisches Glas zersplitterte in tausend Scherben, ein Haufen wissenschaftlicher Werke polterte hinterdrein. Und dann sah Frieda, wie er auf ihre Schwester zustürzte, wie an der Brust des jungen Mädchens eine kleine blaue Flamme langsam emporzüngelte. – –

Ein Funken war geflogen, der duftige Stoff hatte Feuer gefangen.

Wie ein langer dunkler Mantel verhüllte die Friesdecke die helle Gestalt. Ihr Haupt war zurückgesunken, halb ohnmächtig lehnte sie an der Schulter des Mannes, der, sie fest in den Armen haltend, die Flamme erstickte.

Sein Rettungswerk war rasch getan. Mit einem Blick, den Frieda nach Stunden und Tagen nicht wieder vergessen konnte, sah er auf das schöne, blasse Antlitz nieder.

Zehn Minuten später lag Rose, aus einer leichten Ohnmacht erwacht, auf der Chaiselongue. Verwirrt sah sie umher.

Da begegnete ihr Blick einem anderen. Einem Blick voll Sorge und Liebe.

Mit großen, fragenden Augen sah sie in das ernste, männliche Antlitz. Und dann stieg eine dunkle Blutwelle in das weiße Gesicht. Sie streckte dem Kameraden die Hände entgegen.

»Herr von Benz, tausend Dank! Sie haben sich doch hoffentlich nicht verletzt?«

Aus den zarten Zügen sprach plötzliche Angst.

Mit Entzücken ward er's gewahr. Lächelnd schüttelte er den Kopf.

»Und hätte ich mir wirklich die Finger verbrannt, es würde mir nur zur Ehre gereichen!« sagte er ritterlich.

Sie senkte den Blick vor dem Feuer seines Auges.

Er kam ihr zu Hilfe. »Hoffentlich hat Ihnen der Schreck nicht geschadet, gnädiges Fräulein!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Flamme war ja zum Glück sofort erstickt,« fuhr er fort, »nicht wahr. Sie haben keinerlei Schmerzen?«

Rose richtete sich auf. »Nein, Herr Professor,« erwiderte sie lachend, »ich bin ganz wohl! Nur mein armes Kleid wird wohl den Rest bekommen haben!«

Ihr Blick ging prüfend über den leichten Stoff. Das duftige, über der Brust gekreuzte Fischü war versengt, der Veilchenstrauß verdorrt. Sie löste ihn aus dem Gürtel.

»Das hätte schlimm werden können,« sagte sie nachdenklich.

Frieda reichte ihr ein Glas Portwein. Sie trank es in einem Zuge aus.

»So, jetzt bin ich aber wieder gesund.« Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich erheben.

Benz verstand den Wink und empfahl sich.

»Das Theater geben Sie wohl auf?« sagte er, sich noch einmal auf der Schwelle umwendend.

»Warum?« rief Rose lustig. »Weil mein Veilchenstrauß verbrannt ist? Ich habe mich schon lange auf die ›Meistersinger‹ gefreut, und wir haben so gute Plätze!«

Sie nickte ihm freundlich zu. »Auf Wiedersehen, Herr von Benz!«

Da ging er.

Ihr Blick ruhte auf seiner vornehmen Erscheinung, als er sich über Friedas Hand neigte. In seinem hübschen offenen Gesicht stand eine stumme Bitte. Eine innere Stimme sagte ihm, daß dies holde Geschöpf, das in seiner tiefen Trauer um den Geliebten vor ihm stand, die Hände über das aufblühende Glück der Schwester breiten werde.

In dem blassen Gesicht lag ein milder Ernst, als sie zu ihm aufsah.

»Haben Sie Dank, Herr von Benz,« sagte sie herzlich. Sie sprach das Wort, darauf er gehofft, nicht aus, aber er wußte, er durfte wiederkommen.

Und hätte er's nicht gedurft? Der leuchtende Blick, der zur Chaiselongue hinüberflog, führte eine beredte Sprache. Hier stand einer, der sich sein Glück nicht nehmen ließ. Einer, der sich stark wußte in der Liebe zu dem Weibe, das sein Herz mit der ganzen Kraft seiner Mannessehnsucht begehrte.


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